Maskulinisierte Frauen und feminisierte Männer Gender

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Maskulinisierte Frauen und feminisierte Männer Gender
Maskulinisierte Frauen und feminisierte Männer
Gender-Identitäten in biblischen Texten
Was macht den Mann zum Mann?
Diese Frage aus einem populären deutschen Schlager aus den 80er Jahren von Herbert
Grönemeyer lässt eine tiefe Verunsicherung erkennen. Angestoßen durch die
Frauenbewegung der 70er Jahre hat die Frage nach der Geschlechteridentität in den letzten
drei Jahrzehnten in weiten Teilen der westlichen Welt1 die öffentliche Meinung und
akademischen Debatten bestimmt. Gender und Identität sind – zumindest für unseren
Kulturkreis – zu „Schlüsselwörtern“ (keywords)2 geworden, die Einsichten in
unterschiedliche Diskurse aufschließen können. Die damit verbundene Debatte hat – vor
allem vermittelt durch die Theologische Frauen, bzw. Gender-Forschung und die
Feministische Theologie – seit Beginn der 80er Jahre auch verstärkt Eingang in die
Theologische Forschung genommen. Dies gilt vor allem für die Bibelwissenschaft. Im
Folgenden werde ich zunächst auf den allgemeinen Gender-Diskurs eingehen (I.) und mich in
diesem Zusammenhang mit der Position Judith Butlers genauer auseinander setzten, da die
Diskussion ihrer Thesen in den letzten Jahren einen breiten Raum einnahmen (II.).
Anschließend möchte ich zeigen, wie unterschiedlich Gender-Identitäten und Macht in den
Texten des Ersten Testaments dargestellt werden können (III.). Aspekte zum Thema
Geschlechtertausch im Ersten Testament können dies besonders verdeutlichen (VI.). Kurze
hermeneutische Überlegungen am Schluss reflektieren die Möglichkeiten mit den biblischen
Texten zu diesem Thema ins Gespräch zu kommen (V.).
I. Genderdiskurse
Der englische Ausdruck „gender“ hat sich im deutschsprachigen Sprachraum inzwischen
etabliert. Für die damit verbundenen Differenzierungen stehen in unserer Sprache nur
Hilfskonstruktionen zur Verfügung. Im Englischen kann zwischen „sex“ dem biologischen
Geschlecht und „gender“ dem soziokulturellen Geschlecht unterschieden werden. Hinter der
Verwendung des Begriffs Gender steht die Einsicht, dass „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“
zumindest in ihren soziokulturellen Erscheinungsformen nicht biologisch gegeben sind,
sondern kulturell geprägt werden und damit als Ergebnisses gesellschaftlicher Prozesse
erkannt werden.
Die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ wendet sich gegen eine biologistische
Unterscheidung von Geschlechtscharakteren und Geschlechterrollen, die auf ontologischer
1
2
Vgl. hierzu Li Xiao-Jian, Xingbie or Gender, in: Nadia Tazi (Hg.): Keywords/gender. For a Different Kind
of Globalization, essays from Africa, America, Arab World, China, Europe, India, New York 2004, 89–
102,91.99.
Vgl. hierzu die von Nadia Tazi herausgegebene Reihe, in der die Schlüsselworte „gender“ und „identity“
(neben „truth“ und „experience“) aus der Perspektive einer Autorin / eines Autors aus Afrika, Amerika, der
Arabischen Welt, China, Europa und Indien diskutiert wird: Nadia Tazi (Hg.): Keywords/identity. For a
Different Kind of Globalization, essays from Africa, America, Arab World, China, Europe, India, New York
2004; und Nadia Tazi (Hg.): Keywords/gender. For a Different Kind of Globalization, essays from Africa,
America, Arab World, China, Europe, India, New York 2004.
2
Grundlage unveränderlich erscheint. Sie will darauf hinweisen, dass „Männlichkeit“ und
„Weiblichkeit“ keinen festgelegten Dualismus repräsentieren, sondern eine Vielfalt von
Bedeutungsmöglichkeiten besitzen.
Gender kann dabei sowohl als symbolisches Konstrukt als auch als Sozialbeziehung
verstanden werden.3 „Die Analyse der Geschlechter unter dem Symbolaspekt ist deshalb
sinnvoll, weil sie uns Aufschluss über die Bildung sozialer Konstrukte von Mann und Frau
und über die Auswirkung dieser Konstrukte auf die Definitionen sozialer Tätigkeitsfelder
gibt.“4 Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Art und Weise, wie Frauen und Männer
in einer Kultur dargestellt werden, nur selten die tatsächlichen Beziehungen zwischen Frau
und Mann, ihren Tätigkeiten und Leistungen darstellen. So zeigen zahlreiche
Untersuchungen, dass in vielen Gesellschaften, in denen die Männer - sogar von Frauen - als
dominant dargestellt wurden, Frauen nicht unwesentlich Macht ausübten und besaßen.5
Schon Margaret Mead hatte in „Sex and Temperament“ (1935) die kulturelle Variabilität in
der Definition von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ betont. Simone de Beauvoir brachte
mit ihrem Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“6 diesen Gedanken auf den
Punkt. Die begriffliche Unterscheidung entstammt der sexualpsychiatrischen Hermaproditenund Transsexuellenforschung in den 1950er und 1960er Jahren.7 In den 1970er Jahren wurde
im US-amerikanischen Kontext von Feministinnen erstmals zwischen „sozialem Geschlecht“
(„gender“) und „biologischem Geschlecht“ („sex“) differenziert.8 Damit wurde eine
ursprünglich grammatikalische Kategorie aufgenommen, um essentialistischen Aussagen zum
„Wesen der Frau“ entgegentreten zu können. Wenn in diesem Sinn von „Geschlecht“ oder
„Geschlechtern“, präziser „Gender“, die Rede ist, so sind damit kulturelle Konzepte von
Weiblichkeit und Männlichkeit und die sich daraus ergebenden sozialen Kategorien gemeint.9
Untersuchungen aus anderen Kulturen haben zusätzlich den empirischen Beweis geliefert,
dass die Geschlechterdifferenzen und Beziehungen kulturell und historisch variabel sind.10
Einige AutorInnen erweitern diese Auffassung von Gender und sehen die in vielen
Gesellschaften, einschließlich unserer eigenen, vorhandenen, alternativen Konzepte und
Kategorien als eigene Geschlechter an.11 Zusätzlich wurde darauf hingewiesen, dass die
Unterschiede von Klasse und Rasse ebenso zu berücksichtigen sind wie der
Geschlechterunterschied.12
3
Moore, Henrietta L.: Perspektiven einer feministischen Anthropologie (1988), Gütersloh 1990, 38.
Moore 1990, 42.
5
Moore 1990, 73.
6
de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (1949), 3. Aufl., Reinbeck 1992,
334.
7
Hirschauer, Stefan: Dekonstruktion und Rekonstruktion. Plädoyer für die Erforschung des Bekannten, in:
Ursula Paesero / Braun Friederike (Hg.): Konstruktion von Geschlecht (Frauen – Männer –
Geschlechterverhältnis, Bd. 1), Pfaffenweiler 1995, 67–88: 68.
8
Vgl. hierfür Jost, Renate: Gender, Sexualität und Macht in der Anthropologie des Richterbuches, Stuttgart
2006,21-33..
9
Ludwar-Ene, Gudrun: Geschlechterbeziehungen, in: Thomas Schweizer / Margarete Schweizer / Waltraut
Kokot (Hg.): Handbuch der Ethnologie. Festschrift für Ulla Johansen, Berlin 1993, 175–198: 175.
10 Moore 1990, 814.
11 Für Beispiele und Literatur hierzu vgl. Ludwar-Ene 1993, 195.
12 Moore 1990, 32. Zudem wurde betont, dass in unterschiedlichen Kulturen die komplexen Überschneidungen
und Wechselbeziehungen zwischen Klasse/Schicht, Rasse und Kultur und Geschichte für die
Differenzierung von Frauen unabdingbar sind.
4
3
Längere Zeit blieb das Verhältnis zwischen dem als biologisch verstandenen „sex“ und der
kulturellen Konstruktion von „gender“ nicht untersucht, da es als relativ unproblematisch galt.
