Mein liebstes Paradies
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Mein liebstes Paradies
«Mein liebstes Paradies» Wo unsere Autorinnen und Autoren die Zeit vergessen Nackt wie im Garten Eden – die Naturisten von Thielle M ein liebstes Paradies ist das Naturistengelände «Die neue Zeit» in Thielle am Neuenburger See. Hier gibt es alles: Kuchen, Zeltplätze, Zugang zum See, gute Gesellschaft, viel Sport, frische Luft, meditative Tänze und Paddelboote. Jeden Sommer treffe ich in Thielle über 1000 Gleichgesinnte, die auf Alkohol, Fleisch und Nikotin verzichten, eine Tradition aus den Gründerjahren der Reformbewegung. Das Gelände wurde 1932 von Werner Zimmermann sowie von Edi und Elsi Fankhauser gegründet. Seit damals ist ein kleines «Dorf» gewachsen. Im Sommer wird aus den Besuchern eine Art moderner Sippe, die ihre Traditionen hat, aber auch offen für Neues ist: Um 8 Uhr morgens erklingt im Freien Gesang, um 10 gibt’s ein Tischtennis-Turnier, um 11 Uhr wird gelacht, um 16 Uhr spielt man Volleyball, um 17 Uhr werden Märchen am Nussbaum erzählt und um 18 Uhr startet der grosse Volkstanz. Sonntags treffen wir uns zum Open Space und reden über neue Pro- jekte. Wir sind unbekleidet in Thielle, und nicht, ob der/die andere ein Erwerbsloser, das macht Spass. Keine nasse Badehose, kei- ein Bankdirektor oder eine Pfarrerin ist. Und ne falsche Scham – nackt wie im Paradies. wie das mit den Paradiesen so ist: Man lernt Eine neue Zeit kündigt sich an – eine Zeit sie erst schätzen, wenn man dort ist. Probie- der Freiheit, der Direktheit und der persön- ren Sie’s aus! lichen Begegnung. Wir Besucher kennen oft nur den Vornamen voneinander und wissen Orlando de la Risa Gelände «die neue zeit», CH-3236 Gampelen, Tel. 032 313 45 55, www.die-neue-zeit.ch Das Paradies im Auge des Betrachters V or kurzem habe ich unsere Jüngste dabei Das Paradies als materialisiertes und dauer- Sandkasten wird zum Strand auf Bali, das erwischt, als sie dort war, im Paradies. haftes Glück. Glück als paradiesische, inne- Sein im Moment zum nächsten Zweiwochen- Genauer: in ihrem Paradies, welches für den re Blitzlichter. Letztlich ist das Paradies eine Urlaub. Bis schlussendlich noch die Aussicht Moment aus einem mit Fluss-Steinen um- notwendige Illusion, die Fata Morgana am auf jenseitige Paradiese bleibt. randeten Kubikmeter gewaschenem Sand Horizont unseres zukünftigen Lebens. Was Endlich nichts tun. Tätigkeit oder auch bestand. Mittendrin sitzend meine Tochter, wären wir ohne Hoffnung auf einen Ort, an nur Sein ohne Sinn und Verstand als Not- die Zehen eingegraben, mit den Händen dem wir von den Bäumen essen, ein Feigen- wendigkeit für paradiesische Zustände. Et- wühlend, selbstvergessen summend. blatt genügend Schutz bietet und die Gazelle was, was uns so genannten Erwachsenen neben dem Löwen schläft? abhanden gekommen ist. Wieder werden Das Paradies als Abwesenheit von Schmerz, Angst, Leid, unerfüllten Bedürfnissen und Er- Das Paradies als innerer und äusserer Zu- wie die Kinder, um ins Himmelreich zu kom- wartungen. Und auch Bewusstheit. Dafür der stand. Je älter wir werden, desto weiter schei- men. Ich werde sie im Auge behalten, unsere Geist im Fluss, ausserhalb von Raum und Zeit. nen sich unsere Paradiese zu entfernen. Der Tochter. 