Proceedings als PDF - Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit

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Proceedings als PDF - Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit
Rechtsforschung
als disziplinübergreifende
Herausforderung
Proceedings zur Konferenz,
veranstaltet am 2. – 3. Juni 2003
am Max-Planck-Institut
für ethnologische Forschung
in Halle (Saale)
Veranstaltet vom Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit (BAR),
der Projektgruppe Rechtspluralismus des Max-Planck-Instituts
für ethnologische Forschung und
der Sektion Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Erschienen im Herbst 2004
Vorwort
Mit großer Freude präsentiert der Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit den
ersten Band der Proceedings zur Konferenz für disziplinübergreifende Rechtsforschung, veranstaltet im Juni 2003 am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle (Saale). Die inhaltliche Zusammenstellung der Beiträge zu einem
Band folgt dem Stand der Einreichungen bis zum Herbst 2003.
Die Beiträge stellen den zu diesem Zeitpunkt erreichten Stand der Arbeit dar und
waren ursprünglich nicht zur Veröffentlichung vorgesehene Arbeitspapiere. Wir haben uns mit Zustimmung der Autoren trotzdem für eine Veröffentlichung entschlossen, da uns die große Resonanz auf dem Kongress davon überzeugt hat, daß die präsentierten verschiedenen Ansätze junger Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen mit Rechtsbezug wichtige Anregungen für die eigene Arbeit bieten können.
Diese Anregungen bedürfen keiner fertiggestellten Arbeit. Vielmehr steckt gerade
in vorläufigen Konzepten oft noch eine stimulierende Qualität, die nach vielfacher
Überarbeitung und Absicherung der Thesen gegen jede denkbare Kritik verloren
geht. Der Band stellt deshalb eine Dokumentation der Konferenz und keinen klassischen Sammelband abgeschlossener Forschungsergebnisse dar.
Das vor Ort erfahrene Lob und der Zuspruch werden dazu beitragen, dass auch
die Nachfolgekonferenz in 2005 von ähnlichem Erfolg sein kann. Aktuelle Informationen über diese und andere Veranstaltung sowie vergangene und kommende Aktivitäten des Arbeitskreises und weitere Beiträge finden sich im Internet unter
http://www.rechtswirklichkeit.de/rechtsforschung2003/index.html.
Die Vorbereitung des Manuskripts für den Druck und die grundlegende typografische Überarbeitung unterscheidet diese „Neuauflage“ von den beiden vorhergehenden Versionen.
Berlin, irgendwann in 2004
Carsten Raddatz
Inhaltsverzeichnis
Weltrecht oder globale Rechtsgemeinschaft?
Inklusion und Integration in der Weltgesellschaft durch Menschenrechte . . . . .
Thorsten Bonacker
1
Formen der Interdisziplinarität und Spezifika der interdisziplinären Rechtsforschung - unter besonderem Bezug zu Soziologie und Politikwissenschaft . . . . 15
Milena Büchs
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch und die Ausbildung von Rechtsbewusstsein in der Demokratie . . . . . . . . .
Barbara Heitzmann
Antisemiten vor Gericht.
Überlegungen zur juristischen Verfolgung eines politischen Radikalismus im
deutschen Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Christoph Jahr
„Against all Principles of Justice!“:
Santi Romano und das Recht irischer Whiteboys und anderer Geheimgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Clemens Körte
Zwischen Fakten und Fiktionen:
Überlegungen zur Rolle des Vorstellungsvermögens in der richterlichen Urteilsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Christine Künzel
„Zu Beybehaltung künftiger besserer Richtigkeit“
Heiratskontrakte und wittibliche Verträge (2. Hälfte des 18. Jh.) . . . . . . . . . . . . . . .
Margareth Lanzinger
Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bernd Ternes
21
35
45
53
61
73
Kontextualität und Normativität des Rechts – Strafrechtlicher Umgang mit Systemunrecht in Rumänien nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Julie Trappe
Weltrecht oder globale Rechtsgemeinschaft?
Inklusion und Integration in der Weltgesellschaft
durch Menschenrechte
Von Thorsten Bonacker
I. Inklusion durch Menschenrechte:
Die funktionalistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
II. Integration durch Menschenrechte:
Die sinnverstehende Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
III. Beispielhafte Erläuterung des Prozesses der Deutungsöffnung . . . . . . . . . . . . 10
IV. Das Zusammenspiel von Inklusion und Integration
durch Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Im folgenden soll die Bedeutung der Menschenrechte für die Evolution der Weltgesellschaft aus zwei Perspektive erläutert werden: aus einer funktionalistischen
und einer sinnverstehenden. Dabei wird die These vertreten, dass diese beiden Perspektiven jeweils einen Aspekt der Bedeutung der Menschenrechte hervorheben:
den der funktionalen Inklusion bzw. den der symbolischen Integration.
I. Inklusion durch Menschenrechte:
Die funktionalistische Perspektive
Aus funktionalistischer Sicht tragen Menschenrechte dazu bei, die Klammer zwischen politischer Inklusion und nationalstaatlicher Integration zu lösen.
Diese Klammer ist von Mathias Albert treffend als Folge eines „paradoxen Inklusionsuniversalismus“ beschrieben worden. Auf der einen Seite stehen universell formulierte Rechte, auf der anderen die partikulare Zugehörigkeit zu politischen Gemeinschaften. Diese Paradoxie ist historisch zunächst zur einen Seite hin aufgelöst
worden, nämlich durch die Inkorporierung der Menschenrechte in staatliche Verfassungen. Die Spannung zwischen international formulierten, zunächst schwach institutionalisierten universal geltenden Menschenrechten und dem Souveränitätsrecht
von Staaten war solange politisch und rechtlich relativ folgenlos, wie das internationale Recht diese Souveränität – aufgrund des Vorrangs von Sicherheitsbelangen vor
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Thorsten Bonacker
den Menschenrechten in der Charta der Vereinten Nationen – unangetastet ließ. Mit
der Verfestigung des internationalen Rechts und der rechtsverbindlichen Institutionalisierung der Menschenrechte ändert sich dieses Verhältnis von partikularer nationalstaatlicher Inklusion und Menschenrechten.
Die politische Bedeutsamkeit dieses Vorgangs einer weltgesellschaftlichen
Rechtsförmigkeit der Menschenrechte besteht darin, dass sich mit ihr in mehrfacher
Hinsicht eine Alternative zur nationalstaatlichen Auflösung des paradoxen Inklusionsuniversalismus abzeichnet. Zwar mag es nach wie vor ausreichen, auf dem eigenen Gebiet Gewalt zu monopolisieren, um als Staat anerkannt und dementsprechend eine politische Adresse in der Weltgesellschaft zu sein. Aber als eine solche
politische Adresse ist der Staat in der Weltgesellschaft zugleich eine Adresse des
(Weltgesellschafts-)Rechts. Wer die Souveränität von Staaten gegenüber menschenrechtlichen Belangen betont, der sollte aus funktionalistischer Perspektive daran erinnert werden, dass Staatlichkeit in erster Linie ein politisches Kriterium ist, das auf
der Anerkennung durch andere Staaten basiert. Aber nichts schützt einen Staat demnach prinzipiell davor, Unrecht zu begehen – gerade darin besteht der Witz eines
ausdifferenzierten Rechtssystems auf der Ebene der Weltgesellschaft. Menschenrechte stellen insofern ein besonderes Instrument der weltgesellschaftlichen Ausdifferenzierung des Rechts dar, weil sie als individuelle Rechte formuliert sind, die von
Staaten verletzt werden können.
Menschenrechte können aber auch als eine Art Sekundärinklusion auf der Ebene
der Weltgesellschaft gelten, die schließlich in dem Maße zum Wandel politischer Inklusion führt, wie internationales Recht ein weltgesellschaftlicher Bezugspunkt für
das politische System darstellt. Zwar lässt sich das politische System seine Inklusionsregeln nicht aus der Hand nehmen, aber das klassische Instrument und das traditionelle nationalstaatliche Verständnis der Staatsbürgerschaft wandeln sich, so die
funktionalistische These, durch weltgesellschaftlich institutionalisierte Menschenrechtsnormen, weil jene auf der Ebene der Weltgesellschaft den überlieferten engen
Zusammenhang zwischen politischer Inklusion durch Staatsbürgerschaft und kollektiver Identität durch politische Vergemeinschaftung lösen. Diese Verbindung
setzt voraus, dass Rechtsnormen auf einem Territorium gelten, das zugleich mit dem
Nationalstaat – als Segment des politischen Systems der Weltgesellschaft – identisch
ist. Die rechtliche Zweitcodierung politische Inklusion kann dabei selbst schon als
ein Resultat der Weltgesellschaft gesehen werden, denn die Zugehörigkeitsregeln
zum Nationalstaat bedürfen insofern einer rechtlichen Form der Institutionalisierung, als sie dem politischen Tagesgeschäft gleichsam entzogen werden müssen, um
ihre Dauerhaftigkeit zu garantieren und sie gleichzeitig nicht als rein politische Entscheidungen erscheinen zu lassen.
Mit der weltgesellschaftlichen Institutionalisierung der Menschrechte wird dieser
Zusammenhang zwischen politischer Inklusion durch rechtlich codierte Staatsbürgerschaft und politischer Vergemeinschaftung aufgebrochen, weil der Nationalstaat
Weltrecht oder globale Rechtsgemeinschaft?
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nicht mehr der einzige Bezugspunkt ist, politische Inklusion rechtlich zu codieren.
Mit anderen Worten: Das internationale Recht schafft mit den Menschenrechten einen – kontrafaktischen – Erwartungshorizont, auf den sich das politische System
einstellen muss und der die Mechanismen politischer Inklusion aus der Kopplung an
den Nationalstaat herauslöst. „So schwach und mangelhaft das universelle Rechtssystem auch sein mag [...]. Durch Menschenrechte werden einzelne zu potentiellen
Akteuren globaler Politik [...]“ (Bretherton 1998: 291) bzw. globalen Rechts. Dies
wird beispielsweise dadurch sichtbar, dass Menschenrechte nicht nur individuelle
Rechte, sondern dass sie individuell einklagbare Rechte sind. Dem entspricht eine
strukturelle Kopplung von Rechts- und Politiksystem auf weltgesellschaftlichem
Niveau durch Organisationen wie den Vereinten Nationen. Über diese Organisationen nimmt das politische System – und mithin Staaten – die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidungen – und damit u. a. seiner Inklusionen und Exklusionen – auch in
Bezug auf die Einhaltung der Menschenrechte wahr, während das Recht umgekehrt
nur jene politischen Entscheidungen berücksichtigen muss, die völkerrechtlich relevant sind. Damit aber stellt sich das politische System auf weltgesellschaftlichen
Bedingungen ein und justiert sich hinsichtlich politischer Inklusionen, aber auch politischer Exklusionen neu – was natürlich nicht heißt, dass sich damit gleichsam der
Sittlichkeitsgrad staatlichen Handelns erhöht hätte.
II. Integration durch Menschenrechte:
Die sinnverstehende Perspektive
Eine sinnverstehende betrachtet gegenüber einer funktionalistischen Perspektive
Menschenrechte in erster Linie als eine symbolische Form, die dazu dient, Weltgesellschaft zu integrieren.
Als symbolische Form vereinen die Menschenrechte zwei auf den ersten Blick
unvereinbare Elemente: Eine symbolische Form besteht nämlich zum einen aus unterschiedlichen Deutungen, die ihre Bedeutung daraus beziehen, dass sie sich voneinander unterscheiden. Zum anderen aber müssen sie sich auch aufeinander beziehen, sich in einer Hinsicht also gleichen, um als Deutungen desselben erscheinen zu
können. Deshalb muss etwas die Einheit einer symbolischen Form repräsentieren.
Diese Repräsentation dient gewissermaßen als Knotenpunkt unterschiedlicher Deutungen, die auf sie Bezug nehmen. Ausfüllen kann diese Funktion eines Knotenpunktes nur etwas, das selbst keinen eindeutig identifizierbaren Sinngehalt mehr
hat, weil es mit unterschiedlichen Deutungen identifiziert wird. Mit anderen Worten: Die unterschiedlichen Deutungen führen im Ergebnis zur Deutungsoffenheit
des Gedeuteten, das die Einheit einer symbolischen Form deshalb repräsentiert.
Man könnte an dieser Stelle auch von einem „deutungsoffenen Signifikanten“ sprechen, der eine symbolische Form dadurch stiftet, dass er unterschiedliche Deutungen miteinander verbindet. Er kann dies, weil er im Zuge des Deutungsprozesses
unterschiedslos gegenüber unterschiedlichen Deutungen geworden ist. Einer „Leer-
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Thorsten Bonacker
formel“ (Topitsch) gleichend, markiert er die Grenze zu dem, was nicht zu seiner
symbolischen Ordnung gehört. Der deutungsoffene Signifikant stiftet eine symbolische Ordnung demnach dadurch, dass er einen Deutungsprozess durch seine Deutungsöffnung abschließt.
Gerade die unterschiedliche und nicht die identische politische, kulturelle oder
rechtliche Bezugnahme auf Menschenrechte führt dazu, dass mit Menschenrechten
als symbolischer Form immer mehr Bedeutungen verbunden werden und dass sie
infolgedessen die Rolle eines deutungsoffenen Signifikanten spielen, der eine symbolische Ordnung sichtbar abgrenzt und insofern nach innen und nach außen integriert – nach innen, weil er in seiner Funktion unterschiedliche Deutungen miteinander verbindet, nach außen, weil er, obwohl nur Teil der symbolischen Ordnung,
diese als ganze repräsentiert.
III. Beispielhafte Erläuterung des Prozesses
der Deutungsöffnung
Menschenrechte umfassen als Normensystem eine Vielzahl von Einzelrechten,
die die Menschenrechte mit Unterschiedlichem identifizieren. So umfasst allein die
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 30 Artikel und versteht unter Menschenrechten sowohl politische Rechte wie die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 7)
oder das Folterverbot (Art. 5) als auch soziale Rechte wie etwa das Recht auf Arbeit
(Art. 23), auf Bildung (Art. 26) und auf soziale Sicherheit (Art. 22). Darüber hinaus
identifizieren eine Reihe von Abkommen Menschenrechte mit dem Schutz vor Diskriminierung, mit Kinder- und mit Frauenrechten. Vor allem ein Blick auf die Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 zeigt die Breite der unterschiedlichen Auslegung. Hier ging es unter anderem um die Frage, ob Menschenrechte ein Recht auf
Entwicklung einschließen bzw. ob die Realisierung der Menschenrechte vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft abhängt oder ob Menschenrechte ausschließlich
an individuelle Personen gebunden sind. Desgleichen erweiterte die Schlusserklärung der Konferenz die Gegenstände und Themenfelder, mit denen Menschenrechte
jetzt identifiziert werden – etwa um Minderheiten- und Gruppenrechten oder um das
Verbot jeder geschlechtsspezifischen Diskriminierung. Die Bedeutung dieser einzelnen Aspekte innerhalb des Systems der Menschenrechte erschließt sich ebenfalls
aus ihrem Unterschied, den sie zueinander machen. Das Recht auf Entwicklung ist
etwas anderes als Kinderrechte. Insofern sind beide unterschiedliche Deutungen der
Menschenrechte. Zugleich aber sind sie unterschiedliche Deutungen derselben
Menschenrechte. Sichtbar wird dies besonders im Fall der Normkollision – etwa
zwischen dem Artikel 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker festgehalten wird,
und den Artikeln, die die Menschenrechte als individuelle Rechte formulieren. Diese Kollision ist zwar keineswegs zwangsläufig, aber dennoch möglich (vgl. dazu
Weltrecht oder globale Rechtsgemeinschaft?
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etwa Kümmel 2001) – und zwar deshalb, weil sich beide Deutungen auf dasselbe
beziehen, es aber mit Unterschiedlichem identifizieren.
Schließlich können Deutungen nicht nur auf die Ausgestaltung des Systems der
Menschenrechte betreffen und dieses System sukzessive erweitern. Statt dessen berufen sich unterschiedliche menschenrechtliche Forderungen immer auch auf einzelne Rechte, die dann im Sinne dieser Forderungen ausgelegt werden. Umgekehrt
formuliert, muss im einzelnen geprüft werden, welche Praxis gegen Menschenrechte verstößt. Insofern tragen auch die zahlreichen Kontroll- und Überwachungsverfahren dazu bei, Menschenrechte zu deuten, weil sie einen Verstoß nur vor dem Hintergrund eine Bedeutungszuschreibung einzelner Artikel feststellen können. Die
Diskussion etwa, ob die Androhung physischer Gewalt, mit der das Leben von Entführten gerettet werden könnte, gegen das Folterverbot verstößt, oder ob das Recht
auf Leben nicht schwerer wiegt als der Schutz vor Gewalt, ist aus sinnverstehender
Perspektive eine Deutung einzelner Elemente im System der Menschenrechte und
ihrer Stellung zueinander. Damit wird auch deutlich, dass ein wichtiges strukturelles
Prinzip dieses Systems, auf das Michael Ignatieff (1999) aufmerksam gemacht hat,
der Deutungsöffnung entgegenkommt: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ließ nämlich nicht nur die Geltungsfrage offen und begnügte sich mit der
Feststellung, dass alle Menschen als Mitgliedern in einer familiar verstandenen
menschlichen Gemeinschaft die gleichen Rechte zukommen. Darüber hinaus blieb
auch die Prioritäten innerhalb des Menschenrechtssystems ungeklärt. „Trotz (oder
gerade wegen) dieser offenen Fragen stand die Allgemeine Erklärung am Beginn einer bemerkenswerten ‚Normkaskade‘ im Bereich der internationalen Menschenrechte“ (Schmitz 2002: 425). Diese Kaskade führte im Resultat nicht nur zu zahlreichen Menschenrechtsabkommen, sondern vor allem auch zur Einsetzung verschiedener Institutionen und Organisationen, die für die Umsetzung – und damit auch für
die Interpretation – der Menschenrechte zuständig sind – vom Hochkommissariat
für Menschenrechte in Genf über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis zum
Internationalen Strafgerichtshof von Den Haag. Sie alle verdanken sich letztlich einerseits der Uneindeutigkeit und Heterogenität des Systems der Menschenrechte.
Andererseits aber tragen sie dazu bei, Menschenrechte mit Unterschiedlichem zu
identifizieren, weil sie sie aufgrund ihrer Funktion mit etwas identifizieren müssen.
Das gilt vor allem für den Internationalen Strafgerichtshof, der seine Arbeit nur
dann aufnehmen kann, wenn ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt. Als
Teil des weltgesellschaftlichen Menschenrechtsregimes erfüllt die Normkaskade,
d. h. die Institutionalisierung von Institutionen durch die Menschenrechtserklärung,
die Funktion einer permanenten Deutungsöffnung durch unterschiedliche Deutungen dessen, was Menschenrechte sind.
Jenseits faktischer Normdurchsetzung entsteht die Weltgesellschaft aus sinnverstehender Perspektive dadurch, dass Menschenrechte aufgrund ihrer integrativen
Kraft, d. h. aufgrund ihrer Deutungsoffenheit empirisch unhintergehbar und nichtnegierbar werden. An ihnen kommt niemand mehr vorbei – nicht nur, weil sie als
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Thorsten Bonacker
Teil des weltgesellschaftlichen Rechtssystems eine Umwelt für alle anderen System
bilden. Auch rhetorisch sind Akteure auf der Ebene der Weltgesellschaft gezwungen, sich auf Menschenrechte zu beziehen, weil sie das symbolische Bezugssystem
der Weltgesellschaft darstellen.
IV. Das Zusammenspiel von Inklusion und Integration
durch Menschenrechte
Die Konstitution der Weltgesellschaft durch Menschenrechte lässt sich, nimmt
man beide Perspektiven zusammen, als Zusammenspiel der Inklusionsseite mit der
Integrationsseite beschreiben. Auf der einen Seite stellt die Entkopplung von politischer Inklusion und nationalstaatlicher Integration eine wichtige Voraussetzung für
den Prozess der Deutungsöffnung der Menschenrechte und damit für die symbolische Integration der Weltgesellschaft dar. Mit ihrer Institutionalisierung auf weltgesellschaftlichem Niveau lösen sich die Menschenrechte von ihrer Einbindung in den
Nationalstaat. Sie werden dann nicht mehr als einzelne Rechte von Staatsbürgern
gedeutet und auf diesem Wege in eine nationalstaatlich definierte symbolische Ordnung integriert. Vielmehr emanzipieren sie sich von dieser Ordnung dadurch, dass
sie selbst zum Bezugspunkt unterschiedlicher Deutungen werden. Dies führt gewissermaßen zu einer Umkehrung der Verhältnisse: Staatsbürgerrechte stellen jetzt eine
spezifische, aber keineswegs die einzige Realisierung von Menschenrechten dar,
während sich zuvor Menschenrechte nur als Staatsbürgerrechte verwirklichen ließen. Damit geht ein symbolischer Bedeutungsverlust des Nationalstaats einher. Die
Symbolisierung der Weltgesellschaft vollzieht sich in der Hauptsache nicht mehr
über Nationalstaaten, d. h. nicht über „internationale Politik“, sondern über Menschenrechte, auf die verschiedenen staatliche und nichtstaatliche Akteure in unterschiedlicher Weise Bezug nehmen, die dadurch in ihrer Bedeutung geöffnet werden
und aufgrund dessen Weltgesellschaft symbolisch zum Ausdruck bringen.
Auf der anderen Seite stützt oder befördert die Integrationsseite diese Transformation politischer Inklusion in der Weltgesellschaft im Sinne ihrer Deterritorialisierung. Insofern Menschenrechte der symbolische Bezugspunkt der Weltgesellschaft
sind und sie das integrative Moment der Weltgesellschaft gegenüber ihren binnendifferenzierten Elementen bilden, entstehen politische Inklusionsformen abseits der
Verknüpfung von nationalstaatlicher kollektiver Identität und politischer Inklusion – etwa dadurch, dass sich kollektive Identitäten universal codieren und damit
jeder die Möglichkeit zur politischen Inklusion hat, die nicht mehr länger Ausdruck
der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv ist. Man kann deshalb behaupten, dass die
symbolische Integration der Weltgesellschaft durch Menschenrechte eine gegenüber den strukturellen Realitäten der Weltgesellschaft angemessene Integrationsform darstellt. Dies aus zwei Gründen: Erstens passen sie gut zu den Differenzierungsmustern der Weltgesellschaft, weil auf sie aus veschiedenen kulturellen, aber
auch aus verschiedenen teilsystemischen Perspektiven unterschiedlich Bezug ge-
Weltrecht oder globale Rechtsgemeinschaft?
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nommen werden kann. Sie tragen dadurch zur Erhaltung der strukturellen Heterogenität der Weltgesellschaft bei und wirken insofern integrativ. Zweitens sind kulturelle Deutungssysteme Rudolf Stichweh (2000: 44) zufolge dann besser an die
Realität der Weltgesellschaft angepasst, wenn sie auch in Bezug auf andere Deutungssysteme inklusiv operieren, d. h. einen Platz für konkurrierende Deutungssysteme vorsehen können. Menschenrechte schließen in dieser Beziehung nicht aus,
dass die Weltgesellschaft auch durch etwas anderes symbolisiert werden kann. Sie
beanspruchen keine Ausschließlichkeit der Symbolisierung – ein Anspruch, der
sich unter den weltgesellschaftlichen Bedingungen funktionaler Differenzierung
nur schwer dauerhaft realisieren lässt.
Gleichzeitig entsteht mit der symbolischen Integration der Weltgesellschaft durch
Menschenrechte eine Grenze, die die Inklusionsfrage auf einer anderen Ebene,
nämlich als Inklusion in die globale Rechtsgemeinschaft neu stellt: Nur jene kollektiven politischen Akteure, die ihr Handeln auf Menschenrechte beziehen – und damit das Menschenrechtsregime symbolisch stärken – können auf Inklusion, d. h. auf
monetäre, politische oder ideelle Unterstützung hoffen. Insofern geht mit der Integration der Weltgesellschaft durch Menschenrechte nicht nur neue Inklusions-, sondern auch neue Exklusionsformen einher. Diese betreffen jetzt nicht mehr die Staatenlosen, die ihre Menschenrechte mit dem Verlust des Staatsbürgerstatus faktisch
einbüßen, sondern diejenigen, deren Handlungen als menschenrechtsverletzend
dargestellt werden. Zwar bleiben sie weiter kommunikativ erreichbar und sind insofern Teil der Weltgesellschaft. Aber ihre Exklusion vollzieht sich symbolisch – allerdings mit ganz realen Folgen.
Formen der Interdisziplinarität und Spezifika der
interdisziplinären Rechtsforschung – unter besonderem
Bezug zu Soziologie und Politikwissenschaft
Von Milena Büchs 1
Ursprünglich hatte ich mir für diesen Konferenzbeitrag vorgenommen, über die
Rolle von Interdisziplinarität in meiner Dissertation zu sprechen, die sich mit „weichen“ sozialpolitischen Steuerungsinstrumenten der Europäischen Union und deren
Wirksamkeit auseinandersetzt. Ich bin dann aber im Laufe meiner Überlegungen
auf weitergehende Fragen in Bezug auf Konzepte zu „Disziplin“ und „Interdisziplinarität“ gestoßen, so dass ich mein Thema nun ein wenig abgewandelt habe und entgegen der Ankündigung einige Überlegungen zu verschiedenen Formen von Interdisziplinarität und Fragen über Besonderheiten interdisziplinärer Arbeit in der
Rechtsforschung vorstellen möchte.
Wenn man über „Interdisziplinarität“ nachdenkt, stößt man unweigerlich auf die
Frage, was unter „Disziplin“ verstanden werden kann. Wissenssoziologisch gesehen kann man wohl davon ausgehen, dass Disziplinen „konstruiert“ werden, d.h. sie
bestehen nicht an-sich, sondern sie entstehen mit und gehen einher mit der Konstruktion der Gegenstände, mit denen sich die Wissenschaft befasst. Disziplinen formulieren somit auch eine bestimmte „Sicht auf die Dinge“ und konstituieren ihre jeweils eigenen Gegenstände. Zusätzlich ist zu bedenken, dass die Einteilung der Wissenschaft in Disziplinen auch eine funktionelle Seite aufweist, Disziplinen sind so
gesehen ein Hilfsmittel der Wissenschaft, das eigene Schaffen zu organisieren und
aufzuteilen, Lehrstühle einzurichten und Forschungsgelder verteilen. Die Einteilung der „Welt des Wissens“ in Disziplinen entspricht insofern nicht einer Ordnung
der „Welt“, sondern ist auch durch Arbeitsbedingungen in der Wissenschaftspraxis
bzw. durch (wissenschafts-)politische Verhältnisse geprägt.
Wie können Disziplinen nun voneinander abgegrenzt werden? Zu dieser Frage
bestehen verschiedenste Vorschläge. In einem vor kurzem herausgegebenen Sammelband über Interdisziplinarität von Markus Käbisch 2 habe ich zu dieser Abgrenzungsfrage folgenden Vorschlag gefunden: Es wurden vier Kriterien genannt, die
zusammengenommen eine Disziplin beschreiben können und anhand derer Diszip1
Doktorandin an der Humboldt Universität zu Berlin, z. Z. Marie Curie Fellow an der
University of Stirling, United Kingdom.
2
Käbisch, Markus; Maaß, Holger; Schmidt Sarah, 2001, Interdisziplinarität: Chancen,
Grenzen, Konzepte, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.
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Milena Büchs
linen sich voneinander abgrenzen lassen: der Gegenstand einer Disziplin, das Erkenntnisinteresse, die verwendeten Methoden und zugrundeliegenden Theorien.
Eine Disziplin wird diesem Ansatz zufolge nicht durch einen dieser Aspekte allein
beschrieben, sondern durch eine Kombination dieser Aspekte. Zugleich können
auch Inter-Disziplinen durch verschiedene Kombinationen dieser Kriterien beschrieben werden, so dass schließlich verschiedene Disziplinen und Inter-Disziplinen Gemeinsamkeiten in manchen dieser Kriterien aufweisen können. So ist es beispielsweise möglich, dass sowohl Rechtstheorie als auch eine politikwissenschaftliche Implementationsforschung sich mit „Recht“ beschäftigen, sie richten aber unterschiedliche Erkenntnisinteressen an den „Gegenstand“ Recht und der „Gegenstand“ Recht wird somit auch aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und
verstanden.
Insofern stellt sich hier die interessante Frage, inwieweit Überschneidungen zwischen Disziplinen in Bezug auf den Gegenstand, auf Theorien oder Methoden den
jeweiligen „Gegenstand“, die Theorie oder die Methode verändern. Was geht bei
dieser Veränderung eigentlich genau vor sich und welche Konsequenzen hat diese
Veränderung für die Kommunikation zwischen den verschiedenen Disziplinen und
Inter-Disziplinen?
Wenn man genauer über Besonderheiten interdisziplinärer Arbeiten in der
Rechtswissenschaft nachdenken möchte, müsste eigentlich die Frage geklärt werden, ob es sinnvoll ist, zwischen Disziplinen und Fächern zu unterscheiden und wie
beide voneinander abgegrenzt werden können. Manche Wissenschaftstheoretiker
gehen z. B. davon aus, dass es nur einige wenige Disziplinen gibt, die sich eindeutig
über den Gegenstand und ihre Methoden definieren und abgrenzen lassen und dass
diese Disziplinen sich beliebig weit in weitere Fächer unterteilen lassen. 3 Eine klassische und nach wie vor umstrittene Frage ist hier z. B., ob Gebiete, die keinen festen
Methodenkanon haben und keinen klar zu definierenden Gegenstand – wie die Sozialwissenschaften oder die Soziologie – als Disziplin angesehen werden können.
Weiterhin ergibt sich die Frage ob z. B. verschiedene Bindestrich-Disziplinen wie
die politische Soziologie, die Rechtstheorie, die Umweltpolitik, etc. als Fächer einer
Disziplin oder als interdisziplinäre Gebiete angesehen werden können.
Diese Punkte sind konzeptionell dann wichtig, wenn man sich die Frage stellt, ob
es Disziplinen oder Fächer gibt, die sich klarer abgrenzen lassen als andere und ob
diese Abgrenzbarkeit Konsequenzen für die Zusammenarbeit oder den Austausch
mit anderen Disziplinen oder Fächern nach sich zieht. Wenn man beispielsweise behauptet, eine Zusammenarbeit zwischen Jura und Soziologie sei schwieriger als eine
Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Politikwissenschaft, setzt dies voraus,
dass Soziologie und Politikwissenschaft als eigene Disziplinen verstanden werden
und nicht als Fächer ein und derselben Disziplin, nämlich der Sozialwissenschaft.
3
Auf diese Diskussion weist auch Kocka hin, in: Kocka, Jürgen (Hg.), 1987, Interdisziplinarität: Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 8.
Spezifika interdisziplinärer Rechtsforschung
17
Ohne diese Frage hier richtig klären zu können möchte ich im Folgenden der Einfachheit halber davon ausgehen, dass alle drei Gebiete als eigene Wissenschaftsgebiete verstanden werden können und auf das Verhältnis ihrer Zusammenarbeit zu
sprechen kommen. Jura ist beispielsweise leichter abzugrenzen über den Gegenstand
und die verwendeten Methoden der Rechtsauslegung als die Soziologie, die sich mit
verschiedensten sozialen Phänomenen beschäftigen kann, mit verschiedensten Fragestellungen und unter Anwendung unterschiedlichster Methoden. Zwischen anderen Fächern wie der Soziologie und der Politikwissenschaft können hingegen größere Gemeinsamkeiten bestehen was Gegenstand, Erkenntnisinteresse und Methoden betrifft, so dass ein Austausch zwischen beiden Gebieten z.T. sogar erforderlich
ist und die Institutionalisierung einer Kooperation leichter Akzeptanz findet.
Die Klärung der genannten hängt zudem eng zusammen mit der Bildung verschiedener Interdisziplinaritätskonzepte. Auch hier bestehen verschiedenste Vorschläge und Ansichten, was unter „Interdisziplinarität“ verstanden werden kann.
Zunächst einmal grenzt sich dieser Begriff u. a. auch von Konzepten der „Transdisziplinarität“ ab, die davon ausgehen, dass die fortlaufende Ausdifferenzierung und
„Aufsplitterung“ der Wissenschaft in verschiedenste Disziplinen letztendlich aufgehoben werden könne und solle durch die Entwicklung einer Meta-Wissenschaft, die
sich gesellschaftlichen Problemen unabhängig von disziplinären Grenzen widmen
könne (z. B. Strassheim).
Vertreter des Konzeptes der Interdisziplinarität bleiben hier insgesamt verhaltener, bzw. befürworten verschiedene Thesen über die Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Arbeit, die – wie ich meine – z. T. auch gleichberechtigt nebeneinander Bestand haben können. Ich möchte hier drei verschiedene Arten der Zusammenarbeit zwischen Disziplinen unterscheiden und die Position beziehen, dass alle drei
Arten möglich sind, jedoch je nach den beteiligten Disziplinen schwieriger zu realisieren bzw. schwieriger zu institutionalisieren sind.
Erstens ist es möglich, dass Informationen, Argumente, Ergebnisse oder Theoriestücke aus einer Disziplin in einer Arbeit, die sich schwerpunktmäßig einer andern
Disziplin zuordnet oder sich als interdisziplinär versteht, verwendet werden, jedoch
ohne dass diese Informationen in ihrer Perspektive verändert oder diskutiert werden.
Z. B. ist es möglich, dass in politikwissenschaftlichen Arbeiten juristische Kenntnisse und/oder juristische Argumente verwendet werden, z. B. um in einer europapolitischen Arbeit das Verhältnis von EU-Recht zu innerstaatlichem Recht zu klären.
Weiterhin ist es wahrscheinlich vor allem in praktisch orientieren Arbeiten häufiger
der Fall, dass Informationen aus verschiedensten Disziplinen verwendet werden,
weil bei der Lösung eines praktischen Problems immer verschiedene Seiten und
Perspektiven betrachtet werden müssen. Auch können Informationen in einer Art
verwendet werden, dass die Perspektive der Ursprungsdisziplin nicht aufgegeben
wird, sondern dass eben jene unterschiedlichen Perspektiven auf das praktische Problem beibehalten und nebeneinander gestellt werden, um Entscheidungskonflikte zu
verdeutlichen.
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Milena Büchs
Zweitens können „Gegenstände“, über die sich bestimmte Disziplinen „definieren“ – wie z. B. das Recht – aus der Perspektive einer anderen Disziplin untersucht
werden. Die Perspektive aufs Recht, die in der Ursprungsdisziplin eingenommen
wird, in diesem Fall die juristische Perspektive, wird dabei aufgegeben oder kann
zumindest in den Hintergrund treten. Statt dessen werden nun andere Fragen an den
„Gegenstand“ Recht gestellt werden, z. B. wie das Recht in der Praxis interpretiert
wird, welche Gründe es für eine bestimmte dominierende Interpretation eines Gesetzes gibt, ob Recht „mobilisiert“ wird, ob Recht die Ziele, die es selbst formuliert
erreicht, etc. Eine interessante Frage, die sich hier stellt ist folgende: Inwieweit ist
eine solche andere Perspektive aufs Recht bereits eine andere Theorie des Rechts?
Gehen andere Disziplinen per se von anderen Theorien des Rechts aus als es Juristen
tun? Oder können Juristen nicht auch relativ unabhängig von einer Theorie des
Rechts mit dem Recht innerhalb des Kanons ihrer Disziplin hantieren? Dies würde
nicht bedeuten, dass Juristen keine Theorie des Rechts benötigen, um das Recht auszulegen, sondern dass keine bestimmte Theorie des Rechts die juristische Auslegung
von Recht möglich macht.
Eine weitere Frage, die in diesem Zusammenhang diskutiert wird ist die, ob eine
Forschungsarbeit, die sich z. B. aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit dem
Recht beschäftigt ein Wissen hervorbringt, dem eine neue, eine interdisziplinäre
Qualität zugeschrieben werden könnte, ein Wissen, dass sich weder der Disziplin
Jura noch der Disziplin Sozialwissenschaft zuordnen lässt – oder ob diese Arbeit
eine sozialwissenschaftliche Arbeit bleibt, die sich mit dem Recht als sozialem Phänomen befasst.
Schließlich muss man wohl auch hinzufügen, dass die erste und die zweite Kategorie von Interdisziplinarität gewissermaßen Idealtypen darstellen. Somit sind die
Grenzen zwischen einer bloßen Übernahme von Informationen aus einer Disziplin
auf der einen Seite sowie, auf der anderen, ein disziplinärer Perspektivenwechsel bei
der Bearbeitung eines Gegenstandes fließend – und vor allem auch variabel, je nach
dem wie die Perspektive in der jeweiligen Disziplin definiert wird.
Drittens ist denkbar, dass Kenntnisse aus anderen Disziplinen für eine Forschungsarbeit indirekt oder implizit relevant sind. So können sich beispielsweise
Fragestellungen aus anderen Zusammenhängen ergeben als aus der „eigenen“ Disziplin. Jemand kann sich z. B. für ein bestimmtes soziales Problem interessieren,
über fundierte Kenntnisse in diesem Bereich verfügen und sich davon ausgehend für
eine bestimmte juristische Frage interessieren, die mit diesem sozialen Problem in
Verbindung steht. Ebenso für die Formulierung von Thesen oder bei der Analyse
von Untersuchungsergebnissen kann Wissen aus anderen Disziplinen eine Rolle
spielen. Interessant ist, bis zu welchen Grad diese Hintergrundannahmen in der Praxis transparent gemacht werden.