Doch konnten AnthropologInnen feststellen, dass in verschiedenen Kulturen die biologischen,
d.h. „physiologischen“, Differenzen zwischen Frauen und Männern nicht als Ursache für die
Unterschiede in ihrer spirituellen Potenz, ihrem moralischen Wert oder ihrer
unterschiedlichen sozialen Stellung angesehen werden.13
Zu Beginn der 1990er Jahre wurde der Begriff „Gender“ grundlegend infrage gestellt. Die
Kritik wurde zunächst von Medizinerinnen und Biologinnen geäußert, die darauf aufmerksam
machten, dass das natürliche Geschlecht („sex“ im Gegensatz zu „gender“) keineswegs eine
fixe Größe sei.14 Anthropologinnen arbeiteten heraus, dass auch das biologische Geschlecht
(„sex“) eine Konstruktion des westlichen wissenschaftlichen Diskurses ist.15 Farbige Frauen
bestritten zudem die Kategorie Gender, da sie diese als zweitrangig gegenüber Ethnizität und
gesellschaftlicher Schicht bewerteten. Schließlich wurde von Judith Butler die Kategorie
Gender von einer „postmodernen“ philosophischen Position aus infrage gestellt, die versucht,
„dichotomisches“, d.h. an zwei gegensätzlichen Polen orientiertes, Denken im allgemeinen
und gesellschaftliche Konstruktionen von Männlichkeit/Weiblichkeit im Besonderen hinter
sich zu lassen. 16 Diese Position stellte nicht nur das traditionelle weiße, männliche Subjekt
infrage, sondern auch die Vorstellung des modernen Subjektes überhaupt.17
II. Judith Butler
In „Das Unbehagen der Geschlechter“ kritisiert Judith Butler vor allem drei Prämissen, die
den feministischen Diskurs beherrschen: a) dass Macht mit den Mitteln der Unterdrückung
arbeite; b) dass es nur zwei Geschlechter gäbe; c) dass eine geschlechtlich fundierte Identität
die Grundlage einer feministischen Politik bilden müsse. Die Schwierigkeiten, die
feministische Politik mit anderen Subjektpositionen habe, die durch Rasse, Ethnie, Klasse
gestiftet sei, zeige, dass eine Privilegierung des Geschlechts als Begründung politischer
Identität dazu tendiere, andere Unterdrückungsverhältnisse auszuschließen. Ein Feminismus,
der auf der Geschlechterdifferenz als natürlicher Matrix von Wissen und Politik bestehe,
reproduziere diese. Butler analysiert weibliche und männliche Geschlechtsidentität – als
Einheit von biologischem und sozialem Geschlecht und Begehren – als Effekt einer
heterosexuellen Matrix und phallozentrischer Ordnung. Verbote, also eine juridische Macht
sind es, die die Körper geschlechtlich differenzieren und erotisieren und damit das
heterosexuelle Begehren hervorbringen. Die Verbote unterdrücken nicht, sondern bringen
hervor. Deshalb könne es kein Weg sein, nach „ursprünglich“ weiblichen polymorphen
leiblichen etc. Lüsten zu suchen, vielmehr gehe es darum, für die möglicherweise
13
Moore 1990, 815.
Fox Keller, Evelyn: Reflections on Gender and Science, New Haven 1988; Fausto Sterling, Anne: Myths of
Gender; Harding, Sandra: The Science Question in Feminism, Ithaca/NY 1986.
15 Vgl. hierzu Moore 1990, 819–821.
16 Butler, Judith: Gender Trouble, New York 1990; dies.: Bodies that Matter, New York 1993; dies.: Exciting
Speech, New York 1997. Vgl. dazu auch Jost 2005.
17 Vgl. Knapp, Axeli: Vorwort, in: Cornelia Ott: Die Spur der Lüste. Sexualität, Geschlecht und Macht,
Opladen 1998, 7f.
14
4
widersprüchlichen, nicht stabilen Formen sexueller Identitäten Symbolisierungen zu finden,
wie z.B. Travestie. Doch müsste darauf geachtet werden, dass diese ebenfalls wieder als
kontingente und flexible Identitäten aufgefasst werden. Als Strategie schlägt Butler Parodie
und Performanz vor, die keine Wahrheit suchen, sondern darauf beharren, dass hinter jeder
Maske stets eine andere zu finden sei. Macht, die darauf beharrt, dass es eine „Wahrheit“, ein
„Vorher“, einen „Ursprung“ gäbe, werde dadurch geschwächt. Die heterosexuelle Matrix
verlöre durch die Vervielfältigung von Geschlechtsidentitäten ihre Wirkungskraft. Sowohl
neuere biologische Forschungen als auch ethnologische und Studien zur Transsexualität
legten nahe, dass auch die Zwei-Geschlechter-Ordnung eine soziale Konstruktion sei.
Indem Butler einen vordiskursiven Körper nicht zulassen will, entgehen ihr nicht diskursive
Praktiken wie sie z.B. in der Entwicklung eines Kindes (Pflege, Ernährung und Zuwendung)
vorkommen. Das Ergebnis ist – neben der völligen Missachtung einer nach Geschlecht
differenzierenden Umwelt – eine „Entleiblichung“ des Subjekts. Sie behandelt die
Wirklichkeit wie einen Text, Frauen und Männer wie Phoneme, die, vom sprachlichen
Zwangssystem befreit, durch ihr „Gleiten“ neue Bedeutungen schaffen können. Leiblichkeit,
Geschichtlichkeit, sozialer Kontext, physische und psychische Gewalt haben in ihrer
Diskursanalyse keinen Platz.
Die im Anschluss an Butler geführten neueren Diskussionen, die „sex“ und „gender“
ineinander fallen lassen und in diskursiven Interaktionen auflösen, setzen die schleichende
Austreibung des Leiblichen aus dem feministischen Diskurs fort. Dies korrespondiert mit
einer gesellschaftlichen Entwicklung, in der sich um Computer und Gentechnologie Diskurse
etablieren, die den Eindruck erwecken, als sei ein körperloser Zustand dem jetzigen
vorzuziehen. Inwieweit jedoch leistet eine solche Position einer grenzenlosen Manipulation
bzw. Konstruktion des Körpers, wie sie in extremen Entwicklungen der Gentechnologie und
der Schönheitschirurgie sichtbar werden, Vorschub?
Gerade auch vor dem Hintergrund stark körperfeindlicher Traditionen innerhalb des
Christentums18 halte ich die Kritik von Regina Amicht Quinn an Butlers Position für
berechtigt, die die Gefahr einer Mythisierung in völliger Negierung der Realität der
Geschlechtlichkeit in Ablehnung eines latenten Biologismus sieht: „Der Glaube an die
Biologie wird abgelöst durch den Glauben an die prinzipielle Konstruiertheit aller den
Menschen betreffenden Kategorien. Ein solcher Diskurs wird in einem hohen Maß
idealistisch und verbindet sich gleichzeitig mit den wissenschaftlichen Strukturen, die er zu
überwinden sucht: Der Diskurs über Geschlechtlichkeit und Frau scheint erst dann sinnvoll
und akzeptabel, wenn er vollständig ‚gesäubert‘ ist – vom Makel der Natur und der
Körperlichkeit. Der Körper wird aus der Geschichte einerseits und dem wissenschaftlichen
Diskurs andererseits herauskatapultiert; eine ‚zynische Entkörperung‘ findet statt“.19
Auf dem Hintergrund der Gay- und Lesbian-Diskussionen entstanden, nimmt Butler
allerdings wichtige Anliegen dieser lange diskriminierten Gruppen auf. Doch wird sie damit
auch dem Anliegen einer großen Mehrheit für Frauen gerecht, die nicht in privilegierten
akademischen Lebensumständen arbeiten? Muss hier nicht der rhetorische Diskurs um eine
18
Vgl. dazu Ammicht Quinn, Regina: Körper – Religion – Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der
Geschlechter, Mainz 1999.
19 Ammicht Quinn 1999, 65.
5
längst noch nicht eingeholte Kritik an den Institutionen und gesellschaftlichen Verhältnissen
ergänzt werden?
