DIE ZEIT - Peter Lohoff

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DIE ZEIT - Peter Lohoff
DIE ZEIT
35/2005
Die Humanisierung des Netzes
Der Mensch kehrt sein Innerstes nach außen – falls er die Software beherrscht
Von Mario Sixtus
Für alteingesessene Netznutzer ist Nachsitzen angesagt. Eine E-Mail-Adresse z u besitzen und unfallfrei einenWeb-Browser
bedienen zu können genügt nicht mehr, um »drin« zu sein. »Social Software«, soziale Dienste und Anwendungen, verändern
das Internet gerade gewaltig. Auch viele Zeitgenossen, die sich im Grunde ihres Herzens für Netz-affin halten, verpassen
denAnschluss –und wissen es selbst nicht einmal. »Es entsteht gerade eine riesige Kluft. Wer jetzt nicht dabei ist, dem
entgehen wesentliche Möglichkeiten«, befürchtet Thomas Burg. Der Wissenschaftler leitet das Institut für Neue Medien an der
Donau-Universität Krems. Er warnt angesichts des behäbigen Verhaltens der Internet-Nutzer im deutschsprachigen Raum vor
einer »DigitalenSpaltung zweiter Ordnung«.
Medienforscher wie Burg beobachten eine Umwälzung, die jeder, der sich nur mit den bunten Frontseiten des World Wide Web
begnügt, soeben verschläft. Ein dichtes Geflecht von Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten, die den Menschen und
seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen, wächst da heran –sozusagen ein Netz im Netz. Menschen teilen darin
Faktenwissen und Expertentipps ebenso wie ihre Fotosammlungen und Musikvorlieben. Und im Unterschied zu früher versteckt
sich hier keiner mehr hinter Decknamen, niemand hantiert mehr folgenlos im luftleeren Raum, die virtuelle Welt ist realer
geworden. Die Akteure treten aufwie im echten Leben, lernen einander kennen, knüpfen private und berufliche Kontakte. Sie
bahnen Geschäfte an, planen Projekteoder schachern sich gegenseitig Arbeitsplätze zu. Wer von Social Software profitieren will,
muss allerdings selbst aktiv werden.Anders als die Klüngelclubs und Seilschaften vergangener Zeiten stehen die neuen
Netzwerke jedem offen. Den Techniken, die dabei angewandt werden, räumt Thomas Burg ein enormes Potenzial ein. Zwar
könne man auch noch »eine Weile« ohne Social Software klarkommen, aber: »Wer sie nutzt, hat einen eindeutigen Vorteil
gegenüber Leuten, die das nicht tun –persönlich und beruflich.«
Nur, die Handhabung der neuen Werkzeuge will erst gelernt se in. »Die Web-Dienste der ersten Generation besaßen alle eine
Entsprechung in der realen Welt«, erläutert der Journalist und Buchautor Doc Searls. »Versandhändler, Auktionshäuser oder
Online-Banking brauchte man nicht zu erklären, das versteht jeder sofort.« Bei RSS und Social Bookmarking, bei Blogs und
Trackback, Podcasts und Feeds ist das anders.
Am Anfang war das Blog
Das Rückgrat der neuen Bewegung besteht aus einer Vielzahl einzelner Online-Journale (Weblogs oder kurz Blogs). Ihre
Gesamtheit nennt man auch Blogosphäre. Mit einer kostenlosen Blog-Software, wie sie zum Beispiel der Anbieter Blogg.de zur
Verfügung stellt, kann jeder –auch der Programmierunkundige –eine Art Log- oder Tagebuch ins Internet stellen. Neue
Einträge erscheinen am Anfang der Seite, und jeder Leser kann Kommentare hinterlassen. Die Trackback-Funktion erlaubt es,
zu verfolgen, inwelchen fremden Blogs Einträge aufgegriffen worden sind und wo Debatten weitergeführt werden. Denn Blogger
sind schrecklich geschwätzig. Sie schreiben gern voneinander ab. Noch lieber kommentieren sie.