Dieses indirekte Verhältnis zwischen verschiedenen Disziplinen würde man vielleicht nicht mehr oder noch nicht Interdisziplinarität nennen, ich möchte auf diese
Spezifika interdisziplinärer Rechtsforschung
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Art des Verhältnisses von Wissensgebieten dennoch hinweisen, weil ich denke, dass
sie in der praktischen Arbeit von Wissenschaftlern häufig – und eventuell nicht immer reflektiert – eine Rolle spielt. Dies berührt nämlich im Grunde auch die – zwar
alte aber nach wie vor wichtige – Debatte über das Verhältnis von (politischen) Wertungen und wissenschaftlicher Arbeit.
Wie an den Beispielen, die ich verwendet habe, schon deutlich wird: ich denke
alle drei Arten der Wissensverwendung im Austausch zwischen Jura und anderen
Disziplinen sind möglich.
Die Frage, die sich hier jedoch stellt, ist, ob es – insbesondere im Hinblick auf die
zweite Art der Interdisziplinarität – besondere Schwierigkeiten für Arbeiten gibt,
bei denen Recht in der einen oder anderen Weise eine Rolle spielt, beispielsweise im
Vergleich zu Arbeiten, bei denen Soziologie und Politik im Austausch stehen. Meine These wäre, und ich denke sonst wären wir auch in diesen beiden Tagen nicht hier
in Halle zusammengekommen, dass es tatsächlich größere Schwierigkeiten bereitet,
sich aus der Perspektive einer anderen Disziplin mit Recht zu beschäftigen oder
auch umgekehrt in einer juristischen Arbeit teilweise Perspektiven aus anderen Disziplinen einzunehmen, als das bei manchen anderen (Teil-)disziplinen der Fall ist.
Dies liegt daran, dass die juristische Perspektive sehr viel klarer festgelegt oder
identifizierbar ist, als z. B. eine soziologische oder eine politikwissenschaftliche
Perspektive, die oftmals schwieriger voneinander zu trennen sind. Dies kann auch
an der jeweiligen wissenschaftlichen Konstruktion von Zusammenhängen zwischen
„Gegenständen“ und ihren Disziplinen hängen, z.B. fällt es wissenschaftlich (heute)
wahrscheinlich schwerer, Berührungspunkte zwischen Recht und Mathematik oder
Physik für Forschungsarbeiten fruchtbar zu machen, als zwischen Recht und Gesellschaft, da Zusammenhänge zwischen Recht und Gesellschaft auch rechts- und gesellschaftstheoretisch anerkannt sind.
Um aber beim Beispiel der Zusammenarbeit zwischen Recht und Soziologie im
Vergleich zu einer Zusammenarbeit zwischen Politikwissenschaft und Soziologie
zu bleiben: hier hängen die Unterschiede im Kooperationspotential weniger mit einer – wie auch immer wissenschaftlich etablierten – thematischen Distanz zwischen
„Gegenständen“ zusammen, denn alle drei Bereiche: Recht, Soziologie und Politik
können betrachtet werden als in einem engen Verhältnis zueinander stehend, sich
gegenseitig prägend, und für manche Fragestellungen ohne ein Verständnis des anderen Bereiches nicht zu verstehen oder zu analysieren. Insofern müssen die Unterschiede im „Schwierigkeitsgrad“ des interdisziplinären Austausches auch anders
begründet sein.
Ich denke, dass hier vor allem der enge – auch in der Wissenschaftsorganisation
institutionalisierte – Zuschnitt der Disziplin Jura eine Rolle spielt, der eine bestimmte Sichtweise auf das Recht zur Dominanz bringt. Eine solche Vorentscheidung in Hinblick auf Fragestellung/Perspektive oder verwendete Methoden, anhand
deren Gesellschaft oder Politik untersucht werden sollen, liegt in der Politikwissen-
20
Milena Büchs
schaft und vor allem in der Soziologie nicht vor. Dies führt dazu, dass Arbeiten, die
sich aus einer anderen als der juristischen Perspektive mit Recht befassen von Juristen nicht länger als juristische Arbeiten anerkannt werden. Auf der anderen Seite ist
jedoch auch die Beschäftigung mit Recht in anderen Disziplinen wie der Soziologie
oder der Politikwissenschaft (oder Literaturwissenschaft, etc.) nicht in derselben
Weise etabliert, wie andere „Bindestrich-Bereiche“, die sich einen Platz innerhalb
oder in Verbindung mit diesen Disziplinen geschaffen haben. Dass Jura in einer anderen Weise als Disziplin institutionalisiert ist als z. B. Soziologie oder Politikwissenschaft hängt wiederum mit der Stellung des Rechts als politischem Instrument
zusammen, also damit, dass die Formulierung, Gestaltung, Auslegung/Anwendung
und Inanspruchnahme des Rechts Machtausübung beschränkt und ermöglicht. Der
Kampf um Macht ist auch ein Kampf ums Recht.
Diese Seite des Rechts wird allerdings in der rein juristischen Perspektive weitgehend ausgeblendet. Über diese Art des Zwecks des Rechts können Jurist/innen (in
Wissenschaft und Praxis) sich natürlich bewusst sein, dieser Zweck bleibt in der juristischen Handhabe des Rechts jedoch unausgesprochen. Eine Beschäftigung mit
diesem Aspekt des Rechts wird nicht als juristisch wahrgenommen, nicht als juristische Arbeit akzeptiert, kann aber auf der anderen Seite auch der Schwierigkeit gegenüber stehen, keine „Heimat“ in anderen Disziplinen zu finden.
Um zusammenzufassen: Die Schwierigkeiten, denen sich interdisziplinäre
Rechtsforschung – insbesondere in Deutschland – ausgesetzt sieht, hängen also zum
einen mit der Stellung des Rechts als Machtinstrument in der Gesellschaft zusammen, die die eng definierte Ausbildung von Praktikern, die die Kunst der sach- und
zweckgerechten Anwendung des Rechts beherrschen, erfordert, und zum anderen
mit der institutionalisierten Organisation der „Wissenschaft“ des Rechts in einer
Art, die die Ausbildung der Rechtspraktiker (und der zukünftigen Ausbilder von
Rechtspraktikern) verhältnismäßig streng von anderen Weisen der Beschäftigung
mit dem Recht abgrenzt und diese marginalisiert.
So stellt sich also auch – die in diesem Vortrag letzte Frage – ob eine Entwicklung
beobachtbar ist, dass andere Disziplinen sich der Beschäftigung mit Recht mit der
Zeit öffnen oder verschließen, wie diese Entwicklungen zu erklären sind und welche
Schwierigkeiten sich dennoch und weiterhin einer Etablierung einer interdisziplinären Rechtswissenschaft stellen – Schwierigkeiten institutioneller und inhaltlicher/
methodischer Art.
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum
Schwangerschaftsabbruch und die Ausbildung von
Rechtsbewusstsein in der Demokratie
Von Barbara Heitzmann
I. Zur Vorstellung der Ausgangsfragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
II. Theoretische Voraussetzungen
und Spezifizierung der Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
III. Forschungsdesign und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
IV. Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Der Vortrag nimmt Bezug auf das gleichnamige Forschungsprojekt im Rahmen
einer Dissertation. Er umfasst drei Punkte: Zunächst wird auf die Ausgangsfragestellung zu dem Forschungsvorhaben eingegangen. Anschließend werden die theoretischen Voraussetzungen für das Projekt vorgetragen und die Spezifizierung der
Forschungsfragen vorgestellt, um dann das Forschungsdesign und einige Ergebnisse darlegen zu können.
I. Zur Vorstellung der Ausgangsfragestellung
Der Impuls für das Forschungsprojekt, das sich mit der Stellung des Rechts in der
Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch und mit der Ausbildung von
Rechtsbewusstsein in der Demokratie beschäftigte, ging ursprünglich von dem
zweiten Urteil des BVerfG zum § 218 StGB (1993) aus, in welchem die Unrechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs bei der Letztverantwortung der betroffenen
Frau (im Gegensatz zur Indikationsstellung durch einen Arzt) u. a. deshalb für notwendig erklärt wurde, weil damit im Sinne der positiven Generalprävention ‚allgemeines Rechtsbewusstsein für den Schutz des ungeborenen Lebens‘ in der Gesellschaft erreicht werden solle. (BVerfGE 88, 203 ff, u. a. 272) Das bedeutet für die
Rechtswirklichkeit, dass das Bundesverfassungsgericht und der Gesetzgeber abtreibungswilligen Frauen auch bei Einhalten aller gesetzlichen Auflagen die Rechtfertigung ihres Handelns rechtlich verweigern.
Das Festhalten an der Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruchs im § 218
StGB stellt nicht nur bezogen auf die gesellschaftliche Akzeptanz von Abtreibung
aus feministischer Sicht, sondern auch im rechtssoziologischen Sinne eine Heraus-
22
Barbara Heitzmann
forderung an die Wissenschaft dar. Diese Herausforderung kann darin gesehen werden, dass ein so unbestimmter Begriff wie ‚allgemeines Rechtsbewusstsein‘ die generalpräventive Begründung für die Fixierung der Rechtswidrigkeit der Abtreibung
in der entsprechenden Strafrechtsregelung abgibt. Deshalb war das hauptsächliche
Forschungsinteresse in dem Projekt auf eine Bestimmung von Rechtsbewusstsein in
der Demokratie gerichtet: ‚Schwangerschaftsabbruch‘ und die ‚Bedeutung von
Recht im Lebensalltag‘ gaben die Themen für die empirische Untersuchung von
Wissen und Meinen über Recht vor.
II. Theoretische Voraussetzungen
und Spezifizierung der Forschungsfragen
Die generalpräventive Begründung für den § 218 StGB beruht auf der Annahme,
durch den Nachdruck einer Strafrechtsregelung das Rechtsbewusstsein von Bürgerinnen im Sinne des Gesetzgebers für den Lebensschutz (gegen Abtreibung und für
das Austragen der Schwangerschaft) beeinflussen zu können. Für das Projekt ergaben sich daraus folgende Fragestellungen:
– Wie ist die Stellung des Rechts im Schwangerschaftskonflikt? Oder genauer:
Kann vom geltenden Abtreibungsrecht eine Orientierung für die Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch ausgehen?
– Wie lässt sich Rechtsbewusstsein in der Demokratie bestimmen?
Diese Fragen zeigen, dass es in dem Projekt nicht nur um eine Effektivitätsforschung von Rechtsnormen ging, sondern dass sich das soziologische Interesse auf
den interaktiven Prozess von Staatsbürgerschaft und Recht, auf das dialektische
Verhältnis von Legitimität und Geltung im Wissen und Meinen der Bürgerinnen
über Recht richtete. Deshalb interessierte in dem vorliegenden Forschungsprojekt
nicht nur der Grad der Übereinstimmung von Bürgerinnen mit einem geltenden Gesetz, sondern auch, wie Bürgerinnen ihre Motivation zum Rechtshandeln oder ihr
Urteil über Rechtsfragen verbinden können mit dem Wissen um ihre mögliche politische Teilhabe an der Konstitution von Gesetzen und Recht. Diese theoretische Vorannahme leitet sich aus dem Staatsbürgerschaftsbegriff von Jürgen Habermas her
(Habermas 1992).
Rechtsbewusstsein kann dieser Bestimmung folgend zwei Seiten miteinander
verbinden:
– Zum einen sieht sich die Bürgerin als Adressatin des Rechts zur Einhaltung von
Rechtsnormen verpflichtet, auch wenn sie deren Inhalte nicht immer zu teilen
vermag.
– Zum anderen hat sie als Mitglied der Rechtsgemeinschaft im Rahmen der politischen Teilhabe ein Interesse an der rechtlichen Ausgestaltung des sozialen Raumes und kann ihre entsprechenden Ansprüche an die Normierung von Rechtsregeln zum Ausdruck bringen.
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch
23
Nur so kann ein Verständnis von Recht zum Ausdruck kommen, das im Rechtssystem eine Delegationsinstanz für die Interessen der Gesellschaftsmitglieder wahrnimmt und Recht nicht als ein bloßes Machtinstrument der Herrschenden versteht,
dem sich die Bürgerinnen ohnmächtig unterworfen sehen. Stichwort: ‚Obrigkeitsstaat‘.
Ausgehend von diesem Rechtsverständnis lässt sich demokratisches Rechtsbewusstsein in dreifacher Weise ausdifferenzieren:
– Es orientiert sich an den Grundlagen der demokratischen Rechtsordnung, vor allem an den wesentlichen Grundrechten.
– Es motiviert zur Befolgung von Rechtsnormen aus Gründen der moralischen
Selbstverpflichtung und weniger aus der Befürchtung der strafrechtlichen Sanktionsdrohungen.
– Es vermag rechtskritische Positionen in einer Regel-Herstellenden Perspektive
auszudrücken.
Rechtsbewusstsein sollte unter anderem am Beispiel von Rechtsmeinungen zum
Schwangerschaftskonflikt und zur Gesetzgebung um den Schwangerschaftsabbruch
untersucht werden. Deshalb sei hier noch kurz auf das geltende Abtreibungsrecht
eingegangen. Bei den diesbezüglichen Gesetzen, wie vor allem den §§ 218 u. 219
StGB handelt es sich um eine Rechtskonstruktion, die politisch in der Gesellschaft
sehr umstritten war und teilweise auch noch ist. Dabei muss in der Einschätzung des
geltenden Abtreibungsrechts zweierlei unterschieden werden:
– Das zu Grunde liegende Werturteil und die von der Gesellschaft formulierten moralischen Ansprüche an die abtreibungswillige Frau.
Zunächst zum Werturteil: Konkret verläuft die dilemmatische Entscheidungsfindung der betroffenen Frau im Schwangerschaftskonflikt zwischen dem ‚ungeborenen Leben‘ und dem eigenen ‚Lebensentwurf‘. Rechtlich ausgedrückt: in der Abwägung zwischen dem ‚Lebensschutz des Fötus‘ gegenüber dem ‚Persönlichkeitsrecht der abtreibungswilligen Frau‘. Im § 218 StGB wurde das Dilemma grundsätzlich entschieden (jedenfalls für die Frauen, welche keine ärztliche Indikation
erhalten) und zwar zu Gunsten des Lebensschutzes des Fötus durch die Fixierung
der Abtreibung als Unrechtmäßigkeit. Dabei darf nicht übersehen werden, dass das
Gesetz damit einem ethischen Werturteil folgt, das – der Auffassung der beiden
großen christlichen Kirchen Folge leistend – annimmt, in dem Zustand einer
Schwangerschaft während der ersten drei Monate sei bereits ein Mensch entstanden, dem der gleiche Rechtsschutz wie der betroffenen Frau zuerkannt werden
müsse. Aus dieser Gleichwertigkeit leitet sich in der grundrechtlichen Abwägung
der Unverletzbarkeit der Person des Fötus gegenüber dem Eingriff in die Autonomie der Frau der Vorrang des Lebensschutzes her. Soweit zum Werturteil im Abtreibungsrecht. – Der § 218 formuliert jedoch auch einen moralischen Anspruch an
abtreibungswillige Frauen, welcher auf die Sicherung der verantwortungsvollen
24
Barbara Heitzmann
Entscheidungsfindung zielt. Die betroffenen Frauen werden zur Einhaltung der
Fristen und zur Wahrnehmung der Beratung verpflichtet, um der Strafbarkeit der
Abtreibung als rechtswidrige Handlungsweise zu entgehen.
Das Problem um die Rechtswidrigkeitsklausel im § 218 entsteht gerade dadurch,
dass abtreibende Frauen auch dann unrechtmäßig handeln, wenn sie den moralischen Verpflichtungen, die das Gesetz ihnen auferlegt, nachkommen, und zwar deshalb, weil sie auf der anderen Seite nicht aus dem rechtlich fixierten ethischen Werturteil – Tötung ungeborenen Lebens – entlassen werden.
Soweit die wesentlichen implizierten theoretischen Voraussetzungen, die das Forschungsvorhaben in folgenden drei Schwerpunkten umzusetzen suchte:
– Wie ist die spontane Meinungsbildung von Frauen zum Schwangerschaftskonflikt? (in der Befragung zunächst ohne Impuls zum Recht)
– Welche Einschätzung haben Frauen vom geltenden Abtreibungsrecht? (in der Befragung: Vorstellung von Auszügen der §§ 218 u. 219 StGB)
– Welche Bedeutung geben die befragten Frauen dem Recht im Lebensalltag?
Fragestellungen zum letzten Punkt suchten Rechtsmeinungen jenseits derer zum
Abtreibungsrecht zu ergründen, um eine weitere empirische Basis für die Erforschung von Rechtsbewusstsein sichern zu können.
III. Forschungsdesign und Ergebnisse
1. Forschungsdesign
Die Ergebnisse des Projektes wurden aus leitfadengestützten Interviews mit Frauen aus Leipzig und Frankfurt am Main gewonnen. Die Interviews wurden im Zeitraum Herbst 1998 bis März 1999 durchgeführt. Die Auswertung und Aufbereitung
der Ergebnisse konnte im August 2001 abgeschlossen werden. Konkret untersucht
wurde die Meinungsbildung von einzelnen Frauen zum Schwangerschaftsabbruch,
die sich in sozialen, ethischen und moralischen wie aber auch stark gefühlsmäßig
unterlegten Beurteilungen ausdifferenzieren kann. Die Erfassung dieser Unterscheidung machte ein qualitatives Forschungsdesign notwendig, um die Probandinnen in
ihren eigenen Worten zum Schwangerschaftskonflikt und zur Bedeutung von Recht
im Lebensalltag argumentieren zu lassen. Soziologisch war dabei insbesondere von
Interesse
– wie sich die Sozialisation der Probandinnen unter unterschiedlichen Rechtssystemen (DDR und ehemalige BRD) und deren Rechtserfahrungen mit der Fristenregelung (in der DDR seit 1972) bzw. der Indikationsregelung (in der BRD seit
1975) im Abtreibungsrecht auswirken;
– ob beispielsweise konkrete Abtreibungserfahrungen zu anderen Urteilen über den
Wertkonflikt führen als das bloße Hineindenken in den Schwangerschaftskonflikt;
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch
25
– ob dem Abtreibungsrecht eine orientierende Bedeutung in der Meinungsbildung
zuerkannt wird bzw. wie die rechtlichen Vorgaben im konkreten Schwangerschaftskonflikt behandelt werden;
– ob es Unterschiede im Rechtsverständnis der beiden Probandinnengruppen zu anderen normativen Konflikten des Lebensalltags und zur Rechtsordnung als Ganzer gibt.
Als Expertinnen zum Thema ‚Schwangerschaftsabbruch‘ konnten Frauen aus
Leipzig und Frankfurt am Main sowohl als direkt oder indirekt Betroffene und als
Bürgerinnen zu ihren Rechtsmeinungen befragt werden. Bei der Auswahl der Interviews für die Auswertung in Fallanalysen wurden die Variablen ‚Herkunft‘ (aus
Frankfurt oder Leipzig), ‚Alter‘, ‚Zugehörigkeit zum gewerkschaftlichen oder
kirchlichen Arbeitskreis‘, ‚Elternschaft‘ und ‚eigene Abtreibungserfahrungen‘ als
besonders bedeutsam angesehen. Schichtzugehörigkeit bzw. Bildungsgrad gerieten
dabei ungünstigerweise ins Hintertreffen.
2. Zusammenfassend: Einige Ergebnisse
Aus den Stellungnahmen der befragten Frauen lassen sich folgende Hypothesen
generieren:
– Vermutlich wird der Schwangerschaftskonflikt oftmals jenseits aller materiellen
Bedingungen, ethischen und moralischen Gesichtspunkte vor allem auf der
Grundlage von affektuell angereicherten Beziehungen bzw. Beziehungsfragen
entschieden. Die Entscheidung wird als eng mit der Identität der betroffenen Frau
verbunden angesehen und kann letztendlich keinem ethischen Urteil von außen
folgen. Gleichzeitig waren sich die Probandinnen weitgehend darin einig, dass
betroffene Frauen ihre Entscheidung im Wissen um den dilemmatischen Wertkonflikt in hohem Maße selbstverantwortlich treffen. Dazu ein Beispiel:
Frau Bayer (aus Frankfurt am Main, 38 Jahre alt, Lehrerin für Religion und Gemeinschaftskunde, verheiratet, ein sechsjähriger Sohn) erzählt, dass sie viele Jahre die Sorge
hatte, keine eigenen Kinder bekommen zu können. Das habe sie sehr traurig gemacht.
I.: „(...) Warum wollten Sie unbedingt ein Kind, was verbinden Sie damit?“ Ba.: „Also
ich hatte so das Gefühl, irgendwie, ich hab hier noch so eienn Platz in mir, der durch keine andere Beziehung ersetzt werden kann. Ich hatte natürlich unheimlich Lust drauf,
ich wollte wissen, wie das ist, schwanger zu sein, ja einfach diese Möglichkeit von Frausein, also die Neugier, ja einfach diesen Aspekt erleben. Und ich habe schon immer gerne mit Kindern gearbeitet, ich hab’ überhaupt gerne Sachen mit Kindern gemacht. Hatte
eigentlich immer schon das Gefühl, ich würde gerne mehrere Kinder haben und fand
das dann schon irgendwie bestürzend zu merken, dass es so ohne weiteres dann eben
nicht ging.“
Frau Bayer berichtet weiter, dass sie früher in „anderen Lebenssituationen“ dazu nicht
die gleiche Einstellung gehabt habe. Vielmehr sei sie während ihres Studiums in einer Situation gewesen, in der sie befürchtete, ungewollt schwanger zu sein.
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Barbara Heitzmann
Ba.: „(...) Und das war aber aus so ner blöden Geschichte entstanden. Der Mensch, mit
dem ich da zusammen war, ich mochte den zwar, aber irgendwie war das mehr so ein
Versehen. Und da hab’ ich auch die Panik gekriegt. Das war kurz vor dem Examen oder
so, und da hatt’ ich ganz klar und sicher das Gefühl, dieses Kind würd’ ich nicht kriegen.
Ich konnt’ das zwar nicht bestimmen richtig, warum mir das so klar war. Also, da war
nicht mal so ein Zweifel so nach dem Motto, man könnte ja irgendwie probieren allein
erziehend oder was weiß ich. Das war irgendwie klipp und klar! Ich weiß aber nicht warum das, so heftig war das Gefühl. Ob das mit dieser Beziehung zusammenhing (...)? Ne,
das kann ich nicht genau bestimmen. Also, von daher find ich es auch sehr schwer,
wenn von außen beurteilt wird, ob Frauen eben ... Wenn’s da so Kategorien gibt, nach
denen entschieden wird, so nach dem Motto ‚du bist in der Lage, ein Kind zu kriegen
und du nicht’... Letztlich, glaub’ ich, liegt das wirklich ganz tief in der Frau selber!“
I.: „Wenn Sie jetzt durch Familie, Freunde und Kollegen Unterstützung gehabt hätten,
hätten Sie dann das Kind bekommen?“
Ba.: „Ne! Das war das Interessante, das war irgendwo auf ner anderen Ebene. Ich glaube, das wäre für mich persönlich nie ne Frage gewesen. Kann natürlich zusammenhängen, wenn ich selber das Gefühl gehabt hätte, ich will nen Kind, dann hätt’ ich immer
das Gefühl gehabt, das schaff’ ich schon. Das kommt sicher daher, dass ich relativ wohl
behütet aufgewachsen bin, und dass mir deshalb diese Phantasie sozusagen fehlt, dass
das mal gar nicht gehen könnte. Also, das wäre bei mir, glaub ich, nie ein Aspekt gewesen. Mehr so dieses innere Gefühl: Bin ich das? Kann ich das jetzt? Bin ich dazu bereit?
Fühl’ ich mich jetzt, als ob ich jetzt schwanger werden könnte und ein Kind haben könnte? Und das war mir damals, ich weiß nicht warum, nicht vorstellbar. Vielleicht hängt
das auch damit zusammen, dass mir dieser potenzielle Vater irgendwie ganz und gar
nicht lag, aber das weiß ich nicht mehr genau.“
– Die meisten der spontanen Assoziationen am Anfang des Interviews zum Thema
‚Schwangerschaftsabbruch‘ wurden mit einer Stellungnahme zum § 218 StGB
verbunden. Jedoch beinhalteten diese Einlassungen immer eine politische Einschätzung und nahmen keinen orientierenden Bezug zum Recht ein. Dazu wieder
einige Beispiele:
Bayer (aus Frankfurt und über die Kirchengemeinde gewonnen): „Die frühere so genannte Fristenregelung liegt mir am nächsten, sodass ich denke, dass es in den ersten
drei Monaten einfach ne Möglichkeit geben muss für Frauen, frei zu entscheiden, ob sie
nen Kind kriegen können, wollen oder wie auch immer. Das ist keine leichte Geschichte,
es ist mir klar! Aber ich habe auch noch nie in meinem Leben leichtfertige Frauen in diesem Zusammenhang getroffen. Es wird ja immer der Vorwurf gemacht, wenn das freigegeben würde, dass die Frauen sozusagen als Verhütungsmittel abtreiben würden. Aber
das halte ich für eine Projektion von irgendwelchen Konservativen, oder ich sag mal, repressiven Männern wie auch immer. Eigentlich ist mir noch keine Frau begegnet, die so
mit einer Schwangerschaft umgeht. ... Ja, so erst mal grob!“
Ott (aus Leipzig und über die Kirchengemeinde gewonnen): „Ja, ich finde, dass das nicht
an ein Gesetz gebunden sein sollte. Also, ich bin der Meinung, jede Frau muss das irgendwo selber entscheiden. Und mit nem Gesetz kann sie gar nichts anfangen in ihrer
Situation! ... ... ... ... Weil, wenn man in so ner Lage ist, dann muss man das entscheiden
und ist im Prinzip alleine in der Entscheidung.“
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch
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Pelz (aus Leipzig und über die Kirchengemeinde gewonnen): „Unterbrechung der
Schwangerschaft, Abtöten eines Lebewesens ... ‚Recht der Frau‘ fällt mir dazu ein ...
Arzt, Krankenhaus ... und das Recht der Frau, selbst zu bestimmen!“
Und ein Beispiel für einen persönlichen Bezug in der spontanen Assoziation:
Eich (aus Frankfurt und über die Gewerkschaft gewonnen): „Ach ja gut! Ich mein, da fallen mir natürlich eigene Erfahrungen ein, (lacht verhalten) mit Schwangerschaftsabbrüchen und mit allem, was da an Problemen mit zusammenhängt, nee! Also mit den psychischen Problemen, die man hat als Frau. (...) Und Unerfahrenheit bei mir damals
und überhaupt keine Ahnung, wie wo so was zu machen ist und so. Und die Angst nachher, noch ein gesundes Kind kriegen zu können. Also, diese Sachen fallen mir da ein!“
Vermutlich kann das Recht keine orientierende Funktion im Schwangerschaftskonflikt für sich beanspruchen; es tritt erst ins Bewusstsein der betroffenen Frauen,
wenn es um die konkrete Umsetzung eines legalen Abbruchs geht.
– Die Wiedereinführung eines völligen Abtreibungsverbotes würde nach Ansicht
der Probandinnen weitgehend missachtet. Die Rechtswidrigkeit des Abbruchs,
wie sie im § 218 StGB fixiert ist, wird spontan nicht wahrgenommen, im Rechtsurteil wird die Gesetzeskonstruktion ‚rechtwidrig aber straffrei‘ mehrheitlich als
unklare Rechtsposition kritisiert. Dazu die folgenden Beispiele aus dem empirischen Material:
Frau Bayer (Frankfurt/Kirche): „Man könnte natürlich sagen, es entspricht meinem Modell, (...) also könnte man eigentlich sagen (...), dass sich sozusagen juristisch das niederschlägt, was ich vorhin gesagt habe. (Lacht) Aber ich bin mir noch nicht ganz sicher,
ob ich mir das so vorstelle (lacht), ... (wird ernst) Ich finde das eine sehr schwierige Frage! Ich finde es nicht schlecht, dass es ein Beratungsangebot gibt. (...) Dass es ein Beratungszwang (ist), finde ich zum Beispiel schon wieder nicht so gut! Ich kann mir allerdings im Moment noch nicht so wirklich sagen ... ... ... ... Doch! Also ich finde, nen
Schwangerschaftsabbruch ist eigentlich keine Frage, die ins Gesetzbuch rein gehört! Mir
ist durchaus klar (...), dass sich der Staat natürlich auch um den Schutz des ungeborenen Lebens Gedanken machen muss. Aber irgendwie hab ich ein großes Unwohlgefühl
über diese Mäntelei. (...)“.
Frau Eich (Frankfurt/Gewerkschaft): In der Rechtswidrigkeitsklausel sieht Frau Eich
eine halbherzige Liberalisierung des § 218. Als sie früher mit den anderen Frauen für die
Streichung des § 218 gekämpft habe, sei es um die viel weiter gehende Forderung gegangen, dass die Entscheidung „wirklich“ in die Verantwortung der betroffenen Frau gestellt
werde. Frau Eich bewertet die zurzeit geltende Rechtskonstruktion zum Schwangerschaftsabbruch als eine „typisch deutsche Lösung“, die ein bisschen nachgebe, aber dann
trotzdem wieder die Rechtswidrigkeit beibehalte. Es sei noch immer nicht so, dass man
eine Abtreibung „ohne irgendwie so ein bisschen eingezogenen Kopf“ vornehmen lassen
könne. Trotzdem wäre der heute geltende § 218 aus der Sicht ihrer Generation eine riesige Erleichterung. Sie sehe darin schon einen Erfolg des früheren Kampfes. Die radikalere Lösung, die Rechtswidrigkeit aufzuheben, wäre jedoch das eigentlich Angemessene
gewesen.
Frau Glas (Leipzig/Gewerkschaft): Frau Glas sagt, dass für sie eine Trennung von Rechtwidrigkeit und Strafe „eigentlich schizophren“ sei; das könne es nicht geben. Hinter der
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Barbara Heitzmann
„Rechtswidrigkeitsklausel“ stehe für sie die Verurteilung der abtreibenden Frau unter
Einsatz einer „moralischen Strafe“. (Frau Glas erregt sich richtig an dieser Stelle,
pocht auf den Tisch und verhaspelt sich.) Am Ende verknüpft sie die ‚Rechtswidrigkeitsklausel‘ erneut mit der Ablehnung der Zwangsberatung: „Mir wird etwas übergestülpt, was nicht meines ist und was meine eigene freiwillige Entscheidung beeinflussen sollte, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, deswegen, weil ich ein Kind nicht in die
Welt setze, was ich nicht möchte.“
Frau Ott (Leipzig/Kirche): Die Tatsache, dass ein nicht-indizierter Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig sei, während das Strafrecht eine Abtreibung aus medizinischen Gründen und bei einer Vergewaltigung erlaube, erscheint Frau Ott „verworren“. Denn ihrer
Meinung nach trage die Frau im einen wie im anderen Fall die volle Verantwortung für
die Entscheidung, ihre Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Dabei sei es egal, ob das
nun ‚rechtswidrig‘ oder ‚straffrei‘ genannt werde. In ihrer eigenen Meinungsbildung
würde sich Frau Ott durch die Rechtswidrigkeitsklausel durchaus beeinflusst sehen, denn
für sie entstünde dadurch der Eindruck, dass „ich dann im Prinzip immer noch was Unrechtes (tue). Dieses Wort ‚rechtswidrig‘ schon, find’ ich in dem Zusammenhang nich’
gut! ... So nach dem Motto, ich mache eben immer noch was Unerlaubtes. ... Da hätte ich
Schwierigkeiten!“ Die Rechtswidrigkeitsklausel in dem Gesetzestext würde sie im Falle
eines Schwangerschaftsabbruches durchaus in ihrem Gewissen belasten. Frau Ott wäre
deshalb eher für eine Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs.
Die Beratungspflicht und das Einhalten der Fristen finden eher Akzeptanz als die
Festlegung auf den Lebensschutz. Manche Frauen sahen jedoch die Pflicht zur Beratung als kontraproduktiv an.
– Die Berücksichtigung der Verantwortung für den Lebensschutz war in allen Stellungnahmen implizit oder explizit mit einbezogen und zwar unabhängig von den
oben genannten Variablen wie zum Beispiel die Herkunft aus einem kirchlichen
oder gewerkschaftlichen Arbeitskreis. Die Probandinnen, welche bereits eigene
Abtreibungserfahrungen hatten, begründeten ihre damalige Entscheidung mit der
hohen Verantwortung gegenüber dem werdenden Kind, dem sie keine guten Bedingungen zum Aufwachsen bereit stellen konnten. Dabei spielte die Beziehung
zu dem entsprechenden Partner eine gewichtige Rolle. Die hohe Verantwortung
liege allein bei der betroffenen Frau, die mit der Entscheidung gegen das werdende Kind zukünftig ein Leben lang zurecht kommen müsse. Dazu bedürfe es keiner
zusätzlichen rechtlichen Verurteilung.
– Die Rechtskritik richtete sich vor allem auf die Anzweifelung der Legitimität des
§ 218 StGB, da die speziellen Erfahrungen von Frauen im Schwangerschaftskonflikt bei der Gesetzgebung zu wenig berücksichtigt worden seien.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Probandinnengruppen aus Leipzig
und Frankfurt in den Rechtsmeinungen eine Regel herstellende Perspektive einnahmen: Die rechtspolitischen Forderungen waren vor allem auf die Freiwilligkeit der
Beratung, die Einführung der Fristenlösung, die völlige Löschung aus dem Strafrecht oder in einem Fall auf eine verstärkte Pflicht zur Rechtfertigung vor der Beratungsinstanz gerichtet. Die Ergebnisse im Rahmen der ersten beiden Forschungs-
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch
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schwerpunkte ergeben keine großen Differenzen zwischen den Probandinnen aus
Frankfurt am Main und Leipzig. Dagegen zeigten sich größere Unterschiede in den
Rechtsmeinungen der Probandinnengruppen zu den Fragen nach der Bedeutung von
Recht im Lebensalltag, nach dem Umgang mit anderen normativen Konflikten und
vor allem bei der Einstellung zur Rechtsordnung als Ganzer.
Einige Beispiele:
– War die Identifikation mit der Rechtsordnung bei den Frankfurter Frauen erstaunlich groß, indessen fiel die teilweise heftige Distanzierung bei den Leipziger Probandinnen auf.
Frage: „Wie stehen Sie zur Rechtsordnung als Ganzer“?
Frau Bayer (Frankfurt/Kirche): „Grob in Ordnung“ findet Frau Bayer das Rechtssystem
der BRD. Jedoch gebe es Themen, bei denen sie sich nicht sicher sei, ob mit („unseren“)
rechtsstaatlichen Mitteln ordentlich umgegangen werde. Grundsätzlich findet sie das
Rechtssystem schon richtig. „Also emotional ist da interessanterweise ein großes Vertrauen da rein, wobei das rational, wenn ich in einzelnen Fragen nachgucken würde,
glaub’ ich, gar nicht so gerechtfertigt ist!“
Frau Fischer (Frankfurt/Gewerkschaft): „Na ja, das ist so wie ich es vorhin schon gesagt
hab’, wir haben Gesetze, die im Großen und Ganzen schon gut sind. Aber die Frage ist
ja, wie sie angewandt werden, das ist ja immer das Problem. Wenn ich so an die Grundregeln unseres Grundgesetzes denke, dann werden die alltäglich in millionenfacher Weise gebrochen und gebeugt. Und das hat immer was mit dem gesellschaftspolitischen Zustand einer Gesellschaft zu tun und insofern sag’ ich, die Gesetze sind nichts Statisches.
(...) Und dadurch, dass Gesetze, wenn sie verändert werden, im Positiven wie im Negativen immer auch Machtfragen sind, ist dann immer die Frage, welche sozialen und gesellschaftlichen Gruppen sich bei solchen Veränderungen durchsetzen. Insofern ist das
auch immer eine politische Sache, wie sich soziale Gruppen äußern, wie sie kämpfen für
Veränderungen und wie Gesetze verändert und angepasst werden. (...) Wir leben in einem demokratischen Staat, der die Grundregeln von Menschenwürde festlegt, aber wie
gesagt, es ist immer auch ne Frage, wie sie praktiziert werden und umgesetzt werden.“
Frau Glas (Leipzig/Gewerkschaft): „Das ist eine Rechtsordnung der Mächtigen, die hier
ihre großen Hände im Spiel haben und damit die Marionetten tanzen lassen. Ich fühle
mich hier nicht mitbeteiligt, das muss ich ganz ehrlich sagen. Selbst, wenn ich versuche,
mein Recht einzuklagen, dann möcht’ ich bitte eine Voraussetzung mitbringen, am besten ganz viel Geld, um da auch Recht zu bekommen. Das ist einfach nicht meins. Ich
komm’ damit auch schwer zurecht (...). Ich fühl’ mich als Bürger diskriminiert und
auch als Frau diskriminiert.“
I.: „War das Ihrer Meinung nach in der DDR anders gewesen? (...) Welche Funktion
hatte das Recht in der DDR?“
G.: „Ja, es war schon staatstragend, dieses Recht! Dahinter waren schon spezifische Ziele, die dieses System erhalten sollten (...). Das sollte so sein, am besten du bringst dich da
ein, aber vieles, was da so staatlich verordnet war, das hat eben doch Spaß gemacht.