Die Ausführungen Butlers und die dadurch entfachte heftige Diskussion müssen auch auf dem
Hintergrund von Verschiebungen innerhalb des feministischen Diskurses zur
Geschlechterdifferenz und zur Sexualität gesehen werden. Standen zunächst
gesellschaftstheoretische Fragestellungen zur Organisation des Geschlechterverhältnisses und
zur herrschaftsförmigen Verfasstheit von Sexualität im Mittelpunkt des Interesses, so sind es
nun eher mikrologisch ausgerichtete Untersuchungen der Konstruktion von Geschlecht und
Sexualität. Auch in den Sozialwissenschaften wurden in den 1980er Jahren „sex“, „gender“
und Begehren stärker im, wenn auch heterogenen, sprach-, wissens- und diskurstheoretischen
Horizont gesehen. Diese oft übertrieben als Paradigmenwechsel beschriebene Veränderung
hatte ein verstärktes Interesse an Theorie und weitgehenden Differenzierungen zur Folge.
PhilosophInnen, die in der Tradition der Kritischen Theorie standen, lehnten diesen Schritt ab.
Neben dem Subjektbegriff sahen sie vor allem auch die „politische Handlungsfähigkeit“
gefährdet.20 Gegenwärtig ist ein gewisser Sättigungsgrad in der Debatte festzustellen.
Faktisch existieren die Verwendung von „Geschlecht“ als zentraler analytischer Kategorie
sowie deren Ablehnung nebeneinander her. Wie Gudrun Axeli Knapp aufgezeigt hat,
beruhen, vor allem auch im deutschsprachigen Bereich, einige der in dieser Debatte
hochgespielten Gegensätze auf Verzerrungen: „zum einem auf der Nichtberücksichtigung der
länderspezifischen Kontexte, in denen diese Kritik entstanden ist und dem damit
einhergehenden entkontextualisierten, leicht modischen Transfer von Topoi der Kritik; zum
anderen auf der Unterschlagung der langen Tradition feministischer Identitätskritik, die aus
dem Kontext psychoanalytischer und dialektischer Theoriebildung stammt“21.
In der gegenwärtigen politischen, kirchlichen und wissenschaftlichen Situation, in der trotz im
Grundgesetz verankerter Gleichheit von Frauen und Männern diese in vielen Bereichen noch
nicht erreicht ist, halte ich es für wenig sinnvoll, die Kategorie Gender abzuschaffen. Denn
gerade in der Analyse von Gender-Ungleichheiten hat sich die Unterscheidung von „sex“ und
„gender“ als besonders hilfreich erwiesen.22 Diese müssen natürlich mit anderen
Differenzierungen, wie Ethnie, Klasse, sexuelle Orientierung etc., in Beziehung gesetzt
werden. Darüber hinaus wird in der internationalen feministischen Diskussion feministischer
Machtanalyse und Herrschaftskritik immer häufiger darauf hingewiesen, wie z.B. von Nancy
Fraser, dass es eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben für die feministische
20
Benhabib, Seyla / Butler, Judith / Cornell, Drucilla / Fraser, Nancy: Der Streit um Differenz. Feminismus
und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1993; Hilge Landweer: Kritik und Verteidigung der
Kategorie Geschlecht. Wahrnehmungs- und symboltheoretische Überlegungen zur sex/genderUnterscheidung, Feministische Studien 11 (1993), 34–43; Nicholson, Linda: Interpreting Gender, Signs 20
(1994), 79–105; Kornelia Hauser, Das Spiel des Denkens am Rande der Tafelgesellschaft. Oder: Müssen wir
den eklektischen Geist kultivieren? Kritische Theorie und Postrukturalismus – ein Streit im Feminismus,
Soziologische Revue 18 (1995), 343–350.
Im Zusammenhang der Diskussionen um den Subjektbegriff und in Anschluss an die Ausführungen der
Kritischen Theorie hält Ammicht Quinn fest, dass es gerade zu einem Zeitpunkt, an dem Frauen gerade
beginnen, Subjekte zu werden, nicht darum gehen kann, den Subjektbegriff abzuweisen und völlig zu
dekonstruieren, sondern dass es darum geht, die Begriffe und ihre Kontexte zu verändern und ihren
totalitären und ausgrenzenden Charakter zu verändern. Der Körper soll – gegen die Tendenz seiner
Ausgrenzung – als erkenntnistheoretischer Grundbegriff festgeschrieben werden.
21 Knapp 1998, 8.
22 Moore 1990, 821.
6
Theoriebildung ist, „… diskursive Analysen der Geschlechtersignifikationen mit strukturellen
Analysen der Geschlechtersignifikationen mit strukturellen Analysen der Institutionen und
der politischen Ökonomie zusammenzubringen“23.
Mit der Diskussion um die Unterscheidung von „sex“ und „gender“ geht die Diskussion um
Gleichheit und Differenz unter und zwischen den verschiedenen Geschlechtern einher. Hier
führen die Überlegungen von Geneviève Fraisse24 weiter. Sie betont, dass nach wie vor die
Differenz zwischen den Körpern oder den biologischen Geschlechtern bzw. den sexuellen
Organen mit hierarchisierten sozialen Realitäten im Blick auf Sexualität und Arbeit
verbunden ist. Da Männer und Frauen durch ihre Identität als rationale Wesen gleich sind, ist
es sinnvoll, in diesem Zusammenhang von Gleichheit zu sprechen. Dies trifft z.B. auf Bildung
und Bürgerschaft zu. Es gibt keinen Unterschied zwischen weiblichen und männlichen
WählerInnen, obwohl die Zeit, um dieses Recht zu erlangen, für die Geschlechter
unterschiedlich war. Im Blick auf die physischen Differenzen ist es schwieriger, von
Gleichheit zu sprechen. So sei es kaum möglich von sexueller Gewalt zu sprechen, ohne die
biologischen Unterschiede („sex“) zu berücksichtigen. Ähnliches trifft auf die Rechte zu, die
aus der Mutterschaft resultieren und nicht aufgrund des Gleichheitskonzeptes hergeleitet
werden können. Kompliziert werde es, wenn das Argument der physischen Unterschiede
zwischen Frauen und Männern dazu gebraucht werde, professionelle Ungleichheit zu
legitimieren. Wenn der Körper involviert ist, z.B. in Bereichen wie Sport, Sexualität oder
Beschäftigungen, dann – so Fraisse – müsse neben Identität, Differenz und Gleichheit ein
viertes Konzept eingeführt werden, das Recht auf Freiheit, d.h. das Recht, sich frei im
öffentlichen und professionellen Raum zu verhalten.25
Hinzu kommt das Thema Macht (power) und die Unterscheidung zwischen öffentlich und
privat. Der Mangel von Macht von Frauen in der politischen Sphäre kann nicht behandelt
werden, ohne ihren Mangel an Macht in der privaten Sphäre zu beachten.26 Dass sowohl
Gleichheit als auch Differenz zwischen Frauen und Männern besteht und wie die Linien der
Unterscheidung jeweils verlaufen, bleibt eine unlösbare Aporie.27
23
24
25
26
27
Nancy Frazer 1993, 149. Hinsichtlich der Unterscheidung von „sex“ und „gender“ hält z.B. auch die
Französin Geniviève Fraisse (Gender: In Profile, in: Nadia Tazi: Keywords/gender, New York 2004, 103–
132: 119) fest, dass schon seit dem Ende des 19. Jh.s und speziell seit der Einführung der Psychoanalyse
feminine und maskuline Eigenschaften nicht mehr länger auf die biologischen Geschlechter verteilt seien.
Vgl. hierzu z.B. Linda Waldman: Griquatown Boorlings and Inkommers, in: Nadia Tazi: Keywords/gender,
New York 2004, 1–32.
Fraisse 2004, 114.
Fraisse 2004, 116.
Fraisse 2004, 117. Auch Semanthini Niranjana: Gender in India, in: Tazi Nadia, Keywords/gender, New
York 2004, 133–166: 162–163, aus Indien betont, dass die Handlungsfähigkeit von Frauen, die neben den
kulturellen und sozialen Differenzen, z.B. durch Kaste und Religion, bestimmt seien, vor allem auch davon
abhänge, wie Frauen in ihrem Körper lebten und wie zufrieden sie damit seien, was die jeweilige Kultur mit
ihrem Körper mache. Wichtig ist es dabei zu erkennen, mit welchen machtvollen kulturellen GenderMustern Handlungen wie gehen, sitzen, sprechen, sich anziehen etc. verbunden werden. Bestimmte
Bewegungen sind in den weiblichen Körper eingeschrieben. Daneben öffnet auch das Muster der
Sexualisierung eine weitere Route der Gender-Analyse. Um mit Problemen wie Vergewaltigung, Brautpreis
etc sachgerecht umgehen zu können, ist eine Gender-Analyse notwendig. Dabei lasse sich aber auch zeigen,
wie Rechtsdiskurse Frauen als Gender-Subjekte konstruieren, indem sie Ideale wie weibliche Pflichten und
Sexualität oder bestimmte Familienideale weitertransportieren. In Indien wie in anderen multikulturellen
Ländern sei es wichtig, die Rechte der Einzelnen wie die von Gruppen in Beziehung zu einer größeren Norm
von Gleichheit zu setzten. Dabei müsse kritisch beurteilt werden, ob ein Recht, das mit den patriarchalen
Rechten einer Religion verbunden ist, Gerechtigkeit für Frauen garantieren kann.