28 Reto Stauss 102 Leben ohne Privatbesitz? Auroville in Südindien D ie Vision dieser Stadt ist die Vision der dene Kugel ist von einem gepflegten Garten Menschheit: Menschen aus der ganzen der Stille umgeben. Es wird daran gearbeitet, Welt sollen an einem Ort, über kulturelle, so- keinen Privatverkehr mehr zuzulassen und ziale und religiöse Grenzen hinweg, in Frie- die ganze Gemeinschaft geldfrei zu machen. den zusammen leben. Das klingt wirklich Das Land ist nicht in Privatbesitz, es gehört paradiesisch. Könnten wir uns vorstellen, der ganzen Menschheit. dort zu leben? Um das herauszufinden, be- Jeder Aurovillianer stellt seine Talente und schlossen wir, uns für drei Monate in diese Begabungen der Gemeinschaft unentgeltlich spirituelle Gemeinschaft in Südindien ein- zur Verfügung, ganz egal welches Ausbil- zuklinken. dungsniveau er hat. Dafür erhält er Nahrung Was wir vorfanden, beeindruckte uns. und eine Wohnmöglichkeit. Welcher Fort- 2200 Menschen aus 54 Nationen leben hier schritt, nicht in einem wettbewerbsorien- zusammen, für 50 000 ist die Stadt konzi- tierten Umfeld um sein Überleben kämpfen piert. Sie organisieren sich in nicht-hierar- zu müssen! chischen übersichtlichen Strukturen. Ent- Warum aber sind in diesem für alle zu- scheidungen werden nicht von der Mehrheit gänglichen Paradies nach vierzig Jahren nur getroffen, sondern in Übereinstimmung mit gerade 2200 Menschen sesshaft geworden? der Vision. Nur so ist es für uns auch nach- Hat diese soziale Vision ohne Privatbesitz vollziehbar, dass sich Auroville durch die in unserer Zeit überhaupt eine Chance? Wie vielen Umbrüche und Wechsel hindurch im- viel Krise braucht es noch, um sie attraktiv zu mer noch auf Visionskurs befindet. machen? Wir sehen in Auroville auch viele Das Zentrum der Stadt ist nicht ein Ein- Unstimmigkeiten. Da gibt es Einzelne, die kaufstempel oder eine Flanierzone, sondern mehr für sich beanspruchen als andere: ein ein Ort der Meditation. Eine prächtige gol- tolles Haus, ein eigenes Business, ein priva- tes Auto, jährlich einen Flug nach Europa, Bedienstete und so weiter. Wenn das individuelle Bewusstsein nicht mitwächst, so kann sich das schönste Paradies nicht verwirklichen. Mallika und Ahlaad* * Ahlaad ist der spirituelle Name eines ZeitpunktLesers aus Zürich Infos über Auroville: www.auroville.com Muss man vertrieben sein, um es zu erkennen? E ben bekomme ich einen wunderbaren – ausgebreitet in der Gegenwart – mein Pa- gerlinge und Stürme, Blattläuse und Hagel- Text des Künstlers Peter Panyoczki her- radies. Aber nun sehe ich den Unterschied: schläge – grad jetzt, zu den Eisheiligen. Ins ein. Sein Paradies heisst Kaiwaka und liegt In der Gegenwart brauchen Paradiese Pflege. gegenwärtige Paradies muss man ganz hin- in Neuseeland. Er schreibt vom Zusammen- Da sind nicht nur die Rosen, die Hibiskus- einkriechen, um zu spüren, was es braucht, prall der Elemente an der Küste. Wenn ich blüten und der Gmüesblätz, da sind auch sonst wird es zur Hölle. Man muss sich selber das lese, bekomme ich Heimweh nach dem Zwischenfälle und ungebetene Gäste, En- «einpflegen», wie mein Webmaster Chrigu Garten, den ich vor zehn Jahren am Südat- Röthlisberger sagen würde. So hat man teil lantik zurücklassen musste. Liegt mein Pa- an der Lebenskraft des Gartens und wird radies immer in der Vergangenheit? Muss mit jedem Schweisstropfen und jeder reifen man aus dem Paradies vertrieben sein, um Tomate glücklicher. Jetzt ist das Paradies in es zu erkennen? mir drin. Jürg von Ins Nein. Vor zwei Jahren habe ich Glück gehabt. Ich bin in die Marina von Bächau eingefahren, vorbei an der Industrieliegenschaft des Besitzers und den Jachten der Steuerflüchtigen – da taucht es auf: das Häuschen, davor die Wiese, der Schilfgürtel, die Seerosen, das klare Wasser voller Fische. Was können Worte sagen? In der Bächau liegt seither 102 29 «Wie ein warmer Mantel» – Wohnprojekt Huckmatt I ch war weit über 50, pleite und war daran, Die Antwort auf die Frage, was meinen ich hier wohne, habe ich noch nie aggressi- mir eine günstige Wohnung zu suchen. An Lebensraum in der Huckmatt