Wenn ich so an Brigadenachmittage denke oder an gemeinsame Ausflüge oder Theaterbesuche oder an Frauenbund bei uns: Was haben wir gefeiert und sind wir fortgegangen
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Barbara Heitzmann
und haben Bazare organisiert. Ich habe das gerne gemacht. Mir war das einfach ein Bedürfnis. Ich meine, das hab’ ich heute noch, das Bedürfnis, aber ich kann es nicht mehr
so machen wie damals und es wird überhaupt nicht anerkannt, die soziale Arbeit, weil
man die nun freiwillig tut.“
I.: „Wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, könnte man fast sagen, dass aus dem alten DDRRecht mehr Gemeinschaftliches entstanden ist?.“G.: „Ja ... ja!“
Frau Pelz (Leipzig/Kirche): Die Rechtordnung in der heutigen BRD findet Frau Pelz
kompliziert und unüberschaubar. Einzelne Rechtsregelungen kenne man schon, aber
wehe, man habe intensiv damit zu tun wie beispielsweise das Arbeitsrecht, das sei alles
recht kompliziert und oftmals Auslegungssache. Früher sei es einfacher gewesen. Im
Großen und Ganzen habe das Recht im DDR-Staat die gleiche Funktion gehabt wie jetzt
auch. „Ich würde deshalb auch die DDR absolut nicht als Unrechtsstaat bezeichnen!“
Zwar seien „bestimmte Sachen“ wie die Pressefreiheit unsinnig geregelt gewesen, aber
deshalb könne man noch lange nicht von einem Unrechtsstaat sprechen. „Wenn man sich
in der DDR an die Gesetze gehalten hat, dann hatte man auch keinerlei Schwierigkeiten.
Wenn man sie übertreten hat, na gut, dann ...! Das ist jetzt genauso!“ Auf die Frage, ob es
kein Problem war, sich mit den Gesetzen in Einklang zu finden, meint Frau Pelz: „Man
ist ja damit aufgewachsen, man kannte das ja nicht anders!“
– Es bestand zwar Einigkeit bei beiden Probandinnengruppen darüber, dass Recht
grundsätzlich zur Organisation des gesellschaftlichen Lebens notwendig ist – die
westdeutschen Frauen verbanden diese Auffassung jedoch eher mit der Zuweisung an das Rechtssystem als einer Delegationsinstanz, während im Rechtsverständnis der ostdeutschen Frauen Recht meist als ein Machtinstrument der Herrschenden angesehen wurde, und die Unterwerfung unter den Rechtszwang im
Vordergrund ihrer Stellungnahmen stand.
3. Die spontanen Assoziationen von Probandinnen
Frau Bayer (Frankfurt/Kirche): I.: (...) „Also, wenn Sie mir einfach mal Beispiele sagen
würden, wo das Recht eine Orientierungsfunktion für Sie haben könnte und wo nicht?“
Ba.: „Ich denke, dass ich sozusagen nicht stehle, ich töte nicht. Recht ist schon eine ganz
wichtige Sache. Ich möchte auch nicht in einem rechtsfreien Raum hier leben, wo jeder
macht, was er lustig ist. Nur, das ist ja auch eine ganz heikle Frage, wo oder wie weit
kann Recht eben gehen und wie weit auch in diesen zwischenmenschlichen Dingen, und
darum geht es eben beim Schwangerschaftsabbruch auch. Ich kann auch sagen, wenn
ich meinen Mann umbringe, ist das auch eine zwischenmenschliche Angelegenheit, wo
ich den Staat nicht drin wünsche. Das ist ja in der Tat das ganz Heikle und das ganz
Schwierige! (...) Nein, ich bin in jedem Fall der Meinung, wir leben ja in einem so genannten Rechtsstaat und da find ich auch richtig und wichtig, dass wir uns einfach auf
bestimmte Regeln verlassen können, ne!“
Frau Fischer (Frankfurt/Gewerkschaft): I.: „Welche Bedeutung hat das Recht für uns in
unserem Leben, in unserem täglichen Leben?“
F.: „Es hat schon seine Bedeutung, nämlich gesellschaftliche Prozesse zu regulieren.
(...) Zu strafen, wenn bestimmte ethische Grenzen überschritten werden, also, wenn ich
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch
31
jemand beleidige oder ihm seine Menschenwürde raube oder ihn töte. Natürlich brauche ich Regularien, die das Recht dann ausspricht. Ich brauch’ auch Regularien, meinetwegen, damit eine gesellschaftliche Gruppe die andere nicht übers Ohr haut: also
Wirtschaftsrecht oder Steuerrecht oder was weiß ich. Das halte ich alles für notwendig,
weil ich nicht davon ausgehe, dass die Menschen per se gut sind, ja! Sondern dass diese
Regularien notwendig sind, um gesellschaftliche Prozesse mitzubestimmen und zu regeln. Aber Recht muss sich immer wieder neuen Prozessen anpassen. In dem Moment,
wo ein Gesetz hundertfünfzig Jahre alt ist und nicht mehr möglicherweise den gesellschaftspolitischen Entwicklungen entspricht, dann muss es reformiert und verändert
werden. Recht ist nicht was Statisches, sondern ‘was den gesellschaftspolitischen Prozessen Angepasstes.“
Frau Glas (Leipzig/Gewerkschaft): Spontan meint Frau Glas, dass das ‚Recht‘ in ihrem
Leben eine relativ untergeordnete Rolle spiele. „Also Recht ist für mich wichtig, wenn es
um Demokratie geht und Meinungsbildung, die nicht nur mich beeinträchtigt, sondern
auch bestimmte Bevölkerungsgruppen. Frauen oder meinetwegen die Gewerkschaft,
oder Parteien. Da ist Recht für mich eigentlich wichtig.“ (...) „Und dass mir nicht alles
genommen wird, sondern dass ich mich beteiligen kann an allem. Das empfinde ich für
Recht! Also das Recht ist nicht, dass irgendjemand um mich bestimmen darf. Ich möchte mitbestimmen und ich möchte mitmachen dürfen. Das ist für mich Recht, ja!“
Frau Ott (Leipzig/Kirche): „Ja, also, ich sehe oder achte schon drauf, dass ich nichts
Unerlaubtes mache. Da bin ich sehr, eigentlich sehr vorsichtig! (...) Ich möchte nicht für
irgendwas bestraft werden oder so was! Also, da hab’ ich große Schwierigkeiten. Möchte
am liebsten gar nicht mit irgendjemandem anecken. Das hat zum Teil sicher mit der Persönlichkeit zu tun, nee! Oder auch mit der Erziehung! So nach dem Motto, dass man
eben als anständiger Mensch betrachtet wird, nicht krumme Sachen macht in seinem
Leben. Wo gilt, dass man vor anderen ‚etwas gilt‘.“ Nicht jeder könne machen, was er
wolle. Das gäbe sonst ein heilloses Durcheinander. „Irgendwo muss das gesellschaftliche
Zusammenleben schon geregelt sein. Wenn ich jetzt vom persönlichen Schutz des Eigentums ausgehe oder so, dass nicht jeder dem anderen seine Sachen einfach nehmen
kann, so wie er will. Dass das dann schon Diebstahl ist.“
– Die Behandlung von Grundrechtspositionen wird ganz unterschiedlich gewichtet:
– Bei den ostdeutschen Frauen ging es vor allem um den Schutz der privaten Autonomie und des Eigentums. (Beispiel Frau Ott, so ähnlich jedoch auch in den
anderen Stellungnahmen).
– Die Gedankengänge der westdeutschen Frauen waren auf Sicherung des Normgefüges, auf die Ausbalancierung der persönlichen Autonomie gegenüber der
rechtlichen Sicherung des Wohlergehens aller und auf die Anpassung von
Recht an die gesellschaftliche Entwicklung gerichtet. (Siehe dazu Frau Bayer
und Frau Fischer).
– Das Bewusstsein um die Möglichkeit zur politischen Teilhabe ist beim Thema
Schwangerschaftsabbruch nahezu gleichermaßen ausgedrückt worden, kann jedoch zu den anderen Rechtsfragen andeutungsweise nur bei den Frankfurter
Frauen angenommen werden. Auffallend war, wie souverän die Frankfurter Frauen ihre Rechtskritik formulierten, während die Leipziger Frauen fast ausschließ-
32
Barbara Heitzmann
lich Klage führten über die Unklarheit und die Ungerechtigkeit des Rechts. (Siehe
z. B. Frau Pelz).
– In Bezug auf das konkrete Rechtshandeln zeigten sich die ostdeutschen Argumentationen noch stärker von der strafrechtlichen Sanktionierung beeindruckt.
Die westdeutschen Frauen sahen sich dagegen vor allem wegen der Erwartungssicherheit im sozialen Raum und der Stabilisierung des Normgefüges zur Rechtsbefolgung verpflichtet.
In der Analyse der Ergebnisse wurde auf Grund dieser Unterscheide bei den ostdeutschen Frauen ein teilweise noch autoritär fixiertes Rechtsverständnis vermutet,
das noch von den Vorgaben an das sozialistische Rechtsbewusstsein beeinflusst zu
sein scheint und große Unsicherheiten gegenüber dem demokratischen Rechtssystem aufzeigt. Dagegen ließen sich in den Stellungnahmen der westdeutschen Frauen
auch zu den anderen Rechtsfragen des Lebensalltags Ansätze zu einem demokratisch orientierten Rechtsbewusstsein entdecken. Bei dieser Bewertung muss allerdings offen bleiben, inwieweit sich nicht auch der unterschiedliche Bildungsgrad
auf diese Differenzierung von Rechtsbewusstsein auswirkt: Die westdeutschen
Frauen hatten alle eine höhere Schulbildung und entweder einen Universitäts- oder
Fachhochschulabschluss. Die ostdeutschen Frauen waren bis auf eine Probandin
nicht entsprechend ausgebildet.
Rechtsbewusstsein zum Schwangerschaftsabbruch? Die vorliegende Analyse
kommt zu der Einschätzung, dass der gesellschaftliche Konsens um die rechtliche
Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs, wie er versucht wurde, mit der Rechtswidrigkeitsklausel im § 218 StGB zu erreichen, im realen Schwangerschaftskonflikt
wie auch in der Meinungsbildung zur Abtreibung vermutlich keine große Bedeutung gewinnt. Zwar zeigten die Meinungen der befragten Frauen, dass sie dem moralischen Anspruch im Abtreibungsrecht – der Beratungspflicht und der Einhaltung
von Fristen – durchaus im Sinne einer verantwortlichen Entscheidungsfindung der
abtreibungswilligen Frauen zustimmen können, jedoch die, der ethischen Begründung des Lebensschutzes folgende, Rechtswidrigkeit der Abtreibung – teilweise sogar massiv – ablehnen.
Recht kann jedoch nur dort Geltung gewinnen, wo sich die Voraussetzungen für
ein verantwortliches Rechtshandeln mit den tatsächlichen Handlungsspielräumen
der Rechtssubjekte auch decken. Dies scheint im Falle des Abtreibungsrechtes, was
die Rechtswidrigkeitsfestlegung angeht, nicht gegeben zu sein. Denn zusammenfassend lässt sich vermuten, dass die ethisch unterlegte Verurteilung des Schwangerschaftsabbruchs als unrechtmäßige Handlung an den Erfahrungen und Identitäten
von Frauen vorbei greift, und dass das geltende Abtreibungsrecht das demokratische
Rechtsbewusstsein von Bürgerinnen nicht wirklich ernst nimmt. Zu fragen ist, ob
das Recht mit der Verurteilung der Abtreibung, welche dem generalpräventiven Anspruch folgt, nicht einfach an seine sozialen Grenzen stößt. Folgt die Konstitution
von Rechtsnormen der Frage nach der gerechten Zuschreibung von Verantwortung
Die Stellung des Rechts in der Meinungsbildung zum Schwangerschaftsabbruch
33
(Günther 2000), lässt sich im Falle des Schwangerschaftsabbruchs schnell erkennen, dass von betroffenen Frauen nicht verlangt werden kann, eine ungewollte
Schwangerschaft auszutragen. Das Recht kann in diesem Konflikt über die moralische Verantwortung, welche Frauen allemal in sich tragen, nicht hinausgreifen.
IV. Literatur
Günther, Klaus 2000: Verantwortlichkeit in der Zivilgesellschaft, in: Stefan Müller-Doohm,
Das Interesse der Vernunft; Frankfurt am Main, S. 465–485
Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main
Heitzmann, Barbara 2002: Rechtsbewusstsein in der Demokratie – Schwangerschaftsabbruch
und Rechtsverständnis, Wiesbaden
Antisemiten vor Gericht.
Überlegungen zur juristischen Verfolgung eines politischen
Radikalismus im deutschen Kaiserreich. *
Von Christoph Jahr
Wie die kontroverse Debatte um das nunmehr gescheiterte Verbotsverfahren gegen die NPD zeigt 1, gibt es auf die Frage, wie einer radikalen politischen Bewegung entgegenzutreten sei, bis heute unterschiedliche Antworten. In dieser jüngsten
Debatte, wie in den vielen davor, treten zwei Grundpositionen paradigmatisch hervor. Aus konservativer Sicht empfiehlt man primär Repression und Prävention, aus
liberaler Perspektive vor allem Erziehung und Aufklärung. Gemeinsam ist diesem
Forderungspaket aus Parteiverbot und Gemeinschaftskundeunterricht die zentrale
Rolle, die dem Staat hierbei als Lehrer und Polizist gleichermaßen zugemessen
wird. Die deutsche Debatte über die Fremdenfeindlichkeit ist, wie Christoph Menke in der „ZEIT“ feststellte, in hohem Maße „ein Diskurs im Namen des Staates“2
und reflektiert die Vorstellung, daß sich ein gesellschaftliches Phänomen zentral
und nicht zuletzt mit juristischen Mitteln steuern lasse. Mein größeres Forschungsvorhaben 3, von dem ich hier einen kleinen Ausschnitt präsentiere, versucht, die
Problematik der Steuerung politischer, radikaler Bewegungen zu historisieren, indem es untersucht, wie seit dem Kaiserreich antisemitische Agitation in Deutschland juristisch verfolgt wurde und welche Debatten sich daran knüpften, wobei ich
mich allerdings auf das Strafrecht beschränke. 4 Anders als jüngst Thomas Haury 5,
der den Antisemitismus „ideologietheoretisch“ betrachtet, kommt es mir hier zunächst auf den Antisemitismus als soziale Bewegung und soziale Praxis an. Der
Angriff des Antisemitismus auf die bestehende politische und soziale Ordnung des
* Es handelt sich hier um den im wesentlichen unveränderten, lediglich mit einem Anmerkungsapparat versehenen Vortragstext vom 3.6.2003. Daher kann das Thema hier nur ansatzweise und ausschnitthaft behandelt werden.
1 Vgl. Horst Meier u. a. (Hg.), Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?, Frankfurt
a. M. 2002.
2 Christoph Menke, Die Dunkelzonen der Demokratie, in: Die Zeit Nr. 15, 5.4.2001, S. 47.
3 Der Arbeitstitel meiner laufenden Habilitationsarbeit lautet „Antisemitismus, Recht und
Justiz. Zur Problematik der Ahndung antijüdischer Agitation in Deutschland 1871–1960“.
4 Für das Zivilrecht vgl. die kurz vor dem Abschluß stehende Dissertation von Cord Brügmann „Reaktionen der Zivilgerichte auf den Antisemitismus in der Weimarer Republik“, bzw.
seinen Vortrag im Colloquium des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin
vom 11.6.2003.
5 Vgl. Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus
und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002.
36
Christoph Jahr
Kaiserreichs war zugleich ein Angriff auf das herrschende Rechtssystem. Nicht
nur, weil es zum Standardrepertoire der Antisemiten bzw. der Völkischen Rechten
gehörte, das Römische Recht als ein Werkzeug der Juden zur Unterdrückung und
Ausplünderung der „Christen“ und „Deutschen“ zu diffamieren 6, sondern auch,
weil das Recht die kodifizierte Form jener sozialen Normen darstellt, die durch den
Antisemitismus herausgefordert wurden.
Wenn man fragt, wie sich Staat und Justiz gegenüber dem Antisemitismus verhalten haben, erscheint die Antwort im Licht der Jahre 1933–1945 klar: sie haben versagt. Als Ursache dafür, so lautet die gängige Erklärung letztlich, ist vor allem der
latente oder offene Antisemitismus der überwiegend konservativen Staats- und Justizeliten zu benennen, die den Antisemitismus vor allem deswegen nicht bekämpft
haben, weil sie ihn nicht bekämpfen wollten. 7 Diese Erklärung ist sicherlich nicht
falsch, aber doch einseitig und verengend, weil sie der Komplexität der Rechtswirklichkeit nicht gerecht wird. Das möchte ich ansatzweise am Beispiel Hermann Ahlwardts 8 zeigen, der in den frühen 1890er Jahren eine Bekanntheit bei Freund und
Feind genoß, die ihn für wenige Jahre zu einer Persönlichkeit der Zeitgeschichte
machte. Hätte es damals einen Wettbewerb „Deutschland sucht den Superagitator“
gegeben – Hermann Ahlwardt hätte ihn gewiß gewonnen.
Doch zuvor ein paar Worte zur Grundproblematik von „Antisemitismus und Strafrecht“ 9. Das Grundproblem antisemitisch motivierter Agitation ist, daß Antisemitis6 Vgl. Diethelm Klippel, Subjektives Recht und germanisch-deutscher Rechtsgedanke in
der Zeit des Nationalsozialismus, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hg.), Die Deutsche
Rechtsgeschichte in der NS-Zeit: ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen, Tübingen 1995,
S. 31–54; Manfred Krohn, Die deutsche Justiz im Urteil der Nationalsozialisten 1920–1933,
Frankfurt a. M. 1991.
7 Vgl. z. B. Cyril Levitt, The Prosecution of Antisemites by the Courts in the Weimar Republic: Was Justice served?, in: Leo Baeck-Institute Year Book 36, 1991, S.151–167. Dagegen argumentieren Udo Beer, The Protection of Jewish Civil Rights in the Weimar Republic. Jewish
Self-Defence through Legal Action, in: Leo Baeck-Institute Year Book 33, 1988, S. 149–176;
ders., Die Juden, das Recht und die Republik. Verbandswesen und Rechtsschutz 1919–1933,
Frankfurt a. M. 1986; Donald L. Niewyk, Jews and the Courts in Weimar Germany, in Jewish
Social Studies 37, 1975, S. 99–113.
8 Zu Ahlwardt vgl. Uwe Mai, „Wie es der Jude treibt.“ Das Feindbild der antisemitischen
Bewegung am Beispiel der Agitation Hermann Ahlwardts, in ders./Christoph Jahr/Kathrin
Roller (Hg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im
19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 55–80; Thomas Gondermann, „Der Rektor aller Deutschen“ Hermann Ahlwardt und der politische Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, MS.
Diplomarbeit, Hamburg 2000.
9 Die wichtigste Literatur zu diesem Thema: Maximilian Parmod (i. e. Max Apt), Antisemitismus und Strafrechtspflege. Zur Auslegung und Anwendung der §§130, 166, 185, 193, 360 11
Straf-Gesetz-Buchs in höchstrichterlicher und erstinstanzlicher Praxis, Berlin 1894; Ludwig
Foerder, Antisemitismus und Justiz, Berlin 1924; Peter Paepcke, Antisemitismus und Strafrecht, Jur. Diss Freiburg 1962; Markus Wehinger, Kollektivbeleidigung-Volksverhetzung. Der
strafrechtliche Schutz von Bevölkerungsgruppen durch die §§ 185 ff. und § 130 StGB, BadenBaden 1994; für einige Teilaspekte auch Gunnar Krone, Die Volksverhetzung als Verbrechen
gegen die Menschlichkeit unter Berücksichtigung der soziologischen, psychologischen und so-
Antisemiten vor Gericht
37
mus für sich natürlich nicht strafbar ist. Die relevanten Paragraphen bzw. Delikte sind
die Anreizung zum Klassenhaß (§130 StGB), Religionsbeschimpfung (§166 StGB),
Beleidigung (§§ 185 ff StGB) und gelegentlich Grober Unfug (§360.11 StGB). Jeder
dieser Paragraphen brachte jedoch spezifische Probleme mit sich. Das Hauptproblem
bei §166 StGB war, daß er angesichts des zunehmend rassisch argumentierenden Antisemitismus ins Leere zu laufen drohte. So wurde z.B. Theodor Fritsch, einer der fanatischsten und zugleich wirkungsmächtigsten antisemitischen Agitatoren, zwar
mehrfach wegen § 166 verurteilt, bei einem neuerlichem Verfahren um sein Buch
„Der falsche Gott“ jedoch freigesprochen, weil sich das Gericht seiner Argumentation anschloß, es gehe hier primär um die Artikulation von Judenfeindschaft, nicht
von Gotteslästerung; erstere jedoch war nicht Gegenstand des § 166. 10
Ein weiteres Beispiel dafür, daß die juristische und politische (Be)Wertung sehr
stark divergieren können, ist die Frage, ob eine kollektive Beleidigung „der Juden“
nach §§ 185 ff StGB strafbar sei, was von der h. M. abgelehnt wurde. Die dafür vorgebrachten juristischen Argumente waren durchaus stichhaltig und lassen nicht per
se auf antisemitische Haltungen ihrer Vertreter schließen. Sie übersahen jedoch, daß
es dem Antisemiten in der Regel gerade nicht auf die Beleidigung eines einzelnen
Juden ankam, sondern auf die unterschiedslose Beleidigung all jener, die er als „jüdisch“ definierte. Gerade das, was den Antisemitismus also besonders gefährlich
und hetzerisch machte, das Undifferenzierte und Entgrenzte seiner Agitation, wurde
dadurch der juristischen Ahndung entzogen, wie Alfred Hirschberg, ein führender
Vertreter des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1928 feststellte. 11 Besonders in dieser Frage kann man auch dem Reichsgericht „den Vorwurf
einer gewissen Einseitigkeit nicht ersparen“ 12, da andere Personenmehrheiten vom
ihm als kollektivbeleidigungsfähig anerkannt wurden, z. B. „die Deutschen“, „die
Großgrundbesitzer“, „alle christlichen Geistlichen“ und sogar die „deutschen approbierten Ärzte“.
Die Anwendung des § 130 StGB setzte voraus, die Juden als eine „Klasse der Bevölkerung“ zu werten, was dem Programm der Emanzipation, das die Juden gerade
zialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten des zugrunde liegenden Aggressionsprozesses sowie
des historischen und kriminologischen Hintergrundes von § 130 StGB, Jur. Diss. Mainz 1979.
10 Ed. König, Das Obergutachten im Gotteslästerungsprozeß Fritsch, Dresden 1918.
11 Alfred Hirschberg, Kollektiv-Ehre und Kollektiv-Beleidigung, Berlin 1929, S. 5–6: „Beleidigungen gegen Personengesamtheiten, die straffrei bleiben, müssen die Geltung der Gruppen in der Gesellschaft schwächen. Dies würde eine gewaltsame Hinderung der soziologischen
Entwicklungstendenz der Gegenwart, die zur Gruppenbildung drängt. bedeuten Das Problem
der Beleidigung von Einzelpersonen durch eine Gesamtbezeichnung enthält die Frage, ob das
Recht Verantwortungslosigkeit, Lockerung und Verrohung der Sitten im menschlichen Gemeinschaftsleben dulden will.“ Zur Geschichte des „Centralvereins“ vgl. Avraham Barkai,
„Wehr Dich!“ Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1938, München 2002, dort auch die ältere Literatur. Allerdings wird gerade die Rechtsschutzarbeit des
CV, die den größten Teil seiner Aktivitäten ausmachte, bei Barkai recht knapp behandelt.
12 Paepcke, S. 86; zur Geschichte des Reichsgerichts vgl. Kai Müller, Der Hüter des Rechts.
Die Stellung des Reichsgerichts im Deutschen Kaiserreich 1879–1918, Baden-Baden 1997.
38
Christoph Jahr
zu Staatsbürgern und Deutschen wie alle anderen machen wollte, zuwiderlief. Als
einige Redakteure des antisemitischen Leitblattes „Staatsbürger-Zeitung“ aufgrund
§ 130 verurteilt worden waren, stellte der II. Strafsenat des Reichsgerichts in seinem
Urteil vom 10.11.1899 fest, daß die Juden eine Klasse im Sinne § 130 seien, „weil
sie sich von den übrigen deutschen Staatsbürgern durch ihre Religion und Abstammung unterscheiden, und mit Rücksicht darauf, daß sie in diesem Gegensatze von
den Angeklagten angegriffen sind [...].“ 13 Die „Staatsbürger-Zeitung“ wertete das
als einen „jüdische[n] Mißerfolg“, weil dadurch „ein für allemal festgestellt [ist],
daß ein Jude niemals ein Deutscher werden kann.“14 Durch diese Deutung von antisemitischer Seite schien sich eine Warnung Leopold Auerbachs von 1893 vor besonderen Schutzgesetzen für die jüdische Minderheit zu bestätigen, die er als schädlich für die Nationsbildung angesehen hatte, weil der Staat „die Vereinigung“ der
verschiedenen deutschen Stämme „zu einer Nation [...] als seine Hauptaufgabe betrachtet.“ 15 Dies ist ein Beispiel dafür, wie eine richterliche Entscheidung im politischen Kontext völlig ihre Wirkung verändern konnte. Was rechtlich den Schutz der
Juden vor dem Antisemitismus erleichterte, wurde von den Antisemiten geradezu
als Bestätigung ihrer Prämisse von der grundsätzlich unaufhebbaren Fremdheit der
Juden angesehen.
Nun also, wie angekündigt, zu zwei Fallbeispielen, die Hermann Ahlwardt betreffen und an denen sich unmittelbare Einflußnahmen politischer Stellen auf Strafverfahren gegen antisemitische Agitatoren nachweisen lassen. Als Ahlwardt im Oktober 1891 eine Rede hielt, in der er die preußischen Beamten und insbesondere die
Justizbeamten für „verjudet“ erklärte, stellte der preußische Justizminister Hermann
v. Schelling höchstselbst Strafantrag wegen Beleidigung. Das zuständige Landgericht verweigerte zweimal die Eröffnung des Verfahrens, weil sich die Richter, da
selbst preußische Justizbeamte, für „Kraft Gesetzes für ausgeschlossen von der
Ausübung des Richteramtes“ erklärten. Ist dies nun ein Musterbeispiel richterlicher
Unabhängigkeit, die sich auch von höherinstanzlichen Unmutsbezeugungen nicht
beirren ließ, oder suchten die Richter nur nach einem Ausweg, um dem Antisemiten
Ahlwardt den Prozeß zu ersparen? Das erscheint in diesem Fall doch recht zweifelhaft, denn Ahlwardt gehörte zu jener Fraktion des „Radauantisemitismus“, die, nach
einer Phase anfänglicher Unterstützung oder zumindest Duldung, auch den Konservativen und der Regierung ein Dorn im Auge wurden, weil sie sich sozialrevolutionär gab und gleichermaßen gegen „Junker und Juden“ agitierte. Wie dem auch sei,
um den Fall doch in die gewünschte Richtung zu lenken, hatte Justizminister
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 32, S. 352–353.
Staatsbürger-Zeitung Nr. 58 (Morgenausg.) 4.2.1900.
15 Leopold Auerbach, Wie ist die Judenhetze mit Erfolg zu Bekämpfen?, Berlin 1893, S. 9.
Die Verbindung von Nationalismus, Staatsbürgerschaft und Antisemitismus betont Peter Pulzer, Why was there a Jewish Question in Imperial Germany?, in Leo Baeck-Institute Year
Book 25, 1980, S. 133–146; dazu zuletzt auch: Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001 und Peter Alter/Claus-Ekkehard Bärsch/
Peter Berghoff (Hg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999.
13
14
Antisemiten vor Gericht
39
v. Schelling den Präsidenten des Kammergerichts schließlich wissen lassen, daß ihm
die „rechtliche Auffassung der Mitglieder der ersten Strafkammer des Landgerichts I [...] durchaus irrig“ 16 erscheine. Diese ministerielle Ermahnung verfehlte ihre
Wirkung nicht, das Strafverfahren gegen Ahlwardt kam in Gang und endete schließlich mit seiner Verurteilung.
Ebenfalls sehr deutlich wird die vielschichtige Verquickung von Politik und Justiz im sogenannten „Judenflinten-Prozeß“ gegen Ahlwardt. 17 Dieser hatte dem jüdischen Gewehrfabrikanten Isidor Loewe vorgeworfen, der deutschen Armee
schadhafte Gewehre geliefert zu haben. Reichskanzler v. Caprivi und Justizminister
v. Schelling ließen intern wie öffentlich keinen Zweifel darüber aufkommen, daß sie
eine Verurteilung Ahlwardts wünschten – nicht, weil er Antisemit war, sondern weil
er das Ansehen der deutschen Industrie, der Armee und die Autorität des Staates bedrohte. Der Prozeß Ende 1892 verlief entsprechend: das Verhalten des Staatsanwalts
und des Vorsitzenden Richters war derart weit vom Anspruch der Unparteilichkeit
entfernt, daß es auch bei politischen Gruppierungen und Parteien für Stirnrunzeln
sorgte, die jeglicher Sympathie für den Antisemitismus vollkommen unverdächtig
waren.
Der Staatsanwalt Drescher, der eine Haftstrafe von eineinhalb Jahren forderte,
machte in seinem Schlußplaidoyer deutlich, daß Ahlwardts Agitation jenseits dessen lag, was vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt wurde: „Jeder Partei und auch
der antisemitischen Partei muß das Recht zugesprochen werden, [...] zu kritisiren
und zu tadeln, aber jede Parteibestrebung darf dabei nicht die eine Grundlage verlassen: die Grundlage der Wahrheit und Wahrhaftigkeit. [...]Wer mit ungesetzlichen
Mitteln operirt, kann nicht den Schutz des Gesetzes für sich in Anspruch nehmen.“
Befremdlich ist allerdings, daß Drescher es für angemessen hielt, der antisemitischen Bewegung gute Ratschläge für die Zukunft zu erteilen: „Politische Skandalmacher, denen nur darum zu thun ist, Aufsehen zu erregen, werden ihrer Partei mehr
schaden, als nutzen und sie werden ein Krebsschaden der Partei werden.“ 18 Auch
der Vorsitzende Richter Brausewetter erteilte dem „gemäßigten“ Antisemitismus
gewissermaßen eine juristische Unbedenklichkeitsbescheinigung, als er während
der Gerichtsverhandlung sagte: „Ich halte den Antisemitismus in gewisser Weise für
nicht ganz unberechtigt oder doch für ebenso berechtigt, wie alle anderen politischen Bestrebungen. Möge doch jemand, der Antisemit ist, immerhin diese seine
Gesinnung geltend machen, aber dann doch in andrer Weise wie der Angeklagte.“ 19
Diese Aussage geht wie selbstverständlich davon aus, daß es möglich sei, den Antisemitismus anders als in demagogischer und ehrverletzender Art zu propagieren.
16 Schelling an den Präsidenten des Kammergerichts, 25.5.1892, Geheimes Staatsarchiv
Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK), Rep. 84a/55740, Bl. 52.
17 Vgl. Christoph Jahr, Ahlwardt on Trial: Reactions to the Antisemitic Agitation of the
1890s in Germany, in: Leo Baeck-Institute Year Book 48, 2003, S. 67–85.
18 Beide Zitate nach dem Prozeßbericht in: Das Kleine Journal, 10.12.1892.
19 Otto Bähr, Der Prozeß gegen Ahlwardt, in: Die Grenzboten 51, Heft 52, 1892,
S. 609–620, hier S. 617.
40
Christoph Jahr
Der Gerichtssaal wurde von den verschiedenen Prozeßparteien also als Bühne benutzt. Dies galt in besonderem Maße natürlich für Ahlwardt und seinen Verteidiger,
aber auch für den Gerichtspräsidenten und den Staatsanwalt, die sich bemühten,
durch „schneidiges“ Auftreten einen ernsthaften Verfolgungswillen zu demonstrieren. Dadurch bewiesen sie aber vor allem ihr autoritäres Rechtsverständnis. Bemerkenswert ist, daß sich dieses obrigkeitsstaatliche Verhalten des Gerichts tatsächlich
nicht nur gegen Sozialdemokraten, sondern in diesem Fall auch gegen den radikalen
Antisemiten Ahlwardt richtete. Trotz der eindeutigen Voreingenommenheit gegen
Ahlwardt wurden seine antisemitischen Haltungen jedoch nicht grundsätzlich in
Zweifel gezogen, sondern vielmehr übernommen und gewissermaßen bestätigt.
Dies geschah dadurch, daß ein „berechtigter“ von einem „unberechtigten Antisemitismus“ abgespalten und diese beiden Formen einander gegenüber gestellt wurden.
Der „berechtigte Antisemitismus“ wurde so aus der juristischen Bewertung quasi
herausgelöst und erschien daher als legal und letztlich auch legitim. Dieses Denken
stimmte mit dem des Reichskanzlers v. Caprivi überein, der im Reichstag Verständnis dafür äußerte, „daß man Antisemit sein kann“ und der es sogar „begreiflich finden“ konnte, wenn die Rücknahme des Emanzipationsgesetzes von 1869 gefordert
würde. „Wenn aber dieses Bestreben“, so Caprivi weiter, „agitatorisch draußen betrieben wird, so werde ich mit den Mitteln, die mir dafür zu Gebote stehen, dagegen
auftreten.“ 20 Das Problem war für den Kanzler also nicht die antisemitische Agitation, sondern die antisemitische Agitation, weil sie nicht in das konservative Gesellschaftsbild paßte, in dessen Mittelpunkt die Begriffe „Ordnung“, „Obrigkeit“ und
„Staatsautorität“ standen.
Otto Kirchheimer sprach 1961 in einer klassischen Formulierung von politischer
Justiz, „wenn Gerichte für politische Zwecke in Anspruch genommen werden, so
daß das Feld politischen Handelns ausgeweitet und abgesichert werden kann.“ 21
Zwar bedarf diese Definition einer kritischen Würdigung, weil sie von einer quasi
säuberlichen Trennung in eine politische Sphäre einerseits und eine davon getrennte, unabhängig arbeitende juristische Sphäre andererseits ausgeht. Trotz dieser Einschränkung, die hier geltend zu machen ist, scheint es mir angemessen, im Kaiserreich nicht nur bei den Prozessen gegen die Arbeiterbewegung, sondern auch bei
einigen Prozessen gegen prominente Antisemiten von politischer Justiz insofern zu
sprechen, als mittels juristischer Instrumente versucht wurde, die bestehende politische Ordnung zu stabilisieren.
Politische Justiz findet freilich nicht nur und nicht erst im Gerichtssaal statt, womit ich zum dritten Punkt komme, dem Verhalten verschiedener gesellschaftlicher
Gruppierungen gegenüber antisemitischen Prozessen. Weil der „Judenflinten-Prozeß“ einer der großen Skandalprozesse der 1890er Jahre war, zwang er alle politi20 Reichstags-Sitzung 12.12.1892, Verhandlungen des Deutschen Reichstages (VdR)
Bd. 127, S. 273.
21 Otto Kirchheimer, Politische Justiz, Frankfurt a. M. 1985, S. 11; zur weiteren Diskussion
vgl. Görlitz, Axel (Hg.), Politische Justiz, Baden-Baden 1996.
Antisemiten vor Gericht
41
schen Parteien zur Stellungsnahme gegenüber dem Antisemitismus. Dabei kam es
über die Frage, ob antisemitische Agitation zu unterdrücken oder ihr weitmöglichst
Raum zu gewähren sei, zu überraschenden politischen Allianzen zwischen Konservativen, Liberalen, Katholiken, Sozialdemokraten und Antisemiten. So war es kein
liberales oder sozialdemokratisches Blatt, sondern die konservative „Norddeutsche
Allgemeine Zeitung“, die Anfang Mai 1892 ein schärferes Vorgehen gegen Ahlwardt forderte. Sie beklagte nämlich eine „sehr bedenkliche Lücke in unserem gesammten Rechtsleben“, weil „einseitige Behauptungen wochenlang ungestört in
weitestem Umfange verbreitet werden können, während die Berichtigung und Widerlegung solcher Behauptungen nach einem umständlichen und schwierigen Beweisverfahren erst so viel später nachzuhumpeln vermag.“ 22 Um derartige Erscheinungen in der Zukunft zu verhindern, forderte die „Norddeutsche Allgemeine“ eine
Verschärfung des Presserechts.
Die „Vossische Zeitung“ 23 widersprach dieser Ansicht heftig. Das Problem sei
nicht durch eine „Lücke im Rechtsleben“, sondern durch die zögerliche Haltung des
Kriegsministeriums entstanden. Ähnlich argumentierte der „Börsen Courier“, als er
feststellte, daß die Angriffe Ahlwardts im wesentlichen „nicht einem Juden gegolten“ hatten, sondern staatlichen Institutionen, vor allem der Armee. Die „Norddeutsche Allgemeine“ wolle also nur die gute Gelegenheit nutzen, um „durch ein auf
Ahlwardtereien gerichtetes Gesetz der freien Meinungsäußerung Fallstricke zu legen.“ Die Liberalen, so das Fazit, dürfe sich nicht von der Heuchelei der konservativ-gouvernementalen Antisemiten täuschen lassen. Die „Lücke“ klaffe nicht im
Gesetzesleben, „sondern in unserer Verwaltungs-Praxis.“ 24
Die von der „Norddeutschen Allgemeinen“ ausgelöste Debatte offenbarte eine
auf den ersten Blick überraschende Frontstellung, denn es waren die konservativen
Blätter, die ein entschiedenes juristisches Vorgehen gegen die antisemitische Agitation Ahlwardts forderten, während die liberalen Zeitungen darin nur eine Taktik der
Konservativen erblickten, die Pressefreiheit einzuschränken. Hier spiegelte sich
eine alte Konfrontation zwischen Konservativen und Liberalen wider. Worum es jedoch nicht ging, das war der Antisemitismus und seine Auswirkungen auf die Juden.
Diese Kontroverse ist vielmehr im Kontext der Auseinandersetzung innerhalb der
Konservativen Partei zu sehen, wie man dem parteipolitisch organisierten Antisemitismus entgegentreten solle, der in der eigenen Wählerbasis große Erfolge feiern
konnte.