7
Die hier skizzierte Diskussion zeigt, dass für die Beschreibung der gegenwärtigen
politischen/sozialen Situation und der vergangener Texte auf die Kategorie Gender, die
Unterscheidung von „sex“ und „gender“ und die Verbindung dieser Begriffe mit
gesellschaftlichen Strukturen nicht verzichtet werden kann. Die Butlerische Theorie
beschreibt für mich im Unterschied dazu, die zukünftige Vision einer Auflösung der GenderKategorien und damit auch die Richtung, auf die hin ein befreiender Diskurs geführt werden
kann. D.h., neben der Differenzierung von „sex“ und „gender“, der unterschiedlichen
ethnischen Kontextualität, auch die Anliegen von Schwulen und Lesben ernst zu nehmen und
auf eine Aufhebung der Geschlechterdichotomie hinzuarbeiten.
In jedem Fall hat Butler – wie die Diskussionen um ihre Thesen zeigen – durch ihre
analytische Beschäftigung mit dem körperlichen Geschlecht einen neuralgischen Punkt
getroffen.
III. Aspekte von Genderidentitäten im Ersten Testament
Angeregt durch diese und andere feministische Diskurse sind in den vergangenen Jahren viele
Untersuchungen zu biblischen Texten entstanden, die sich mit Gender-Fragen
auseinandersetzen. Wie aus den gegenwärtigen Auseinandersetzungen ersichtlich, ist die
Frage nach Gender-Identitäten nicht von Macht bzw. Herrschaftsanalysen und anderen
sozialen wie kulturellen Differenzen zu trennen. Hierfür möchte ich ein Beispiel aus dem
Bereich meiner eigenen Forschungen anführen, deren Ergebnisse in erster Linie in meinem
Buch „Gender, Sexualität und Macht in der Anthropologie des Richterbuches“28 nachzulesen
sind.
In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion der Frage nach der Machtverteilung
zwischen den Geschlechtern in Texten des Ersten Testaments lassen sich, ähnlich wie in der
Anthropologie, zwei Richtungen unterscheiden. Eine ältere, die die universale Unterordnung
der Frau auch in den Texten des Ersten Testaments bestätigt sieht und Israel als wenig
egalitäre29, patriarchale30 und vor allem patrilineare31 Gesellschaft sieht, und eine jüngere, die
insgesamt stärker differenziert und die Möglichkeit von Egalität zwischen den Geschlechtern
vor allem aufgrund anthropologischer und archäologischer Erkenntnisse und auch mancher
Texte in Erwägung zieht.32
28
Jost 2006.
Ein Beispiel dafür ist das Buch von Volkmar Fritz (Die Entstehung Israels im 12. und 11. Jahrhundert v.Chr.
[BE 2], Stuttgart/Berlin/Köln 1996), der in seiner Darstellung dieser Epoche Israels von 1996 in erster Linie
von archäologischen Daten ausgeht, wie sie weiter oben schon beschrieben wurden. Fritz (1996, 98) schließt
aufgrund der unterschiedlichen Größe der meist Drei- oder Vierraumhäuser in Izbat Sartah, dass hier einer
Gruppe von Kleinbauern eine kleine Gruppe von Großgrundbesitzern gegenüberstand, die ihren größeren
Landanteil mit zusätzlichen Arbeitskräften bewirtschafteten.
30 Vgl. zur Diskussion des Patriarchatsbegriffs Jost 2005, x.
31 Vgl. z.B. Utzschneider, Helmut: Patriliniarität im alten Israel – eine Studie zur Familie und ihrer Religion
(BN 56) 1991, 60–97; Stager, Lawrence E.: The Archaeology of the Family in Ancient Israel (BASOR 260)
1985, 1–36: 24ff; Gerstenberger, Erhard S.: Jahwe ein patriarchaler Gott? Traditionelles Gottesbild und
feministische Theologie, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988, 22.
32 Vgl. hierzu Jost 2006, 34-40.
29
8
Da die Gender-Frage längst noch nicht integraler Bestandteil der Forschungen innerhalb des
Ersten Testaments ist, wird meist selbstverständlich von einem ungleichen Verhältnis
zwischen Frauen und Männern ausgegangen.33
Im Unterschied dazu haben sich vor allem feministisch inspirierte ForscherInnen mit den
Möglichkeiten von Frauenmacht für die staatenlose Zeit Israels/Palästinas
auseinandergesetzt.34
Ungeachtet der Tatsache, dass manche Texte androzentrisch sind und in der Königs- bzw.
exilisch/nachexilischen Zeit entstanden sind, bestätigen viele Texte, die sich auf die
staatenlose Zeit beziehen,35 die Hypothese einer für Frauen relativ egalitären Gesellschaft
außerhalb der Städte.36 Neben Texten, die stärker die Patrilinearität betonen,37 damit von einer
eingeschränkten Frauenmacht ausgehen, stehen andere, die von erheblicher Frauenmacht auf
allen genannten Ebenen ausgehen. Aus einer androzentrischen, städtischen Perspektive
geschrieben, von Autoren, die überwiegend wenig Interesse am bäuerlichen Leben und vor
33
34
35
36
37
Vgl. z.B: Fritz 1996, 75–103, vor allem 96. Er stellt über die soziale Organisation und damit auch das
Verhältnis von Sexualität und Macht folgende Vermutungen an: Sie sei patrilinear und virilokal organisiert
gewesen, Frauen und Kinder seien Personen minderen Rechts gewesen und hätten Schutz und Unterhalt nur
über ihre Familienzugehörigkeit erhalten. Innerhalb der Familie hätten den Frauen die häuslichen
Tätigkeiten, einschließlich der Kindererziehung oblegen, während die Männer die Arbeit auf den Feldern
besorgt und gejagt hätten.
Eine der ersten ist Jo Ann Hackett. Phyllis Bird ist der Frage nach dem möglichen Einfluss von Frauen auf
der religiösen Ebene nachgegangen. Für eine ausführliche Darstellung und Diskussion vgl. Jost 2005, x.
Meyers (Carol: Discovering Eve. Ancient Israelite Women in Context, New York/Oxford 1988) verwendet
für ihre Rekonstruktion der Situation der Frau des vorstaatlichen Israels auch Texte, die sich nicht eindeutig
auf diese Zeit beziehen, wie z.B. das Hohe Lied. Aus dem Sprüchebuch erschließt sie die wichtige Funktion
von Frauen in der Erziehung und der Sozialisation. Aus Ex 21,15, das im Gegensatz zum Kodex Hammurabi
auch die durch das Kind geschlagene Mutter erwähnt, folgert sie, dass Frauen im vormonarchischen Israel
eine nicht zu unterschätzende informelle Macht auch im legalen Bereich gehabt hätten. Aus Lev 12,6–8
schließt sie auf Geburtsriten. Dies ist für sie möglich, da sie letztlich von einer relativ gleichbleibenden
Situation für Frauen von der staatenlosen Zeit bis in die hellenistische Zeit ausgeht. Auch die von ihr
vorgenommene Trennung zwischen öffentlich und privat ist problematisch, da diese, wie schon an anderer
Stelle erwähnt, für solche Gesellschaften kein zutreffendes Erklärungsmodell ist.
Zu den häuslichen Riten zählt sie beispielsweise die Klage um Jiftachs Tochter in Ri 11,39–40 und den
Reigentanz der Mädchen in Ri 21,20–21; Riten, die ja gerade nicht im Hause abgehalten werden und
gesellschaftliche/politische Relevanz haben. Obwohl die Frauen die meiste Zeit ihres Lebens Mütter waren,
wird ihre übrige Arbeit, wie in den meisten vorindustriellen Gesellschaften, dadurch kaum unterbrochen
gewesen sein.