paradiesisch ves Verhalten oder Schlägereien unter den einem Sonntagmorgen war ich mit meiner macht, ist vielschichtig. Es sind alltägliche Kindern erlebt. Sie verhandeln miteinander, Schäferhündin unterwegs, als ich Stephan Eindrücke: das sanfte Lachen von Flurina, wie sie es den Erwachsenen abgeguckt haben. mit seinem Bergamaskerrüden traf. Stephan spielende Kinder, Lichter, Farben, die leise Es gibt keinen Zwang zum Gemeinsam-Sein. wohnt in der Wohnsiedlung Huckmatt. Er Geschäftigkeit von Erwachsenen, Vertraut- Selten passiert etwas Aussergewöhnliches. hat mich nach unserer ersten Begegnung heit, Nähe. Hier wohnen16 Familien mit 21 Trotzdem ist jeder Tag hier ein Erlebnis. Mein eingeladen, bei ihm zu wohnen. Ich habe Kindern. Die Huckmatt ist ein Wohnprojekt, Paradies umhüllt mich in Echtzeit wie ein die Einladung ohne Zögern angenommen. So das vor 10 Jahren auf genossenschaftlicher warmer Mantel. bin ich zu Lebzeiten im Paradies gelandet. Basis begründet wurde. Die Bewohner sind Infos: www.huckmatt.ch in der Regel Miteigentümer. Die Anlage ist Eva Jelmini besonders kinderfreundlich gestaltet. Herkunft, Bildung, Religion und politische Gesinnung der Bewohner könnten nicht unterschiedlicher sein: Ein stockkonservatives, pensioniertes, 1956 in die Schweiz geflüchte- Erlöst, aber nur bei Regen tes ungarisches Ehepaar, eine alleinstehende Ergotherapeutin, Treuhänder, Banker, die Hebamme und der Gärtner, Lehrer und Lehrerinnen – sie alle regeln durch Vereinbarungen ihr gemeinsames Leben in der Siedlung. Die Kinder sind gescheit und freundlich. Seit Der längste Weg ist der schönste E ines meiner liebsten Paradiese befin- len, bekommt eine unverwechselbare Be- det sich an einem Ort, wo man es am deutung.» wenigsten erwartet: auf dem Kasernenareal Der Labyrinthplatz ist nicht nur ein Ort in Zürich, zwischen Kanonengasse und Ka- der Besinnung, sondern auch der Begeg- sernenstrasse! Dort haben vor 19 Jahren ein nung. Vier bis fünf Veranstaltungen finden paar Frauen einen grossen Labyrinthgarten monatlich statt, von der Musikimprovisati- angelegt. Wer gemessenen Schrittes den Weg on über Lesungen bis zum Theater. Für die ins Zentrum abschreitet, braucht dafür gut Pflege des grossen Garten werden übrigens und gerne eine Viertelstunde – der längste noch Helferinnen gesucht (mitgemeint sind denkbare Weg ins Zentrum. Das Labyrinth, damit auch Männer). eine der ältesten überlieferten Formen der Kontakt: www.labyrinthplatz.ch, Tel. 055 246 11 10 Menschheit, ist damit das pure Gegenteil der dominierenden Kultur, in der jedes Ziel möglichst schnell und ohne Umweg erreicht werden soll. Viele Menschen, die sich im Labyrinth bewegen, sagen, sie fühlten sich hier sicher und geschützt. Aber wovor?Die Labyrinthfrauen mutmassen: «Vielleicht geschützt vor Bedeutungslosigkeit. Wer sich im Labyrinth bewegt, wird Teil des Labyrinthbildes, kann nicht aus dem Zusammenhang herausfal- 30 D ie sechs Wochen an diesem Ort waren die «glücklichste Zeit» in Jean-Jacques Rousseaus Leben, «so glücklich, dass es für das ganze Erdendasein gereicht hätte», wie der Philosoph schreibt. Das Büchlein «Träumereien eines einsamen Spaziergängers» begründete den Mythos der St. Petersinsel, die sich zum Wallfahrtsort der grossen Geister und gekrönten Häupter Europas entwickelte. Um heute dort das Glück zu finden, braucht es schon viel Glück - oder Regenwetter. Dann bleiben die Legionen von Ausflüglern, die sonst jeden Flecken des Eilandes in Beschlag nehmen, zuhause und die Magie des Ortes kann sich entfalten. Empfehlenswert ist die Übernachtung im ehemaligen Cluniazenser-Kloster. Dann kann man sich abends auf einem einsamen Spaziergang ein bisschen erlöst fühlen wie