Fall 2: Wiedereinführung der Todesstrafe Fr

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Fall 2: Wiedereinführung der Todesstrafe Fr
Universität Würzburg
Wintersemester 2007/08
Konversatorium zum Grundkurs Öffentliches Recht I
– Staatsorganisationsrecht –
Fall 2: Wiedereinführung der Todesstrafe
Frage 1: Konkrete Normenkontrolle durch die Große Strafkammer?
A.
Prozessuale Möglichkeiten
Zur verfassungsrechtlichen Klärung kommt ein konkretes Normenkontrollverfahren nach
Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG in Betracht. Ein dahingehender Antrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.
B.
Zulässigkeit
Das konkrete Normenkontrollverfahren müsste zunächst zulässig sein.
I.
Zuständigkeit des BVerfG
Die Zuständigkeit des BVerfG für die konkrete Normenkontrolle ergibt sich aus Art. 100 I
GG, §§ 13 Nr. 11 BVerfGG.
II.
Vorlageberechtigung (Art. 100 I 1 GG)
Fraglich ist, wer bei einer konkreten Normenkontrolle vorlageberechtigt ist. Den Antrag nach
Art. 100 I GG können nur Gerichte (vgl. Art. 92 GG) stellen. Unter einem Gericht versteht
man Spruchstellen, „die sachlich unabhängig, in einem formell gültigen Gesetz mit den Aufgaben eines Gerichtes betraut und als Gerichte bezeichnet sind“ (BVerfGE 6, 55, 2. LS). Das
Landgericht erfüllt diese Voraussetzungen (vgl. § 12 GVG) und wird als solches durch die
Große Strafkammer repräsentiert (vgl. §§ 60, 74 II 1 Nr. 4, 76 I 1 GVG). Es ist mithin vorlageberechtigt.
III. Vorlagegegenstand (Art. 100 I 1 GG)
Es müsste ein tauglicher Vorlagegegenstand vorliegen. Gegenstand des Verfahrens sind nur
förmliche, nachkonstitutionelle Gesetze. Nur bei ihnen schließt die Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eine Verwerfungskompetenz des Fachgerichts aus. Sowohl die Verfassungsänderung des Art. 102 GG als auch die Änderung des § 211 StGB erfolgen durch (das gleiche) Gesetz. Daher liegt ein tauglicher Vorlagegegenstand vor.
IV.
Vorlagegrund (Art. 100 I GG)
1.
Richterliche Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit
Das vorlegende Gericht müsste von der Nichtigkeit der vorzulegenden Normen überzeugt sein. Die Große Strafkammer hat nicht nur lediglich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit. Es hält die vorgelegten Normen für verfassungswidrig, Art. 100 I 1 GG.
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2.
Entscheidungserheblichkeit
Das Gericht darf die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nur dann zu Überprüfung durch
das BVerfG bringen, wenn es hierauf für seine Entscheidung ankommt, wenn also die
Entscheidung bei Gültigkeit der Normen anders ausfallen würde als bei deren Ungültigkeit. Nimmt man die Verfassungswidrigkeit der Gesetze an, dürfte X nicht zum Tode
verurteilt werden, bei Verfassungsmäßigkeit der Änderungen müsste dies hingegen geschehen, weil er einen Kindermord begangen hat. Folglich ist die Klärung der Verfassungswidrigkeit oder –mäßigkeit entscheidungserheblich i.S.d. Art. 100 I 1 GG.
3.
Problem: Vorlagepflicht bei Mehrfachvorlagen?
Fraglich ist, ob für das Gericht eine Vorlagepflicht besteht, wenn das BVerfG mit der
konkreten Fragen bereits aufgrund einer anderen Richtervorlage beschäftigt ist. Normalerweise besteht eine Vorlagepflicht (vgl. Art. 100 I 1 GG: „ist ... die Entscheidung ...
einzuholen“). Hier hat aber bereits eine Strafkammer des Landgerichts in N vorgelegt –
muss dann auch das Gericht in W nochmals vorlegen, oder genügt die Aussetzung des
Verfahrens bis zur Entscheidung des BVerfG?
a) Gegen Mehrfachvorlagen spricht der Prüfungsgegenstand, der in beiden Fällen, ob
bei P oder X, derselbe ist, nämlich die Gesetze selbst. Eine einzelne Entscheidung hätte
wegen § 31 II BVerfGG („Gesetzeskraft“) ohnehin Allgemeinverbindlichkeit.
b) Für Mehrfachvorlagen spricht, dass sich die Erstvorlage u.U. erledigen könnte, ohne
dass über die Verfassungswidrigkeit der Normen entschieden wurde (z.B. bei Unzulässigkeit der ersten Vorlage!). Vor allem aber ist dem Wortlaut des Art. 100 I 1 GG („ist
... einzuholen“) keine Einschränkung zu entnehmen. Schließlich bieten Mehrfachvorlagen dem BVerfG auch eine breitere Entscheidungsgrundlage.
c) Zwischenergebnis: Die Vorlagepflicht besteht.
V.
Form (§§ 23 I, 80 II BVerfGG)
Die Einreichung der Vorlage müsste schriftlich und mit Begründung geschehen (§ 23 I
BVerfGG). Außerdem müssten die Akten beigefügt sein (§ 80 II 2 BVerfGG) und in der Begründung die Entscheidungserheblichkeit dargelegt werden (§ 80 II 1 BVerfGG).
[Keine Frist!]
VI.