Meyers Stärke besteht darin, dass es ihr mit Hilfe anthropologischer Forschungen gelingt, eine plausible
Möglichkeit, wie das alltägliche Leben von Frauen im vorstaatlichen Israel gewesen sein könnte,
vorzustellen. Deutlich ist aber auch der Versuch zu erkennen, Israel bzw. die biblische Position zu
verteidigen. Negatives wird nach außen projiziert, so, wenn sie z.B. patrilineare Heiratsbräuche auf die
Kanaanäer zurückführt oder sie davon ausgeht, dass das negative Frauenbild, das sich teilweise in den
biblischen Texten finden lässt, nur aus der späteren griechischen Zeit stammen kann. Jobling (David:
Feminism and „Mode of Production“ in Ancient Israel: Search for a Method, in: David Jobling / L. Peggy
Day / Gerald T. Sheppard (Hg.): The Bible and the Politics of Exegesis, Ohio 1991, 239–252: 243–247)
kritisiert an Meyers Darstellung, dass sie den Haushalt zu sehr in den Mittelpunkt stelle und andere Ebenen,
wie die kommunale Produktion und Israels politische Einheit, vernachlässige. Zudem beschreibe sie
einerseits die durch die Monarchie veränderten Lebensbedingungen, gehe aber andererseits davon aus, dass
sich die Lebensbedingungen der auf dem Lande lebenden Frauen kaum verändert hätten.
So stellt Schäfer-Lichtenberger (Christa: Beobachtungen zur Rechtsstellung der Frau in der
alttestamentlichen Überlieferung [Wort und Dienst, Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel 24] 1997,
102) fest: „Da die Texte überwiegend aus einer städtischen Elite stammen, geben sie die Situation der
bäuerlichen Familie kaum wieder.“
Vgl. dazu Utzschneider 1991.
9
allem dem der Frauen hatten, erhalten diese Texte ein besonderes Gewicht. Dies trifft auch zu,
wenn davon ausgegangen wird, dass die Bibel ein kulturelles Dokument ist, das zwar aus
einer sozialen Realität stammt, diese aber nicht unbedingt spiegelt.38 Denn in jedem Fall gibt
sie die Einstellungen und Werte wieder, die in einem bestimmten kulturellen Setting für die
Zeit, in der die Erzählungen spielen, angenommen werden. Die Frauengeschichten aus den
Büchern Genesis, Richter und 1. Samuel, die sich auf die staatenlose Zeit beziehen, lassen,
trotz immer wieder vorkommender Gewalt, große Bewegungsfreiheit und eine breit gestreute
Teilnahme am sozialen Leben erkennen.39
In der hebräischen Bibel eignet sich neben der Genesis und Teilen der Samuelbücher vor
allem das Richterbuch für diese Fragestellung, da dort in erstaunlich vielen Texten das
Geschlechterverhältnis oft auch auf ungewöhnliche Weise reflektiert wird. Deshalb habe ich
einige Texte dieses Buches auch in meinem Buch „Gender, Sexualität und Macht“
ausgewählt, um dem Verhältnis von Gender und Macht nachzugehen. Dabei bin ich zu
folgendem Ergebnis gekommen:40
Im Richterbuch steht dem Konzept einer in die Vergangenheit projizierte Utopie einer
Gesellschaft ohne Staat mit Geschlechtersymmetrie bzw. -asymmetrie zugunsten von Frauen
(Ri 4/5) einem extrem asymmetrischen Plädoyer für das Königtum gegenüber (Ri 19).
Während Ri 19 nur noch sinnlose Gewalt schildert, die keinem befreienden Zweck dient, geht
es in den Texten, die eine Gesellschaft ohne Königtum ambivalent oder positiv darstellen (Ri
4/5; 11; 13–16) um Befreiung von unterdrückerischer Fremdherrschaft gegen Kolonisierung.
Die Mehrheit der von mir bearbeiteten Texte stellt die staatenlose Richterzeit so dar, dass sie
in gegenwärtiger anthropologischer Terminologie als egalitäre, geschlechtssymmetrische
Gesellschaft verstanden werden kann. In einigen Texten des Richterbuches wird sie als
goldenes Zeitalter und Ideal für die Gegenwart der Königs- bzw. exilisch/nachexilischen Zeit
propagiert. M.E. handelt es sich dabei um ein in die Vergangenheit projiziertes utopisches
Denken. Die Texte können als frühe Beispiele dafür gelten, wie Idealbilder für die Gegenwart
oder Zukunft in die Vergangenheit zurückprojiziert werden. Textbeispiele wie Ri 19
widersprechen dieser These nicht, denn sie plädieren nicht nur für das Königtum, sondern
stellen auch eine Kritik an einer stratifizierten Gesellschaft dar.
Die Texte bestätigen darüber hinaus die These, dass sich an der Rolle, die Frauen in einer
Gesellschaft spielen, auch die Gerechtigkeit einer Gesellschaft zeigen kann. Nur in
Darstellungen von Geschlechtsasymmetrie zugunsten der Frauen bzw. Geschlechtssymmetrie
wehren sich die Frauen erfolgreich gegen Gewalt (Ri 5 / Ri 4). Nur in Ri 5 ist von den
gerechten Taten JHWHs die Rede.
Vor dem Hintergrund von Forschungsergebnissen aus der feministischen Anthropologie 41
lassen sich gute Argumente dafür geltend machen, dass das Bild derer, die die Richterzeit als
akephale, egalitäre Zeit mit Geschlechtsasymmetrie zugunsten von Frauen bzw.
38
Meyers 1988, 34.
Vgl. Schroer (Silvia: Auf dem Weg zu einer feministischen Rekonstruktion der Geschichte Israels, in: Luise
Schottroff / Silvia Schroer / Marie-Theres Wacker: Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus
der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995, 83–174: 107–113). Der von ihr zu Recht gegebene Hinweis
auf die umherziehenden Banden (1 Sam 22,2f; 30,5), die das bittere Schicksal vieler Frauen und Kinder
erahnen lassen, behält wahrscheinlich für alle Epochen seine Gültigkeit.
40 Vgl. hierzu Jost 2006,325-329.
41 Vgl. hierzu Jost 2006,.34-40.
39
10
Geschlechtsymmetrie mehr Argumente für eine realitätsnahe Schilderung für sich haben, als
das Bild derer, die diese Zeit hierarchisch und als Anarchie mit leidvollsten Konsequenzen
vor allem für Frauen auf der untersten Ebene der Hierarchie beschreiben.
Dass Frauen in diesen Veränderungsprozessen möglicherweise in stärkerem Ausmaß beteiligt
waren, als bislang angenommen, lässt sich aufgrund feministischer sozialwissenschaftlicher
und anthropologischer Erkenntnisse über den Status von Frauen in unterschiedlichen
staatlichen Strukturen vermuten. Diese Erkenntnisse besagen, dass hierarchische und zentral
strukturierte Institutionen weniger offen sind für die Partizipation von Frauen als lokal und
nicht hierarchisch organisierte Institutionen. Daraus folgt, dass eine Zunahme von
Zentralisierung der Institutionen einer Gesellschaft oft mit einer Abnahme der Beteiligung
von Frauen in diesen Institutionen einhergeht.42 Umgekehrt kann dies auch heißen, dass bei
einer Veränderung zentraler Institutionen, wie sie in Modellen zur Entstehung Israels und in
der Phase der exilisch/nachexilischen Zeit vorausgesetzt werden, Frauen stärker an den
Veränderungsprozessen beteiligt waren, dadurch mehr Macht und damit eine stärkere Egalität
erreichten. Zusätzlich spielen auch ökonomische Faktoren eine entscheidende Rolle, da sie zu
einer stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft nach Klassen führen, die sich auch wieder
auf das Geschlechterverhältnis ausgewirkt haben wird.
Die Texte43, die die Königszeit reflektieren (z.B. Teile der Samuelbücher, die Königsbücher,
große Teile der prophetischen Texte und der Schriften), stellen entsprechend auch eine stärker
stratifizierte Gesellschaft dar, in der die Gender-Identität, vor allem auch durch die
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie und Klasse bestimmt ist: Am oberen Ende stehen
die Frauen am Hof des Königs (Königinmutter bzw. Frau des Königs), dazwischen die
reichen Frauen der städtischen Beamten und der freien Landbesitzer und am unteren Ende die
auch sexuell ausbeutbaren Sklavinnen. Zu berücksichtigen ist zudem noch die
unterschiedliche Rechtstellung von Frauen in unterschiedlichen Eheformen sowie die
besondere Stellung der Mütter bzw. die minimierte Rechtstellung der Töchter in den
unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen.