Ein ähnliches Ergebnis zeigt die Auseinandersetzung im Reichstag darüber, ob
Hermann Ahlwardt – er war während des „Judenflinten-Prozesses“ bei einer Nach22 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, 7.5.1892. Ähnlich argumentierte auch die hochkonservative „Kreuz-Zeitung“ (27.5.1892): es hätten neben Loewe und Kühne „auch Ahlwardt
selbst sofort in Untersuchungshaft genommen und seine ‚Enthüllungen‘ beschlagnahmt werden
müssen. Viel Unheil und viel Aufregung im deutschen Volke wäre dadurch verhütet worden.“
23 Vossische Zeitung, 9.5.1892.
24 Börsen Courier, 18.5.1892.
42
Christoph Jahr
wahl in den Reichstag gewählt worden – die Immunität zu gewähren sei, d. h. ob er
seiner Haftstrafe entgehen könne. Hier waren es, neben Ahlwardts antisemitischen
Gesinnungsgenossen interessanter– und vielleicht auch peinlicherweise, zahlreiche
sozialdemokratische Abgeordnete, die den Antrag auf Immunität für Ahlwardt unterstützten. 25 Zu tief saß bei ihnen offensichtlich die Erinnerung an die Zeit eigener
Verfolgung, denn schließlich war das Sozialistengesetz gerade erst seit zwei Jahren
ausgelaufen. Ähnliches galt für das Zentrum, die Partei des politischen Katholizismus, die ebenfalls die Gewährung der Immunität für Hermann Ahlwardt unterstützte, während Linksliberale, Nationalliberale und ein Großteil der Konservativen ihn
gerne aus dem Reichstag verbannt gesehen hätten. Hier ergab sich also abermals
eine taktisch begründete, die traditionellen politischen Lagergrenzen sprengende,
temporäre Koalition aus Antisemiten, Sozialdemokraten und Zentrum einerseits,
Liberalen und Konservativen andererseits. Die vorherrschende Perspektive – vor allem im bürgerlichen und konservativen Lager – war dabei, daß der Antisemitismus
eine politische Bewegung wie alle anderen sei – obwohl, was geflissentlich übersehen wurde – er in Gestalt der Juden einer Gruppe von Menschen grundsätzlich jene
Rechte absprach, die er für alle anderen in Anspruch nahm.
Viele Argumente wurden anläßlich der Prozesse gegen Ahlwardt erörtert, eines
interessierte jedoch kaum jemanden außer den Juden selbst, nämlich wie diese Minderheit vor der haßerfüllten Agitation der Antisemiten geschützt werden könnte. Das
Verständnis von „Recht“ und „Gerechtigkeit“ war daher bei allen gesellschaftlichen
Gruppen instrumentell. Folglich ergibt die apodiktische Trennung von „Politik“ und
vermeintlich davon unbeeinflußter „Justiz“ wenig Sinn. Dennoch lassen sich beider
Sphären voneinander unterscheiden, folgen sie unterschiedlichen Logiken. Die
Steuerbarkeit von Gesellschaft durch juristische Mittel erscheint letztlich als kaum
mehr denn eine Projektion der staatlichen (und nicht-staatlichen) Akteure, die auf
den Antisemitismus als gesellschaftliche Bewegung meist vor allem mit Hilflosigkeit reagierten – oder ihn für eigene Zwecke zu instrumentalisierten trachteten.
Die Versuche, den Antisemitismus einzudämmen, scheiterten bekanntlich dramatisch. Dies hat sicher viele Gründe. Einer davon war wohl, daß die Bekämpfung des
Antisemitismus im Kaiserreich staatlicherseits zu sehr als eine vor allem juristisch
zu lösende Aufgabe angesehen wurde. Dabei bediente man sich jedoch teilweise
eben jener obrigkeitsstaatlichen Methoden, gegen die nicht nur Linksliberale, Sozialdemokraten und das Zentrum, sondern auch die Antisemiten mit Erfolg agitieren
konnten. Das eigentliche Problem, so bleibt zu vermuten, war daher nicht der fehlende politische Wille zur Zurückdrängung des Antisemitismus, sondern die mangelnde gesellschaftliche Abwehrkraft. Das zeigte sich auch daran, daß eine strafrechtliche Verurteilung nicht zwingenderweise stigmatisierend wirkte, sondern geradezu zum „Wahrheitsbeweis“ für den Antisemitismus wurde, Märtyrer schaffte
und so die Gruppenidentität der radikalen Antisemiten festigte. Insofern können Gerichtsprozesse wie die gegen Hermann Ahlwardt zum Nachdenken darüber anregen,
25
Plenarsitzung des Reichstages am 14.12.1892, in: VdR Bd. 127, S. 339–347.
Antisemiten vor Gericht
43
wie weit es überhaupt möglich ist, eine gesellschaftliche Bewegung wie den Antisemitismus mit juristischen Mitteln zu bekämpfen. Die Rechtswirklichkeit war jedenfalls meilenweit von allen Vorstellungen linearer Steuerbarkeit von Gesellschaft
durch Justiz entfernt.
Die Antwort auf die Frage, warum es im Kaiserreich nicht gelang, dem Antisemitismus die gesellschaftliche Basis zu entziehen, muß viele Faktoren berücksichtigen. Die Feststellung, daß der Großteil der Justiz politisch antiliberal und wohl
auch latent antisemitisch eingestellt war, reicht jedenfalls nicht aus. Vielleicht hatte
der österreichische Rechtsanwalt Josef Kopp recht, der 1884 den Reichsratsabgeordneten und Bezirksrabbiner in Floridsdorf, Josef Bloch, in der von August Rohling
gegen ihn angestrengten Beleidigungsklage vertrat. Für Kopp gab es „kein ungeigneteres Forum“ zur Bekämpfung des Antisemitismus, „als einen staatlichen Gerichtshof [...], dessen Aussprüche [...] niemals das Geringste beitragen werden, politische oder nationale, confessionelle oder sociale Fragen auch nur um einen Schritt
ihrer Lösung näher zu bringen oder Zeitkrankheiten zu heilen.“26
26
S. 1.
Josef Kopp, Zur Judenfrage nach den Akten des Prozesses Rohling-Bloch, Leipzig 1886,
„Against all Principles of Justice!“:
Santi Romano und das Recht irischer Whiteboys
und anderer Geheimgesellschaften
Clemens Körte
I.
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts formierten sich in Irland bäuerliche Zusammenschlüsse und verbanden sich zu Geheimgesellschaften. 1 Sie waren durch Eid
gebunden und durch bestimmte Symbole wie Eichenzweigen an den Hüten, weiße
Kleider oder um den Körper geschlungene Schärpen und geschwärzten Gesichter
als sogenannte Whiteboys, Rockiten, Ribbon Societies, Oak Boys erkennbar. Sie
1 Zu den älteren Darstellungen gehören: George Cornwallis Lewis, On Local Disturbances
in Ireland and on the Irish Church Question, London 1836 (S. 99). Eine differenziertere Darstellung der Geheimgesellschaften: W. E. H. Lecky, A History of Ireland in the Eighteenth Century, Band 2, London 1902 (S. 41–50). Michael Davitt setzte die Irish Land League aus der
zweiten Hälfte des 19. Jhd. in die Tradition der Geheimgesellschaften seit 1761: Michael Davitt, The Fall of Feudalism, London 1904. Neuere Darstellungen stammen von: T. Desmond
Williams (Hrg.), Secret Societies in Ireland, Dublin 1973. Zu den Whiteboys: James S. Donnelly, The Whiteboy movement 1761 – 5, in: Irish Historical Studies (IHS) 21, Nr. 81, 1978
(S. 20–54). Oakboys: James S. Donnelly, Hearts of Oak, Hearts of Steel, in: Studia Hibernica 21, 1981 (S. 7–74); Eoin F. Magennis, A ‘Presbyterian Insurrection’? Reconsidering the Hearts of Oak Disturbances of July 1763, in: IHS 31, 1998/99 (S. 165–87). Rightboys: James
S. Donnelly, The Rightboy Movement 1785 – 8, in: Studia Hibernica 17/18, 1977/8
(S. 120–202); Maurice J. Bric, Priests, Parsons and Politics: The Rightboy Protest in County
Cork 1785 – 1788, in: Past and Present 100, Aug. 1983 (S. 100–123); Nancy J. Curtin, The
transformation of the society of United Irishmen into a mass-based organization, 1794 – 6, in
Irish Historical Studies (IHS) 24, No. 96, 1986 (S. 463–492); Jim Smyth, The Men of no Property, London 1994 (S. 43); Marianne Elliott, The Defenders in Ulster, in: David Dickson et al,
The United Irishmen, Dublin 1993 (S. 222–233). Rockiten: James O’Neill, A Look at Captain
Rock, 1815–1845, in: EIRE-Ireland 17, 1982 (S.17–34); James S. Donnelly, Pastorini and Captain Rock: Millenarianism and Sectarianism in the Rockite Movement of 1821 – 4, in: Clark/
Donnelly, s. o., (S. 102–142). Zu den Ribbon Societies: Joseph Lee, The Ribbonmen, in T. D.
Williams, s. o., 1973 (S. 26–35); M. R. Beames, The Ribbon Societies: Lower-Class Nationalism in Pre-Famine Ireland, in: Past and Present 97, 1982 (S. 128–143); Tom Garvin, Defenders,
Ribbonmen and others: Underground Political Networks in Pre-Famine Ireland, in: Past and
Present 96, Aug. 1982 (S. 133–155). Auch unter anderer Bezeichnung traten Geheimgesellschaften in Erscheinung, die meist nach typischen Handlungen oder typischem Aussehen benannt wurden: z. B. Houghers (houghing), Carders (carding) Steelboys, Captain Sloughtnout,
Rightboys (deren Drohbriefe von einem fiktiven Captain Right unterzeichnet wurden), die
Oakboys hatten ein Eichenblatt an ihrem Hut stecken, die Ribbonmen ein weißes Band um ihren Körper gelegt etc.
46
Clemens Körte
traten besonders nachts in Aktion, um füreinander, für sich selbst oder für ihnen
Unbekannte Drohbriefe zu versenden, missliebige Bauern, Landarbeiter, Landlords
oder ihre Agenten oder Magistrate zu bedrohen, sie durch Eide zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen. Wer sich nicht fügte, wurde bestraft, indem man ihn verstümmelte, verprügelte oder direkt erschoss. Dabei waren die Geheimgesellschaften keineswegs erfolglos. Sie kontrollierten teilweise mit Erfolg die ländliche Szene und setzten ihre Vorstellungen von Landbesitz, Landverteilung, Verteilung von
Arbeit, der Erhebung von Abgaben und der justiziellen Administration durch. Dabei verfuhren sie sowohl im Hinblick auf ihre Ziele und ihre Methoden als auch
hinsichtlich der angewandten Symbolik nach bestimmten Prinzipien. Ähnliche Unruhen lassen sich nachweisen für England, Frankreich, Sizilien, Polen und Russland.
Die Phänomene sind keineswegs unbekannt. Probleme bereitet wohl aber ihre Interpretation: Waren sie Sozialrebellen? 2 Kriminelle, die auf das Schafott gehörten?
Protestierende, die nach dem Erhalt der Moral Economy verlangten? 3 Aber noch
viel mehr: wie beurteilen und vor allem: wie benennen wir die Prinzipien, denen sie
folgten, das alternative Recht, die Mind Map, die möglicherweise diffuse Vorstellung gerechten Zusammenlebens in einer vormodernen Gesellschaft? Wie ist also
begrifflich mit sozialen Phänomenen umzugehen, die – siehe Irland – unter kolonialistischen Bedingungen auftraten, als die englischen Nachbarn als imperiale Geste
ein Rechtssystem einführten, das von großen Teilen der Bevölkerung nicht anerkannt wurde, weil es als fremdes Recht angesehen wurde? Weiterhin stellt sich für
den Irland- und Rechtshistoriker die Frage des Umgangs mit dem Phänomen, dass
ein Teil der Gesellschaft beschloss, dass das Recht des Establishments im Ganzen
oder in Teilen nicht mehr gelten sollte und festlegte, dass andere Regeln ihr Zusammenleben besser regeln können?
II.
Fraglich ist, ob der Rechtsbegriff der an der Methodik des Positivismus orientierten Rechtsgeschichte ausreicht, um rechtliche Wirklichkeit voll zu erfassen. So gilt
nach wie vor das Wort Heinrich Brunners, dass der „dogmatisch [nämlich nach der
positivistischen Methode] nicht erfassbare Stoff für die Rechtsgeschichte totliegendes Material sei“ und die Feststellung des HRG, wonach es gelte, „den positivistischen Wissenschaftsansatz gegen die Gefahr einer Überfremdung und letzten Endes
einer Verfälschung des Gegenstandes durch aufgezwungene außerrechtliche Theo2 Hobsbawm, Eric, Sozialrebellen, Neuwied 1962; E. Hobsbawm/Rudé, George, Captain
Swing, London 1969;; zur Untersuchung verschiedener Formen sozialen Protestes auch Charles Tilly, L Tilly, R. Tilly, The Rebellious Century, 1830–1930, Cambridge 1975.
3 Edward P. Thompson, The Moral Economy of the English Crowd of the 18th. Century, in:
Past and Present Nr.50, 1971 (S.76–136); ders., The Rise of the English Working Class, London
1963; ders., Customs in Commons, London 1993; ders. Customs in Common, New York 1993.
„Against all Principles of Justice!“
47
riebildung zu verteidigen.“ 4 Dieser Auffassung folgt im Grunde auch der Teil der
Rechtstheorie, der in der institutionellen Verankerung des entscheidenden Dritten,
des Gerichts, das Kriterium für das Vorhandensein von Recht erkennt. 5
Diese Festlegung ist für den Rechtsbegriff in der historischen Perspektive zu eng.
Denn zum einen war das Gerichtswesen oft in seiner Organisation unvollständig und
vielschichtig. Zweitens konnte Recht eine Funktion als Herrschaftsinstrument einer
Richter-, Magistrats-, Landlord- und Besitzelite annehmen, deren Richtersprüche
schon keine Interpretation sondern eine Verbiegung von Recht waren. Drittens gingen lokale Machtkonstellationen, Bräuche und Gewohnheiten, organisatorische
Voraussetzungen und in der Person der Parteien liegende Merkmale in den Verlauf,
den Ausgang und die Außenwahrnehmung des Gerichtsgeschehens ein. Und viertens sind Rekurse auf Formen der Konfliktbeilegung zu beobachten, die außerhalb
der vom Staat bereitgestellten Institutionen stattfanden.
Das heißt, dass Variable vorhanden waren, die für den Bauern die Prozessführung
im Rahmen der staatlichen Institutionen zu einem schwer kalkulierbaren Risiko
werden lassen konnten. So konnte die von den Sanktionen ausgehende verpflichtende Wirkung (Sollwirkung) eher gering sein, indem ihre Bindung für einen erheblichen Bevölkerungsanteil offensichtlich nicht sehr stark war. Das heißt, dass aus der
Perspektive der Anerkennungstheorien (dass nämlich Recht von der Mehrheit anerkannt sein soll) das Recht von oben in der unteren Hälfte der sozialen Skala ein Legitimitätsproblem hatte, worauf diese reagiert, indem sie andere Normen heranzieht
oder an ein anderes Normensystem appelliert.
Festzustellen bleibt, dass die Hoheit über die Interpretation des Rechts von oben
und seine Gültigkeit wenigstens tendenziell eine Machtfrage war und dass die normative Kraft alternativer Gewohnheiten und Gebräuche zumindest auf der Vorstellungsebene der unteren Schichten eine größere normative Bindung und damit Handlungsbestimmung haben konnte.
III.
Der italienische Rechtstheoretiker Santi Romano (1875–1947) hat 1917/18 mit
seiner Veröffentlichung „Die Rechtsordnung“ (erste deutsche Übersetzung 1975)
ein Begriffsinstrumentarium zum Phänomen Recht vorgelegt, das möglicherweise
ein erweitertes und genaueres Instrumentarium darstellen kann, um rechtliche Wirk4 Handwörterbuch der Deutschen Rechtsgeschichte (HRG) E. Kaufmann, „Rechtspositivismus“, Sp. 321–335 (S. 334).
5 Stellvertretend sei hingewiesen auf Trutz von Trotha, Was ist Recht? Von der gewalttätigen
Selbsthilfe zur staatlichen Rechtsordnung, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Bd. 21, 2000
(S. 327–354). Herman Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, Göttingen 1963. W. L. A. Hart,
Der Begriff des Rechts, (Oxford 1961) dt.: München 1973.
48
Clemens Körte
lichkeit beschreiben zu können, die im Zentrum dieser Tagung steht. 6 Nun soll an
dieser Stelle nicht beansprucht werden, eine allgemeine Definition für den Rechtsbegriff zu liefern, was angesichts der vielen unternommenen Versuche vermutlich
als ausweglos gelten muss. Vielmehr soll Romanos Beitrag zur Klärung des Rechtsbegriffs für die deutsche Rechtstheorie und Rechtsgeschichte wiederbelebt werden,
um mit ihm die Abhängigkeit der Rechtsgeschichte von dem engeren und aus dem
Rechtspositivismus abgeleiteten Rechtsbegriff etwas aufzulösen.
Dazu sollen drei zentrale Begriffe aus seinem Werk dargelegt werden: „Institution und Rechtsordnung“, „Norm und Sanktion“ und „Pluralismus der Rechtsordnungen“.
Romano hat seinen Institutionenbegriff von dem französischen Rechtsphilosophen Maurice Hauriou abgeleitet. 7 Ziel dieser Theorie ist, Recht aus der lebendigen
Anschauung seiner Rechtsinstitute in ihrem organischen Zusammenhang zu begreifen. 8 Romano fasst seinen Begriff sehr weit. Er zählt „jedes konkrete soziale Etwas,
jede reale soziale Erscheinung“, die die Idee einer sozialen Ordnung trägt, als Institution.
Das heißt zum Einen, dass die Institution zwar selbst immateriell ist, jedoch nach
außen hin als eigenständig erkennbar ist. Sie ist zweitens Ausdruck der sozialen Natur des Menschen und wird insofern meist von Menschen getragen, jedoch kann sie
genauso auch ein Zusammenschluss materieller oder immaterieller, persönlicher
oder sachlicher Mittel sein, die einem bestimmten Ziel zum Nutzen eines Dritten
dienen sollen. Drittens ist sie ein geschlossenes Etwas, muss jedoch nicht vollkommen sein (d. h. es muss keine Art von Gewaltenteilung verwirklicht sein, die Gemeinschaft muss keine Satzung haben). Und viertens schließlich ist sie auf Dauer
angelegt.
Die Institution ist für Romano identisch mit Recht und einer als Einheit zu sehenden Rechtsordnung: Denn Recht kann sich nur in einer Institution verwirklichen.
Die Entstehung von Recht erfolgt im Rahmen einer Transformation eines faktischen Zustandes in einen rechtlichen Zustand. Kennzeichen des vorrechtlichen Zustandes ist seine Instabilität. Während der Transformation konsolidieren sich prozessartig die sozialen Bedürfnisse und Erwartungen und verdichten sich zu einem
sozialen System und einer sozialen Organisation. Äußeres Kennzeichen der neuen
Stabilität ist, dass sich die neuen Kräfte sicher behaupten können – und zwar nicht
mit Gewalt sondern mit der fortdauernden Macht des Rechtes.9 Auf dieser Grund6 Der Beitrag stützt sich im Wesentlichen auf die deutsche Übersetzung von Santi Romanos
1917/18 erschienenen Hauptwerk „Die Rechtsordnung“, herausgegeben von Roman Schnur
(=Schriften zur Rechtstheorie, Bd. 44), Berlin 1975.
7 Marcel Hauriou, Die Theorie der Institution, hrg. v. Roman Schnur (=Schriften zur Rechtstheorie, Bd. 5), Berlin 1965.
8 Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, Köln 1995 (S. 415).
9 Maximilian Fuchs, Die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos, Berlin 1979 (S. 51).
„Against all Principles of Justice!“
49
lage löst nun Romano auch das Problem der Legitimität von Recht, der Geltung. Er
entbindet die Geltung von einer „meta-juristischen Begründung“ 10, indem er die
Geltung an die tatsächlich vorhandene, effektive Rechtsordnung bindet. Wann sie
freilich effektiv ist, bedarf genauer Untersuchung.
Rechtsquellen sind das Gewohnheitsrecht und die Necessitá. Necessitá sei, so
gibt Fuchs Romano wieder, die „Quelle jenes Rechts, ‚das unmittelbar und direkt
den sozialen Kräften entspringt, in so kategorischer Weise, dass es nicht erlaubt ist,
zwischen die sozialen Bedürfnisse selbst, welche die Rechtsnorm bestimmen, und
der Auffindung und Erklärung der Rechtsnorm die rationale Aktivität der für diese
Erklärung zuständigen Organe zu setzen.‘“ 11 Dabei versteht Romano die Necessitá
als eine primäre Regel (die Normen sind sekundäre Regeln, die sich aus der primären Regel ableiten), die eine letzte Legitimation, eine Art Spiritus Rector und Festlegung von Zuständigkeit darstellt. Hans Kelsen, gegen den sich Romano selbst abgegrenzt hat, unterscheidet in ein Sein und Sollen und ihm dient die Grundnorm als
eine letzte Legitimation für den Sollensbereich. Romano dagegen will diese Trennung gerade überwinden: Die Necessitá und die Ordnung befinden sich in harmonischer Einheit. Die Necessitá repräsentiert dabei dasjenige Moment, das der Ordnung seine eigene Art verleiht. 12 Da jede Norm auch ihren Ursprung in der Necessitá hat, entstehen Normen durch die Gesetzgeber nicht als dessen schöpferischer
Akt. Vielmehr spürt der Gesetzgeber das soziale Bewusstsein auf und bringt es in
Gesetzesform.
Mit dieser deutlich weiteren Fassung des Institutionenbegriffs hat Romano den
Raum geöffnet für die Erfassung sehr vieler Institutionen, die sehr unterschiedlich
sein können. So können sie sich in einem Über- und Unterordnungsverhältnis zueinander befinden und können erhebliche Qualitätsunterschiede (komplexe und einfache Institutionen) aufweisen. Auch illegale, das heißt vom Staat nicht anerkannte
Ordnungen, können Institution sein, solange sie auf den Begriff der Gesellschaft zurückzuführen sind und die Idee der sozialen Ordnung enthalten. Einfache vertragliche Verbindungen können jedoch keine Institution sein, sie können allerdings – etwa
als Ehe – eingebunden sein in ein übergeordnetes Institutionsverhältnis.
Jede Institution stellt für Romano bereits eine Rechtsordnung dar. Sie ist eine
rechtliche Ordnung, die die soziale Gemeinschaft organisiert. Insofern ist die Institution eine Organisation, Struktur, ein System, ein Gebäude, indem ihr Ziel gerade
in der sozialen Organisation der sozialen Umwelt besteht. Ihr Ziel ist nicht nur das
friedliche Zusammenleben der Menschen, sondern auch die Überwindung von
Schwäche, Begrenztheit und Hinfälligkeit der Kräfte des individuellen Menschen:
„Dies alles geschieht in einem Zusammenwirken von Garantien, Gewalten, Überund Unterordnungen, Freiheiten und Einschränkungen, die die verschiedensten dis10
11
12
Fuchs, Allgemeine Rechtstheorie, s. o., (S. 53).
Fuchs, Allgemeine Rechtstheorie, s. o., (S. 54).
Fuchs, Allgemeine Rechtstheorie, s. o., (S. 58).
50
Clemens Körte
paraten Elemente zu System und Einheit zusammenfassen.“13 Da jede soziale Kraft
und jedes soziale Element auch in einem Organisationsprozess steht und in eine Institution eingegliedert werden kann, kann sie auch in das Recht einbezogen werden.
1.
Damit trifft Romano eine Absage gegenüber der Anschauung, dass sich die
Rechtsordnung in den Normen erschöpfe. Normen sind ein zentraler Bestandteil einer Institution, jedoch nicht alles. In einer Institution (§ 7) sucht sich das verallgemeinerte, objektivierte Bewusstsein, das soziale Ich, seinen Ausdruck. Es sucht sich
in einer Norm seine Ausprägung, seine Stimme. Dies – nämlich der Weg zur
Norm – ist der Prozess der Objektivierung, sozusagen der Reflex des sozialen Ichs,
das mit dem Recht identisch ist.
Diese Definition ist aus zwei Gründen entscheidend: Zum einen ist sie die genaue
Gegenposition zu Kelsen. Zum anderen hat sie einen Haken, nämlich den Verweis
auf die mögliche soziologische Rekonstruierbarkeit von Recht, mit der sich Romano
den Vorwurf des Soziologismus bzw. der „Parallelsoziologie in Juristenköpfen“ 14
eingehandelt hat.
Die Institution umfasst auch die Sanktion, und zwar nicht in Unterscheidung von
primärer und sekundärer Form (Norm als primäre, Sanktion als sekundäre Form).
Sondern als integraler Bestandteil des Rechts ist sie Teil des Rechts, denn Recht besteht nicht nur aus rechtlichen Elementen sondern auch aus solchen, von denen es in
seiner Wirksamkeit abhängt. Die Sanktion ist also nicht bloß irgend etwas Zusätzliches, neben den Normen Stehendes. Sie ist „ein den Normen vorgängiges Moment,
eine Wurzel und Basis, auf die sich jene gründen“. 15
2.
Das eigentlich Besondere an Romanos Theorie besteht jedoch darin, dass auch illegale „antithetische“ Institutionen eine Institution darstellen können, die vom Staat
nicht anerkannt werden, deren Handlungen vom Staat sogar als Verbrechen eingestuft werden und als solche verfolgt werden. Dies erklärt sich mit dem starken Gewicht, das Romano auf die soziale Organisation, die Gestaltung der sozialen Umwelt legt, die von einer Institution ausgehen muss: „die Antithese oder zumindest
der Gegensatz zum Recht ist lediglich das unüberbrückbar Anti-Soziale oder das,
was seiner Natur nach rein individuell ist“. 16 Ihr Unerlaubtsein gilt nur im Verhält13
14
15
16
Romano, Rechtsordnung, s. o., (§ 13, S. 44).
Klaus F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, Köln 1995, (S. 419).
Romano, Rechtsordnung, s. o., (§ 8, S. 29).
Romano, Rechtsordnung, s. o., (§ 14, S. 45).
„Against all Principles of Justice!“
51
nis zum Staat, und ihr die Rechtlichkeit abzusprechen, ist nur im Rahmen einer
ethisch-moralischen Beurteilung möglich. Ein Mangel an Durchsetzbarkeit disqualifiziert sie noch nicht als Institution.
Vielmehr gilt für sie wie für Romanos anderes Beispiel, die Kirche: sie verwirklichen eine eigene Ordnung und leiten ihre Normen offensichtlich nicht von staatlichen Normen ab, wie es dagegen die vom Staat erlaubten Institutionen tun und wie
es Hauriou vorsah (der seine Institutionen als staatliche oder unmittelbar als vom
Staat abgeleitete sieht) und wie es beim Ansatz des institutionalistischen Rechtspositivismus (Ota Weinberger) 17 gedacht wird.
Wir haben es also bei Santi Romano mit einem institutionalistischen Denker zu
tun, der außerdem Anhänger des Pluralismus ist. Jede Institution ist für sich genommen Rechtsordnung und befindet sich zu den übrigen Rechtsordnungen in einem bestimmten Verhältnis, als deren Teil sie gleichfalls eine neue Institution (Rechtsordnung) bilden kann (Schule – Schulbehörde – Ministerium – Staat; Staat – Völkerrecht). Die Institutionen sind miteinander verbunden, sofern sie aus einem „rechtlichen Grund“ einander relevant sind, also in einem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, einander durch eine dritte Institution verbunden sind (2 Staaten – Völkerrecht) oder in ihrer Wirksamkeit von einer anderen Institution abhängig sind. Entfällt diese Relevanz, wie dies bei illegalen Ordnungen der Fall ist, gibt es zwei Möglichkeiten: die härtere Variante greift, wenn der Staat eine Ordnung für irrelevant
erklärt und ihre Handlungen zu Unrecht erklärt. Die weichere Variante wäre, dass
der Staat sie duldet oder seine Gesetzgebung auf den bis dahin ungeregelten Bereich
ausdehnt.
IV.
Fuchs hat bereits eine Reihe der berechtigten Einwände gegen Romano vorgebracht. 18 Allerdings ist zu bedauern, dass Romano kaum in Deutschland ernsthaft
rezipiert wird. So gerät der liberale Charakter seines Rechtsbegriffs aus dem Blick,
der sich daran orientiert, was tatsächlich zu einer stabilen, rechtlichen Organisation
sozialer Gemeinschaft beiträgt. Denn legt man diesen Rechtsbegriff einer historischen (rechtshistorischen) Untersuchung zugrunde, so lassen sich eine ganze Reihe
unterschiedlicher Institutionen unter rechtshistorischer Terminologie untersuchen,
die bislang als Phänomene der Sozialgeschichte, der Kriminalitätsforschung oder
Wirtschaftsgeschichte untersucht wurden. Es besteht so die Chance, über den Institutionalismus den gedanklichen Horizont zu rekonstruieren, der zu der Bildung von
bestimmten Institutionen führte, in denen sich soziale Normen herausbildeten und
die von ihnen auch getragen wurden. Natürlich kann es nicht darum gehen, den be17 Neil MacCormick, Ota Weinberger, An Institutional Theory of Law, Dordrecht 1986; Ota
Weinberger, Law, Institution and Legal Politics, Dordrecht 1991.
18 Fuchs, Allgemeine Rechtstheorie, s. o., (S. 132–155).
„Against all Principles of Justice!“
52
grifflich weitesten Rahmen zu finden, nur um etwas als Recht zu bezeichnen, was
sonst nicht als Recht zu bezeichnen ist. Versteht man Recht allerdings nicht als statisches Normengebilde sondern als etwas Bewegliches, das sich in sozialer Gemeinschaft Geltung verschafft und das Handeln von Menschen bestimmt, dann kann mit
Romano eine Annäherung an diesen Horizont stattfinden und das Recht in all seinen
Eigenheiten, seiner Genese und Wirkung herausgearbeitet werden. Dazu gehören
auch die Symbole und Rituale, die den Geheimgesellschaften dazu dienten, zu einer
eigenen Form zu finden, ihresgleichen in die Regeln der bäuerlichen Gemeinschaft
einzuweihen und auch hinsichtlich der vorgegebenen Regeln des Staates einen Tabubruch zu provozieren. 19 Damit leistet die Differenzierung in Institutionen Romanoscher Prägung nicht nur einen Beitrag zur begrifflichen Klassifizierung sondern
darüber hinaus zum Verständnis unterschiedlicher Bewegungen, ihrer Dichte und
Komplexität sowie ihrem Verhältnis zur übergeordneten Ordnung (Common Law,
Magistratenrecht) als dem Recht, das über eindeutige administrative und strategische Vorteile verfügt hat und an dem sich jeder Whiteboy abzuarbeiten hatte.
19
Eric Hobsbawm, Sozialrebellen, Neuwied 1971, (S. 193).
Zwischen Fakten und Fiktionen:
Überlegungen zur Rolle des Vorstellungsvermögens
in der richterlichen Urteilsbildung
Christine Künzel
Wie kommt eine Literaturwissenschaftlerin dazu, sich mit der Rolle des Vorstellungsvermögens in der richterlichen Urteilsbildung zu beschäftigen? Dazu bedarf es
einer kurzen Erklärung, die zugleich als Einleitung in das Thema dienen soll. In der
Lektüre von Vergewaltigungsprozeßakten aus den frühen 90er Jahren bei der Staatsanwaltschaft des Landgerichts Hamburg im Zusammenhang der Arbeit an meiner
Dissertation 1 stieß ich auf einen der äußerst raren Fälle von Vergewaltigung im
Schlaf. 2 Der Fall war von 1990 bis 1992 zunächst vor dem Amtsgericht Hamburg 3
verhandelt und der Angeklagte gemäß § 179 StGB (Mißbrauch widerstandsunfähiger Personen) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten (die Strafe
wurde allerdings zur Bewährung ausgesetzt) verurteilt worden, dann aber aufgrund
der Berufung beider Parteien von 1993 bis 1994 erneut vor dem Landgericht Hamburg 4 beurteilt worden, wobei schließlich auf Freispruch des Angeklagten erkannt
wurde. Während der Amtsrichter die grundsätzliche Möglichkeit einer Vergewaltigung im Schlaf nicht in Frage zu stellen schien, bekannte die Vorsitzende Richterin
am Landgericht, daß sie sich einen solchen Geschehensablauf nicht vorstellen könne, d. h. grundsätzlich für unglaubwürdig hielt.
Stellte der Amtsrichter weder die generelle Möglichkeit einer Vergewaltigung im
Schlaf noch die spezielle Glaubwürdigkeit des angezeigten Falles in Frage, so formulierte die Vorsitzende Richterin beim Landgericht Zweifel an der generellen
Glaubwürdigkeit eines solchen Vergehens, woraufhin sie sich einen Antrag wegen
Befangenheit von Seiten der Nebenklägerin und deren Anwältin einhandelte. In der
Begründung des Ablehnungsantrages bezieht sich die Nebenklagevertreterin insbesondere auf eine Äußerung der Richterin in einem internen Gespräch mit den am
Prozeß beteiligten Rechtsvertretern:
1 Inzwischen erschienen unter dem Titel Vergewaltigungslektüren: Zur Codierung sexueller
Gewalt in Literatur und Recht, Frankfurt a. M./New York 2003.
2 Zu den Problemen und Vorurteilen in der kulturellen Bewertung einer Vergewaltigung in
Ohnmacht und Schlaf vgl. das entsprechende Kapitel in meiner Arbeit Vergewaltigungslektüren, S. 108 ff.
3 Vgl. ein unveröffentlichtes Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 2. Dezember 1992.
4 Vgl. ein unveröffentlichtes Urteil des Landgerichts Hamburg vom 27. Juni 1994.
54
Christine Künzel
„... äußerte sich die Vorsitzende Richterin am Landgericht [...] wie folgt:
Sie könne sich nicht vorstellen, daß eine solche Tat, wie sie dem Angeklagten vorgeworfen werde, im Schlaf begangen werden könne, ohne daß die Verletzte davon nicht etwas
merke, z. B. von den Vorbereitungshandlungen wie Herunterziehen des Slips und der
Leggins.“ 5
In einer „Dienstlichen Äußerung“ nimmt die Richterin folgendermaßen Stellung:
„Meines Erachtens habe ich allerdings deutlich gemacht, daß mein persönliches Vorstellungsvermögen bisher nicht ausreicht, um den von der Nebenklägerin geschilderten Geschehensablauf in allen Einzelheiten nachzuvollziehen. [...]Ich fühle mich nicht befangen.“ 6
Der Befangenheitsantrag wird schließlich per Beschluß des Landgerichts Hamburg mit folgender tautologischer Begründung abgelehnt:
„Die Äußerung der abgelehnten Richterin, sie könne sich nicht vorstellen, daß eine Tat,
wie sie dem Angeklagten vorgeworfen wird, im Schlaf der Nebenklägerin begangen worden sei, ist kein Grund zum Mißtrauen in die Unparteilichkeit der abgelehnten Richterin. Daß die abgelehnte Richterin diesen Vorgang für schwer vorstellbar hält, ist im Gegenteil nichts als zutreffend, weil dieser behauptete Vorgang in der Tat schwer vorstellbar ist.“ 7
Als Literaturwissenschaftlerin erweckte die zentrale Rolle des Vorstellungsvermögens in diesem Fall mein Interesse, wird Vorstellungsvermögen doch im allgemeinen als eine Angelegenheit der schönen Künste betrachtet und kaum mit den Fähigkeiten und Aufgaben eines Richters/einer Richterin assoziiert. Auch empörte
mich der vorliegende Fall insofern, als ich mir ausmalte, daß es in Fällen, wo es an
„harten Fakten“ als Beweismitteln mangelt, vom „guten“ oder „schlechten“ Vorstellungsvermögen einer Richterin abhängen sollte, ob eine Verurteilung stattfindet
oder ein Freispruch ergeht. Als ich dann einen Blick in die Fachliteratur warf, die
die Fähigkeiten und Aufgaben des Richteramtes betrifft, mußte ich feststellen, daß
der Begriff des Vorstellungsvermögens, der in dem oben genannten Fall im Zusammenhang der Urteilsfindung von zentraler Bedeutung gewesen war, hier so gut wie
keine Rolle spielt(e). Aufgrund dieser Diskrepanz drängten sich mir allerdings einige Fragen auf: Setzen Rechtswissenschaftler ein natürliches Maß an Vorstellungsvermögen bei Richtern und Richterinnen voraus? Wird ein bestimmtes Maß an Vorstellungsvermögen zugrunde gelegt (und wenn ja, wie stellt man dies fest), oder begnügt man sich damit, daß jede Richterin ihr persönliches Maß an Vorstellung mitbringt? Dann hätte man unter Umständen Pech bzw. Glück, wenn man einer Richterin begegnet, deren Vorstellungsvermögen sehr gut bzw. unzureichend ausgeprägt
ist? Wenn das Vorstellungsvermögen eine so zentrale Rolle in der Urteilsfindung
Aus dem Schreiben der Nebenklagevertreterin vom 27.09.93; Hervorhebung C. K.
Aus der „Dienstlichen Äußerung“ der Richterin am Landgericht vom 1.10.93, Hervorhebung C. K.
7 Landgericht Hamburg, Beschluß vom 17.11.93, Hervorhebungen C. K.
5
6
Zur Rolle des Vorstellungsvermögens in der richterlichen Urteilsbildung
55
spielt, warum gibt es dann keine Überlegungen dazu, wie man diese Fähigkeit fördern bzw. ausbilden könnte?