»Bloggen ist wie Schneebälle einen Hang herunterrollen, manche bleiben liegen, andere rollen weiter, manche werden sogar
riesig«, sagt Searls. Ein einziger inspirierter Eintrag kann in der Welt der Blogs eine Eigendynamik ohnegleichen entwickeln.
Dahergilt die Blogosphäre als Frühwarnsystem für Themen, Trends und manchmal sogar Nachrichten. »Blogs sind Gespräche«,
persifliert sich Searls selbst. Mit der Phrase »Märkte sind Gespräche« hatte er vor sechs Jahren die Grundlage des Cluetrain
Manifests gelegt (ZEIT Nr. 27/00). In dieser Kampfschrift für eine »neue Unternehmenskultur im digitalen Zeitalter« warfen
Searls und seine Koautoren der Wirtschaft vor, das Internet und seine Kommunikationsmöglichkeiten nicht zu begreifen.
Inzwischen hofft Searls: »Blogs können Firmen helfen, ihre Kunden besser zu verstehen.«
Das erinnert alles sehr an den letzten Internet-Hype? Doc Searls lacht. » Blogs sind Konversationsräume, nach dieser Logik
wären auch Kaffeehäuser und Kneipen ein Hype.« Die Massenmedien, glaubt der japanische Internet-Tausendsassa Joi Ito,
würden Weblogs fälschlicherweise als eine Art Bonsai-Ausgabe ihrer selbst begreifen: »Weblogs sind etwas völlig eigenes, sie
sind gleichzeitig Werkzeuge der Publikation und der Kommunikation. Aber man muss sich Zeit nehmen und nicht nur eins,
sondern viele Weblogs lesen, um zu begreifen, worum es eigentlich geht.«
Paradebeispiel Podcast
Inzwischen schwappen auch Anwendungen aus dem Netz heraus. Im Spätsommer des vergangenen Jahres ersann der
ehemalige MTV-Moderator Adam Curry zusammen mit dem Web-Entwickler und Blog-Guru Dave Winer eine Methode,
Audiodateien zeitversetzt und automatisiert in den Speicher von MP3-Spielern zu übermitteln. Eine Art Radio auf Abruf, die sie
Podcasting nannten, in Anlehnung an Apples populären Musikspieler iPod und das Wort broadcast, Ausstrahlung. Eine
Hörproduktion, die so Verbreitung findet, heißt seitdem folgerichtig Podcast. Ende September des vergangenen Jahres lieferte
eine Google-Suche nach dem Begriff Podcast exakt26 Treffer, mittlerweile sind es über acht Millionen.
Das Portal iPodder.org zählt inzwischen mehrere tausend aktive Podcasts, einige Hörbuchverlage und die britische BBC setzen
bereits die einstige Untergrundtechnik ein. In Deutschland verbreiten SWR2, das Deutschlandradio und seit neuestem sogar die
Tagesschau einen Teil seines Programms via Podcasting. Vor allem teilen sich aber unzählige Amateure mit, oft durch
regelmäßige Hörproduktionen –mit inhaltlich wie akustisch schwankendem Niveau zwischen Anrufbeantworter- und
Studioqualität. Seit Ende Juni unterstützt sogar Apples populäre Musikverwaltungssoftware iTunes das kostenlose Abonnieren
von Podcasts. Damit kehrt dieses Stück soziale Software zu seinem Namensgeber zurück. Aus einer kleinen Idee ist ein eigenes
Massenphänomen geworden –und zwar im Zeitraffer.
Früh er benötigte eine neue Technologie oft Jahre, um eine kritische Masse von Anwendern zu finden, speziell wenn keine
Marketing-Millionen im Spiel waren. Jetzt können wenige Wochen ausreichen –dank der Lauffeuereigenschaft der Blog-Welt.
Mit ihr hat sich auch das Vokabular geändert. Plötzlich bestimmen nicht mehr die Schlagworte der New Economy den Ton im
Netz.Die neuen Losungen lesen sich eher wie Begriffe aus einem humanistischen Lexikon: Von Vertrauen ist die Rede, von
Reputation und Authentizität. Die Änderungen sind so gravierend, dass viele bereits vom »Web 2.0« sprechen.