VI. Geschlechtertausch im Ersten Testament
Texte, die im religiös/kultischen bzw. kriegerischen Zusammenhang eine Vertauschung fest
gelegter Gender-Rollen nahe legen, lassen einen weiteren, weniger bekannten Aspekt von
Geschlechteridentitäten erkennen.
Eine Bibelstelle aus dem Ersten Testament, die meist in diesem Zusammenhang genannt wird,
ist Dtn 22,5. Sie kann, als Teil des Deuteronomiums in das letzte Drittel des 7. Jahrhunderts
datiert werden.44
42
Hackett, Jo Ann: In the Days of Jael: Reclaiming the History of Women in Ancient Israel, in: Clarissa W.
Atkonson / Margaret Buchanon / R. Miles (Hg.): Immaculate and Powerful. The Female in Sacred Image
and Social Reality, Boston 1985, 15–38: 17.
43 Neben den in den Texten erkennbaren unterschiedlichen sozialen Rollen müssen für ein Verständnis von
Gender-Identitäten auch die Gattungen der Texte selbst beachtet werden. So sind unterschiedliche
Beschreibungen von Gender-Identitäten z.B. in den verschiedenen Rechtsammlungen und in Erzählungen zu
beobachten.
44 Levin 2000, 122.
11
Da die Aussage auf den ersten Blick zusammenhanglos in ihrem literarischen Kontext zu
stehen scheint und die im Text verwendeten hebräischen Worte ebenfalls nicht eindeutig sind,
hat sie die Forschenden zu unterschiedlichen Deutungen veranlasst. In meiner eigenen
Deutung nehme ich Aspekte eines kultischen und kriegerischen Verständnisses auf.
Meine These lautet: Geschlechtertausch im Kult ist auf dem Hintergrund der Verehrung der in
Jer 7,17–18 und 44,15–25 belegten Himmelskönigin in Juda möglich, da diese auch mit
Ischtar identifiziert werden kann und Geschlechtertausch in ihrem Kult belegt ist. Dass in
ihrem Kult Männer weiblich und Frauen männlich auftreten können, liegt am androgynen
Wesen der Göttin selbst, die nach Brigitte Groneberg „holistisch alle Spektren männlicher
und weiblicher Potenzen umfasst“45.
In einer Hymne der Eneduanna, eine der ersten namentlich bekannten Dichterinnen der
Menschheitsgeschichte, einer Tochter Sargons, des Begründers der Akkkad-Dynastie (2334–
2279 v.Chr.), einer entu-Priesterin des Mondgottes Nanna, findet Sjöberg Hinweise auf einen
Wechsel der Geschlechter im Kultus, wenn es heißt: „Sie brach ihre Lanze in Stücke und so,
als sei sie (die pilipili) ein Mann …, gibt sie (Inanna) eine Waffe.“46 Sollte dies zutreffen, so
würde erkennbar, dass durch eine Waffe, die sonst nur männliche Teilnehmer tragen, die
Kultteilnehmerin zum Mann wird.
In einem Lied im Zusammenhang des Ritus der Heiligen Hochzeit der Göttin Inanna mit
König Iddindagan von Isin (ca 1974–1954 v.Chr.) werden Personen erwähnt, von denen es
heißt: „… ihre Rechte bekleiden sie mit dem Gewand, (wie es) Männer (tun) … An ihrer
Linken zogen sie das Gewand herunter (nach) Frauenart.“47 In einer Art Wettkampf zu Ehren
der Göttin treten hier Personen auf, die sich halb als Männer, halb als Frauen bekleiden. Es ist
allerdings dabei nicht erkennbar, um welche Personen es sich handelt.
Offensichtlich scheint es sich hier um eine Art Travestie zu handeln.
Nach Brigitte Groneberg ist allerdings die hier beschriebene Verwandlung eines Mannes in
eine Frau die Regel, während der umgekehrte Fall, wie in der Hymne der Enheduanna, die
Ausnahme ist. Dabei weisen manche Texte eher auf einen Kleidertauschritus, während andere
eine vollständige Verwandlung vermuten lassen. So spricht Dhorme von Eunuchen, die bei
Festen der Inanna/Ischtar Frauenkleider trugen.48
Im Erra-Epos werden die Kurgarru zusammen mit anderem weiblichen Kultpersonal der
Ischtar genannt, wobei erkennbar ist, dass ihre Verwandlung dazu da ist, den Menschen
Furcht einzuflößen, also aus einer männlichen Perspektive nicht unbedingt erstrebenswert
war. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass in den Fluchformeln ausschließlich die
Verwandlung in eine Frau vorkommt.
Auch im ersten Testament werden Maskulinisierung und Feminisierung im Krieg
beschrieben. Diese geschehen im Namen JHWHs.
45
Groneberg, Brigitte: Die sumerisch-akkadische Inanna/Istar. Hermaphroditus?, in: WO 17 (1986), 25–46:
32.
46 Übersetzung nach Jost, Renate: Frauen, Männer und die Himmelskönigin. Exegetische Studien, Gütersloh
1995, 76. Übersetzt nach der englischen Fassung von Sjöberg (Ake W.: in.nin sa-gu-ra. A Hymn to the
Goddess Inanna by the en-Priestess Eneduannna, in: ZA 65 [1976], 161–253: 185) „82. she broke
the…lance in pieces (and) as if she (the pilipili) were a male … she (Inanna) gives her a weapon.“
47 Römer TUWAT 663.
48 Dhorme, Edouard: Les religions de Babylone et d’Assyrie, in: Ders. / P. Dussand: Les anciennes religions
orientales II Mana I/2, Paris 1949, 198–219.
12
Vor allem in Ri 5 können Debora und Jael als androgyne oder maskulinisierte Frauen
beschrieben werden. Ihnen werden kulturell weibliche und männliche Eigenschaften
zugeschrieben: Sie werden als kulturell/soziale Mütter (Ri 5,7; 5,25)49 und als Kriegerinnen
(Ri 5,7; 5,26) dargestellt.
Eine Möglichkeit, die im Deboralied nicht zu leugnende Frauenmacht zu erklären, ist es, sie
in Verbindung mit altorientalischen bzw. kanaanäischen Göttinnen zu sehen.
So sieht z.B. P.C. Craigie50 das Deboralied als frühes Siegeslied. Er vergleicht es mit anderen
altorientalischen Siegesliedern, vor allem dem „Epic of Tukulta-Ninurta“51 und beschreibt auf
diesem Hintergrund Debora als eine Quelle der Inspiration, die religiöse Führerschaft
symbolisiert. Wie Ischtar feuere sie die Krieger an. Dies stellt er sich so vor, dass Ischtar im
Krieg durch die Priesterinnen der Göttinnen, die die Truppen im Kampf begleiteten und für
den Kampf begeisterten, begleitet wurde. 52 Ebenso wird in anderen Quellen, wie z.B.
arabischen, von Frauen berichtet, die die Männer im Krieg anstachelten.53
Auch die Vorstellungen anderer kriegerischer Göttinnen werden von Exegetinnen und
Exegeten zur Erklärung des Hintergrundes des Liedes herangezogen. Nach Carole Fontaine
erinnere die Tötung Siseras bei einem unterbrochenen Bankett im Zelt der Jael an die
hetitische Inra, die dem Wettergott hilft, einen Drachen zu töten.54
Rachel Rasmussen55 stellt aufgrund von Beobachtungen zu Deboras Rolle im Lied als auch
der Beschreibung ihres Charakters am Anfang von Ri 4 die Hypothese auf, dass eine frühere
Fassung existiert habe, in der Debora selbst und nicht JHWH der Krieger ist, der gegen Sisera
kämpft. Ihre Vorläuferin sei Anat, die göttliche Kriegerin der kanaanäischen Religion,
gewesen. Frauen im israelitischen Kultus konnten dieses Lied um eine kanaanäische Göttin
singen, weil sie sich ihres Status in einer männerdominierten Welt bewusst waren und diese
Geschichte als Ritual im Kult von Aschera und Anat von Frauen gespielt wurde. Denkbar sei,
dass dies unter Frauen bekannt und sie in dieser Weise aufgewertet wurden. „Thus the final
redaction of Judges 4 and 5 writes women’s subjectivity out of the history of Israel, as it
transforms this into Jahwe’s story.“56
Auch Ackermann stellt im Anschluss an Stephen G. Dempster die These auf, dass Ri 5 alte
mythologische Traditionen, in denen Baal und Anat vorkommen, aufgegriffen hat, um den
Heiligen Krieg Israels gegen Sisera darzustellen. Nach dieser Auffassung konnte Debora als
weibliche militärische Führungskraft im Krieg gegen Sisera deshalb auftreten, weil sie in das
Bild der Kriegsgöttin, wie es z.B. Anat repräsentiert, imaginiert wurde.