Bevor ich mich der Frage zuwende, um welche Art von Fähigkeit es sich handeln
könnte, auf die Richter bei der Bildung ihrer Überzeugung zurückgreifen können
müssen, soll zunächst in aller Kürze das Wesen der richterlichen Überzeugung näher betrachtet werden. Im Gegensatz etwa zu den – erst im 19. Jahrhundert abgelösten – „Beweisregeln“ gibt es heute im Prinzip keine Vorschriften bezüglich der
Voraussetzungen dafür, daß eine Richterin eine Tatsache für bewiesen oder nicht bewiesen zu halten habe. 8 In der Prozeßmaxime „freie Beweiswürdigung“ überschneiden sich, wie Bertram Schmitt darlegt, verschiedene „Problemkreise, deren Inhalt
und Wechselwirkung bislang nur unzulänglich geklärt worden sind“ 9. Das Adjektiv
„frei“ – in dem Konzept der „freien Beweiswürdigung“ – scheint zunächst irreführend, werden in der juristischen Literatur doch verschiedene Faktoren aufgezählt,
die die Aufklärungsarbeit des Tatrichters im Strafprozeß in nicht unerheblichem
Maße begrenzen (z. B. Denkgesetze, Gesetze der Logik, naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Erfahrungssätze und Beweisverbote etc.), doch besteht die ‚Freiheit‘ des
Richters letztendlich in dem subjektiven Moment der „richterlichen Überzeugung“,
die in der juristischen Lehre als „persönliche Gewißheit“ des Tatrichters verstanden
wird. 10
In der juristischen Literatur wird die richterliche Überzeugung als „ein rein subjektiver Akt“ 11 bzw. als „innere Stellungnahme des Richters zum Sachverhalt“ 12 bezeichnet, die sich von einem naturwissenschaftlich-mathematischen Denkprozeß
nicht zuletzt dadurch unterscheide, daß es im Hinblick auf das richterliche Urteil
„keine mathematische Sicherheit geben“ könne, sondern vielmehr „ein persönliches
Fürwahrhalten als Sicherheitskriterium, das sich aber eben nicht als objektiv richtig
erweisen lasse wie etwa ein mathematischer Lehrsatz“ 13.
Vor diesem Hintergrund macht es möglicherweise mehr Sinn, die richterliche
Überzeugungsbildung von mathematisch-naturwissenschaftlichen Methoden abzukoppeln und „geisteswissenschaftlichen Methoden“14 anzunähern, da mathematisches Denken „etwas ganz anderes“ sei „als die bei der Feststellung des Sachverhal8 Kleinknecht/Meyer-Goßner, Strafprozeßordnung (StPO), 44. Aufl., München 1999, § 261,
Rdn. 11, S. 908.
9 Bertram Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung im Strafprozeß, (= Kriminalwissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 28), Lübeck 1992, S. 175.
10 Schmitt, ebd., S. 205.
11 Schmitt, ebd.
12 Schmitt, ebd., S. 203, Fn. 246.
13 Egon Schneider, Beweis und Beweiswürdigung unter besonderer Berücksichtigung des
Zivilprozesses, 4., vollständig überarbeitete Aufl., München 1987, S. 17; vgl. auch Gerhard
Walter, Freie Beweiswürdigung (= Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 51),
Tübingen 1979, S. 104 und auch Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung, S. 201.
14 Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung, S. 104.
56
Christine Künzel
tes notwendige wertende und beurteilende Überzeugungsbildung des Richters“, so
Gerhard Walter in seiner Abhandlung zur freien Beweiswürdigung von 1979. 15
Obwohl der Richter „einen ihm fremden, in der Vergangenheit liegenden Vorgang
zu rekonstruieren hat“, scheint der „vielfach gezogene Vergleich zur Tätigkeit eines
Historikers“ 16 nicht recht zu überzeugen. Der Freiraum, den die Richterin bei ihrer
Entscheidungsfindung hat, muß anscheinend durch eine „Zusatzleistung“17 – eine
„normative“, „moralische Leistung“ 18 – ergänzt werden, die ein bestimmtes Vermögen voraussetzt. Und obwohl weder die Strafprozeßordnung selbst noch die Kommentar- und Fachliteratur zur freien Beweiswürdigung nähere Angaben über den
Charakter eines solchen Vermögens enthalten, der Anspruch an die richterliche
Überzeugung ein solches jedoch vorauszusetzen scheint und auch in der Rechtspraxis – wie der oben benannte Fall einer Vergewaltigung im Schlaf zeigt – sehr wohl
von dem Vorstellungsvermögen einer Richterin die Rede ist, darf man annehmen,
daß das Vermögen bzw. die Fähigkeit, sich etwas vorstellen zu können, möglicherweise eine zentrale Rolle im Prozeß der richterlichern Überzeugungsbildung spielt.
Vorstellungsvermögen oder Einbildungskraft (gr. phantasía; lat. imaginatio) bezeichnen „die Fähigkeit eines Menschen, sich kontrafaktische oder in der aktuellen
Wahrnehmung nicht vorhandene Gegenstände vorstellen zu können. 19 Die Erkenntnisfunktion der E[inbildungskraft] besteht in der Vermittlung von sinnlicher Erfahrung und Verstand.“ 20 Auch auf die Gefahr hin, sich bei Richtern und Richterinnen
unbeliebt zu machen, denen es wohl eher behagen dürfte, ihre Tätigkeit mit der eines Historikers verglichen zu wissen 21 – was zumindest einen gewissen Anschein
von ‚Objektivität‘ suggerieren würde –, soll hier der Versuch unternommen werden,
die richterliche Zusatzleistung, die auch bzw. gerade dort erforderlich ist, wo Naturwissenschaften „gesicherte“ Erkenntnisse liefern 22, mit der kreativen Tätigkeit eines
Dichters zu vergleichen.
Dabei kommt der Richterin eine Doppelfunktion zu: Zunächst einmal muß sie die
Rolle einer ‚Leserin‘ oder ‚Rezipientin‘ einnehmen, indem sie Akten liest, Aussagen anhört, in Augenschein nimmt etc., wobei sie einer Leserin im üblichen Sinne
Walter, Freie Beweiswürdigung, S. 104.
Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung, S. 176.
17 Klaus Volk, Kausalität im Strafrecht, Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 3, 1996, S.106.
18 Volk, ebd., S. 106.
19 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 19, Wiesbaden 1974, S. 742.
20 Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Ansgar Nünning (Hg.), Stuttgart/Weimar
1998, S. 109–110.
21 Vgl. Elaine Scarry, The Made-Up and the Made-Real, in: Field Work: Sites in Literary and
Cultural Studies, Marjorie Garber/Rebecca L. Walkowitz/Paul B. Franklin (Hg.), New York/
London 1996, S. 221: „The institutional signs of this peculiar outcome are visible in the fact
that practitioners of disciplines such as law, physics, and history sometimes see the application
of literary questions to their discipline’s subject matter as the prelude to an attack on that subject matter.“
22 Volk, Kausalität im Strafrecht, S. 106.
15
16
Zur Rolle des Vorstellungsvermögens in der richterlichen Urteilsbildung
57
überlegen ist, da sie die Aussagen der Zeugen – bis zu einem gewissen Grad – lenken
kann. In einem zweiten Schritt dann muß die Richterin selbst die Rolle einer übergeordneten Erzählinstanz annehmen, um eine Urteilsbegründung aus zwei (oder
mehreren) Erzählungen von Zeugen zu schaffen. In ihrer Rolle als Autorin ist die
Richterin gezwungen zu „selegieren“ und zu „kombinieren“ und muß somit in der
Bildung seines Urteils notgedrungen auf Strategien oder „Akte des Fingierens“ 23
zurückgreifen. Die Erzählposition der Richterin entspricht in gewissem Maße der
einer „Über-Zeugin“, d. h. einer Erzählerin, die selbst nicht an dem zu verhandelnden Geschehen beteiligt war, die jedoch quasi in die Rolle einer „allwissenden“ bzw.
auktorialen Erzählerin 24 schlüpfen muß, um jenseits der Zeugenaussagen der am
Geschehen direkt beteiligten Personen eine allgemeingültige autorisierte Erzählung, die Urteilsbegründung, zu verfassen. Die Urteilsbegründung stellt eine Erzählung dar, in der die Autorschaft auf einen fiktiven ‚objektiven‘ Erzähler übertragen
wird, der sich hinter dem Begriff „Gericht“ oder „Kammer“ verbirgt.
Zwar kann und muß die richterliche Vorstellungsleistung wohl nicht an die eines
hervorragenden Schriftstellers heranreichen, sie sollte jedoch das Vorstellungsvermögen eines durchschnittlichen Menschen übersteigen. Wenn man Heinz Hillmann
in seiner Annahme folgt, daß der „Schriftsteller“ im wesentlichen „Alltagsmensch“
sei, jedoch ein „gesteigerter“ 25, so könnte man im Hinblick auf die Richterin sagen,
daß diese in gewisser Weise auch über eine „gesteigerte“ Form des Vorstellungsvermögens verfügen sollte. Auch Richterinnen müssen über eine „Kompetenz“, d. h.
über eine „ausweisbare Fähigkeit“ verfügen, „gültige und brauchbare Aussagen zu
machen über gesellschaftliche Handlungen“ 26 – im Falle der Richterin sind diese
Aussagen Urteile.
Obwohl es sich – auch über den Rahmen der Literatur- und Kulturwissenschaften hinaus – inzwischen herumgesprochen hat, daß „Akte des Fingierens“27 oder
„imaginative Verfahren“ 28 nicht unbedingt „die der Realität abgewandten Seiten,
geschweige denn deren Gegenbegriff“ darstellen, sondern vielmehr „als Bedingungen für das Herstellen von Welten“ 29 fungieren, „deren Realitätscharakter wieder23 Vgl. Wolfgang Iser, Fiktion/Imagination, in: Fischer Literatur Lexikon, Ulfert Rickfels
(Hg.), Frankfurt a. M. 1996, S. 662–679, hier S. 665.
24 Vgl. Jörg Schönert, Exkurs zur Theorie des Erzählens, in: Erzählte Kriminalität: Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in der Strafrechtspflege (Publizistik und
Literatur zwischen 1770 und 1920), ders., in Zusammenarbeit mit Konstantin Imm und Joachim Linder (Hg.), Tübingen 1991, S. 12 f.
25 Heinz Hillmann, Alltagsphantasie und dichterische Phantasie: Versuch einer Produktionsästhetik, Kronberg 1977, Einleitung, S. 3.
26 Hillmann, Alltagsphantasie und dichterische Phantasie, Einleitung, S. 1.
27 Wolfgang Iser, Akte des Fingierens. Oder: Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?, in:
Funktionen des Fiktiven, Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hrsg.), München 1983, S. 121–151.
28 Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in:
ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1996, S. 132.
29 Vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, insbesondere
Kapitel VI., Abschnitt 5: „Fakten aus Fiktionen“, S. 126 ff.
58
Christine Künzel
um nicht zu bezweifeln“ 30 ist, scheint das Konzept eines „moralischen Vorstellungsvermögens“ im Bezug auf richterliches Urteilen in juristischen Fachdiskursen 31 weiterhin eher als Oxymoron, als die paradoxe Gegenüberstellung zweier unvereinbarer Konzepte betrachtet zu werden. 32 Das mag nicht zuletzt daran liegen,
daß die Imagination über eine Geschichte verfügt 33, die sie zeitweise mit dem Irrationalen, mit Wahn(sinn) und Lüge identifizierte. Doch spielt das Vorstellungsvermögen seit der Antike immer wieder eine zentrale Rolle im Hinblick auf erkenntnistheoretische Fragen in verschiedenen kulturellen Diskursen. 34 Versteht man Vorstellung als ein von „erinnerungsgeladenen, kognitiven Absichten“ 35, d. h. von Wissen und Erinnerung gelenktes Verfahren, um Abwesendes oder Nicht-Gegebenes
gegenwärtig zu machen, 36 dann muß man ihr unweigerlich rationale Qualitäten zusprechen; und man kann dann – mit Mark Johnson – von einer „imaginativen Rationalität“ (imaginative rationality) 37 sprechen. Das würde bedeuten, daß Imagination
als Modus der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung von Wissen ebenso ernst
genommen werden muß wie die sogenannten ‚objektiven‘ Wissenschaften. 38
Da eine Richterin im allgemeinen nicht mit prototypischen Fällen, sondern vielmehr mit unterschiedlichen Schilderungen von bestimmten Situationen konfrontiert
ist, die eine Anzahl individueller Merkmale aufweisen, kann dieses Geschehen nicht
ohne weiteres unter einen bestimmten gesetzlichen Tatbestand subsumiert werden. 39 Auf der anderen Seite ist es nicht möglich, die in den Gesetzen formulierten
Tatbestände dergestalt zu erweitern, daß sie jeden individuellen Fall abdecken, weil
die normativen Rechtsnormen allein kein Potential für eine „imaginative Ergänzung“ bereitstellen. 40
Iser, Fiktion/Imagination, S. 663.
In seiner Philosophie des Als Ob (Berlin 1911) spricht Hans Vaihinger bereits von „juristischen Fiktionen“; und auch im Lehrbuch von Bender/Röder/Nack zur „Glaubwürdigkeitsund Beweislehre“ (Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1, München 1981) heißt es, daß die
Notwendigkeit, überhaupt Justiz zu praktizieren, den Richter zwinge „zu fingieren“ (S. 178).
32 Vgl. Mark Johnson, Moral Imagination: Implications of Cognitive Scienece for Ethics,
Chicago/London 1993, S. 207.
33 Vgl. Iser, Fiktion/Imagination, S. 668.
34 Vgl. Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen: Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins
und der philologischen Erkenntnis, 1. Aufl., Frankfurt/M 1990.
35 Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie,
Frankfurt/M 1991, S. 315.
36 Vgl. Rüdiger Campe, Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung, in:
Poststrukturalismus, Gerhard Neumann (Hg.), Stuttgart/Weimar 1997, S. 208–225.
37 Johnson, Moral Imagination, S. 187 und S. 200.
38 Vgl. Goodman, Weisen der Welterzeugung, S. 127; Iser, Fiktion/Imagination, S. 666 und
auch Albrecht Koschorke, Körperströme: Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999,
S. 273.
39 Frank Laudenklos kritisiert ein solches statisches Modell, das juristische Arbeit grundsätzlich lediglich auf die Anwendung bereits vorfindlicher normativer Rechtsnormen reduziert.
Vgl.ders., Rechtsarbeit ist Textarbeit, in: Kritische Justiz (KJ), 30 (1997), S.142–158, hier S.144.
40 Vgl. Johnson, Moral Imagination, S. 190.
30
31
Zur Rolle des Vorstellungsvermögens in der richterlichen Urteilsbildung
59
Aus diesem Dilemma folgt: Die Notwendigkeit, überhaupt Justiz zu praktizieren,
zwingt den Richter zu fingieren, daß das, was auf eine – gedachte – große Zahl vergleichbarer Fälle zutrifft, auch auf den konkreten einzelnen Fall anwendbar sei. 41
Das besondere Moment des richterlichen Überzeugungsbildungsprozesses
scheint demnach außerhalb der gesetzlichen Vorgaben zu liegen, nämlich in der
Möglichkeit bzw. Fähigkeit, sich imaginativer Verfahren zu bedienen. Das Konzept
der Überzeugungsbildung fordert von einer Richterin, daß sie die Grenzen empirischer Wahrscheinlichkeit und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse überschreite,
um zu einem „juristisch korrekten“ und „gerechten“ 42 Urteil zu gelangen. „Grenzüberschreitung“ ist – mit Wolfgang Iser gesprochen – die „Grundbedeutung von
Fingieren“ 43. Nach Iser besetzt die Imagination „die basale Leerstelle der empirischen Erkenntnistheorie“ und kann als ein „vervollständigendes Vermögen oder
Verfahren“ 44 betrachtet werden. Im Hinblick auf richterliches Urteilen würde das
bedeuten, daß es letztendlich imaginative Verfahren sind, derer sich Richter und
Richterinnen bedienen müssen, um die Leerstelle zwischen richterlicher Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung zu schließen.
Fiktionen treten in Wissenslücken. Sie setzen rechtliche Bedeutungen an die Stelle weiterer Nachfragen, Anhörungen und Untersuchungen. Im Laufe eines Verfahrens wird plötzlich das „Amt“ deutlich. Die Amtsinhaber beenden das Verfahren mit
ihren Vorstellungen. Das kann schnell gehen oder lange dauern. Klar ist nur, daß
nicht alle Vorstellungen selbsterzeugt sein können und dürfen. Das Rechtsverfahren
hat einen unvermeidlichen Realitätsbezug. 45
Um auf eine meiner Anfangsfragen zurückzukommen, möchte ich hier noch einmal die Frage stellen, wie das Vorstellungsvermögen von Richtern und Richterinnen
ausgebildet, erweitert bzw. trainiert werden könnte. Denn wenn es eine so zentrale
Rolle im Prozeß des Urteilens spielt, dann dürfte man die Qualität dieser Fähigkeit
nicht dem Zufall überlassen, sondern müßte der Förderung desselben einen festen
Platz in der Ausbildung von Richtern und Richterinnen zukommen lassen. Ohne
hier angesichts des Zeitmangels ein komplexes Programm zu einem effektiven Imaginationstraining entwerfen zu können, möchte ich gerade in dieser Hinsicht für in41 Bender, Rolf/Röder, Susanne/Nack, Armin, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1:
Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, München 1981, S. 178, Hervorhebung C. K.
42 Vgl. Schmitt, Die richterliche Beweiswürdigung, S. 176. Theo Rasehorn hinterfragt kritisch, was die sogenannte „Richtigkeitsgewähr“ eines Urteils bedeute: „Soll das Ergebnis juristisch korrekt sein? – Soll es gerecht sein? – Soll es der Richter auf die Rechtsvorstellungen
der Parteien abstellen? – Soll es von ihnen jedenfalls akzeptiert werden oder letztlich akzeptiert
werden können?“ Vgl. ders., Der Richter zwischen Tradition und Lebenswelt, Baden-Baden
1989, S. 83.
43 Iser, Fiktion/Imagination, S. 662.
44 Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, S. 298. Iser bezieht sich hier auf Humes Begriff der
Imagination als „completing power“.
45 Thomas-Michael Seibert, „Der Richter gilt als unparteilich“: Fiktionen des Rechtsverfahrens, in: Zeitschrift für Semiotik, Jg. 12, H. 3 (1990), S. 187–196, hier S. 188.
60
Christine Künzel
terdisziplinäre Pilotprojekte im Bereich Recht und Literatur – Literatur und Recht
werben, die sowohl RechtswissenschaftlerInnen als auch LiteraturwissenschaftlerInnen ein Forum für eine kritische Auseinandersetzung mit Konzepten und Problemen des Vorstellungsvermögens bieten könnten.
„Zu Beybehaltung künftiger besserer Richtigkeit“
Heiratskontrakte und wittibliche Verträge
(2. Hälfte des 18. Jh.) 1
Margareth Lanzinger
I. Historische Anthropologie und Mikrogeschichte/Geschlechtergeschichte
und Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
II. Räumliche, soziale und zeitliche Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
III. Kontrakte, Verträge, Pakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
IV. Der rechtliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
V. Regelungen mittels Heirats-Kontrakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
VI. Wittibliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
VII. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
Eine Testamentseröffnung des Jahres 1797: Maria Gutwengerin erfährt dabei, dass
ihr der verstorbene Ehemann den lebenslänglichen Genuss seines Vermögens zugesprochen hat, allerdings nur solange sie im Witwenstand bleibt. Maria Gutwengerin
ist zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits wieder verheiratet, worauf vor Gericht lapidar
konstatiert wird: „[F]olglich sehe diesselbe von selbst ein, daß ihr dieses Testament
keinen Vortheil bringe.“ Doch dann kommt ein vor der ersten Ehe abgeschlossener
Heiratskontrakt ins Spiel. Maria Gutwengerin gibt an, dieser „liege in Verwahr in seiner Gewands Truhe“, so dass man ihn „bey der Inventur erheben könne; auch behalte
sie sich bevor, nach Einsicht dessen, das weitere vor- und anzubringen“. 2
Im Zuge der Inventarisierung taucht dann tatsächlich der angegebene Heiratskontrakt vom Januar 1788 auf. Damit verändert sich die Situation schlagartig: Punkt
drei des Kontraktes zufolge, steht Maria Gutwengerin der Vermögensgenuss bis
zum erfüllten 18. Lebensjahr des Kindes erster Ehe – damals sechs Jahre alt – zu,
1 Hierbei handelt es sich um Ergebnisse eines Projektteiles. Das vom Jubiläumsfonds der
Oesterreichischen Nationalbank finanzierte Gesamtprojekt war geleitet von Michael Mitterauer und lief unter der Titel „Normen in der Praxis – Praktiken der Norm. Norm und Lebenswelt
aus historisch-anthropologischer Sicht“ (Laufzeit 2001–2002). Die Einreichung eines Nachfolgeprojektes ist in Vorbereitung.
2 Tiroler Landesarchiv (TLA) Innsbruck, Verfachbuch Innichen (VBI) 1797–98 (89/226),
fol. 177r, 18. Mai 1797.
62
Margareth Lanzinger
und zwar ohne die Witwenklausel aus dem Testament. 3 Die im Heiratskontrakt als
vertragliche Vereinbarung festgehaltene Bestimmung hatte Vorrang vor dem im Testament bekundeten letzten Willen. So kam es zu einem Erbausgleich zwischen dem
jung verheirateten Ehepaar auf der einen Seite und dem Vormund des Kindes – „mit
Einfluß“ der zwei Geschwister des Verstorbenen – auf der anderen Seite.
Diese kurz skizzierte Geschichte macht die Tragweite bzw. die potenzielle Tragweite von Heiratskontrakten in der Frühen Neuzeit und darin festgehaltenen Abmachungen deutlich – wenngleich es sich dabei um einen etwas besonderen Fall handelt. Davon ausgehend lassen sich einige zentrale Aspekte und Kontexte von Kontrakten als intermediäre Form des Rechts aufrollen, die Gegenstand meines Teilprojektes über Heiratskontrakte und wittibliche Verträge in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts waren. Zuvor noch einige Koordinaten und Orientierungspunkte zu
dessen (inter-)disziplinärer sowie zur räumlichen, sozialen und zeitlichen Verortung.
I. Historische Anthropologie und
Mikrogeschichte/Geschlechtergeschichte
und Rechtsgeschichte
Die Projektarbeit ist vom methodischen Ansatz her am Schnittpunkt von Historischer Anthropologie und Mikrogeschichte angesiedelt.4 Historische Anthropologie
fragt nach Bedeutungszuschreibungen, Werthaltungen und Wahrnehmungen, nach
Handlungsrepertoires und Handlungsoptionen 5 von Menschen in der Geschichte.
Mikrogeschichte plädiert für einen Blick aus der Perspektive der Nähe; sie arbeitet
mit einem kleinen Beobachtungsmaßstab und versucht, möglichst breit Kontexte zu
rekonstruieren, also immer auch nach dem Wie von Abläufen zu fragen.
Der Schnittpunkt von Geschlechtergeschichte und Rechtsgeschichte stellt einen
zweiten Schwerpunkt des Zugangs zum Themenfeld dar. Geschlechtergeschichte
fragt spezifischer noch nach Handlungs- und Möglichkeitsräumen von Männern
und Frauen, nach geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, Erwartungen, nach Geschlechterbeziehungen und Geschlechterverhältnissen in jeweils bestimmten sozialen, zeitlichen, räumlichen, situativen etc. Kontexten. 6 An diesem Punkt wird Recht
TLA Innsbruck, VBI 1797–98 (89/226), fol. 184a, 18. Mai 1797.
Allgemein und stellvertretend dazu Gert Dressel, Historische Anthropologie. Eine Einführung, Wien/Köln/Weimar 1996, 161 ff; Richard van Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklung, Probleme, Aufgaben, Köln/Weimar/Wien 2000, 32 ff; Giovanni Levi, On Microhistory, in: Peter Burke (Hg.), New Perspectives on Historical Writing, Cambridge 1992, 93–113;
Carlo Ginzburg, Mikro-Historie: Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische
Anthropologie 1, 2 (1993), 169–192.
5 Vgl. dazu Gadi Algazi, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in:
L’Homme Z. F. G. 11, 1 (2000), 105–119.
6 Klassisch dazu vgl. Gisela Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte,
in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), 364–391; Herta Nagl-Docekal, Feministische Ge3
4
„Zu Beybehaltung künftiger besserer Richtigkeit“
63
sehr wichtig, und zwar die „soziale Wirklichkeit des Rechts“, 7 d. h. der Gebrauch
von Rechtsnormen in konkreten lebensweltlichen Kontexten – im Fall der Heiratskontrakte und wittiblichen Verträge vor allem das Ehegüterrecht und das Erbrecht,
später das Familienrecht, aber auch Sozialgesetzgebung.
Rückblickend auf die Anfänge in den 1970er Jahren ist festzuhalten, dass Frauengeschichte von Anfang an stark interdisziplinär ausgerichtet war; so stand sie im
intensiven Dialog mit Soziologie und Politikwissenschaften, Philosophie und Literaturwissenschaften und anderen Fächern. Zahlreiche der frühen Aktivitäten und
Zeitschriften waren in diesem Sinne interdisziplinär ausgerichtet. Im Zuge der institutionellen und universitären Etablierung von Frauen- und Geschlechtergeschichte
schien eine Verankerung innerhalb der Disziplinen selbst, ein sich Einklinken in die
theoretischen und methodologischen Debatten der eigenen Disziplin zunehmend
wichtig. 8 In einer nächsten und zur Zeit aktuellen Phase, die wiederum stärker in
Richtung einer interdisziplinären Öffnung geht, konstituieren die Rechtswissenschaften und die Rechtsgeschichte, die nun auch ihrerseits geschlechtsspezifische
Aspekte aufgegriffen haben, zentrale Wissenschaftsfelder des Austausches und der
Diskussion. 9
Die Wirkmächtigkeit rechtlicher Grundlagen und Rahmenbedingungen wurde in
früheren sozialhistorischen Forschungen vor allem angesichts der Vielfalt, die in der
Praxis begegnet, oft und gerne unterschätzt. Historische AkteurInnen folgten zahlreichen Regelungen scheinbar nicht – zum Beispiel in der Einhaltung des Ältestenoder Jüngstenerbrechtes – und dies wurde mit Übergehen und Nichtbeachten von
Normen und in Konsequenz mit deren lebensweltlicher Bedeutungslosigkeit gleichgesetzt. Die Arbeit mit Archivmaterial in Form von Verträgen und Abhandlungen
weist diese Schlussfolgerung als Kurzschluss aus. Deutlich wird, dass Abweichungen von der Norm guter, das heißt, nachvollziehbarer und (sozial) vertretbarer Argumente bedurfte. Gerade dann, wenn sich jemand nicht an das gesetzte Recht hielt
und es umging, war dessen Kenntnis Voraussetzung für gesellschaftlich und obrigkeitlich akzeptiertes alternatives Agieren. Rechtliche Vorgaben fungierten damit
auch in der Modifikation und Negation als Orientierungsrahmen.
schichtswissenschaft – ein unverzichtbares Projekt, in: L’Homme Z. F. G. 1 (1990), 7–18; Karin
Hausen u. Heide Wunder, Einleitung, in: dies. (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 9–18; Edith Saurer, Skizze einer Geschichte der historischen Frauenforschung in Österreich, in: Barbara Hey (Hg.), Innovationen 2: Standpunkte
feministischer Forschung und Lehre, Wien 1999, 319–377.
7 Ute Gerhard, Einleitung, in: dies. (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 11–22, hier 15.
8 Zur Debatte vgl. Gudrun-Axeli Knapp u. Hilge Landweer, „Interdisziplinarität“ in der
Frauenforschung: Ein Dialog, in: L’Homme Z. F. G. 6, 2 (1995), 6–38.
9 Vgl. stellvertretend den bereits oben zitierten, von Ute Gerhard herausgegebenen Sammelband, Frauen in der Geschichte des Rechts; vgl. auch Elinor Forster u. Margareth Lanzinger,
Stationen der Ehe. Forschungsüberblick, in: L’Homme Z. F. G. 14, 1 (2003), 141–155. Im Zeichen dieser disziplinären Annäherungen ist auch das Forschungsnetzwerk „Geschlechterdifferenz in europäischen Rechtskreisen“ zu verorten, vgl. dazu www.gender-rechtskulturen.de.
64
Margareth Lanzinger
II. Räumliche, soziale und zeitliche Verortung
Situiert ist die Mikrostudie im Südtiroler Marktort Innichen, der grundherrlich bis
1806 dem bayrischen Hochstift Freising unterstand. Für zivilrechtliche Angelegenheiten war dennoch der „Tiroler Landesbrauch“ bestimmend. Die Region ist im thematischen Zusammenhang auch insofern interessant, als hier im Unterschied zu allen anderen Kronländern der Habsburgermonarchie eheliche Gütertrennung und ein
auf Abstammungslinien bezogenes Denken herrschte, wie weiter unten näher ausgeführt wird.
Innichen war ein stark handwerklich-gewerblich geprägter Markt und dem
Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der lokalen Bürgerschaft nach mehr am
städtischen Habitus orientiert als ländlich-dörflich ausgerichtet. Unter anderem
durch eine restriktive Zuzugs- und Heiratspolitik bedingt, war das soziale und politische Geschehen des Ortes von einer breiteren mittelständischen bis gehobenen
Schicht getragen – von verschiedensten Handwerksmeister und Gewerbetreibenden, von Handelsleuten, Gastwirten und größeren Bauern.10 Aus diesen Kreisen
stammen auch die im Folgenden analysierten Kontrakte und Verträge.
Der gewählte zeitliche Rahmen ist einerseits in der größeren Dichte des Quellenmaterials in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegenüber vorangehenden
Jahrzehnten begründet. Andererseits – und wohl auch in ursächlichem Zusammenhang damit zu sehen – sind die Jahrzehnte zwischen 1750 und 1800 auch insofern
besonders interessant, als man den Niederschlag von neu erlassenen Gesetzen aus
den Bereichen Ehe- und Besitzrecht und den Umgang damit in der lokalen Praxis
verfolgen kann. Denn im Jahr 1753 begannen in der Habsburgermonarchie die Arbeiten zu einem Privatrechtsgesetzbuch im Kontext der Kodifikation und Vereinheitlichung des Rechts als eine Grundlage des absolutistisch-zentralistischen Staates. 11 Bis zum Josephinischen Gesetzbuch von 1787 gab es lediglich zu einigen Einzelfragen gesetzliche Grundlagen, maßgeblich waren daher das ius commune – das
Gewohnheitsrecht – und vor allem die „fest ausgebildete Vertragspraxis“. 12 Zu nennen sind in diesem Zusammenhang des weiteren das Josephinische Verlöbnispatent 13 aus dem Jahr 1782 und die in Tirol umstrittenen und auch mehrfach modifizierten Josephinischen Erbbestimmungen. 14
10 Vgl. allgemein dazu Margareth Lanzinger, Das gesicherte Erbe. Heirat in lokalen und familialen Kontexten, Innichen 1700–1900, Wien/Köln/Weimar 2003.
11 Für näheres dazu mit dem Fokus auf das Ehegüterrecht, darunter auch das Heiratsgabensystem und die Vertragspraxis rund um die Eheschließung vgl. Wilhelm Brauneder, Rechtseinheit durch elastisches Vertragsrecht: Das Ehegüterrecht in der österreichischen Privatrechtskodifikation, in: Franz Matscher u. Ignaz Seidl-Hohenveldern (Hg.), Europa im Aufbruch. Festschrift Franz Schwind zum 80. Geburtstag, Wien 1993, 135–146.
12 Werner Ogris, Mozart im Familienrecht seiner Zeit. Verlöbnis, Heirat, Verlassenschaft,
Wien/Köln/Weimar 1999, 38.
13 Vgl. Heinrich Demelius, Zur Geschichte des Eheversprechens nach österreichischem
Recht, in: Juristische Blätter 70, 12 (1948), 277–279; Werner Ogris, „bey der Copulation war
„Zu Beybehaltung künftiger besserer Richtigkeit“
65
Darüber hinaus lassen sich im Zeitraum dieser 50 Jahre entlang der Chronologie
tendenziell verschiedene Kategorien von Verträgen nach deren Hauptinhalt unterscheiden – näheres dazu im folgenden Abschnitt.
III. Kontrakte, Verträge, Pakte
Ein allgemeinerer Kontext ist auch in einer spezifischen Rechtskultur zu sehen,
aus der heraus der Verschriftlichung von Vereinbarungen zwischen Generationen
sowie zwischen Männern und Frauen ein relativ hoher, im Laufe der Neuzeit wohl
auch steigender Stellenwert beigemessen wurde. Zugleich sind situativ, durch bestimmte Konstellationen bedingte Regelungsbedürfnisse und -erfordernisse als Motivation für Vereinbarungen in Vertragsform in Rechnung zu stellen. Unter anderem
fällt die starke Präsenz einer bestimmten Konstellation auf, nämlich Heiratskontrakte zwischen Brautpaaren, in denen die Braut oder der Bräutigam noch nicht Bürgerin bzw. Bürger der Gemeinde Innichen war. Dass Heiratskontrakte von den Familien der Braut bzw. des Bräutigams dann, wenn Ehen über Gemeindegrenzen hinweg geschlossen wurden, 15 für besonders wichtig erachtet worden sein könnten,
scheint plausibel.
Heiratskontrakte und so genannte „wittibliche Verträge“ sind Teil einer größeren
Palette an schriftlichen Übereinkünften. Zu nennen wären des weiteren Kauf-,
Übergabe- und Bestandsverträge, die sich primär auf Immobilien beziehen – letztere
bezeichnen Pachtverträge. Entrichtkontrakte sind zumeist Bestandteil von Übergabeverträgen und spezifizieren die Ansprüche der Geschwister des Haupterben bzw.
der Haupterbin; in einer solchen Kombination treten auch die wittiblichen Verträge
zumeist auf. Doch gab es auch Kontrakte, die von ihrer Bezeichnung her unspezifisch blieben, beispielsweise wurde im Jahr 1764 ein „unumstösslicher Contract“
aufgesetzt: Der Schwiegersohn hatte das Haus der Schwiegereltern nach einem Zerwürfnis verlassen, das „Miß-Verständniss“ konnte ausgeräumt werden und so galt
es, die Bedingungen für das Zusammenleben der beiden Ehepaare unter einem Dach
neuerlich mittels Vertrag zu regeln. 16 Darüber hinaus gab es auch Verträge bzw. vertragsähnliche Konstruktionen ohne nähere Spezifikation: „Contract“, „Dispositikein Mensch als die Mutter und die jüngste Schwester“. Mozart und das Eherecht seiner Zeit,
in: Juristische Ausbildung und Praxisvorbereitung 1 (1991/92), 14–19.
14 Vgl. Rudolf Palme, Die Entwicklung des Erbrechtes im ländlichen Bereich, in: Paul
Rösch (Hg.), Südtiroler Erbhöfe. Menschen und Geschichten, Bozen 1994, 25–37, hier 32 f;
Johann Georg Wörz, Gesetze und Verordnungen in Bezug auf die Kultur des Bodens in der Provinz Tirol und Vorarlberg, Bd. 2.1., Innsbruck 1835, 93 ff.
15 In der Mehrzahl der Heiratskontrakte mit verschiedener Herkunft von Braut und Bräutigam handelt es sich um eine Braut oder einen Bräutigam, die bzw. der sich infolge der Heirat
und zumeist dauerhaft im Markt Innichen niederließ; vereinzelt sind auch Heiratskontrakte von
einer aus dem Markt wegheiratenden Braut in Innichen aufgenommen worden und dokumentiert; vgl. TLA Innsbruck, VBI 1782–84 (89/221), fol. 359r–363a, 30. Januar 1783.
16 TLA Innsbruck, VBI 1760–64 (89/215), fol. 789a, 24. Juli 1764.
66
Margareth Lanzinger
on“, „Verordnung“ oder „Zusag und Verpflichtung“ u. a. m. – eine relativ breite Palette an schriftlichen Fixierungen ‚offizieller‘ Regelungen also, auch für, unserem
Verständnis nach, relativ ‚private‘ Situationen.
Insbesondere in der Zeit vor 1780 sind Heiratskontrakte vielfach Teil von Übergabeverträgen zwischen den Generationen und stecken den Rahmen für die daraus
entstehenden Haushaltskonstellationen ab. Die Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens, etwa die Frage der „Herberg“, betraf dabei vornehmlich die Elterngeneration. Ab 1780 werden auf das Paar bezogene Vereinbarungen zum Hauptgegenstand, und zwar in der Hauptsache auf das nacheheliche Szenario abzielend und mit
Vereinbarungen im Fall der Verwitwung. Bei der entsprechenden Vertragsform handelte es sich zunächst um einen so genannten „Heyraths Pact“. 17 Dieser enthielt,
ohne lange Vorreden auch nur diesen einen Punkt, und zwar ausschließlich auf die
Braut zugeschnitten und in Hinblick auf die Eventualität einer Witwenschaft formuliert. Ende des 18. Jahrhunderts schließlich lag ein wichtiger Zweck der Heiratskontrakte auch darin, das Erbe – in Fortsetzung der bisherigen Praxis und gegen eine davon abweichende, neue gesetzliche Bestimmung – weiterhin entlang der absteigenden Linie zuzusprechen. Diese Möglichkeit, ein bestehendes Gesetz durch eine entsprechende vertragliche Vereinbarung außer Kraft zu setzen, unterstreicht einmal
mehr Bedeutung und Reichweite von Verträgen. Der eingangs angeführte Vertrag
fällt damit in die zweite der hier als grobe Chronologie gefassten Phasen.