weiland Rousseau. Alex von Roll Info: www.bielersee.ch 102 Bin ich Paradies? Begegnung mit einem Nicht-Meister D a standen sie unverhofft vor uns: Swa- ven Abschluss. Wir alle fühlen uns im Kör- miji, Yashendu und Ramona, strahlend per vibrierend, warm, Teil eines erfüllten, wie alte Freunde, die sich nach langer Zeit ganzheitlichen Daseins. wiedersehen. Unterwegs, um die Menschen Swamiji Balendu gab bereits im zarten Al- an Liebe, Freundschaft und Weisheit zu er- ter von 9 Jahren seine ersten Belehrungen innern, indem sie diese Qualitäten leben. und zog dann bis zum 25sten Lebensjahr als Abends finden sich etliche Besucher zur Cha- spiritueller Lehrer durch Indien. 1996 grün- kra Dance Party auf der Art of Life Messe ein. dete er mit seiner Familie einen Ashram in Swamiji gibt kurze Erläuterungen zu unseren Vrindavan, unweit von Dehli. Hier zog sich Energiezentren, genannt Chakren. Die ersten Swamiji ein Jahr später in die Dunkelheit Musikstücke, irdisch und feurig, regen zur und Kargheit einer Höhle im Ashram zu- Bewegung an, erwärmen und bringen alles rück. Am 24. Dezember 2000 verliess Swa- im Körper in Fluss. miji seine Höhle. Sein Resümee über diese Willkommen im Paradies! Nun ist der Zeit klingt überraschend: «Vorher war ich Puls angeregt, und wir fühlen unsere Her- erleuchtet, nachher nicht mehr. Vorher war zen. Nähe darf nun zugelassen werden. Mir ich ein Guru, nachher nicht mehr.» Swamiji wird wohl ums Herz, wenn ich Menschen Balendu reiste nach Europa und beglückt mit meiner Freude, meinem Lachen und seine Besucher seither mit Vorträgen und meiner Berührung verzaubern kann. Liebe Workshop, Chakra Dance Partys, Heilsitzun- will ausgedrückt werden und fliessen: in den gen und Vollmond-Meditationen. Sprachen der Zunge, des Körpers und des Christina Fleur de Lys Herzens. Nach zwei Stunden, die uns zeitlos www.jaisiyaram.com www.future-for-kids.com vorkommen, geniessen alle einen meditati- Es begann mit einer kaputten Gitarre M ein Paradies liegt auf Erden, in der nur die Menschen, die irgendwie mit Gitar- Schweiz, in Graubünden, im idylli- re, Holz oder Musik zu tun haben. Wer über schen Tamins, in der Werkstatt meines Gi- die Schwelle geht, taucht in eine andere, tarrenbaumeisters Werner Schär. unerwartet beruhigende Welt ein. Hier duftet Vor vielen Jahren hat alles angefangen, die Luft nach Hölzern, das Licht ist wie Gold und zwar ganz unparadiesisch: als jun- – Gold zum Trinken, Frieden zum Einatmen. ger Mann stolperte er über die Gitarre ei- Es ist einer der letzten Orte auf Erden, wo nes Freundes und zerstörte ihre Decke. Aus man sich Zeit nehmen kann. Und der Him- Kummer und Aufregung versprach er, die mel hängt voller Gitarren. kaputte Gitarre zu reparieren. Das, was er Hier baut nicht nur der Meister Konzert- damals als grausames Unglück empfand, instrumente. Viele Menschen aus aller Welt erwies sich bald als entscheidender Weg- kommen zu ihm und verwirklichen Träume, weiser. Denn, ohne jegliche entsprechen- bauen unter seiner Leitung eigene Gitarren de Kenntnisse noch Werkzeuge, gelang es – auch Leute, die bisher dachten, dazu total ihm tatsächlich, das Instrument zu repa- unfähig zu sein. rieren. Diese Gitarrenbau-Lernstätte ist in der Heute gehört er zu den geschätztesten Gi- Schweiz einmalig. Auch in der ganzen Welt tarrenbauern unserer Zeit. In Tamins hat er, gibt es nur eine knappe Handvoll davon. mit seiner Frau Cecilia, sein Paradies ein- Schauen Sie einmal vorbei. Auch wenn Sie gerichtet. Und jetzt fühlen sich alle, die zu gar keine gitarristische Absicht hegen. Es tut ihm kommen, wie im Paradies. Und nicht einfach gut. 102 Werner Schär in seiner Gitarrenbauwerkstatt in Tamins André Stern 31