49
50
51
52
53
54
55
56
Für die Deutungen als Mütter vgl. Jost 2006,126-128.
Craigie, P.C.: The Song of Deborah and the Epic of Tukulti-Ninutra (JBL 88) 1969.
Craigie 1969, 258.
Craigie 1969, 260 versteht so die Zeile „And Isthtar smote her lyre which drove their warriors mad“.
Craigie 1969, 260.
Im Unterschied zu der von mir vertretenden Auffassung, hier Ansätze von Frauenmacht zu sehen,
interpretiert Fontaine (Carole: The Deceptiv Goddess in Ancient Near Eastern Myth: Inanna and Inaras,
Semeia 42 [1988], 84–102: 97) dies als Möglichkeit des Patriarchats, weibliche Macht zu zähmen und
akzeptabel zu machen, die mit den Warnungen gegen die fremde Frau (Prov 9,13–18) in Verbindung
gebracht werden kann.
Rasmussen (Rachel, C.: Deborah the Warrior, in: Mieke Bal (Hg.): Anti-Covenant. Counter Reading
Women’s Lives in the Hebrew Bible, Sheffield 1989, 70–93) erarbeitet ihre Hypothese aufgrund ihrer
narratologischen Untersuchung von Ri 4. Da aber die Diskussionen um einen Göttinnenhintergrund meist im
Zusammenhang mit Ri 5 stattfinden, habe ich ihre Argumente hier eingefügt.
Rasmussen 1989, 93.
13
Diesem Bild der erotischen, kriegerischen Göttin Anat entspricht auch die Darstellung der
Jael, in der Bilder von Sexualität, Erotik und Verführung mit militärischen Aussagen
verbunden werden. In ähnlicher Weise wird Anat im Aqat-Mythos dargestellt, wo sie, von
Aqat zurückgewiesen, sowohl als eine abgewiesene Liebhaberin als auch als Kriegsgöttin
verstanden werden kann.57 Auch Judith kann als menschliche Form der Anat verstanden
werden.58 Doch zeigt gerade der Unterschied im Vergleich zwischen Jael und Debora als
frühe Darstellungen auf der einen und Judith auf der anderen Seite, dass der Aspekt der
weiblichen Kriegerin zunehmend im Lauf der Entwicklung mit der Entfernung vom
kanaanäischen Erbe verblasste und der verführerische, erotische Aspekt stärker hervortritt.59
Um den kanaanäischen Mythos aufnehmen zu können, musste Israel alle anderen Götter bis
auf JHWH entmythologisieren, d.h. Anat wurde zu den Frauen Debora und Jael. Nur wegen
seines mythischen Charakters könne Ri 5 die stereotypen Rollenklischees transzendieren und
Debora und Jael in einer Weise darstellen, die das übliche weibliche Verhalten transzendiere.
Nach Niditch sei Jael zwar nicht dem Bild anderer Göttinnen des Nahen Ostens nachgebildet,
doch wie diese sei sie heroisch und liminal, Kriegerin und Verführerin, und vereinige das
Gefährliche mit dem Nährenden und Blutdürstigen.
An anderer Stelle bin ich ausführlicher darauf eingegangen, in welcher Weise auch in Israel
Vorstellungen von erotisch kämpfenden sowie mütterlich nährenden Göttinnen, die in
unterschiedlichen Konstellationen miteinander verbunden werden konnten, präsent waren.60
Wie stark diese Vorstellungen auch in exilisch/nachexilischer Zeit wirksam waren, zeigen die
Polemiken gegen Göttinnen im Richterbuch. Ohne dass direkte Zusammenhänge hergestellt
werden müssen, handelt es sich doch um religiös/kulturelle Weiblichkeitskonstruktionen, die
ein Verhalten von Frauen wie im Deboralied plausibel erscheinen lassen.
Auf Ri 5,26–27 möchte ich an dieser Stelle näher eingehen:
Der Text gibt Hinweise darauf, dass Jaels Tat als erfolgreiche Gegenwehr gegen eine
drohende Vergewaltigung verstanden werden kann. In diesem Zusammenhang werden
gängige Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit vertauscht und
Machtverhältnisse umgekehrt: Durch Jaels Tat wird der Vergewaltiger zum Vergewaltigten.
Die Ermordung Siseras durch Jael in V. 26 wird in Begriffen beschrieben, die an eine
Vergewaltigung denken lassen: ‫„ ותקר הפלחו הצחמו‬zerschmetterte, durchbohrte seine Schläfe“.
Auch in 5,27 sind die Themen von Sexualität und Gewalt präsent, wie ein Blick auf die dort
verwendeten Worte erkennen lässt.
Übersetzungen, die das hebräische ‫ הילגר ןיב‬mit „zwischen ihren Füßen“ wiedergeben oder gar
„an ihren Füßen“ schreiben, verdunkeln die deutliche Sprache des Textes, die eindeutig
sexuell ist, wie ein Vergleich mit anderen biblischen Texten nahe legt: In Jes 7,20 wird mit
dieser Formulierung das Schamhaar in Verbindung gebracht, in Ri 3,24; 1Sam 24,3 das
Urinieren. In Dtn 28,57 kommt die Nachgeburt zwischen den Beinen hervor, in Ez 16,26 wird
das Öffnen der Beine des als Frau vorgestellten untreuen Israels beschrieben.
Auch das hebräische ‫„ ערכ‬knien“ wird häufig in einem sexuellen Kontext erwähnt: In Ps 20,9
wie in Ri 5,27 kommt es im Zusammenhang mit „unterworfen sein“ vor. In Hiob 31,10 wird
57
Ackermann 1998, 62.
Ackermann 1998, 64f.
59 Jost 1995, 72–100. Vgl. auch die dort angegebene Literatur.
60 Vgl. hierzu auch die Tätigkeit Simson in Ri 16,21.
58
14
die Frau für einen anderen mahlen,61 wird ein anderer über ihr knien. In Jes 47,2 evozieren
Knien und Mahlen starke sexuelle Bilder, verbunden mit Demütigung und Missbrauch.
Dies gilt ebenfalls für ‫( לפנ‬fallen). In Est 7,8 fällt Haman auf Esters Couch, in 2Kön 4,37 wird
die Frau erwähnt, die Elisa zu Füßen fällt, in 2Sam 1,4; 1,25; 2,23; Jes 21,9: steht „fallen“ für
Tod und Unterwerfung.
Entsprechend steht auch das Hebräische ‫„ בכש‬liegen“ häufig in einem sexuellen Kontext. In 2.
Sam 12,24 / Micha 7,5: wird ‫ בכש‬verwendet, um die Herstellung legitimer sexueller
Beziehungen zu beschreiben (vgl. 2. Sam 11,11). Doch wird es meist verwendet, um illegale
sexuelle Beziehungen zu beschreiben, oft im Zusammenhang von Vergewaltigung und Inzest:
in Gen 19,32.34.35 in Verbindung mit Lot und seinen Töchtern; in Gen 34,2.7 im
Zusammenhang mit der Vergewaltigung von Dinah; in 2. Sam 13,11.14 in Verbindung mit
der Vergewaltigung der Tamar. In der Beschreibung des Frauenraubs in Gen 35,22 nimmt
Ruben Bilha und in 2. Sam 12,1 bestraft David die, die illegitim bei seinen Frauen liegen. In
1. Sam 2,2 wird so die Promiskuität durch die Aktivität von Samuels Söhnen umschrieben
und in Gen 39,10.12.14 die Verführung und Untreue durch Potiphars Frau. Lev 20,11.12
verbietet mit dieser Formulierung den Geschlechtsverkehr mit der Frau des Vaters und der
Schwiegertochter, Lev 20,13 Homosexualität, Lev 15,24; 20,18 sexuelle Kontakte mit einer
unreinen Frau, Lev 20,20 mit der eigenen Tante.