Das WWW in der zweiten Auflage
Auch hier kommunizieren wie in der ersten Version überwiegend Fremde. Die meisten werden sich nie im Leben treffen. Und
dochwird der Ton persönlicher. In kürzester Zeit hat der Maus-zu-Maus-Austausch eine Reihe von Diensten hervorgebracht wie
das in London ansässige Unternehmen Last.fm. Es führt Menschen anhand ihrer musikalischen Vorlieben zusammen. »Das
zugrunde liegende Prinzip kennt wahrscheinlich jeder«, sagt Gründer Michael Breidenbrücker. »Wenn mir in der
Plattensammlung eines Freundes viele Scheiben gefallen, stehen die Chancen gut, dass ich dort etwas Unbekanntes entdecke,
das meinem Geschmack entspricht.« Das funktioniert ähnlich wie das Empfehlungssystem des Online-Buchhändlers Amazon,
nur dass bei Last.fm neben Neukaufsdaten auch die gesamtenPlattensammlungen der Nutzer miteinander verglichen werden.
Besonders interessant ist das für Menschen mit eher ausgefallenen Musikvorlieben, meint Breidenbrücker: »Mit einer globalen
Nutzerschaft ist man auch als Exot nicht lange allein.« Für Produzentenbedeutet das: Nischen können als Märkte noch
interessanter werden. »Wir sprechen da gern von dem Mainstream der Minderheiten«,sagt Breidenbrücker. Ein
Minoritätsprinzip, das auch für »Mikromedien« wie Blogs oder Podcasts gilt. Sie müssen inhaltlich keineKompromisse eingehen,
da sie kein Massenpublikum bedienen. Jedes einzelne ist speziell und näher am Thema dra n als
herkömmlicheKommunikationswege, gleich ob online oder offline –ein Frühwarnsystem für Themen aller Art.
Thomas Burg nennt diese neuen Möglichkeiten »eine Verschmelzung von Lokalität und Globalität«. Konkreter: »Ich brauche
meineInteressen nicht zu ändern, nur weil sich in meinem hiesigen persönlichen Umfeld niemand für französische Literatur
interessiert.« Auch »Social Bookmark«-Dienste wie Del.icio.us, Furl oder Spurl folgen dem Empfehlungsprinzip. Hier legen User
täglich Lesezeichen zu ihren Lieblingsartikeln im Web ab. »Wer gerne dies liest, liest auch gerne jenes«, lautet die Grundidee.
Das Ergebnis:Permanent erhält man aktuelles Lesefutter zu Themen, die einen höchstwahrscheinlich interessieren. Die Website
43Things gleichtgar persönliche Lebensziele miteinander ab. Wer das Rauchen aufhören, Drehbuchautor oder Death-MetalGitarrist werden will, findet hier schnell Gleichgesinnte. Virtuelle Zirkel wie OpenBC oder LinkedIn wollen hingegen eine
Plattform für Geschäftsanbahnungen werden. Und in das öffentliche Fotoalbum Flickr entleeren begnadete Fotokünstler und
Hobbyknipser gleichermaßen ihre Digitalkameras –und vernetzen thematisch ähnliche Fotos anhand von Schlagworten.
Menschliche Informationsfilter
Der typische Bewohner des 21. Jahrhunderts stöhnt bereits jetzt unter der kaum zu bewältigenden Informationsflut. Soll er sich
da allen Ernstes noch mit Blogs, Musik-, Foto- und Linksammlungen wildfremder Menschen beschäftigen? Und darüber dann
womöglich in einem öffentlichen Journal Buch führen? »Die Informationsfilter, die wir benötigen, sind meistens menschlich«,
beruhigt Thomas Burg. Ein kompetenter Umgang mit Blogs und anderer sozialer Software führe nicht etwa zu mehr
Information, sondern zu individuellerer.