Mit der Heirat verbundene Vermögenstransaktionen betrafen hauptsächlich das
„Heurathsgut“ des einheiratenden Teils, das der Mitgift entspricht, beziehungsweise
dessen „dermalen besitzendes Vermögen“, das in den „ehemännlichen Fruchtgenuss“ überging, fallweise auch eine Morgengabe – Transaktionen, die ebenfalls in
den Heiratskontrakten festgehalten wurden. Während die Morgengabe eine Schenkung darstellte – meistens ist auch explizit von „schenken“ die Rede, waren das Heiratsgut und das eingebrachte Vermögen – in der Mehrheit dem Bräutigam und Ehemann, aber es gibt auch den umgekehrten Fall – entweder für die Dauer der Ehe, bis
zu einem bestimmten Alter der Kinder oder auch lebenslänglich zum Fruchtgenuss
überlassen. Eine wichtige Trennlinie verläuft entlang der Entscheidung, ob das Heiratsgut unabhängig vom zu erwartenden väterlichen und mütterlichen Erbe ausbezahlt wurde oder – die häufigere Usance – praktisch damit zusammenfällt bzw. bei
einer künftigen diesbezüglichen Aufteilung als bereits erhaltener Anteil eingerechnet werden sollte, was mit Begriffen wie „à conto“, „Kollationierung“ und „Confe17 Zur terminologischen Klärung – ein Versuch: Juristisch wird unterschieden zwischen dem
Ehepakt, der „güterrechtliche Vereinbarungen der Brautleute oder Ehegatten“ enthält, im hier
verwendeten Quellenmaterial also dem Heiratspakt entsprechen dürfte. Auch der Heiratskontrakt wird vom Rechtshistoriker Werner Ogris diesem Ehepakt gleichgesetzt, während der Terminus „Ehekontrakt“ für Verlöbnis und Eheversprechen steht; vgl. Ogris, Mozart im Familienrecht, 146. Beides allerdings kann in der Innichner Dokumentation in einem so genannten
Heiratskontrakt zusammenfließen, so dass die terminologische Verwirrung zwischen juristischer Norm und vertraglicher Praxis einigermaßen unlösbar scheint.
„Zu Beybehaltung künftiger besserer Richtigkeit“
67
rierung“ ausgedrückt wurde. Das Heiratsgut ist der Intention nach eine Form der finanziellen Absicherung und kann für eine Witwe eine Art Kreditcharakter gegenüber der Familie des Mannes erlangen. 18 Vor allem in kinderlosen Ehen spielte dieser Aspekt eine Rolle. Das schriftliche Festhalten ausgehandelter Beträge und Bedingungen ist unter dem Aspekt eines gewissen Bedürfnisses nach Rechtssicherheit
zu sehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil mitunter Jahrzehnte vergehen konnten, bis
deren Zahlung bzw. Einhaltung aktuell wurde.
IV. Der rechtliche Rahmen
Kurz skizziert, war der rechtliche Rahmen durch die Orientierung an der jeweiligen Herkunftsfamilie bestimmt. Für Besitz- und Vermögenstransfers bedeutete dies,
dass sie im Normalfall, das heißt als erste Option, die keiner weiteren Argumentation bedurfte, jeweils entlang der männlichen und weiblichen Linie erfolgten – sofern
Kinder vorhanden waren in absteigender Linie über die nächste Generation, sofern
keine Kinder vorhanden waren über die naheste Seitenlinie. Dieses Grundschema
geht auf die Tiroler Landesordnung von 1526 bzw. deren spätere Ausgaben von
1532 und 1573 zurück und fußt auf Gewohnheitsrechten. 19 Die letzte der genannten
Landesordnungen stellte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die maßgebliche Gesetzesgrundlage dar. 20
Der damit begründete Vorrang der Herkunftsfamilie gegenüber dem Ehepaar betrifft nicht nur die Erbpraxis, sondern auch das eheliche Güterrecht, das in Konsequenz die eheliche Gütertrennung vorsah. Diese hatte nur zur Folge, dass eine Witwe, wenn sie zuvor in das Haus des Mannes eingeheiratet hatte, nach dessen
Tod – im Unterschied zur Situation bei einer Gütergemeinschaft – kein Aufgriffs18 Vgl. Angiolina Arru, „Schenken heißt nicht verlieren“. Kredite, Schenkungen und die
Vorteile der Gegenseitigkeit in Rom im 18. und 19. Jahrhundert, in: L’Homme Z. F. G. 9, 2
(1998), 232–251; Wilhelm Brauneder, Frau und Vermögen im spätmittelalterlichen Österreich,
in: ders., Studien II: Entwicklungen des Privatrechts, Frankfurt a. M. 1994, 217–228: 225. Angiolina Arru ist dem Kontext von Schenkungen auf den Grund gegangen und hat dabei vielfach
von Frauen und insbesondere Witwen genutzte Kreditstrategien, die zum Teil auf Mitgiftschulden basierten, ausmachen können. Die Entdeckung dieser Zusammenhänge ist sowohl auf der
thematischen Ebene, wenn es um Versorgungsstrategien geht, von Bedeutung als auch als Hinweis darauf, wie wichtig es ist, sehr genau zu schauen, was hinter einem juristischen Vorgang
steckt. Rechtsakte unter einer bestimmten Kategorie können in ihrem Implikationen darüber
hinaus reichende Vereinbarungen von im Grunde ganz anderen Sachverhalte sein, als man zunächst annehmen möchte.
19 Vgl. Rudolf Palme, Frühe Neuzeit (1490–1665), in: Geschichte des Landes Tirol, Bd. 2,
Bozen 1998 2, 3–287, hier 77 f, 135.
20 Es gab zwar im 18. Jahrhundert immer wieder Klagen und Beschwerden von Seiten der
Stände in Hinblick auf die Reformbedürftigkeit mancher Regelungen, doch kam es nicht mehr
zur Ausarbeitung einer neuen Ordnung, sondern nur zu Einzelverordnungen beziehungsweise
Bekräftigungen der alten Landesordnung; vgl. Georg Mühlberger, Absolutismus und Freiheitskämpfe (1665–1814), in: Geschichte des Landes Tirol, Bd. 2, Bozen 1998 2, 290–579, hier
313.
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Margareth Lanzinger
recht hatte, das heißt, den Besitz nicht übernehmen, sondern nur den Fruchtgenuss
daraus beziehen konnte. Diese Situation begründete ein entsprechendes Absicherungsbedürfnis. 21 An diesem Punkt ist nun die Bedeutung von vertraglichen Vereinbarungen für bzw. im Fall der Verwitwung anzusetzen.
Das Grundschema, das dann näher zu spezifizieren und genauer zu differenzieren sein wird, sah folgendermaßen aus: Hatte der Ehemann den Hausbesitz in die
Ehe gebracht, führte ihn die Witwe oft bis zu einem bestimmten Alter der Kinder,
die später dann das Erbe antreten würden, weiter – ihr stand ein bloßes Genussrecht zu. Nach dem Erbantritt durch die Kinder – wobei eines als Haupterbe bzw.
Haupterbin vorgesehen war – musste sich die Witwe vielfach in die so genannte
„Herberg“ zurückziehen, das heißt, von der (Wirtschafts-)Führung des Haushaltes
abtreten. Damit verbunden war neben einem Wohnrecht – in einem bestimmten
Zimmer zumeist – als Minimalstandard ein Recht auf die „standesgemäße Versorgung“ mit Nahrung und Kleidung, meistens auch noch weitere Nutzungsrechte.
Diese Herberg definierte sich zudem als „zins- und holzfrei“, was bedeutete, dass
die Witwe für das Wohnrecht nichts zu bezahlen hatte und für die Beheizung gesorgt wurde.
Falls die Witwe wieder heiratete, verlor sie in der Regel diese Versorgungsrechte. 22 Waren die Kinder noch klein, nahm der neue Ehemann den Besitz manches Mal
21 Eine ähnliche Situation beschreibt Dieneke Hempenius-van Dijk für Holland; auch hier
gab es die Möglichkeit, durch Eheverträge die Konsequenzen der Gütertrennung für den überlebenden Eheteil abzumildern; vgl. Dieneke Hempenius-van Dijk, Widows and the Law. The
Legal Position of Widows in the Dutch Republic During the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Jan Bremmer u. Lourens van den Bosch (Hg.), Between Poverty and the Pyre. Moments in the History of Widowhood, London/New York 1995, 89–102, hier 92 f. Die Feststellung, dass „das System der Gütertrennung [...] keinen der Ehegatten [bevorzugt bzw. benachteiligt“ und dass „bei Auflösung der Ehe durch Vortod eines Ehegatten [...] Rechte in gleichem
Maße der Witwe wie dem Witwer zu[stehen]“, bringt eine juristisch korrekte Position zum
Ausdruck; vgl. Brauneder, Frau und Vermögen, 220. Die de facto geschlechtsspezifisch doch
tendenziell unterschiedlichen Situationen in der Praxis des Alltags ergeben sich aus der Variable der ungleichen Besitzverteilung zwischen Männern und Frauen.
22 Sylvia Hahn kritisiert den Blick auf Witwen „ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der
zu Versorgenden“, der etliche Studien charakterisiert; vgl. Sylvia Hahn, Frauen im Alter – alte
Frauen?, in: Josef Ehmer u. Peter Gutschner (Hg.), Das Alter im Spiegel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Wien/Köln/Weimar 2000, 156–189, hier 176,
179 f. Dieser aus einer emanzipatorischen Perspektive sicher berechtigte Einwand ist insofern
zu relativieren, als der Stellenwert der Versorgung in Zusammenhang mit den jeweiligen soziokulturellen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft in Zusammenhang stehen und sich die Situation in einer frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft ohne protoindustrielle und auch anderweitig nur spärliche Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten außer
Haus von einer städtischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts grundsätzlich unterscheidet.
Ständisches Denken und davon abgeleitete Vorstellungen der Angemessenheit sind für dabei
die Frühe Neuzeit immer mit zu berücksichtigen. Hinzuweisen ist auch auf das sich nur langsam etablierende und lange von Misserfolgen begleitete Versicherungssystem der Witwenkassen, deren Beginn bereits im 18. Jahrhundert anzusetzen ist; vgl. Eve Rosenhaft, „... mich als
Extraordinarium“, die Witwe als widerstrebendes Subjekt in der Frühgeschichte der Lebens-
„Zu Beybehaltung künftiger besserer Richtigkeit“
69
in Bestand, was in etwa einer Pacht gleichkam, bis er an ein Kind erster Ehe übergeben konnte, oder er erwarb diesen, wenn er über ein entsprechendes Vermögen
verfügte beziehungsweise sonstige Gründe – Verschuldung etwa – dafür sprachen.
Nur dann waren die Kinder aus der zweiten Ehe erbberechtigt. Eventuell vorhandene Kinder aus erster Ehe mussten in Abklärung mit dem Vormund entsprechend abgefunden werden. Vor diesem rechtlichen Kontext wird die eingangs kurz aufgerollte Geschichte von Maria Gutwengerin verständlich.
Schwieriger war die Position einer Witwe, wenn keine Kinder vorhanden waren.
In der Regel blieb ihr das Wohnrecht und die Grundversorgung im Haus mit Kost
und Kleidung. Darüber hinausgehende Rechte und Ansprüche ihrerseits bedurften
einer Spezifizierung. Der Besitz ging in einem solchen Fall an den nächsten Verwandten des verstorbenen Mannes, beispielsweise an dessen Bruder beziehungsweise an einen von dessen Söhnen über.
Aufgrund des herrschenden Rollenverständnisses befand sich ein Witwer in den allermeisten Fällen auch dann, wenn der Besitz von Seiten der Frau in die Ehe eingebracht worden war, in einer abgesicherteren Position. Kaum je sah er sich damit konfrontiert, infolge des Todes der Ehefrau an Status zu verlieren. Eine Konsequenz daraus war, dass Witwen tendenziell mobiler waren als Witwer. Der weitere Lebensweg
führte sie – nach einer Wiederverehelichung etwa – nicht nur innerhalb der Ortschaft
in ein anderes Haus, sondern auch über diese hinaus. Witwer hingegen verblieben in
der Regel in Haus oder Hof und heirateten gegebenenfalls auch dort wiederum. 23
V. Regelungen mittels Heirats-Kontrakt
Befand sich der Besitz in Händen des Bräutigams und mussten für den Fall des
früheren Todes des Mannes Vereinbarungen zur Absicherung der Witwe getroffen
werden, so ist prinzipiell zwischen einem der Witwe zugestandenen Fruchtgenuss
und der Zuweisung der so genannten „holz- und zinsfreien Herberg“ zu unterscheiden. Der Fruchtgenuss ermöglichte der Witwe eine Position in Familie und Haushalt, die jener zu Lebzeiten des Mannes nahe kam bzw. in mancher Hinsicht mehr
Entscheidungskompetenz und Verantwortung mit sich brachte. 24 Die Verfügung,
sich in die Herberg zu begeben, bedeutete hingegen eine Verlagerung ihrer Position
versicherung, in: Udo Arnold u. a. (Hg.), Situationen einer Hochschullaufbahn. Festschrift für
Annette Kuhn zum 65. Geburtstag, Dortmund 1999, 292–309; Annemarie Steidl, „Trost für die
Zukunft der Zurückgelassenen ...“. Witwenpensionen im Wiener Handwerk im 18. und
19. Jahrhundert, in: Josef Ehmer u. Peter Gutschner (Hg.), Das Alter im Spiegel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Wien/Köln/Weimar 2000, 320–347.
23 Vgl. dazu auch Julie Hardwick, Widowhood and Patriarchy in Seventeenth Century
France, in: Journal of Social History 26, 1 (1992), 133–148, hier 134 f.
24 Scarlett Beauvalet-Boutouyrie sieht das Recht auf Fruchtgenuss als eine Art Korrektur der
Härten des Systems der Gütertrennung; vgl. Scarlett Beauvalet-Boutouyrie, Être veuve sous
l’Ancien Régime, Paris 2001, 210 f.
70
Margareth Lanzinger
und praktisch einen weitgehenden Rückzug aus dem Haushalt, dem dann ein neuer
Besitzer oder eine neue Besitzerin vorstehen würde – was im höheren Alter oder bei
schlechterer körperlicher Verfassung auch eine Entlastung sein konnte.
In Zusammenhang mit dem Votum für den Fruchtgenuss konnte insbesondere das
Vorhandensein von Kindern aus dieser Ehe Modifikationen bedingen: Am häufigsten wurde eine zeitliche Einschränkung gesetzt, und zwar als Limitierung der Dauer des Fruchtgenusses bis zu einem gewissen Alter der Kinder. Dabei markierten 16,
18, 20 oder 24 Jahre diese Grenze – im Fallbeispiel ist das Alter von 18 Jahren genannt. In der zweiten größeren Gruppe, nach der sich die Kontrakte strukturieren
lassen, ist für die Witwe primär die Herberge vorgesehen, und zwar entweder als
einzige angeführte Perspektive oder für den Fall, dass Kinder vorhanden wären, ab
einem gewissen Alter derselben.
Ein Viertel der Heiratskontrakte des Samples der 1780er und 1790er Jahre – 16
von 64 – wurden dem gegenüber in einer Situation geschlossen, in der sich der Besitz in Händen der Frau befand und offensichtlich auch weiterhin bleiben sollte. In
dieser umgekehrten Situation war es damit notwendig, für die zuheiratenden Ehemänner detailliertere Vereinbarungen zu treffen, was im Fall einer Verwitwung zu
geschehen habe. Den Vorstellungen der Geschlechterordnung dieser Zeit folgend
war es, wie es scheint, ‚normal‘, dass die Regelungen, die dabei für Witwer im Falle
des früheren Todes der Frau getroffen wurden, anders ausfielen: Allgemein gesehen,
nehmen sie sich günstiger und großzügiger aus. Witwern blieb in der Regel zumindest der lebenslange Genuss des Vermögens der Ehefrau, zumeist war auch eine Option des Besitzerwerbs zu günstigen Konditionen angeführt, wobei der konkrete Ablauf der damit verbundenen Finanztransaktion noch zu klären ist.
VI. Wittibliche Verträge
Wittibliche Verträge oder Vergleiche waren oft Bestandteil umfassender und
kombinierter Kontrakte zwischen den Generationen: Besitzübernahme durch einen
Sohn oder eine Tochter, Abfindung der Geschwister und Vereinbarungen zwischen
BesitzübernehmerIn und Witwe – gegebenenfalls unter Bezugnahme auf bereits anderweitig, etwa in einem Heiratskontrakt, ausgehandelte Bedingungen und finanzielle Vorkehrungen. Typisch für solche Verträge sind zweistufige Modelle: als erste
Option die „holz- und zinsfreie Herberg“ für die Witwe, welche gemeinsame Mahlzeiten mit der Besitzerfamilie und eine sonstige Grundversorgung – mit Kleidung
etwa – mit einschließt, und als Alternative dazu, wenn sie miteinander nicht auskommen sollten, die Möglichkeit einer Absonderung. Für diesen Fall waren monatliche oder vierteljährliche Zahlungen in einer bestimmten Höhe anstelle der Naturalversorgung vorgesehen.
Die finanzielle Grundlage dafür lieferte das Einbringen bzw. Heiratsgut der Frau,
dessen Verwaltung auf den oder die BesitzübernehmerIn überging und damit auch
„Zu Beybehaltung künftiger besserer Richtigkeit“
71
die Verpflichtung, den Betrag zu verzinsen. Die Zinsen kamen dann der Witwe zugute. Dadurch war auch ein gewisser Manövrierspielraum in Richtung einer eigenen
Haushaltsführung für die Witwe gegeben. Je höher ihr Einbringen oder Heiratsgut
war, umso mehr stand ihr im Verwitwungsfall zur Verfügung. Als Beispiel seien abschließend zwei Punkte aus einem solchen Vertragskomplex – bestehend aus „Uibergab, Vermögensstellung und weiterer Contract“ – zwischen der Witwe Margareth Müllerin und der besitzübernehmenden Nichte Anna Oberhoferin angeführt.
Die Witwe bedingt sich für das Abtreten des ehemännlichen Fruchtgenusses unter
anderem aus:
„ihr lebenlänglich durchaus holzfreye Herberg mit spezialer Einraumung der Kammer ober
der Stube zum Alleingebrauche zu verstatten, sie mit der nothwendigen Kost zu versehen
und ihr überdas das Einbringen per 500f [Gulden] jährlich blos mit 18 f [Gulden] zu verzinsen; sollte aber sie, Witwe, mit der Anna Oberhoferin oder künftigen Ehemann nicht geschaffen [sich vertragen], und bey denselben in der Verpflegung nicht verbleiben wollen, so
hätte 5tens sie, Oberhoferin und Ehemann, nebst schon besagter holzfreyer Wohnungsausziehung die Verbindlichkeit, ihr anstatt den ehemännlichen Genuß jährlich weitere 18 f
[Gulden], dann das erstemal 3 Staar Roggen, 3 Staar Muß und 4 Staar Weizen [...], nicht
minder das nothwendige Haus- und Kuchlgeräth zum Genusse zu verabfolgen.“ 25
In der lebenslangen Herberg muss ihr damit das oberhalb der Stube, dem zentralen und beheizten Wohnraum, gelegene Zimmer zur alleinigen Benützung überlassen werden; sie ist des Weiteren mit Essen zu versorgen und erhält Zinsen aus ihrem
Einbringen. Falls sie in dieser Haushalts-Konstellation wegen Unverträglichkeiten
oder Streit nicht bleiben möchte, dann muss ihr eine Ersatz-Unterkunft organisiert
und die doppelte Summe Geldes ausbezahlt sowie der nötige Hausrat leihweise zur
Verfügung gestellt werden. Die angeführten Naturalien waren für das erste Jahr vorgesehen, und zwar als Ersatz für die ab dem Zeitpunkt, an dem dieser Vertragspunkt
aktuell wurde, anlaufenden Zinsen, die dann erst im Folgejahr ausbezahlt werden
konnten.
Heiratskontrakte waren in diesem Zusammenhang insofern wichtig, als sie die
Höhe des Einbringens oder Heiratsgutes der Frau dokumentierten. Überdies waren
darin vielfach auch Mindeststandards der Witwenversorgung bereits festgelegt und
konnten so die (Verhandlungs-)Position der Frau zum Zeitpunkt der Verwitwung
stärken. Doch lassen sich gleichzeitig, vor allem wenn es um größere Beträge ging,
auch Rücksichten gegenüber dem ‚Familienbesitz‘ erkennen, und zwar in der Form,
dass Witwen mitunter – wenn ihr Einbringen relativ groß war – auf einen Teil der
Zinsen verzichteten. Im zitierten Beispiel wird dies im ersten Punkt durch den Begriff „blos“ signalisiert.
25
TLA Innsbruck, VBI 1802–03 (89/229), fol. 632r–632a, 5. Juli 1803.
72
Margareth Lanzinger
VII. Resümee
Die systematische Beschäftigung mit dem Quellenkorpus hat, insofern als nicht
nur Witwen, sondern bei umgekehrten Besitzverhältnissen auch Witwer zu ‚versorgen‘ waren, zu einer Dynamisierung des geschlechtergeschichtlichen Ansatzes geführt. Deutlich geworden ist darüber hinaus, dass eine biografische Integration, also
die Ausdehnung der historischen Rekonstruktion über den Blick auf Heiratskontrakte zum Zeitpunkt der Eheschließung und den Regelungsbedarf in Hinblick auf
Witwenschaft hinaus auch auf andere Stationen im Lebensverlauf, im thematischen
Kontext ein produktiver Ansatz ist. Die Perspektiven zum Zeitpunkt der Eheschließung, auf deren Basis die Kontrakte im Konjunktiv formuliert wurden, erfuhren später Konkretisierungen, unterlagen aber auch Veränderungen, so dass in der Situation
eines Todesfalles und der Verwitwung vielfach erneut ein Regelungsbedarf gegeben
war – etwa in wittiblichen Verträgen oder Vergleichen, die dann von der aktuellen
Situation ausgingen.
Die Frage nach dem Zusammenspiel von Normen und Praxis konzentrierte sich
auf Kontrakte und Verträge als rechtlich bindende Institutionen, die gleichermaßen
Einschränkungen vornehmen wie über herrschende Gesetze hinausgehende Möglichkeitsräume eröffnen konnten. Die getroffenen Vereinbarungen bieten immer
auch Einblicke in unterschiedliche Maßstäbe der Gestaltung sozialer Beziehungen
zwischen den Geschlechtern und Generationen. Zugleich stellen sie insbesondere
in Zeiten zentralstaatlicher Vereinheitlichungs- und Kodifikationsbestrebungen ein
virulentes Feld der Auseinandersetzung zwischen dem ‚eigenen‘, ‚gewohnten‘, regionalen Recht und dem, was an neuen Bestimmungen – in diesem Fall aus
Wien – kam, dar. 26
26 Wilhelm Brauneder kommt zum Schluss, dass Heiratsbriefe etwa 40 Jahre über das Inkrafttreten des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) hinaus von diesem abweichende oder ihm widersprechende Regelungen enthielten – „als gäbe es gar kein neues Gesetzbuch“. Wilhelm Brauneder, Normenautorität und grundherrschaftliche Vertragspraxis, in:
ders., Studien II: Entwicklung des Privatrechts, Frankfurt a. M. u. a. 1994, 109–120, hier 120.
Auf die Schwierigkeiten, „dem bürgerlichen Juristenrecht Anerkennung zu verschaffen“, verweist auch Lutz Raphael, Rechtskultur, Verrechtlichung, Professionalisierung. Anmerkungen
zum 19. Jahrhundert aus kulturanthropologischer Sicht, in: Christof Dipper (Hg.), Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im 19. Jahrhundert. Professionalisierung und Verrechtlichung in Deutschland und Italien, Berlin 2000, 29–48, hier 34 f.
Soziologische Probleme
der Globalisierung des Rechts
Bernd Ternes
I.
Eine kurze selbstbezügliche Bemerkung vorweg, die das Verhältnis von Soziologie und Globalisierung betrifft: Soziologie ist eine im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Vokabularien junge Disziplin. Ihren Anfang nahm sie, um es begriffshistorisch zu verkürzen, als die fehlende Differenzfähigkeit des Staatsbegriffs nicht
mehr zu halten war und auch die Ersatztermini für Staat nicht mehr ergiebig waren,
wie etwa regnum, res publica, monarchia, common wealth, nation, civil society (so
Luhmann). Es entstand die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, „aber nur
unter der Bedingung, daß der Begriff der Gesellschaft auf Wirtschaft eingeschränkt
wird und man [...] auf eine Theorie des umfassenden Systems der Gesellschaft vorläufig verzichtet.“ 1 Die Weiterentwicklung soziologischer Gesellschaftstheorie
führte dazu, so Rudolf Stichweh, daß „eine Regionalisierung des Gesellschaftsbegriffs nicht konsequent gedacht werden kann. Während das Fach ‚internationale Politik‘ im Unterschied zur ‚Staatswissenschaft‘ und das Fach ‚Weltwirtschaftslehre‘
im Unterschied zur ‚Nationalökonomie‘ etablierte Teildisziplinen [...] der Politikbzw. Wirtschaftswissenschaft sind oder waren, kann von einer vergleichbaren Zweiteilung in der Soziologie für keinen Zeitpunkt ihrer Geschichte die Rede sein. Nie
hat es [...] eine Soziologie Frankreichs, Englands und Deutschlands gegeben und
daneben dann noch eine international vergleichende Soziologie.“ 2 – Diese junge
Tradition der Soziologie würde nun, so die These, dazu beitragen, daß die Soziologie einen privilegierten Zugang zum Phänomen der Globalisierung habe, jetzt, da
der Gesellschaftsbegriff (wie vormals der Staatsbegriff) eine neue Unterscheidungsseite bekommt, nämlich: die Welt. Gesellschaftsbegriff und Weltgesellschaftsbegriff würden also zusammenfallen; eine, wenngleich theoriehierarchisch untergeordnete Gestalt 3 dieses Zusammenfallens sei: die Globalisierung.
1 Niklas Luhmann, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: derselbe, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1989,
S. 65–148, hier: S. 113.
2 Rudolf Stichweh, Zur Theorie der Weltgesellschaft, in: Soziale Systeme, Heft 1/1995,
S. 29–45, hier: S. 32.
3 An „Theorien der Globalisierung ist immer die Frage zu richten: Globalisierung im Kontext welchen Systems?“ so Stichweh (Zur Theorie der ..., a. a. O., S. 34).
74
Bernd Ternes
– Ich erwähne sicherlich grobfahrlässig diese eine Selbstbeschreibung soziologischer Theorie nur, um zu sagen, daß ich mich dem nicht anschließen kann. Nach
meinen Begriffen besitzt Soziologie keine Sondereintrittskarte, die erlaubt, der
Aufführung namens Globalisierung besser als andere Disziplinen Erkenntnis abzugewinnen.
Aber nun zum Thema, dem ich eine Art Definition dessen voranstellen möchte,
was Globalisierung des Rechts sein könnte: Globales Recht ist schwerpunktmäßig
ein peripheres, spontanes und gesellschaftliches Recht; es bildet sich in sogenannten
Privatregimes (private government, private regulation, private justice), also durch
Verträge zwischen global players, durch private Marktregulation multinationaler
Unternehmen, durch interne Regelsetzungen internationaler Organisationen, durch
interorganisationale Verhandlungssysteme, durch weltweite Standardisierungsprozesse; globales Recht wird nicht durch staatliche Souveränität positiv gesetzt; ebenso läuft die rechtliche Anerkennung wie auch die Geltungsanordnung nicht maßgebend über staatliche Instanzen; schließlich: Globales Recht ist nicht mit Gewohnheitsrecht ineins zu setzen.
II.
1992 bemerkten Oskar Negt und Alexander Kluge 4, daß mit dem Verenden des
Realsozialismus gleichzeitig eine merkwürdige Umverteilung in der politischen
Sprache stattfindet wie nie zuvor in der Geschichte dieses Jahrhunderts; „[V]ieles
von dem, was man in den letzten Jahrzehnten der Vergangenheit zuzuschlagen entschlossen und bereit war“, so die beiden Autoren, „erlebt plötzlich eine gewaltige
Aufwertung und einen geradezu erdrückenden Realitätszuwachs: Staat, Nation, Kapital, Religion und Geld assoziieren sich nun in einer Weise mit Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie, als hätte es die Blutlinie dieser Begriffe im 20. Jahrhundert nie gegeben. Dem Bedeutungs- und Erklärungsgewinn dieser Worte der herrschenden Gruppen entspricht die Entleerung von Begriffen wie Solidarität, Gemeinwesen, Gemeinwirtschaft, vernünftige gesellschaftliche Organisation. Daß die
Sieger in diesem gigantischen gesellschaftlichen Sprachspiel so gut mit ihrem Besetzungswillen vorankommen, ist nicht zuletzt darin begründet, daß die Linke ihre
Begriffe zu wenig als Griffe zur Veränderung der Verhältnisse gebraucht hat, sie
vielmehr als leblose Substanzformeln aufbewahrt“. In der beiden Aufzählung fehlt
das Recht als einer der Begriffe, deren zumeist grausame Geschichte nun, mit dem
Unterscheidungswegfall auf der Ebene von grundlegenden Gesellschaftsmodellen,
dem Vergessen überantwortet wird. Vielleicht ist das Recht heutzutage, in Zeiten
sogenannter polyzentrischer Globalisierung, mehr denn je als „Griff zur Veränderung der Verhältnisse“ zu gebrauchen. „Das Recht breitet sich auch von unten nach
oben und nicht nur von oben nach unten aus“ – vielleicht trifft dieser Satz Harald
4 Dieselben, Maßverhältnisse des Politischen – 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen, Frankfurt a. M. 1992, S. 62–63.
Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts
75
J. Bermans gegen Ende seiner großen Studie Recht und Revolution 5 gerade für das
globalisierte Recht so zu, wie er zum großen Teil für die internationalisierten,
gleichsam politischeren Menschenrechte zutrifft 6. Der Satz trifft vielleicht gerade
auch dann zu, wenn man davon überzeugt ist, daß – wallersteinisch gesprochen – gerade mit der Globalisierung das Recht die weltweite Machtverschiebung von staatlichen Akteuren auf ökonomische Akteure festschreibt (grundlegender formuliert:
Das Recht bietet nun auch auf globaler Ebene explizit keine Möglichkeit an, für absichtliches schädigendes Handeln durch Konkurrenz eine Haftung zu juridifizieren). 7 Konkret gesagt: So wie im 18. Jahrhundert aus dem „Interesse an Kapitalakkumulation und Haftungsbeschränkungen Rechtsformen für juristische Personen“
erfunden wurden, „die nicht im alten Privilegienrecht der Korporation untergebracht werden konnten“ 8, so passt sich auch heute das Recht sich ändernden Bedarfslagen einer globalisierenden Wirtschaft an. Mehr noch: Das Recht in seiner inneren Verarbeitung der Globalisierung scheint einen Prozeß zu vollziehen, der für
viele kapitalistische Gesellschaften nun prägender wird: Die Reformulierung/Reetablierung der society aus der company. Etwas, das Adam Smith allen Sozialromantikern meinte ins Buch schreiben zu müssen; etwas, das nach David Hume selbstverständlich war, denn das Recht hatte vornehmlich die Aufgabe, das Eigentum – und
damit die Gesellschaft – zu schützen; etwas schließlich, das Max Weber mit der Gegenüberstellung von Wirtschaft und Gesellschaft zumindest soziologisch auseinanderhalten wollte.
Aber das ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist, daß nunmehr auch eine bestimmte „Eigenproblematik der Globalisierung für das Recht selbst“9 in den Blick
kommen kann. Und dieser Blick, so zum Beispiel Teubner und Giddens, läßt erkennen, daß Rechtsglobalisierung in relativer Distanz zur politischen Globalisierung
stattfinde, und vor allem: daß sich die traditionelle Form des Rechts über seine
Normproduktionsroutinen selbst dekonstruiere (ebenda). Teubner: „Während die
rechtstheoretischen Dekonstruktionen nur den Begriff der Hierarchie betrafen, deUntertitel: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, dt., Frankfurt a. M. 1995, S. 845.
„Mir scheint ein enger Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten
zu bestehen in dem Sinne, daß in beiden Fällen ein Vorrang der gesellschaftlichen Basis gegen
die politischen Funktionäre besteht, also auch ein Vorrang derer, die die Menschenrechte haben
sollen, gegenüber jeder Fremdbestimmung, die ihnen sagt, was ihre Rechte sind [...]“ – so die
Politikwissenschaftlerin Ingeborg Maus im Gespräch mit Oliver Tolmein, in: Tolmein, Welt –
Macht – Recht. Konflikte im internationalen System nach dem Kosovo-Krieg, Hamburg 2000,
S. 83.
7 Teubner weist darauf hin, daß die Trias ‚gesellschaftliche Differenzierung, Sozialstruktur
und Rechtssemantik‘ nur ein neuer Ausdruck der Trias ‚Produktionsverhältnisse, Klassenstruktur und Rechtsideologie‘ sei (derselbe, Des Königs vieler Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts, in: Soziale Systeme, Heft 2/1996, S. 229–255, hier: S. 246).
8 Luhmann, Das Recht der ..., a. a. O., S. 276.
9 Gunther Teubner, Privatregimes: Neo-Spontanes Recht und duale Sozialverfassungen in
der Weltgesellschaft?, in: Dieter Simon und Manfred Weiss (Hg.): Zur Autonomie des Individuums. Liber Amicorum Spiros Simitis, Baden-Baden 2000, S. 437–453, hier: S. 438.
5
6
76
Bernd Ternes
konstruiert die heutige Rechtsglobalisierung die Reproduktion der Hierarchie
selbst.“ 10 Man könnte demgemäß auch formulieren: Das globale Recht steht vor der
Aufgabe, an sich selbst zu experimentieren, wie Verläßlichkeit, Paradoxieverunsichtbarung, Geltungskraft, heterarchische Normhierarchie und Ordnung globalrechtlich zu bewerkstelligen sind, ohne dafür Leitdifferenzen und Strukturen der
staatlich verfassten Gesellschaften benutzen zu können (etwa: Gewaltenteilung,
Exekutivgewaltsanktionskompetenz, monopolisierte Rechtsnormengenerierung).
Die daran anschließbare Frage, ob globales Recht diejenige Funktion für die Weltgesellschaft einnehmen könnte, die die Rechtsstaatlichkeit des Staates für eine national strukturierte Gesellschaft eingenommen hat, wäre eher aus einer politikwissenschaftlichen denn aus einer soziologischen Perspektive zu stellen. Der Unterschied macht sich fest im Vorhandensein oder im Fehlen eines Begriffs der Weltgesellschaft. Fehlt dieser Begriff, dann erscheint es als eklatanter Mangel, daß es auf
globaler Ebene kein Pendant gibt zu der Kopplung von Politiksystem und Rechtssystem über das Institut namens Verfassung, wie es in den Rechtsstaaten der Fall ist. Ist
hingegen ein Weltgesellschaftsbegriff wie auch immer rudimentär vorhanden, dann
kann man fragen: Braucht es solch eine Kopplung noch? Emanzipiert sich hier denn
nicht das Rechts vom großen Sozialisationsvehikel Staat, aber auch von den bürgerlichen Fassungen der Allgemeinheit und der Öffentlichkeit? Wird das, was gerne die
Zivilgesellschaft genannt wird, im Bereich des Globalrechts nun erwachsen, allerdings in einem viel rauheren, kühleren, technischeren Sinne als erwartet? – Es
scheint hier, an dieser Stelle, ein für Soziologen interessantes Problem zu geben, das
sich durchaus in einer altbekannten Unterscheidung formulieren läßt: Befindet sich
globales Recht weiterhin im Einzugsbereich einer kommunikativen Vernunft (und
damit in eine Gesellschaftstheorie des Rechts), oder sind Sub-, Teil- und Funktionssysteme die letzten Adressaten, wenn es um globales Recht geht? Aber ich greife
hier schon vor und gehe deshalb zuerst auf den Titel des Vortrags zurück.
III.
Der Titel hat mehr Unbekannte als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Auch
wenn mittlerweile die Rede ist von einer zweiten Runde der Globalisierungsdebatte
und man schon von einer reflexiven Theorie der Globalisierung spricht, die zu erstellen sei (so Roland Robertson) 11, erscheint mir das, was Globalisierung geheißen,
noch nicht eigentlich im spruchreifen Stadium. Und dies gilt meines Erachtens um
einiges mehr für eine behauptete Globalisierung des Rechts. Noch scheint die hauptsächliche Referenz für die Problembildung im Verhältnis zum Nationalstaat einerseits und zum Schema des Rechtsstaates andererseits aufgesucht zu werden; so als
müsse man das, was Globalisierung und Globalisierung des Rechts sein könnte, über
das Subtrahieren nationaler Politik und über die Dekonstruktion des Schemas
10
11
Teubner, Des Königs viele ..., a. a. O., S. 239.
Derselbe, Globalization: Social Theory and Global Culture, London 1992.
Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts
77
„Rechtsstaat“ destillieren. Will sagen: Globale Privatregimes materiellen Rechts definieren sich noch maßgebend durch den Modus des „am Staate vorbei“, also durch
die Abwesenheit eines Faktors; so wie der Staat (staatliche Regierung und Verwaltung) im Verhältnis zum Recht immer öfter (vielleicht sogar ungewollt) die Vorstellung als Vorurteil ausweist, daß er dazu da ist, Gesetze durchzuführen bzw. Recht zu
realisieren (also durch die Abwesenheit einer Einheit der Systeme Politik und
Recht). Das politische System realisiert Politik, nicht Recht, so Luhmann12. Das
nimmt das globalisierte Recht zu Herzen, könnte man sagen: Mit ihm ist keine Politik mehr zu machen im staatlichen, nationalen und sogar internationalen Rahmen.