Ebenso kann ‫ בכש‬im Zusammenhang mit dem Tod gebraucht werden (1. Kön 1,21; 2. Kön
14,22; Ps 88,6; Hiob 3,13; vgl. Hiob 14,2). So kann das Wort ‫ בכש‬Nuancen von unrechter
Sexualität, Tod und der Unterwerfung des Kriegers zusammenbringen.
steht in Jes 15,1; 23,1; Jer 47,4 für die Zerstörung von Städten. In Jer 4,30 verbindet es ‫דדש‬
wie in Hos 2, Ez 16, Jer 2, Jes 2 Bilder der Hurerei mit Bildern untreuer Leute.
Fuß in V. 27 kann euphemistisch für die Scham verwendet werden. Dies geht auch aus der ‫לגר‬
Beschreibung der Beschneidung, die Zippora vornimmt (Ex 4,25), hervor. In Jes 7,20
bezeichnet ‫ לגר‬die Schamhaare, die bei den Kriegsgefangenen entfernt werden. Der
Formulierung in Ri 5,27 kommt die Formulierung in Dtn 28,57 am nächsten. Dort ist von der
Nachgeburt die Rede, die zwischen den Beinen der Frau hervorgeht. Eine ähnliche
euphemistische Formulierung für den sexuellen Bereich findet sich in Rut 3,4ff, im
Zusammenhang der Begegnung zwischen Rut und Boas auf der Tenne.
Für eine Interpretation der Tat Jaels als umgekehrte Vergewaltigung sprechen auch die
nachfolgenden Verse 28–29, die die Reaktion von Siseras Mutter und ihren Fürstinnen
wiedergeben und in denen die Vergewaltigung von Frauen im Krieg vorausgesetzt wird.62
Siseras Mutter und die Frauen am Hof haben die Kriegsgewalt der Männer gegen Frauen
aufgenommen und besingen sie in der Sprache der Männer. ‫ םחר‬die Gebärmutter, der Schoß
kann als besonders brutale Kriegssprache verstanden werden. Aus einer Perspektive unserer
Zeit betrachtet, erscheint es erstaunlich, dass es sich um Frauen handelt, denen diese Worte in
den Mund gelegt werden. Sie besingen die Vergewaltigung anderer Frauen, ohne zu beachten,
dass sie in einer veränderten Situation ähnliches erleben müssten. Als Frauen des Hofes sind
sie nicht anderen Frauen einer fremden Ethnie und/oder einer unterlegenen Schicht
61
62
Vgl. dazu auch Jost 1995, 119.
Gerade dieser Aspekt wird bei Pseudo-Philo in seinem Buch Liber Antiquitatum Biblicarum noch einmal
verstärkt. Vgl. hierzu Burnette-Bletsch, Rhonda: At the Hands of a Woman: Rewriting Jael in Pseudo-Philo,
in: Journal fort he Study of the Pseudepigrapha 1998, 17.53–62.64.
15
verbunden, sondern ihren Männern, die auch ihren Status bestimmen. In der knappen
Darstellung von Frauen, die sexuelle Gewalt ihrer Männer an den Frauen der Unterlegenen
rühmen, wird der Zusammenhang von struktureller und persönlicher Gewalt erschreckend
deutlich.
Die Gewalttat Jaels stellt hierzu einen besonders scharfen Kontrast dar. Jael ist weder Mann
noch Fürst, noch Krieger, sondern eine einfache Hirtennomadin. Ihre Tat wird über den
Bereich individueller persönlicher Gegenwehr hinaus als politisch religiös legitimierte
Befreiungstat dargestellt. Mit ihrer Tat, die wie eine umgekehrte Vergewaltigung dargestellt
wird, hat Jael die Rolle einer Frau hinter sich gelassen, die eines Mannes übernommen und
Sisera feminisiert.63 Durch die Tat der Jael, die als Vergewaltigung verstanden werden kann,64
wird Sisera feminisiert. Denn Penetration macht den Mann zur Frau.65
Während Sisera in der Prosaversion als ein Mann beschrieben werde, der schon liegend von
Jael besiegt wird, steht sie ihm im Gedicht von Angesicht zu Angesicht in einem Kampf
gegenüber, der nichts mit der Art zu tun habe, mit der Frauen sonst üblicherweise kämpfen. In
beiden Fällen ruft der Tod Siseras durch Jael das Bild eines besiegten Kriegers hervor, der
wie eine verführte oder vergewaltigte Frau beschrieben werde. Dieses Bild ist immer wieder
in den prophetischen Texten ein Symbol des besiegten Israels. In Ri 4/5 ist es das Bild von
Israels entmännlichtem Feind, der durch die Hand einer Frau vernichtet wurde. Während die
maskulinisierten Frauen in Ri 5 und ähnlichen Texten (die Frau die Abimelech tötet in Ri 9,53
und Judith) ausgesprochen positiv dargestellt werden, wird die Feminisierung in den Texten
(vgl. auch Ri 16) immer negativ beschrieben und ist in keinem Fall freiwillig. Dabei handelt
es sich m.E. in erster Linie um einen Akt der Demütigung – ähnlich wie es die Akte sexueller
Gewalt gegen irakische Gefangene durch amerikanische und britische SoldatInnen darstellen.
Von einem Kleidertausch bzw. androgyner Darstellung wie im Ischtarkult bzw. einem
freiwilligen Selbstopfer wie im Fest der Dea Syria um sich der Göttin zu verschreiben, ist
nichts zu erkennen. Aus der Perspektive der vergewaltigten bzw. durch eine Vergewaltigung
bedrohten Frau, die für das vergewaltigte Volk steht, handelt es sich bei der gewalttätigen
Feminisierung des Feindes um einen Akt der Gerechtigkeit. Die damit verbundene Frage, wie
heutige Lesende mit der hier und in anderen biblischen Texten geschilderten Gewalt und der
damit verbundenen Frage nach (Gender-)Gerechtigkeit umgehen, führt zu hermeneutischen
Überlegungen.
VI. Hermeneutischer Ausblick
Die biblischen Texte lassen unterschiedliche Diskurse erkennen, die viele Genderidentitäten
zeigen. Sie sind sowohl durch soziale und kulturelle Differenzen als auch durch die
rhetorischen Absichten der Texte bestimmt. Zwischen „sex“ und „gender“ zu unterscheiden
legt sich vor allem auch durch die Texte nahe, die einen Geschlechtertausch im Sinne von
maskulinisierten Frauen und feminisierten Männern beschreiben. Die zeitliche und kulturelle
Differenz lässt unmittelbare Rückschlüsse von den verschiedenen in den Texten
63
Vgl. hierzu Jost 2006, 128-136.
Vgl. hierzu Jost 2006, 274-277;306-315..
65 Streete, Gail Corrington: The Strange Woman. Power and Sex in the Bible, Louisville 1997, 59.
64
16
beschriebenen Gender-Identitäten für unsere Gegenwart nicht sinnvoll erscheinen. Dennoch
gleichen manche geschilderten Erfahrungen bzw. Diskurse gegenwärtigen Erfahrungen bzw.
Auseinandersetzungen in unserem Kulturkreis. Dies ermöglicht ein Gespräch zwischen uns
und den Texten dessen Relevanz für die Gegenwart traditionell, kulturell oder
religiös/theologisch begründet werden kann.
Um hierfür möglichst viele Aspekte berücksichtigen zu können, habe ich das Modell einer
integrativen Exegese entwickelt.66 Die in ihr berücksichtigten unterschiedlichen Aspekte
lassen sich in einem Stern darstellen, der, vor allem auch, wenn er dreidimensional vorgestellt
wird, vielfältig ergänzt werden kann:
66
Vgl. hierzu Jost, in: Blum Erhard/Utzschneider,Helmut: Lesarten der Bibel. Untersuchungen zu einer
Theorie der Exegese, Stuttgart 2006,255-276.
17
Für mich zeigt sich die Relevanz der erwähnten Texte darin, dass sie uns ermutigen, die
unterschiedlichsten Gender-Identitäten wahr zu nehmen, kritisch gegen kulturelle Stereotypen
zu wenden und dabei vor allem die Frage nach der Gerechtigkeit im Auge zu behalten.