Das wuselige Treiben in der Blogosphäre hat in der Tat auf den zweiten Blick sehr viel mit Sortieren und Gewichten zu tun. Wer
sich für ein Fachgebiet interessiert –sei es Tiefseetauchen oder Quantenmechanik –, für d en sind Fach-Blogs oft der ideale
Einstieg. Und in den Link-Silos von Del.icio.us oder Furl sind die weiterführenden Verweise dann gleich kommentiert. Eine
bessere Ausbeute bei gleichem Zeiteinsatz –der Vorteil des humanisierten Netzes gegenüber dem oft ziellosen Herumgeklicke
im World Wide Web.
Bei der Übermittlung der Auswahl hilft eine Technologie namens RSS, was für Really Simple Syndication (echt einfache
Verbreitung) steht. Etliche Blogs und andere Dienste bieten heute ihre Inhalte parallel auf der Website und eben im RSSFormat an. Mit Hilfe eines Programms abonniert der fortschrittliche Netzbürger die Angebote seiner Wahl und studiert sie
gebündelt, ohne sich mühsam von Homepage zu Homepage hangeln zu müssen. Hat ein bestimmter Nutzer neue Bilder auf den
Flickr-Server geladen? Gibt es neue Links bei Del.icio.us, die mit einem abonnierten Begriff verknüpft sind? Hat die BlogSuchmaschine Technorati neue Texte zu einem Stichwort von Interesse entdeckt? Liegt ein frischer Podcast zum Lieblingsthema
bereit? Ist auf Nachrichtenseiten wie ZEIT.de eine neue Meldung erschienen? Weil das RSS-Leseprogramm das alles anzeigt wie
neu eingetroffene E-Mails, müssen die Nutzer weniger Herumsurfen. »Ich muss nicht mehr raus und etwas suchen«, freut sich
Doc Searls, »es wird mir gebracht.« Dieser Service soll künftig noch prominenter werden. So kündigte Softwarehersteller
Microsoft kürzlich an, die nächste Windows-Version »Longhorn«werde RSS so weit integrieren, dass kein Browser und kein
Leseprogramm mehr nötig sein werde, um Feeds (auf Titelzeilen verdichtete Nachrichten ohne Werbung) zu suchen, zu
abonnieren und zu lesen.
Echte Menschen mit echten Namen
Bemerkenswert ist auch die neue Sitte, im Netz überwiegend als man selbst aufzutreten –ohne Maske. Dominieren in Forenund
Chats des alten Netzes immer noch per Pseudonym anonymisierte Netznutzer, agieren die meisten Weblog-Autoren unter ihrem
echten Namen. Medienwissenschaftler Thomas Burg erklärt diesen Kultur wandel so: »Man kann sich online eine Reputation
aufbauen, beispielsweise durch ein fachlich gutes und interessantes Weblog. Die Anerkennung dafür kann man dann in der
echten Welt nutzen.«Wie man es schafft, Web und Wirklichkeit miteinander zu verbinden, zeigt exemplarisch der Düsseldorfer
Anwalt Udo Vetter. Seit rund zwei Jahren beschreibt der 40-Jährige in seinem LawBlog mit trockenem Humor und launigem
Tonfall seinen Arbeitsalltag zwischen Strafgericht und Straßenverkehrsamt. Bisweilen wird in dem Blog auch heiß diskutiert:
Zum Eintrag über einen aktuellen Fall sammelten sich kürzlich binnen eines einzigen Tages über 200 Leserkommentare an.
Diese Aufmerksamkeit spürt Vetter auchberuflich. »Anfangs war es wirklich nur ein Spaß«, sagt er, »ich schreibe gern, und als
ich Blogs entdeckte, bot sich dieses Format einfach an.« Seit etwa einem halben Jahr ist ein zweiter Aspekt hinzugekommen.
»Seit neuestem häufen sich die Erstklienten,die mich nur aus dem Internet kennen. Inzwischen ist mein Blog tatsächlich zu
einem Wirtschaftsfaktor für mich mutiert; das hätte ich so nie erwartet.«
Die Stärken der neuen Technologien zeigen sich in den Auswirkungen außerhalb des Netzes. Wer sie einzusetzen weiß, sieht im
Idealfall die Resultate an seinem Arbeitsplatz, im Auftragsbuch, auf dem Kontoauszug –oder im Bekanntenkreis.
Schließlichgeht es um eine Humanisierung des Netzes.
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