Eine andere Sichtweise aufs globalisierte Recht, die sich eher um die durch Globalisierung zu sich kommende radikale Dekonstruktion des Rechts selbst kümmert, ist
dagegen – soweit ich sehe – noch nicht weit verbreitet. – Aber Globalisierung als
Begriff ist nur die eine Unbekannte des Titels. Die andere drückt sich natürlich in der
Frage aus, ob die Soziologie Probleme hat, dem Phänomen der Rechtsglobalisierung
etwas genuin Soziologisches abgewinnen zu können; oder ob das soziologisch sein
wollende Nachdenken mittlerweile einen Punkt erreicht hat, von dem aus schon erste, genuine soziologische Probleme der Rechtsglobalisierung zumindest beschrieben werden können (was schon zumindest einen schlüssigen Begriff von Weltgesellschaft voraussetzen müßte). – Die dritte Unbekannte schließlich könnte auf die Frage gebracht werden, ob die Rechtsglobalisierung ein spezifischer Anwendungsfall
von Globalisierung schlechthin ist, oder sich doch eher als besondere Form von Globalisierung beschreiben läßt. Ob also Globalisierung eine Form von Universalität
auch auf der Funktionsebene durchdrückt, oder ob Globalisierung polyzentrisch
„passiert“ und also nur über die Struktur der Funktionssysteme eine Vergleichbarkeit verschiedener „materialer“ Globalisierungsprozesse ermöglicht. – Eine letzte,
schon etwas versteckte Unbekannte sei noch zu nennen, nämlich: Jenseits der Klärung dessen, was Globalisierung des Rechts heißt, muß im folgenden ungeklärt bleiben, wie die Verhältnisse aussehen zwischen einer Regionalisierung des Rechts (z. B.
Europäisierung des Privatrechts: so hat sich zum Beispiel das schweizerische Kosumkreditgesetz fast wortgetreu den Verbraucherrichtlinien der EU angepaßt), einer
Amerikanisierung des Rechts (z. B. Haftungsverschärfungen im Arztrecht europäischer Staaten, Kapitalmarkt- und Börsenregelungen nach amerikanischem Vorbild),
einer westlichen Universalisierung des Rechts (generell die Verrechtlichung internationaler Beziehungen, z. B. Menschenrechte 13), und schließlich der oder einer Globalisierung des Rechts (geltendes Recht auf der Basis des Vertrages als ‚Rechtsquelle‘) – Trotz aller Ungeklärtheiten lassen sich aber doch einige Problemformulierungen klären, so hoffe ich.
Luhmann, Das Recht der ..., a. a. O., S. 431.
Kritisch dazu Oliver Tolmein, Repression als Menschenrechtspolitik, in: derselbe, Welt
Macht Recht, Hamburg 2000, S. 161–175.
12
13
78
Bernd Ternes
IV.
Um soziologische Probleme der Rechtsglobalisierung etwas genauer zu erfassen,
könnte es sinnreich sein zu fragen, mit welchen Problemzuschnitten die Jurisprudenz bzw. Rechtstheorie (1), die politische Theorie (2) und die Rechtsoziologie (3)
dem Sachverhalt beizukommen sucht. (1) Für die Selbstbeschreibung von Theorien
des Rechtssystems und der Rechtslehre wäre zum Beispiel zu klären, ob Rechtsglobalisierung nur eine Fortsetzung der lex mercatoria ist und man dementsprechend
nur das Gewohnheitsrecht modifizieren müsse 14, oder auch nur den Rechtsinstitutionalismus wiederbeleben müsse 15 (‚droit corporatif‘), oder schließlich den „contrat sans etat“ zu einem „contrat sans loi“ erweitern müsse16, um in Ansätzen globales Recht zu verstehen. Die Gegenseite innerhalb dieses jurisprudentiellen Problemanschnitts würde die These stark machen, daß ein a-nationales Recht undenkbar sei,
und würde Savignys Diktum, daß der Vertrag niemals Rechtsquelle sein kann 17, gerade für das globale Privatrecht geltend machen. (2) Für die politische Theorie (auch
die politische Theorie des Rechts) wäre zum Beispiel zu klären, inwieweit internationales Konflikt- und Kollisionsrecht schon auf intersystemische Konflikte zu reagieren vermag 18, und inwieweit das Problem zu lösen ist, „daß die strukturelle
Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems über Verfassungen auf
der Ebene der Weltgesellschaft keine Entsprechung hat“ 19, und man dementsprechend globalem Recht durch die Analyse internationaler Verwaltungen (z. B. Atombehörde), internationaler Organisationen (z. B. NGO’s) und internationaler Gerichtsbarkeit (z. B. Strafgerichtshof in Den Haag) näher kommen könne. (3) Die
Rechtssoziologie schließlich würde mit ihrem Problemanschnitt klären, inwieweit
globales Recht doch dem Institut des Vertrages entspringt und inwieweit die Rechtsentwicklung schwerpunktmäßig nicht in der Gesetzgebung und nicht in der Rechtsprechung liegt, sondern in der Gesellschaft selbst (so der berühmte Satz von Eugen
Ehrlich), also lebendes Recht ist. – Genau hier setzte die soziologische Problemformulierung an. Denn die zuletzt erwähnte rechtssoziologische Fassung (maßgebend
Teubners) behauptet zwar, daß sich Weltrecht von den gesellschaftlichen Peripherien her entwickelt, also quasi von unten, und eben nicht im Zentrum nationalstaat14 Berthold Goldman, The Applicable Law: General Principles of Law – the Lex Mercatoria,
in: Julian D.M. Lew (Hg.): Contemporary Problems in International Arbitration, London 1986,
S. 113–125.
15 Philippe Kahn, Droit internationale économique, droit du développement, lex mercatoria:
concept unique ou pluralisme des ordres jurisdique?, in: Berthold Goldman (Hg.): Le droit des
relations économiques internationales, Paris 1982, S. 97–107.
16 Bernardo M. Cremades, Steven L. Plehn, The New Lex Mercatoria and the Harmonization of the Laws of International Commercial Transactions, in: International Law Journal, Boston 1984, S. 317–348.
17 Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 8 Bde, hier: Bd. 1,
Berlin 1840 (-1849).
18 Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt a. M. 1989.
19 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 582.
Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts
79
licher oder internationaler Institutionen; aber dabei, und das ist das Entscheidende,
nicht auf „Lebenswelten“, nicht auf persönliche Beziehungsnetzwerke zurückgreifen würde, sondern kühlen technischen gesellschaftlichen Prozessen entspringe20
(Teubner). Wenn es zugespitzt zutreffen sollte, daß globales Recht außervertragliche und außerorganisatorische Bindungsgrundlagen des Vertrages nun selbst validieren muß – Validierungen, die bisher eher durch ein Netzwerk von institutionalisierten, politisch – verfassungsrechtlichen Unterscheidungen scheinbar übernommen wurden (Nation, Staat, Gesetzgebung, Gewaltenteilung etc.) –, also nicht mehr
auf eine rechtsstaatliche Fremdvalidierung zugreifen kann, die die Geltungstautologie latent halten konnte: auf was greift dann Globalrecht noch zurück? – Auf jeden
Fall, so hört man, würde das Zivilrecht revolutioniert werden, wenn sich Rechtsansprüche aus Eigentum und Rechtsansprüche aus Vertrag nicht mehr trennen ließen. 21 Wo also, das wäre die Frage, befindet sich globales Recht: Zwar in der Umwelt des Wirtschaftssystems und des politischen Systems (also da, wo auch die Bewußtseinssysteme sind), aber doch nicht in den Interaktionssystemen verständigungsorientierter Kommunikation?
V.
Während Habermas in seiner 1981 erstellten Theorie des kommunikativen Handelns 22 noch verstärkt bemüht war, die moralisch-praktische Rationalität des Rechts
gegen eine maßgebend Webersche Auffassung des Rechts in Stellung zu bringen,
der gemäß das Recht als Variante einer kognitiv-instrumentellen Rationalitätsentfaltung zu beschreiben ist und als symbolisch generalisiertes Steuermedium der Gesellschaft fungiert, das zur Kolonialisierung der Lebenswelt beiträgt, schlägt er in
seinem 11 Jahre später publizierten Werk Faktizität und Geltung 23 das Recht mehr
oder weniger ambivalent auf die Seite der Lebenswelt, die es jetzt nur noch mit den
systemischen Integrationsmedien Geld und Macht zu tun hat, aber eben auch mit
Solidarität. Solidarität steht hier ein für die Behauptung, daß eine bestimmte Linie
der neuzeitlichen Rechtsentwicklung weiterhin unter gesellschaftlichem Strom
steht, nämlich die Linie der Übersetzung von allgemeinen, gesellschaftlich fundierten Normen der Reziprozität in die Rechtsfigur der subjektiven Rechte (d. h.:
Rechtsgeltung emanzipiert sich nun formal von Gegenseitigkeitsverpflichtungen
20 Mit diesem Anschnitt ist klar, daß es sich hier nicht um eine theoretische Beschäftigung
mit NGOs handelt, die man als Repräsentanten der Gesellschaft auf internationaler Ebene bezeichnen könnte (so Peter Willetts, in: Oliver Tolmein, Welt – Macht – Recht, a. a. O., S. 137).
Es geht hier um die globale Ebene, nicht um die internationale.
21 Luhmann, Das Recht der..., a. a. O., S. 465. Ein Beispiel, was es heißt, wenn die Trennung
aufrechterhalten wird: Das Bundesverfassungsgericht hat es 1985 abgelehnt, das Recht des
Unternehmers zu schützen, die Arbeitszeit zu bestimmen, da sich dieses Recht aus Vertrag,
nicht aus Eigentum herleite (siehe Luhmann, Das Recht der ..., a. a. O., S. 465 f.).
22 Frankfurt a. M. 1987 (1981), S. 345 ff.
23 Frankfurt a. M. 1992; folgendes Zitat S. 59.
80
Bernd Ternes
und sozialen Bindungen). Diese Reziprozität ist allerdings nicht mehr bewußtseinstheoretisch bzw. idealistisch in das Subjekt verpflanzbar, sondern muß durch formalpragmatische Analyse der Sprache und des Sprechens eruiert werden. Heraus
kommt – verkürzt gesagt –, daß die Sprache selbst eine Symmetrie von Anerkennungsverhältnissen vorschreibe und damit normative Ansprüche an gesellschaftliche Rationalität, also Solidarität, begründe. 24 Habermas: „Als Organisationsmittel
einer politischen Herrschaft, die auf die Funktionsimperative einer ausdifferenzierten Wirtschaftsgesellschaft bezogen ist, bleibt deshalb das moderne Recht ein zutiefst zweideutiges Medium der gesellschaftlichen Integration.“ Die Gewähr dafür,
daß Recht weiterhin noch mit Solidarität und als mit Lebenswelt zu tun hat, besteht
für Habermas darin, daß die Komplexität jeder Lebenswelt durch die geringe Belastbarkeit des Verständigungsmechanismus eng begrenzt ist 25. Und da Recht darin
besteht, strategische Interaktionen durch solche Normen zu regeln, auf die sich die
Aktoren selbst verständigen 26, unterwirft sich also Recht den Grenzen der Komplexitätsreduktion, die durch verständigungsorientiertes Handeln vorgegeben werden.
Der gesellschaftstheoretische Sinn, das Recht der kommunikativen Vernunft zu unterwerfen, ist – wenn ich daran kurz erinnern darf –, daß Geltung, Begründung, Generierung und Kritik des Rechts weiterhin im Einzugsbereich der Gesellschaft stattfindet, einer Gesellschaft, die keine selbstverständlichen Autoritäten sittlicher Traditionen mehr anbieten kann, um Recht gelten zu lassen. (Es sei allerdings kurz daran erinnert, daß diese ‚rechtsethische‘ Sicht durchaus dazu in der Lage ist, Krieg zu
legitimieren.) 27 – Aber welche Gesellschaft ist hier gemeint: Die Gesellschaft, die
nach Habermas in einer prozedural richtigen Anwendung des kommunikativen
Handelns das Recht einer posttraditionellen Moral zugänglich macht? Oder handelt
sich um die Gesellschaft, die sich trotz andersscheinender Optik in den spezialisierten Teil- und Subsystemen von Funktionssystemen verbirgt? Denn, wie Luhmann
einmal formulierte: „Es ist ganz unmöglich zu sagen, ein System operiere außerhalb
der Lebenswelt. Es ist doch Alltag überall, in jeder Bürokratie, in jeder Börse, bei jedem Aktienkauf“ 28? Die Frage ist also kurzum die: Kann es sein, daß mit der Globalisierung des Rechts Rechtsgenese bzw. Rechtsquelle, Rechtsbegründung und
Rechtskraft in einem bis dato ungeahnten Ausmaß gesellschaftlicher Machart ist
(und eben nicht: politisch-administrativer, nicht politiksystemischer und nicht internationaler Machart), aber trotzdem explizit systemischer (und eben nicht: lebensweltlicher) Art? Oder, nochmals pointiert: Ist eine zivilgesellschaftliche RechtsetSiehe dazu Luhmann, Das Recht der ..., a. a. O., S. 485.
Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1988, S. 405.
26 Habermas, Faktizität und ..., a. a. O., S. 44.
27 Habermas, Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, in: Die Zeit, 18/1999. Habermas sieht im Kosovo-Krieg der Nato eine quasi kosmopolitische Verrechtlichung der internationalen Beziehungen hervorscheinen, die zu einer neuen Praxis der Handhabung der Institution ‚Menschenrechte‘ führen wird.
28 Luhmann, Archimedes und wir. Interviews, hg. von Dirk Baecker und Georg Stanitzek,
Berlin 1987, S. 120.
24
25
Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts
81
zung und ein daraus entspringendes weltgesellschaftliches Gewohnheitsrecht (kein
Völkergewohnheitsrecht!, so Andreas Fischer-Lescano) möglich, auch wenn man
die Frage Luhmanns, „Wer würde es merken, wenn es gar kein Volk gäbe?“ 29, mit
„Niemand“ beantworten müßte? Im Kern geht es also um die soziologische Klärung
der folgenden Behauptung Eugen Ehrlichs: „Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch
in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.“30 Aber nochmals: Von
welcher Gesellschaft ist hier andeutungsweise die Rede? Auch wenn die pluralistische Rechtsquellenlehre oder gar -theorie durch die Erweiterung ihres Blickfangs
nun neben dem Recht der Gruppen auch das Recht der Diskurse auszumachen in der
Lage ist, und es gerade – so Teubner – diese hochspezialisierten und isolierten Diskurse sind, mit denen sich ein globalisierendes Weltrecht strukturell koppelt, fällt es
sehr schwer, hier die Gesellschaft als Quelle von Rechtsinstituten zu denken. Umso
mehr, wenn man die Behauptung von Peter Fuchs teilt, daß die weltgesellschaftliche
Kommunikation dazu übergeht, ihre Adressen im Selbstkontakt zu fabrizieren.
Fuchs: „Das tut sie in einem gewissen Sinne immer, insofern die Adresse eine kommunikative Konstruktion ist, aber die Konstruktion kann mehr und mehr darauf verzichten, einen empirischen Gegenhalt zu haben. Das System beginnt, sich seine
Umwelt zu erfinden. Und die nicht erfundene Umwelt (das reale Bewußtsein) kann
herumkaspern, soviel es will, es wird immer weniger berücksichtigt. Ich will dieses
Phänomen versuchsweise das Phänomen der Hyperautonomie der Gesellschaft nennen, das Phänomen der Hyperautonomie der Funktionssysteme. Ich könnte auch sagen: das Phänomen der großen Entkopplung von empirischem Bewußtsein und der
Konstruktion sozialer Adressen.“ 31 – Gehört, das ist die Frage, globales Recht einem hyperautonomen Subsystem der Wirtschaft an und hat sich dementsprechend
in Gänze den empirischen Diskursen des Sozialen entzogen? Oder ist es weiterhin
ein Produktionsmittel der Gesellschaft, mit dem man die Weltgesellschaft bebauen
kann (in Anlehnung an den ersten Präambelsatz gesagt, der im 1241 verkündeten
‚jütländischen Recht‘ Dänemarks steht, nämlich: „Mit dem Gesetz soll man das
Land bebauen“) 32? Ich möchte diese Fragen gleich am Beispiel des Rechts sogenannter hybrider Netzwerke zumindest kurz anreißen.
VI.
Doch noch einmal zurück zum Begriff Globalisierung. Teubner führt dazu folgendes aus: „Der Begriff ‚Globalisierung‘ des Rechts ist in gewisser Weise irreführend. Er scheint nahezulegen, daß eine Vielheit national organisierter RechtssysteNiklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 366.
Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts [1913], Berlin 1989, S. 390.
31 Peter Fuchs, Das seltsame Problem der Weltgesellschaft. Eine Neubrandenburger Vorlesung, Opladen 1997, S. 141 f.
32 zitiert nach: Harald J. Berman, Recht und Revolution, a. a. O., S. 784.
29
30
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Bernd Ternes
me sich nun auf ein einheitliches Weltrechtssystem zubewegt. Angemessener ist es,
von der Existenz eines globalen Rechtssystems schon von dem Moment an zu sprechen, in dem sich Rechtskommunikation weltumspannend abspielt. Nationale
Rechtsordnungen sind (im Unterschied zum gängigen juristischen Sprachgebrauch)
ihrerseits keine eigenständigen Rechtssysteme, sondern sind Formen der territorialen Binnendifferenzierung der globalen Rechtskommunikation. [...] ‚Globalisierung‘ des Rechts bedeutet dann genauer, daß sich im Unterschied zum Kollisionsrecht des internationalen Privatrechts, das nur zwischen Geltungsansprüchen nationaler Rechte entscheidet, Rechtsnormen mit globalem Geltungsanspruch herausbilden. Im Unterschied zum klassischen Völkerrecht sind an dieser Globalisierung des
Rechts nicht nur inter-nationale Vereinbarungen, sondern andere Rechtsbildungsprozesse – nicht nur globale Politik, sondern andere Sozialsysteme – beteiligt.“ 33 – Man könnte hier, wo es um die Einsicht geht, daß Globalisierung des
Rechts nicht ausschließlich in internationalen, völkerrechtlichen und staatsvertragsrechtlichen Dimensionen passiert, an Kant denken, wenn dieser Verweis erlaubt ist.
Und zwar an eine Stelle im Zum ewigen Frieden 34, in der vielleicht schon kryptisch
eine Ahnung mitgeteilt wird, daß es allein mit der Kodifizierung der internationalen
Politik nicht getan ist, um Weltbürgerrecht zu kreieren. Kant also: „Da es nun mit
der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhandgenommenen (engeren
oder weiteren) Gemeinschaft soweit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird [kursiv von mir, B. T.]: so ist die Idee eines
Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts,
sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des
Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum
ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden,
nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“ 35 – Man spürt die Anstrengung
Kants, einerseits Effekte des Interaktionssystems (man könnte auch sagen: die Gesellschaft) so auszuweiten, daß selbst die Gemeinschaft der Völker der Erde darunter fallen, und andererseits diesen behaupteten Zustand zu stützen mit einer hochabstrakten rechtlichen Form, die nur von einem politischen Management aus hergestellt werden kann. Das Bindeglied stellt für Kant die Öffentlichkeit der Völkergemeinschaft her. – Was aber passiert, wenn diese ‚höheraggregierten Öffentlichkeiten‘ (so Habermas) nicht mehr zur Verfügung stehen für das Inkraftsetzen von rechtlichen Verbindlichkeiten und Geltungen, die allgemeinöffentliche Auswirkungen
haben? Woher kommt das Recht zur Setzung des Rechts? Und was passiert nun mit
den wesentlichen evolutionären Errungenschaften des Rechtssystems, etwa mit der
33 Gunther Teubner, Des Königs viele Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des
Rechts, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie, 2/1996, S. 229–255, hier:
S. 235.
34 Ausgabe Krefeld 1947, S. 25.
35 Für Jürgen Habermas ist übrigens die von Kant genannte Bedingung am Schluß gleichzusetzen mit einer funktionierenden Weltöffentlichkeit (derselbe, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1996, S. 205).
Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts
83
Einklagbarkeit aller Rechtsansprüche, mit der Anerkennung der Rechtsrelevanz des
Privatwillens, mit der Figur der subjektiven Rechte, mit der Entbindung der Gesetzes- und Vertragsgeltung von der Lebenszeit der Personen, und schließlich mit der
erwünschten Unabhängigkeit der allgemeinen Rechtsfähigkeit von Stand und Herkunft? 36 Mehr noch: Was wird sich durch Globalisierung an der durchaus unwahrscheinlichen Realisierung gängiger Rechtspraxis ändern, daß das Recht gerade
durch die Dekomposition sozialer Beziehungen und Pflichten mittels Personalisierung der jeweiligen Rechtslage den Versuch unternimmt, soziale Unterstützung für
kontrafaktische Erwartungen zu beschaffen? 37
Für mögliche Antworten könnte es plausibel sein, wieder an die Perspektiven einer systemtheoretischen und einer diskurstheoretischen Soziologie zu erinnern.
Man könnte zuerst sagen, daß beide Richtungen ernst machen mit der Vorstellung,
daß Recht nicht mehr unbenommen verstanden werden kann als ein politisch gesetztes, ein politisch durchgesetztes und ein dezidiert politische Adressen treffendes
Recht (internationales Recht). Das Recht auf globaler Ebene ist mehr gesellschaftliches Recht, als es nationalstaatliche Rechtformen der Gesellschaft sind (Privatrecht, Zivilrecht, Vertragsrecht). Es ist mehr sozial und teilsystemspezifisch denn
etatistisch eingebunden. Es ist sich mehr Rechtquelle denn alle anderen Formen von
Recht. Der Unterschied beider Perspektiven besteht nun darin, dieses Recht ohne
Staat („Das Recht am Staat vorbei“) auf globaler Ebene in seiner Generierung, Legitimierung und Einhaltung entweder maßgebend in der Rationalität des kommunikativen Handelns der Diskurse anzugliedern oder in den jeweiligen Normierungsund Regelungszwängen der betreffenden Teilsysteme, Organisationen, Professionen. Vielleicht ist aber im Kontext des Globalrechts dieses Entweder/Oder nicht
mehr aussagekräftig. Am Beispiel hybrider Netzwerke 38 könnte sich ein noch eigenartiges Sowohl/Als auch herausstellen. Den Unterschied zwischen Hybriden und
Netzwerken jetzt außer Acht lassend, findet sich neuerdings die Behauptung, daß
Netzwerke als Organisationsform ein neues Rechtsinstitut generieren, das nicht
mehr auf dem Vertrags- oder dem Unternehmensrecht alleine beruht. Durch das Unscharfwerden von Grenzen der Unternehmensleitung, der Finanzierung, der sozialen Beziehungen in diesen Netzwerken entstünde ein eigentümlicher Charakter der
sogenannten generalisierten Reziprozität. Die im Netzwerk stattfindenden „Gegenleistungen werden nicht von der unmittelbaren Leistungsbeziehung erwartet, sondern ‚irgendwie‘ aus dem Netzwerk, aus sachlich unbestimmten, sozial diffusen und
zeitlich langfristig angelegten Verhältnissen.“ 39 Im Gegensatz zu relationalen Verträgen, die Leistungserwatungen und -Forderungen regeln, basiert die rechtliche
Alle Beispiele siehe Luhmann, Das Recht ..., a. a. O., S. 290 f.
Luhmann, Das Recht ..., a. a. O., 292.
38 Gunther Teubner, Das Recht hybrider Netzwerke, in: Zeitschrift f. d. gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, 165/2001. Die hier verwendete identische Ausgabe des Textes auf
www.uni-frankfurt.de/fb01/teubner/publikat.html (2003).
39 Teubner, ebenda, S. 7.
36
37
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Bernd Ternes
Form von Erwartungen im Netzwerk nicht auf einem Vertrag zwischen zwei Partnern, sondern alleine auf dem Kontakt zu einem der Netzteilnehmer. Dies erzeugt
im Netzwerk selbst eine doppelte Zurechnung von Handlungen als rechtlich beschreibbare: Individuelle und kollektive Zuschreibung der Verantwortung resp. Haftung. Es entsteht eine Form des außervertraglichen Rechts, das nicht mehr durch
Unternehmens- und Vertragsrecht gedeckt ist; und dennoch Gültigkeit besitzt. Im
Effekt handelt es sich also um eine empirische Situation, in der die einzelnen empirischen Rechtssubjekte sowohl Beteiligte als auch dem Recht Unterworfene sind,
und zwar instantan, gedeckt nur die Anwendung eines großangelegten Vertrauens
als Mechanismus der Komplexitätsreduktion einerseits und der Bereitstellung von
Komplexität durch Verständigung andererseits. Genau dies aber wären auch benennbare Effekte, nimmt man Habermasens Rechtskonzept zu Rate. Kurz: Einmal
geht die Rechtsgenerierung über an eine „neue Logik“ der Systeme, die quasi Lebenswelt vertreten; zum anderen hält die Lebenswelt in Gestalt des kommunikativen
Handelns namens Diskurs weiterhin Anteile an der Rechtsgenerierung, Rechtsfindung, Rechtsdurchsetzung und der Rechtskraft. Pointiert: Das Netzwerkrecht wäre
ein Recht, daß sich nicht an die normalen System/Umweltgrenzen hält und damit
den Weg bereitet für die rechtliche Aufmerksamkeit nicht mehr eindeutiger Innen/
Außenverhältnisse.
VII. Schluß
Die Vorstellung, dem großformatigen und zudem eigentlich noch nicht recht
spruchreifem Phänomen namens Globalisierung etwas Klarheit abgewinnen zu können, indem man sich auf einen Teilbereich möglicher Globalisierungsvorgänge beschränkt, nämlich der Globalisierung des Rechts, diese Vorstellung trügt. Sie trügt
nicht deswegen, weil es noch keinen eigenständigen Begriff der Globalisierung als
solche gibt (also keinen Begriff, der nicht auf die Referenz der Nationalstaatsverfaßtheit zurückgreifen muß) und daher alle Spezifizierungen derselben die Unklarheit nur perpetuieren, weil Globalisierung, egal ob terrestrisch, monetär oder kulturell, als Phänomen schon älteren Datums ist (Sloterdijk etwa macht das Jahr 1522
aus) 40. Sie trügt auch nicht deswegen, weil die Beschäftigung mit Recht immer Beschäftigung mit Welt, vielleicht gar mit Weltgesellschaft bedeutet, man also im analyseresistenten Großformat bleibt, neben dem es dann nur noch die Beschäftigung
mit der Erde gibt, ganz im Sinne Michel Serres: „Le monde mondial des choses, la
Terre, le monde mondain de nos contrats, le droit“.41
Sie rührt daher, daß Globalisierung inhärent unklar, ambivalent, dekonstruktiv,
paradox sich prozessiert. Zwar stimmt es: Die Entwicklung von privaten Regimes
40 siehe Peter Sloterdijk, Sphären II. Globen, Frankfurt a. M. 1999, S. 801–1005: Die letzte
Kugel. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung, hier: S. 826.
41 Michel Serres, Le contrat naturel, Paris 1992, S. 28 f.
Soziologische Probleme der Globalisierung des Rechts
85
der Rechtgenerierung korrespondiert eindeutig mit der schon länger statthabenden
Hegemonie privater Regimes betreffs Forschung, technischer Entwicklung und
Markt. Die nicht mehr direkt staatlich kontrollierten Sektoren der Wissenschaftsforschung, der Technikproduktion, der Unternehmensentscheidungen haben schon lange den Status des „am Staate vorbei“ inne 42; nun kommt das Recht – verspätet – hinterher. Während Bruno Latour noch ein Parlament der Dinge fordert, um die längst
von demokratischen Prozeduren emanzipierten Weisen der Produktion, der Forschung, der Klimapolitik usw. wieder zurück in die Gesellschaft zu holen, macht
sich dieser emanzipierte Teil gesellschaftlicher Sub- und Systeme nun auf, sich ein
„eigenes Recht“ zu schaffen: Der Staat, so Teubner, könne nicht mehr Normierungsbedarf und Erwartungssicherheit sowie Konfliktlösungsregeln gewährleisten für Bereiche, aus denen er sich schon vor langer Zeit direkt herausgezogen hat. Dennoch:
Die Privatisierung des Rechts als Folge des Absterbens des Staates ganz ohne Revolution könnte auf globaler Weltgesellschaftsebene etwas zeitigen, was zu einer
Art Rechtsvergesellschaftung zweiter Ordnung werden könnte. Aber das ist schon
der zweite Schritt. Noch scheinen die Reflexionen des globalisierten Rechts in einer
Entfaltung der Erkenntnis zu stecken, die in der Ankündigung der Bielefelder Tagung „Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft“ (04.–05. April 2003) so formuliert wurde: „Wir gehören unserem Recht mehr, als dieses uns gehört.“ 43
42 Das gilt natürlich auch für bestimmte internationale Institutionen: So oblag die Gestaltung
der Strafprozeßordnung für das Ad-hoc-Kriegsverbrechertribunal das frühere Jugoslawien betreffend in den Händen der Richter, nicht in denen eines Gesetzgebers. Das lag auch daran, daß
die Ad-hoc-Gerichte vom Sicherheitsrat der UN eingerichtet wurden. Erst der 1998 ‚gegründete‘ Internationale Strafgerichtshof ist durch Völkerrechtsvertrag an adressierbare Gesetzgeber gebunden.
43 www.uni-bielefeld.de/ZIF/AG/2003/04-04-Haltern.html (03.2003); Leitung: Ulrich Haltern und Christoph Möllers.
Kontextualität 1 und Normativität des Rechts –
Strafrechtlicher Umgang mit Systemunrecht
in Rumänien nach 1989 2
Julie Trappe
I.
Dreizehn Jahre nach dem Sturz Ceausescus ist Rumänien weit davon entfernt,
seine Vergangenheit strafrechtlich aufgearbeitet zu haben. Die Auseinandersetzung
mit dem Unrecht des kommunistischen Regimes findet – wenn überhaupt – nicht im
Gericht, sondern in der Zivilgesellschaft statt. Es wird auch in erster Linie als eine
Angelegenheit der Bürger empfunden, die Vergangenheit aufzuarbeiten, und nicht
als eine Sache des Staates. So gibt es bezeichnenderweise eine Buchreihe die sich
„Prozeß des Kommunismus“ 3 nennt, in der Dokumente über den Kommunismus in
Rumänien und in anderen Ländern veröffentlicht werden. In dem Vorwort zu dieser
Reihe heißt es:
„Selbst wenn es ein Nürnberg des Kommunismus nie geben wird, nimmt die Akte für einen
solchen Prozeß langsam Gestalt an. Je mehr die Archive des alten Systems geöffnet werden,
desto mehr Beweise liegen uns vor. Dabei sind diejenigen, die diese Beweise beschaffen,
nicht die Vertreter der Justiz, sondern die der Wissenschaft und des Gewissens: Historiker,
Politologen, Journalisten, Schriftsteller, die alle davon überzeugt sind, dass die Wahrheit ans
Licht kommen muss und dass die Schuldigen – Menschen und Ideen – identifiziert werden
müssen.“
Diese Konzentration auf die Zivilgesellschaft ist auf das fehlende Vertrauen in die
Justiz und in die Politik zurückzuführen 4. Die Menschen erwarten von den zuständigen Stellen keine unabhängige, kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – und es hat sich auch gezeigt, dass diese Skepsis begründet ist. Es gibt nur sehr
1 Den ursprünglichen Begriff „Komplexität“ habe ich angeregt durch die Diskussion auf
der Tagung durch „Kontextualität“ ersetzt.
2 Im Rahmen des Projekts „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht -Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse“ unter der Leitung von Privatdozent Dr. Jörg Arnold am MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg arbeite ich an einer Promotion über den strafrechtlichen Umgang mit Systemunrecht in Rumänien nach
1989.
3 Doina Jela (Hrsg.), Procesul comunismului, Bukarest seit 1997.
4 Siehe z. B. Doina Jela, Lexiconul negru. Unelte ale represiunii comuniste, Bukarest 2001,
S. 12; Andrei Ursu, Cazul Gheorghe Ursu – Scurt istoric, Bukarest 2002, S. 333 ff.
88
Julie Trappe
wenige Fälle, in denen es zu Prozessen in Zusammenhang mit Systemunrecht5 gekommen ist.
Einer dieser Fälle ist der Fall Ursu, der bis heute noch nicht vollständig abgeschlossen ist und die rumänische Öffentlichkeit beschäftigt. Der Bukarester Ingenieur Ursu war schon in den 70er Jahren wegen regimekritischer Äußerungen aufgefallen. 1984 fand man bei ihm aufgrund von Angaben eines Kollaborateurs des
rumänischen Geheimdienstes Securitate sein Tagebuch in dem er seine Kritik an
der kommunistischen Regierung festgehalten hatte. Ihm wurde seine „feindliche
Haltung“ dem Regime gegenüber vorgeworfen, strafrechtlich erfasst vom Straftatbestand der „Propaganda gegen die sozialistische Ordnung“, gemäß Art. 166 Abs. 2
des rumänischen Strafgesetzbuches.
Im September 1985 wurde Ursu festgenommen und in das Bukarester Polizeigefängnis verbracht. Allerdings lautete der offizielle strafrechtliche Vorwurf „unerlaubter Valutabesitz“ gemäß Art. 37 des Dekretes 210/1960, da man bei Ursu
17 Dollar gefunden hatte.
Im Gefängnis wurde Ursu während der Verhöre und auch in der Zelle durch einen Mitgefangenen im Auftrag der Securitate gefoltert. Davon geht die Berichterstattung in der rumänischen Presse und auch die Arbeiten, die sich mit dem Fall beschäftigt haben, überwiegend aus. 6 Im November 1985 wurde Ursu mit schweren
inneren Verletzungen ins Gefängniskrankenhaus eingeliefert, wo er infolge der Verletzungen starb.
Der Autopsiebericht ging von einem natürlichen Tod aus 7. So wurden auch seitens der Staatsanwaltschaft keine strafrechtlichen Schritte eingeleitet, obwohl Anhaltspunkte vorlagen, die für einen gewaltsamen Tod sprachen. Ursus Sohn erkannte deutliche Folterzeichen, als er den Leichnam seines Vaters zu Gesicht bekam 8.
Nach 1989 bemühte sich Ursus Sohn, den Fall aufzuklären, und die Verantwortlichen für den Tod seines Vaters vor Gericht zu stellen. Er wandte sich an die staatlichen Stellen, und die Staatsanwaltschaft nahm in Person eines engagierten Staatsanwaltes die Nachforschungen in die Hand 9. 1996 wurde gegen den Mitgefangenen
Ursus Anklage erhoben wegen Totschlages gemäß Art. 174 des rumänischen Straf5 Ich verwende den Begriff des Systemunrechts im Sinne von staatsgestütztem Unrecht, wie
er in dem Projekt „Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse“ benutzt wird. Vgl. z. B. Albin Eser, Jörg Arnold (Hrsg.), Band 1, Internatioanles Kolloquium, Freiburg 2000, S. X.
6 Vgl. z. B. Doina Jela, Lexiconul negru, (Anm. 4), S. 88, 262; Victor Bîrsan, Marea călatorie – Via,ta si moartea inginerului Gheorghe Ursu, Bukarest 1998, S. 7.
7 Autopsiebericht vom 18.11.1985. Nicht veröffentlicht.
8 Andrei Ursu, Cazul Gheorghe Ursu – Scurt istoric, (Anm. 4), S. 6.
9 Proces verbal, Procuratura României, 17.02.1990, in: Victor Birsan, Marea calatorie,
(Anm. 6), S. 310.
Strafrechtlicher Umgang mit Systemunrecht in Rumänien nach 1989
89
gesetzbuches 10. Im Mai 2000 wurde er wegen Totschlags zu 10 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt 11. Der Mitgefangene wurde durch das Gericht für schuldig befunden,
Ursu durch Folter getötet zu haben. Das Urteil stützt sich auf Zeugenaussagen, auf
ein Geständnis des Angeklagten und auf ein gerichtsmedizinisches Gutachten von
1990 12, das dem Autopsiebericht von 1985 widersprach. Im November 2000, also
kurz nach Abschluß des ersten Verfahrens, wurde außerdem gegen drei weitere Personen Anklage erhoben, gegen einen Gefängniswärter wegen Beihilfe zum Totschlag, da er nichts unternommen hatte, obwohl er von der Folter in Ursus Zelle
Kenntnis hatte, und gegen zwei Personen der Gefängnisleitung wegen Anstiftung
zum Totschlag. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
II.
Anhand des Falles Ursu soll im Folgenden der Gegenstand Recht beleuchtet werden. Insbesondere soll das Verhältnis von Recht und Politik diskutiert werden.
Inwiefern kann Recht aus seinem Kontext isoliert werden? Welche Rolle spielen
politische, historische, soziale und kulturelle Faktoren? Welche Rolle und welchen
Einfluss hat der Einzelne auf das Recht?
Dies sind grundsätzliche Fragen, die sich aber hinsichtlich der strafrechtlichen
Reaktion auf Systemunrecht in besonderer Weise stellen. Denn hier hat man es mit
einem Wechsel bzw. einem Wandel der gesellschaftspolitischen Verhältnisse zu tun.
Die Faktoren, die Recht beeinflussen, können sich in einem relativ kurzen Zeitraum
stark verändern. Die Rolle und Position des Einzelnen in der Gesellschaft werden in
Frage gestellt. Die Machtstrukturen werden neu bestimmt. Dieser Bereich ist deshalb hinsichtlich der Verknüpfung von Politik und Recht besonders sensibel.
An die Bestimmung des Forschungsgegenstandes schließt sich die Frage der Methode an. Was bedeutet juristische Methode? Was kann sie leisten und wo sind ihre
Grenzen?
III.
Für die Rechtswissenschaft als angewandte Normativwissenschaft 13 ist Ausgangspunkt die Norm 14. Die Anwendung der juristischen Methode im vorliegenden
10 Anklage vom 12.11.1996, Parchetul general de pe linga Curtea Supremā de Justitie, dosar
nr. 90/P/1990.
11 Urteil vom 05.08.2000, Curtea Supremā de Iūstitia, Sectia Penala, decizia nr. 1947, dosar
nr. 2847/2000. Nicht veröffentlicht.