Zwischenergebnis
Die Vorlage ist zulässig; das Gericht ist auch zur Vorlage verpflichtet.
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B.
Begründetheit
Die konkrete Normenkontrolle ist begründet, wenn das vorgelegte Gesetz verfassungswidrig
ist.
I.
Prüfungsmaßstab
Der Prüfungsmaßstab des BVerfG ist bezüglich der Änderung des Grundgesetzes allein Art.
79 GG (!), im Übrigen, also bezüglich der Änderung von § 211 StGB, das gesamte Grundgesetz.
II.
Verfassungsmäßigkeit der Änderung von Art. 102 GG
1.
Formelle Verfassungsmäßigkeit (Art. 79 I, II GG)
a)
Zuständigkeit
Die Zuständigkeit des Bundes ergibt sich aus Art. 79 I, II GG.
b)
Verfahren
Die Verfahrensanforderung der Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat (Art.
79 II GG) ist laut Sachverhalt gegeben.
c)
Form
Das Formerfordernis der Textänderung (Art. 79 I 1 GG) ist erfüllt.
2.
Materielle Verfassungsmäßigkeit (Art. 79 III GG)
a)
Verstoß gegen Art. 79 III, 20 III GG (Rechtsstaatsprinzip)
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips könnte durch die
Änderung des Art. 102 GG verletzt sein. Eine Verletzung ist dann anzunehmen, wenn
die Todesstrafe schlechthin unangemessen ist. Die Tötung des Täters als Reaktion auf
einen von ihm begangenen Mord ist nicht per se unangemessen (a. A. gut vertretbar).
Folglich ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht verletzt.
b)
Verstoß gegen Art. 79 III, 1 I GG (Menschenwürde)
Durch die Änderung des Art. 102 GG könnte jedoch der in Art. 1 I GG niedergelegte
Grundsatz der Menschenwürde verletzt sein. Einerseits scheint eine Auslegung der
Menschenwürde als Todesstrafenverbot überspannt, zieht man die Vielzahl der Länder
in Betracht, in denen diese Strafe praktiziert wird. Andererseits darf nach der sog. Objektformel der Mensch nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden,
was bei der Vernichtungshandlung des Henkers schwer von der Hand zu weisen ist. Auf
der Basis der Objektformel ist daher von der Menschenwürdewidrigkeit der Todesstrafe
auszugehen (a.A. gut vertretbar).
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3.
Zwischenergebnis
Die Änderung des Art. 102 GG verstößt gegen Art. 79 III, 1 I GG.
III. Verfassungsmäßigkeit der Änderung von § 211 StGB
1.
Formelle Verfassungsmäßigkeit
Die Zuständigkeit des Bundes für die Änderung des § 211 StGB ergibt sich aus Art. 74
I Nr. 1 GG („Strafrecht“). Laut Sachverhalt erfolgte das Verfahren (Art. 76 ff. GG) sowie die Form des Art. 82 I GG ordnungsgemäß.
2.
Materielle Verfassungsmäßigkeit
Es liegt ein Verstoß gegen den (nicht wirksam geänderten) Art. 102 GG sowie gegen
Art. 1 I GG vor (s.o.).
C.
Ergebnis zu Frage 1
Eine Vorlage ist zulässig und sowohl hinsichtlich der Änderung des Grundgesetzes als auch
hinsichtlich der Änderung von § 211 StGB begründet. Das BVerfG wir die Gesetze gem. §§
82 I, 78 S. 1 BVerfGG für nichtig erklären.
Frage 2: Möglichkeiten des X?
A.
Konkrete Normenkontrolle (Art. 100 I GG)
Da X kein „Gericht“ i.S.d. Art. 100 I 1 GG ist, scheidet eine konkrete Normenkontrolle aus.
B.
Verfassungsbeschwerde (Art. 93 I Nr. 4a GG)
X könnte aber u.U. eine Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 I Nr. 4a GG erheben. Dazu
müsste er sich auf eine mögliche Verletzung durch die öffentliche Gewalt in einem seiner
Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte berufen können. Vorliegend ist das Recht auf
Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) und das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 I 2 GG) verletzt (vgl. auch § 90 II 2 BVerfGG).
Frage 3: Verurteilung des Z
A.
Verstoß gegen Art. 102 GG
Die Änderung des Art. 102 GG ist unwirksam (s.o.). Demzufolge ist die Verurteilung des Z
zum Tode nicht verfassungsgemäß.
B.
Verstoß gegen Rückwirkungsverbot
Das Rückwirkungsverbot ergibt sich grundsätzlich aus dem Prinzip der Rechtssicherheit als
Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 GG). Spezielle Ausprägung für das Strafrecht hat
das Rückwirkungsverbot in Art 103 II GG („nulla-poena-sine-lege-Grundsatz“) erfahren. Danach kann eine Straftat nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt
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war bevor die Tat begangen wurde. Im vorliegenden Fall ist aber nicht die Strafbarkeit als
solche betroffen. Es geht vielmehr um die Strafandrohung (Todesstrafe anstatt lebenslanger
Freiheitsstrafe). Nach einhelliger Meinung umfasst der Anwendungsbereich von Art. 103 II
GG aber auch alle Bestimmungen, die über die Art und Weise der Rechtsfolgen, also über die
Bestrafung entscheiden. Dies folgt aus dem notwendigen inneren Zusammenhang von Tat,
Schuld und Strafe und stärkt die Warn- und Garantiefunktion des Art. 103 II GG für den Einzelnen. Demnach liegt ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vor.