12 Raportul medico-legal nr. E2 vom 29.03.1990.
13 Friedrich Müller, Juristische Methodik, 3. Auflage, Berlin 1989, S. 24.
14 Karl Larenz, Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage,
Berlin 1995, S. 17.
90
Julie Trappe
Fall bedeutet eine Analyse der Urteile und der gerichtlichen Entscheidungen in diesen Prozessen unter Heranziehung der ihnen zugrunde liegenden Normen.
Die Rechtsanwältin von Ursus Sohn, der als Nebenkläger an dem Prozess beteiligt ist, stellte den Antrag, den Richter wegen Befangenheit auszuwechseln. Dieser
Antrag wurde abgelehnt 15, da sich nicht nachweisen ließe, dass der Richter sein Amt
parteiisch ausgeführt habe.
Des Weiteren stellte die Rechtsanwältin, den Antrag, einen der Angeklagten in
Untersuchungshaft zu nehmen. Dieser Antrag wurde abgelehnt, da die gesetzlichen
Vorraussetzungen nicht vorlägen. Die rumänische StPO verlangt in Art. 149 in Verbindung mit Art. 146, dass die Untersuchungshaft für das Strafverfahren notwendig
sein muss. Dieser Begriff der „Notwendigkeit“ ist auslegungsbedürftig und schwer
zu bestimmen. Die negative Entscheidung war hier zumindest vertretbar.
In der Berufungsinstanz wurde die rechtliche Einordnung der Tat verändert, d. h.
das Gericht wich von der Entscheidung in der ersten Instanz ab. Das Berufungsgericht ging nun nicht mehr von Totschlag, sondern nunmehr von Körperverletzung
mit Todesfolge aus, da der Vorsatz nicht erwiesen sei. Hier stellte sich das grundsätzliche Problem der Nachweisbarkeit des Vorsatzes. Auch diese richterliche Entscheidung erscheint zumindest nachvollziehbar.
Es ist festzuhalten, dass dem Richter in allen hier genannten Beispielsfällen ein
Entscheidungsspielraum zustand. In keinem der Fälle war es eindeutig, wie „richtig“ hätte entschieden werden müssen. Die Richter haben den ihnen jeweils zustehenden Spielraum genutzt ohne diesen zu überschreiten. Die Entscheidungen sind
nachvollziehbar und vertretbar und bieten damit juristisch wenig Angriffsfläche.
Dieses Ergebnis kann aber nicht befriedigen, wenn man den Fall auch in seiner
Bedeutung für die strafrechtliche Reaktion auf Systemunrecht in Rumänien erfassen
will. Dafür bedarf es auch solcher Informationen, die über die Grenzen der Normativität hinausgehen. Berücksichtigt man lediglich die juristischen Entscheidungen
und die einschlägigen Normen, so fällt es schwer, den Fall in den gesellschaftspolitischen Prozess der Transition einzuordnen. In diesem Sinne der Kontextualität des
Rechts habe ich über die juristische Analyse hinaus auch auf andere Methoden zurückgegriffen. Ich habe Interviews unter anderem mit der Rechtsanwältin und dem
Sohn Ursus geführt, sowie die Debatte um den Fall Ursu in der Presse und einschlägigen Veröffentlichungen einbezogen. Dadurch habe ich Informationen erhalten,
die sich aus dem Aktenstudium allein nicht ergeben. Mit diesem Hintergrundwissen
erscheinen die juristischen Entscheidungen in einem anderen Licht.
So liegt dem Befangenheitsantrag eine Pressemitteilung zugrunde, nach der der
Richter Mitarbeiter der Securitate war. Securist gewesen zu sein stellt aber keinen
Ablehnungsgrund dar. Zwar gibt es in Rumänien ein dem Stasiunterlagengesetz ent15
Entscheidung vom 12.12.2001. Nicht veröffentlicht.
Strafrechtlicher Umgang mit Systemunrecht in Rumänien nach 1989
91
sprechendes Gesetz, dass eine Überprüfung von Personen auf ihre Securitate-Vergangenheit hin ermöglicht, jedoch führt eine Enthüllung nicht zwingend zur Aufgabe einer öffentlichen Funktion 16. Ich hatte den Eindruck, dass die Rechtsanwältin
Angst hatte, in dem Antrag klar zu sagen, warum der Richter ausgewechselt werden
sollte. Dazu ist zu sagen, dass die Position des Rechtsanwaltes in Rumänien relativ
schwach ist. Traditionell hatten in den sozialistischen Strafprozessordnungen der
Staatsanwalt und der Richter eine starke Rolle, was sich in Rumänien noch bis heute
auswirkt. Die Anwältin begründete ihren Antrag mit Verfahrensfehlern – da der eigentliche Grund nicht ausgesprochen wurde, war es für den Richter, der über den
Befangenheitsantrag zu entscheiden hatte, leicht, den Antrag abzulehnen.
Der Antrag auf Untersuchungshaft muss in Zusammenhang gesehen werden mit
der Tatsache, dass dieser Prozess vor einem Militärgericht stattfindet. Die für die
kommunistische Zeit typische Militärgerichtsbarkeit ist zuständig, da die Beteiligten einen militärischen Grad haben, bzw. hatten. Einen militärischen Grad hatten
auch die Mitarbeiter der Securitate und die der Miliz. Problematisch ist das vor allem deshalb, da die Angeklagten einen höheren militärischen Grad haben, als der
Militärrichter. Das erschwert die Objektivität des Richters. Denn die strenge Hierarchie des Militärs lässt eine dem Strafprozeß entsprechende Rollenverteilung nur
schwerlich zu. Der Richter ist genauso Teil der Hierarchie wie der Angeklagte. Es
widerspricht seiner Rolle als dienstlich Untergebenem, den Vorgesetzten als Angeklagten zu sehen und unvoreingenommen zu urteilen.
Die Veränderung der rechtlichen Beurteilung von vorsätzlicher Tötung zu Körperverletzung mit Todesfolge in der Berufungsinstanz führte dazu, dass Art. 1 eines
Amnestiedekretes angewendet werden konnte, was zur Straffreiheit führte 17. Dieses
Urteil hielt zwar in letzter Instanz nicht stand, das Amnestiedekret wurde jedoch
auch in dem letztinstanzlichen Urteil angewandt, mit der Folge der hälftigen Reduzierung der Strafe gemäß Art. 2 des Dekretes. Die Anwendung dieser Amnestie an
sich scheint mir sehr fragwürdig. Es handelt sich um ein Dekret aus dem Jahre 1988,
das von Ceausescu erlassen wurde – und es ist doch merkwürdig, dass im Jahre
2000 auf ein solches Dekret zurückgegriffen wird. Es scheint, dass es den Richtern
darum ging, zu einer möglichst milden Verurteilung zu kommen.
Sieht man sich die hier dargestellten Entscheidungen an, so bestätigt sich der Eindruck, dass die Tendenz besteht, immer eine möglichst milde Entscheidung für den
Angeklagten zu treffen – gleichzeitig werden die Anträge der Rechtsanwältin regelmäßig abgelehnt. In diesem Sinne sprach sie auch davon, sie habe das Gefühl, blokkiert zu werden 18. Das äußert sich auch in praktischen Dingen, zum Beispiel muss
16 Julie Trappe, L’ouverture des archives de la Securitate en Roumanie – à propos de la loi
187/1999, L’Astrée N° 11, Paris 2000, S. 17–21.
17 Decretul 11/1988, Buletinul Oficial al Republicii socialiste Romania, Anul XXIV, Nr. 5,
26.01.1988.
18 Von diesem Blockiert-Werden spricht auch der Nebenkläger, Interview geführt am
05.06.2003 in Zürich.
92
Julie Trappe
sie ständig darum kämpfen, Einsicht in die Akten zu haben. Im rumänischen Strafprozessrecht gibt es kein ausdrückliches Akteneinsichtsrecht wie in der deutschen
Strafprozessordnung. Gelangte die Akten in ihre Hand, so funktionierte zufällig an
den entsprechenden Verhandlungstagen der Fotokopierer im Gericht nie 19.
Dies lässt sich damit erklären, dass in diesem Fall auch politische und persönliche
Interessen eine Rolle spielen. Die an sich juristisch schwer angreifbaren Entscheidungen sind eben keine neutralen Entscheidungen. Die Normen sind nicht starr. Sie
lassen immer einen Spielraum. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine juristische
Entscheidung zu treffen. Immer ist es auch eine Frage der Interpretation, der Auslegung. Die Normen sind nur das Gerüst. Durch unbestimmte Rechtsbegriffe oder
durch beispielsweise das Problem der Nachweisbarkeit beim Vorsatz ist dieses Gerüst geöffnet für andere Einflüsse.
Juristische Entscheidungen werden durch Menschen getroffen, die diese Einflüsse transportieren. Der Richter, der Angeklagte, der Nebenkläger, der Staatsanwalt
sind keine abstrakten Figuren, sondern Personen mit einer Geschichte, mit einer
Rolle in der Gesellschaft und mit eigenen Interessen. Als Teil der Gesellschaft sind
sie verschiedenen Einflüssen ausgesetzt und wollen ihrerseits Einfluss nehmen.
Recht ist deshalb immer mit Politik verbunden – oder schärfer formuliert: „Rechtshandeln ist normorientiertes politisches Handeln“.20
Im Fall Ursu spielt der Staatsanwalt eine besondere Rolle. Durch seine engagierte
Arbeit hat gezeigt, dass er eine unabhängige Aufklärung der Vergangenheit
will – und scheint deshalb der Generalstaatsanwaltschaft ein Dorn im Auge zu sein.
Kurz vor Abschluss der Ermittlungen im Jahre 1993 wurde er durch einen anderen
Staatsanwalt ersetzt, der den Fall 3 Jahre ruhen ließ. Erst im November 1996 wurde
Anklage erhoben, kurz nach den Parlamentswahlen und kurz vor den Präsidentschaftswahlen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem schon klar war, dass es zu einem
politischen Wechsel in Rumänien kommen würde. Interessant ist, dass der für diesen Wechsel verantwortliche Generalstaatsanwalt derjenige war, der 1985 als
Staatsanwalt mit dem Fall Ursu betraut war und damals entschied, keine strafrechtlichen Schritte einzuleiten 21.
Zur Verzögerung des Prozesses führte außerdem die Tatsache, dass die Securitate-Akten über Ursu erst im April 2000 an die Staatsanwaltschaft herausgegeben
wurden. Dazu ist zu erklären, dass die Archive der Securitate nach 1989 auf den aktuellen rumänischen Geheimdienst (SRI) übergegangen sind 22. Dieser weigerte sich
über 10 Jahre, die Unterlagen Ursu an die Staatsanwaltschaft herauszugeben, da
dies „die Staatssicherheit gefährde“ 23. Auch hier gibt es eine interessante Hinter19
20
21
22
23
Interview geführt am 08.05.2003 in Bukarest.
Friedrich Müller, (Anm. 13), S. 29.
Andrei Ursu, Scurt istoric, (Anm. 4), S. 6.
Julie Trappe, (Anm. 16), S. 17–21.
Andrei Ursu, Scurt istoric, (Anm. 4), S. 9.
Strafrechtlicher Umgang mit Systemunrecht in Rumänien nach 1989
93
grundinformation: eine der innerhalb des SRI zuständigen Personen arbeitete 1985
für die Securitate und war als solche an den Verhören Ursus beteiligt 24.
Es zeigt sich also, dass einige Personen, die heute Entscheidungen treffen, auch
damals involviert waren, und insofern an einer Aufklärung und einem schnellen Abschluss des Verfahrens nicht unbedingt interessiert sind. Das ist typisch für das heutige Rumänien, in dem die Machtstrukturen sich nach 1989 nur zum Teil geändert
haben. Es fand kein Eliteaustausch statt, so dass oftmals die alten Machthaber auch
heute noch wichtige Positionen in der Politik, im Geheimdienst, in der Wirtschaft
innehaben. Das kann eine Erklärung dafür sein, warum – nicht nur im Fall Ursu – der
politische Wille zur Aufarbeitung des kommunistischen Unrechts in Rumänien
fehlt 25.
Mit einer rein normativen Herangehensweise bleibt die Bedeutung dieses Falles
verborgen. Nur wenn man die dargestellten Hintergründe mit einbezieht, wird die
politische Dimension deutlich. Denn die Rechtsordnung ist keine feststehende Größe, sondern etwas Lebendiges, das sich verändert und durch Menschen verändert
wird. Rechtliche Prozesse sind nichts von der Wirklichkeit Getrenntes. Sie sind vielmehr Teil und Ausdruck der Gesellschaft. Nur, wenn man Recht in seiner Kontextualität erfasst, kann man rechtliche Prozesse, und letztlich die Wirklichkeit, begreifen.
Wenn es Ziel ist, die Wirklichkeit zu verstehen und zu erklären, dann muss man
Recht als einen Bestandteil gesellschaftlicher und politischer Prozesse betrachten.26
IV.
In meinem Beispielsfall Ursu wird im Rahmen eines Rechtsstreites der Kampf
um die Aufklärung der Vergangenheit ausgetragen – die Justiz gegen Ursus Sohn,
der hinter sich die politische Opposition weiß. Dabei hat die Justiz die stärkere Position. Die Rechtsanwältin von Ursu geht deshalb auch nicht von einer Verurteilung
der Verantwortlichen aus. Wichtiger sei aber vielleicht die Aufmerksamkeit, die
dem Fall zu teil wird. In der Presse wird viel über den Fall berichtet, zumeist kritisch
gegenüber der Justiz 27.
Durch den Prozeß ist die Öffentlichkeit außerdem auf weitere Fälle von Folter
aufmerksam geworden – und vielleicht wird der Fall Ursu nicht der einzige Fall dieser Art in Rumänien bleiben 28.
Andrei Ursu, Scurt istoric, (Anm. 4), S. 8.
In diesem Sinne auch Dennis Deletant, Romania under communist rule, Bukarest 1998,
S. 244.
26 So Sally Falk Moore, Law as process – an anthropological approach (1978), Hamburg
2000, S. 55.
27 Vgl. z. B. Revista „22“, Nr. 23, 4.–10. Juni 2002, Dosarul Ursu; Evenimentul zilei
03.04.2003, Capii Secūritatü vor fi aùdiatí in procesul Ursu.
28 Vgl. Z. B. Evenimentul zilei vom 03.06.2003, S. 9, Fostii arestati politic dezvāluie tortūrale la care aū fost sūpusi.
24
25
94
Julie Trappe
Ursu ist zu einem Symbol geworden. Ein Symbol für die Ohnmacht gegenüber
der eng mit der Politik verknüpften Justiz, die nicht den Willen hat, Licht in die
kommunistische Vergangenheit des Landes zu bringen. Ein Symbol aber auch für
den Kampf gegen die Verschleierung. Selbst wenn es juristisch nicht zu einem Sieg
kommt, so kann der Prozess Ursu gesellschaftlich doch ein Sieg sein. Die Schriftstellerin und Gründerin des Museums zur Erinnerung an das kommunistische Unrecht 29 Ana Blandiana hat diese Enttäuschung über die rumänische Justiz, aber auch
die Hoffnung, trotzdem etwas bewirken zu können, als Motto für das Museum so
formuliert:
„Solange die Justiz nicht in der Lage ist, eine Form der Erinnerung zu sein, muß die Erinnerung versuchen, eine Form der Justiz zu sein.“ 30
Memorialul victimelor comunismului si al rezistentei, Sighet.
Kurz vor Fertigstellung dieses Beitrages sind zwei der Angeklagten in Bukarest von der
Curte de Apel zu je 11 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gegen das mir noch nicht vorliegende Urteil vom 12.07.2003 kann noch Rechtsmittel eingelegt werden. Die beiden Verurteilten sind Zeitungsangaben zufolge flüchtig, vgl. Evenimentul zilei vom 16.07.2003, Tortionarii lui Ursu, de negasit. Diese letzte, unerwartete Urteil gibt auf jeden Fall Anlass zu hoffen,
dass die rumänische Justiz vielleicht doch noch im Sinne Ana Blandianas eine Form der Erinnerung werden kann.
29
30
Aporien des Authentischen
Zeugenschaft im Recht und in der Literatur des 18. und 19.
Jahrhunderts
Von Thomas Weitin
1. Was bedeutet die Frage nach dem Authentischen?
Der wissenschaftliche Nachweis, daß alle Vorstellungen von Echtheit und
Ursprünglichkeit bestenfalls nützliche Fiktionen sind, hat der Faszinationskraft
des 'Authentischen' keinen Abbruch getan. Ausgehend von dieser Beobachtung,
möchte ich Ihnen im Folgenden die These plausibilisieren, daß das Faszinosum
der Authentizität nicht unwesentlich ihrem aporetischen Charakter geschuldet ist.
Es geht mit anderen Worten darum zu zeigen, daß und inwiefern die Unmöglichkeit des Authentischen eine unendliche Zahl imaginärer Möglichkeiten erzeugt.
Dabei interessieren mich insbesondere der historische und der systematische Ort
dieser ‘Wunschmaschinen’ des Authentischen.
Werfen wir einen Blick auf die Geschichte des Begriffs, dann ist zu den
geläufigen Prädikaten ‘echt’ und ‘ursprünglich’ der juristische Sinne des Beglaubigt-Seins hinzuzuziehen und mit ihm die alte Bedeutung des transitiven Verbs ‘authentisieren’. Sie zeigt an, daß der Geltungsanspruch der Echtheit nicht von
der sie bestätigenden Autorität abgelöst werden kann, wobei das authentisch machen von Dingen oder Texten soziale Inszenierungen impliziert. Bis ins 18. Jahrhundert werden sie vornehmlich in Theologie und Justiz praktiziert, eben dort,
wo starke Institutionen existieren, die Macht als Auslegungs- und Verfügungsgewalt ausüben. Über den Authentizitätsnachweis der Heiligen Schrift oder von
Reliquien bestätigt die Kirche ihre Lehre. Und die Autorität des Kaisers oder
Fürsten beglaubigt die Kodifikation des Rechts, so wie authentisch eine Urkunde
genannt wird, die tatsächlich vom Verfasser herrührt.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts führt die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft, innerhalb welcher die Entstehung der Privatsphäre
erstmals einen Vorgang beschreibt, der breitere Schichten erreicht, zu einer Konjunktur der Authentizitätsfrage, die sich nun im Kontext der Aufklärung vornehmlich an das Subjekt und seinen Zugang zu Welt und Wahrheit richtet. Damit
beginnt insofern ein Zeitalter der Zeugenschaft, als die aufklärerische Subjektivierung der Erkenntnistheorie den literarischen wie den juristischen Wahrheitsdiskurs entscheidend beeinflußt. Es entsteht einerseits eine Vielzahl empfindsamer Romane und Autobiographien, die ihre authentische Zeugenschaft
nach dem Motto ‘So und nicht anders ist es gewesen’ rhetorisch in den Mittelpunkt stellen. Und auf der anderen Seite wird über das Beweismittel ‘Zeuge’ ein
96 Thomas Weitin
zum Teil heftiger juristischer Streit geführt. Zeugenschaft wird mithin zur Signatur einer Epoche, die sich des Zugangs zur Wahrheit neu versichern muß.
2. Die Subjektivierung des justiziellen Beweisverfahrens und das
Problem der Authentizität
Bekanntlich galt im deutschen Rechtsraum bis ins 19. Jahrhundert hinein ein
stark formalisiertes Beweisrecht, das seine Wurzeln in der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. hatte, der 1532 inaugurierten Constitutio Criminalis Carolina. Dem formalen Beweisrecht lag das Bestreben zugrunde, bei der Tatsachenfeststellung im Strafverfahren Subjektivität sowohl auf der Seite der Zeugen
als auch auf der des urteilenden Richters auszuschalten. Sogenannte Zeugenkataloge legten die Glaubwürdigkeit eines Zeugen nach seinem Stand, seiner Religion und seinen sonstigen Lebensumständen von vornherein fest und bestimmten
so a priori den Beweiswert seiner Aussage. Nur die Aussage von zwei als einwandfrei qualifizierten, vollwertigen Zeugen konnte den vollen Beweis einer Tatsache erbringen. Umgekehrt ließ dieses Regularium für die subjektive Bewertung
der tatsächlichen Umstände des Falles keinen Raum und reduzierte die richterliche Tätigkeit auf das Zusammenzählen der Angaben entsprechend klassifizierter
Zeugen. Die formelle Beweiswürdigung erfolgte im Anschluß an eine geheime
Anhörung der Zeugen in Abwesenheit der Parteien und im Rahmen eines ansonsten schriftlichen Verfahrens, in dem das Urteil nach Aktenlage erging.
Gegen dieses praxisferne Verfahren, das lange Zeit nicht zuletzt deshalb
aufrechterhalten werden konnte, weil es durch erfolterte Geständnisse zu umgehen war, und das folglich nach der Abschaffung der Tortur in eine dramatische
Krise geriet, erhoben sich vor dem Hintergrund des sich konstituierenden Selbstverständnisses der bürgerlichen Gesellschaft Einwände, die sich speziell gegen
die geheime Anhörung der Zeugen und die Schriftlichkeit des Verfahrens wandten und auf Öffentlichkeit und Transparenz zielten. Sie kamen zu dem Schluß,
daß Mündlichkeit und Unmittelbarkeit eine conditio sine qua non für die Beurteilung von Zeugenaussagen darstellen, die sich nicht aus formalen Kriterien, sondern aus der in direkter Anschauung der Prozeßbeteiligten vorgenommenen freien Beweiswürdigung des Richters ergeben soll. Dementsprechend heißt es dann
in § 260 der Strafprozeßordnung von 1877: “Ueber das Ergebniß der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der
Verhandlung geschöpften Ueberzeugung.”
Der im Rahmen der großen Strafrechtsreformen des 19. Jahrhunderts erfolgende Übergang zur freien Beweiswürdigung und zur mündlichen Hauptverhandlung zieht in mehrerlei Hinsicht ein Authentizitätsproblem nach sich. Die erkenntnistheoretische Kernfrage, die die richterliche Überzeugungsbildung und
die nun ins Licht der Öffentlichkeit gerückte Einschätzung von Zeugen gleichermaßen betrifft, ist nach den Worten Anton Mittermeiers, “ob die Wahrheit
Aporien des Authentischen 97
objectiv oder subjectiv sei”1. Diese Frage ist für die im Zuge der Verwissenschaftlichung des Strafrechts an Kant geschulten Juristen mit dem Verweis auf
intersubjektiv verbindliche Anschauungs- und Verstandesformen zu klären. Weit
schwieriger erweist sich hingegen eine weitere Voraussetzung des reformierten
Prozesses. Wenn die Glaubwürdigkeit von Zeugen nicht mehr a priori klassifiziert wird, bedarf es operativer Kriterien zur Einschätzung ihres Auftritts. Ganz
oben an steht dabei, wie Julius Glaser in seiner Beweislehre ausführt, daß der
“wirklich unbeeinflußte Zeuge [...] sich auch natürlich benehmen”2 wird. Die Authentizitätsforderung leuchtet ein, ist aber in der Beobachtungssituation des Prozesses unmöglich zu erfüllen, denn hier gilt, was Kant in den Anthropologischen
Schriften über die generelle Schwierigkeit einer auf Beobachtung gegründeten
Anthropologie schreibt: Der Mensch, der registriert, daß er beobachtet wird, wird
entweder verlegen oder aber sich verstellen und in beiden Fällen seine Authentizität einbüßen. Die notwendige Authentizität der Zeugenschaft ist mithin eine
kontrafaktischen Voraussetzung, und Zeugenschaft erscheint als ein Vorgang, der
als unhintergehbar szenischer und erzählerischer Akt seine eigene Möglichkeitsbedingung negieren muß. Es ist diese Aporie, die Derrida von der unhintergehbaren ‘Fiktionalität’ der Zeugenschaft sprechen läßt 3.
Nicht anders liegt die Sache, wenn wir sie medienhistorisch betrachten.
So vehement das Unmittelbarkeitsprinzip die lebendige, unverstellt natürliche
Stimme, die zur Leitvorstellung der idealistisch geprägten Rechtspraxis um 1800
wurde, bis heute in den Mittelpunkt stellt, so wenig kann es über die mediale Situation des Prozesses hinwegtäuschen, in dem reine Mündlichkeit nicht vorkommt. Die mündliche Hauptverhandlung ist ein Zeremoniell, in dem alle Beteiligten zum Sprechen gebracht werden, in dem aber, wie es Cornelia Vismanns
Studie zur Kulturgeschichte der Akte 4 zuspitzt, gleichfalls gilt, daß sämtliche
Prozeßhandlungen, von der Verlesung der Anklage über die Zeugenaussage bis
hin zur Verkündigung des Urteils, Transformationen von Schriftgut in gesprochene Worte sind. Mithin kann die Emphase für das lebendig gesprochene Wort
nicht verschleiern, daß Mündlichkeit stets nur sekundär ist. Und umgekehrt läßt
sich sagen, daß das Pathos des Primären eine kompensatorische Funktion besitzt,
die die Medientechniken des Rechts mit einem imaginären Ideal unmittelbarer
Verständigung überblendet..
3. Empfindsame Literatur, empfindsames Recht
Eine solche imaginäre Idealisierung ist aus der Literaturgeschichte bestens bekannt und medienhistorisch mit der breiten Durchsetzung der Schriftkultur im
1 K.J.A. Mittermeier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse..., Darmstadt
1834, S. 65.
2 Julius Glaser, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess, Leipzig 1883 [Neudruck:
Aalen 1978], S. 258.
3 Vgl. Jacques Derrida, Demeure. Fiction and Testimony, Stanford 2000, S. 28/29.
4 Vgl. Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Ffm. 2000.
98 Thomas Weitin
Verlauf des 18. Jahrhunderts verbunden, die als Reaktion im literarischen Diskurs
unter dem Schlagwort der ‘Empfindsamkeit’ die Simulation des authentischen
Gesprächs und der sympathetischen Direktkommunikation zum Standard werden
ließ (Koschorke5). Gerade in dem Augenblick, da im Zuge des Alphabetisierungsprogramms der Aufklärung eine umfassende Verschriftlichung des gesellschaftlichen und literarischen Verkehrs erfolgte und Medien wie Brief und Buch die sich
unter den neuen Bedingungen der Privatheit lockernden Interaktionsbeziehungen
supplementierten, wurde es in der Kommunikation zwischen einander
Abwesenden zur Gewohnheit, die unmittelbare Präsenz der Gesprächssituation
nachgerade heraufzubeschwören. So wundert sich Herder an einer Stelle seines
Briefwechsels mit Caroline Flachsland: “Sitzen Sie denn schreibend nicht auf
meinem Schoos?” 6. Gerade die Pioniere der aufgeklärten Schriftkultur wie
Herder und Lavater leiteten aus derartigen Imaginationen ein im Milieu des
protestantischen Predigertums geschultes Kommunikationsmodell ab, das ihren
Lesern suggerierte, unmittelbar angesprochen zu werden. Ihre berühmten Leseanweisungen zielten darauf ab, “ein Buch in eine Person, und todte Buchstaben
in Sprache zu verwandeln”7. Sie wandten sich damit gegen die Gelehrsamkeit alten Stils und das hieß insbesondere gegen die Kunst der rhetorischen Rede, die
wegen ihres Kalküls als unauthentisch und widernatürlich abgelehnt wurde.
Dem entspricht auf seiten der aufklärerischen Juristen eine vehemente
Kritik an der Gerichtsrhetorik, die etwa Anselm Feuerbach in seinen Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht als “truegende Uberredung”8 zurückweist.
In dem Maße, wie Feuerbach die Rhetorik für schädlich hielt, trat er ganz im
Geiste des empfindsamen Zeitalters ein für die “Erweiterung der Rechtswissenschaft” 9 um die Erkenntnisse der empirischen Psychologie. Wo im Zuge der Subjektivierung des justiziellen Beweisverfahrens der unmittelbare Eindruck in der
Verhandlung entscheidend geworden war, mußte die, wie Feuerbach es nennt,
“Menschen- und Seelenkenntniß” in die gerichtliche Wahrheitsfindung einbezogen und zum Teil des richterlichen know hows werden. Feuerbach, der sein
Anliegen durch seine populären Fallgeschichten unters Volk brachte, wußte sich
darin einig mit dem von ihm oft zitierten Friedrich Schiller, dessen 1786 veröffentlichte Kriminalerzählung Verbrecher aus Infamie den dominierenden Rechtspositivismus der Zeit scharf kritisierte und verlangte, nicht nur in “das Buch der
Gesetze”, sondern auch und vor allem in die “Gemüthsverfassung des Beklagten”
zu schauen10. Keine der großen juristischen Fallsammlungen des 19. Jahrhunderts
kommt mehr ohne den Verweis auf Schillers Erzählung aus, deren diskursivitäts5 Vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999.
6 Brief an Caroline Flachsland vom 17. August 1771, in: Johann Gottfried Herder, Briefswehsel mit Caroline Flachsland, hrsg. von Hans Schauer, Weimar 1926, Bd. 1, S. 287.
7 Johann Gottfried Herder, Über die neuere Deutsche Literatur, Dritte Sammlung, in: ders.,
Sämmtliche Schriften, hrsg. von Bernhard Suphan, berlin 1877, Bd. 1, S. 322.
8 P.J.A. von Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, Landshut 1813, S.
188.
9 P.J.A. von Feuerbach, Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen, Ffm. 1849
[Neudruck: Aalen 1970], Vorwort: S. V.
Aporien des Authentischen 99
begründender Status zeigt, daß der Wissenstransfer zwischen Recht und Literatur
keineswegs einseitig war, sondern einem komplexen Beglaubigungzusammenhang entsprach.
Das Beispiel steht auch für die Veränderung, denen der Begriff der Wahrheit in beiden Bereichen unterliegt. Bedeutet die Subjektivierung des justiziellen
Beweisverfahrens, den essentiellen Begriff der Wahrheit durch den prozeduralen
Leitbegriff der Überzeugung zu ersetzen, die der Richter durch die Verhandlung
gewinnt, beschreibt Schiller in ganz ähnlicher Weise das Verhältnis zu seinen
Lesern. Im Vorspann seiner Kriminalerzählung spricht er von der narrativen Notwendigkeit, die Umstände und die psychologischen Motive seines sich in Verbrechen verstrickenden Helden so bloß zu legen, daß es dem Leser möglich wird
“selbst zu Gericht zu sitzen” und ein Urteil zu fällen. Erzählperspektivisch soll
dies durch den einfühlsamen Wechsel zwischen Ich- und Er-Perspektive geleistet
werden. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache interessant, daß Schiller die
Erzählung, die im Untertitel als “wahre Geschichte” benannt ist, gegenüber dem
historischen Vorbildfall des Räubers Friedrich Schwan deutlich verändert hat.
‘Wahr’ ist die Geschichte also nicht im Sinne der authentischen Wiedergabe historischer Ereignisse, sondern, dem Wortgebrauch der zeitgenössischen Poetik
folgend, weil sie die Fabelverknüpfung streng nach den Gesetzen der psychologischen Wahrscheinlichkeit durchführt und damit den Leser von ihrer Wahrhaftigkeit zu überzeugen sucht. Derart aber macht Schiller kenntlich, daß Authentizität in der Literatur nicht schlicht gegeben sein kann, sondern narrativ bewerkstelligt werden muß.
4. Die Aporien des Authentischen in der Literatur und im Recht
Wenden wir uns zum besseren Verständnis dieses zentralen Zusammenhangs
jenem literarischen Werk zu, das wie kaum ein zweites die Aporien des Authentischen zum Gegenstand hat. Ich spreche von Goethes Werther. Der absolute
Authentizitätsanspruch des Protagonisten kommt hier in dem repräsentationskritischen Credo zum Ausdruck: “Was braucht’s Namen! Erzählt die Sache an
sich!” 11 Mit diesem in sich paradoxen Anspruch muß der empfindsame Held
scheitern, und der Werther-Roman läßt dies in der Tat als eine Notwendigkeit erscheinen, indem er gegen das Bestreben der Werther-Figur den irreversiblen
Bruch zwischen der Natur der Empfindung und ihrer Repräsentation kenntlich
macht. So kommt einer der zentralen Momente der sympathetischen Übereinstimmung mit Lotte nicht durch die gemeinsam erlebte Natur ‘an sich’, sondern durch
ein literarisches Zitat zustande, das diese bezeichnet: “[I]hr Blick durchdrang die
Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte
10 Friedrich Schiller, Verbrecher aus Infamie, in: ders., Sämmtliche Schriften. Historischkritische Ausgabe, hrsg. von Karl Goedeke, Stuttgart 1868, Bd. 4, S. 67.
11 Johann Wofgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther, Berlin/Weimar 1990, S. 39
(30.Juli).
100 Thomas Weitin
ihre Hand auf die meinige und sagte: ‘Klopstock!’”12 Bedingung von Werthers
Authentizität ist die unmittelbare Ausdruckshaftigkeit einer Ode, deren Gattungskonventionen die vermeintlich unmittelbare Wahrnehmung vorstrukturieren und
den authentisch empfindsamen Augenblick nur in der Aporie stattfinden lassen,
sich stets im Bezug auf ein Drittes entäußern zu müssen, um ganz bei sich selbst
oder dem anderen zu sein. Erst und einzig der Selbstmord Werthers erfüllt die
ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes autentes: von eigener Hand.
Gegen die der ‘Wertherwirkung’ zugeschriebene Tendenz zur Überspannung der empfindsamen Haltung, als deren Ausdruck insbesondere eine
übertriebene Einbildungskraft galt, setzten wohlmeinende Kritiker und Pädagogen wie Joachim Heinrich Campe und Karl Philipp Moritz das Ideal einer mittleren Haltung, die sie durch die richtige Verhältnismäßigkeit der Seelenkräfte des
Menschen gewährleistet sahen. Campe unterscheidet in diesem Sinne die natürlich sublime Empfindsamkeit von der theatralisch zur Schau gestellten ‘Empfindelei’ auf der einen, und der unwillkürlich körperliche Zeichen produzierenden
‘Empfindlichkeit’ auf der anderen Seite. Letztere hält er dann für gegeben, wenn
die betreffende Personen dazu neigt, sich von ihren Gefühlen hinreißen zu lassen,
leicht zu Erröten oder durch Mimik und Gestik unwillentlich einer seelischen Erschütterung Ausdruck zu verleihen.
Im rechtspolitischen Diskurs wird das Empfindsamkeitsproblem auf ganz
ähnliche Weise diskutiert. Während man die Infragestellung der Idee der Wiedervergeltung, die Abschaffung der Folter und die Kritik der Todesstrafe durchaus
als Erfolge des empfindsamen Zeitalters würdigt, erscheint es nicht wenigen Juristen als ein Nachteil, daß die Richter nun allzu milde urteilen. Feuerbach kritisiert aus dieser Befürchtung heraus die Einrichtung von Geschworenengerichten, die nicht rechtsgelehrt, sondern allein nach ihrem subjektiven Rechtsempfinden entscheiden. Mit beißendem Spott berichtet er aus Frankreich eine
Vielzahl ungerechtfertigter Freisprüche, für die er die überbordende Sympathie
der Geschworenen für den Beschuldigten verantwortlich macht.
Ein Problem ist die Empfindsamkeit jedoch nicht nur im speziellen Fall
der Jury, sondern als allgemeine Folge der Subjektivierung des justiziellen Beweisverfahrens. Die Reform des Strafprozesses nach dem Unmittelbarkeitsprinzip rückt nämlich gerade jenen empfindlichen Zeichenvorrat in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, den die Pädagogik eines Campe mit Bedacht auszugrenzen trachtet. Wo Zeugen im Prozeß auftreten und der Richter sie ad hoc
beurteilt, sind die pathognomischen Codes von Mimik und Gestik von entscheidender Bedeutung, und das Subjekt im Prozeß wird unter der Maßgabe der
Möglichkeit betrachtet werden müssen, seine mittlere Haltung einzubüßen. Die
für die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zentrale Natürlichkeit bemißt sich nach
empfindlichen Unterscheidungen wie Erröten/Nicht-Erröten. ‘Empfindlich’ sind
solche Codes auch deshalb, weil ihre Beurteilung aufgrund ihrer doppelten Kontingenz überaus diffizil ist. Sie können nämlich bei verschiedenen Personen nicht
nur auftreten oder nicht, sondern auch dieses oder jenes bedeuten, von Verlegen12 Ebd., S. 24 (16. Juni).
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heit bis Falschaussage. Dies einschätzen zu müssen, macht die Aufgabe des
Richters anspruchsvoll und setzt eine empfindliche Einbildungskraft voraus, die
wiederum auch vom Zeugen gefordert wird, der Vergangenes getreu und eindrucksvoll reproduzieren soll. Auch hier ist es schwer, eine Grenze zu ziehen,
denn die Aussage soll auf den Richter überzeugend wirken, ohne sich dabei rhetorischer Überzeugungskraft zu bedienen. Die verlangte Authentizität steht mithin stets auf dem Spiel. Zum einen droht der empfindsame Augenblick in der RePräsentation desselben seiner Authentizität verlustig zu gehen, zum anderen läuft
die richtende Instanz stets Gefahr, von sympathetischer Übereinstimmung ‘überwältigt’ und fehlgeleitet zu werden. Und nicht zuletzt rückt die notwendige Preisgabe einer mittleren Position der Empfindsamkeit das ganze Verfahren in die
Nähe von Phänomenen, die als pathologisch klassifiziert sind, wovon die gegen
Ende des 18. Jahrhunderts zu verzeichnende Konjunktur gerichtspsychologischer
Schriften und ein rasch wachsendes Gutachterwesen zeugen. So verwundert es
nicht, wenn Karl Philipp Moritz im Magazin zur Erfahrungsseelenkunde Fälle
von Richtern behandelt, die die neue Prozeßordnung in den Wahnsinn trieb. Aber
das ist schon eine neue Geschichte.