Apostelgeschichte 1, 3 – 11

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Apostelgeschichte 1, 3 – 11
Predigt an Auffahrt 2010, 13. Mai 2010, Nydeggkirche
„Der Himmel, der kommt, grüsst schon die Erde“
Liebe Gemeinde
Ich lese Ihnen die Geschichte von der Himmelfahrt Jesu, wie sie der Evangelist Lukas im
1. Kapitel der Apostelgeschichte erzählt.
Apostelgeschichte 1, 3 – 11
3 Den Aposteln hat Jesus nach seinem Leiden auf vielfache Weise bewiesen, dass er
lebt: Während vierzig Tagen hat er sich ihnen immer wieder gezeigt und vom Reich
Gottes gesprochen.
4 Und beim gemeinsamen Mahl hat er ihnen geboten, nicht von Jerusalem
wegzugehen, sondern zu warten auf die verheissene Gabe des Vaters, die ich – so
sagte er – euch in Aussicht gestellt habe.
5 Denn Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet mit heiligem Geist getauft
werden, schon in wenigen Tagen.
6 Die, welche damals beisammen waren, fragten ihn: Herr, wirst du noch in dieser Zeit
dein Königsreich wieder aufrichten für Israel?
7 Er aber sagte zu ihnen: Euch gebührt es nicht, Zeiten und Fristen zu erfahren, die
der Vater in seiner Vollmacht festgesetzt hat.
8 Ihr werdet aber Kraft empfangen, wenn der heilige Geist über euch kommt, und ihr
werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria und bis an die
Enden der Erde.
9 Als er dies gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke
nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken.
10 Und während sie ihm unverwandt nachschauten, wie er in den Himmel auffuhr, da
standen auf einmal zwei Gestalten in weissen Kleidern bei ihnen,
11 die sagten: Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und schaut hinauf zum Himmel?
Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird auf dieselbe
Weise wiederkommen, wie ihr ihn in den Himmel habt auffahren sehen.
I
Liebe Gemeinde
Eine Geschichte von Abschied, Aufbruch und einem Versprechen,
vielleicht auch von Unsicherheit und Sehnsucht haben wir gehört.
Es ist eine Erzählung über die Situation der Jüngerinnen und Jünger Jesu, die mit Jesus
das Gottesreich des Friedens und der Gerechtigkeit am Horizont entdeckt haben – hin und
wieder mitten unter ihnen.
Der Himmel, der kommt, hat sozusagen schon die Erde gegrüsst. (Gedicht von Kurt Marti)
Dann der Verlust - und der Horizont hat sich verdunkelt, die Gerechtigkeit schaut nicht
vom Himmel hernieder, wie es in Psalm 85 schön poetisch gesagt wird –
und Treue sprosst nicht aus der Erde.
Gerechtigkeit und Friede küssen sich nicht.
Alles wie gehabt.
Zwar haben die Jüngerinnen und Jünger in den 40 Tagen nach Ostern immer wieder
einen Blick auf den Auferstandenen erhascht, aber undeutlich,
auf jeden Fall brauchte es Beweise, Deutungen, dass er es sei.
Dass er da sei.
Selbstredend war das offenbar nicht.
Ist es ja bis heute nicht.
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Predigt an Auffahrt 2010, 13. Mai 2010, Nydeggkirche
Und jetzt ist der Moment:
jetzt ist es Zeit, dass sie definitiv wieder auf eigenen Füssen stehen.
Sie werden auf die Reise geschickt mit einem Auftrag, im Gepäck das Versprechen des
Heligen Geistes und das Versprechen des kommenden Königreiches von Gott.
II
Liebe Gemeinde
Für mich ist diese Geschichte ein Bild, das mir mindestens auf zwei Ebenen etwas erzählt:
einerseits auf einer existentiellen, persönlichen Ebene,
andererseits auf einer Ebene, die nicht nur die eigene Lebensgeschichte anspricht,
sondern meine Sicht auf die Welt.
Auf der existentiellen, persönlichen Ebene geschieht etwas, was vermutlich alle von uns
kennen.
Abschiede kennen wir alle.
Verluste kennen wir alle.
Eine Frau verliert nach vielen gemeinsamen Jahren ihren Lebensgefährten.
Fünfzig Jahre lang hat sie alles mit ihm geteilt.
Und jetzt sitzt sie alleine beim Frühstück am Küchentisch.
Kann nicht noch schnell dies und jenes erzählen.
Wie gern möchte man stehen bleiben, in der Wärme der Erinnerung.
Den Blick nach oben oder gegen früher gerichtet.
Am Horizont ist noch wenig Hoffnungsvolles zu entdecken.
Und dann trotzdem – und man weiss nicht so genau, weshalb
(in der Geschichte sind es Boten, Engel, die dazu bewegen):
Schritte wieder ins Leben zurück.
Hoffnung, Glück wieder zu finden.
Die Sehnsucht im Herzen wird zwar bleiben,
die Trauer sich immer wieder melden.
Aber doch: Man sieht wieder Licht am Horizont.
Kehrt wieder ins Leben zurück.
Vielleicht mit einer neuen Aufgabe,
und vielleicht spürt man etwas vom Helfergeist, der versprochen ist.
Abschiede kennen wir alle.
Verluste kennen wir alle.
Es kann auch der erste Glaube sein, der uns verloren geht.
Es kann die Pensionierung sein, die ein bisher selbstverständliches Lebensgefüge
durcheinander bringt.
Es kann der Auszug der Kinder sein.
Man bleibt stehen, richtet den Blick auf das Verlorene.
Das Neue sieht man noch nicht am Horizont.
Und dann gibt es eine Wende.
Vielleicht nicht so deutlich wie in der Geschichte.
Aber Geschichten dürfen ja das Undeutliche in deutlichen Bildern sagbar machen.
Vielleicht kommen zu der verwitweten Frau am Küchentisch nicht gerade zwei Boten
Gottes, die ihr den Weg weisen und ihr das neue Land versprechen.
Aber es geschieht allmählich etwas.
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Predigt an Auffahrt 2010, 13. Mai 2010, Nydeggkirche
Sie mag sich wieder dem Leben zuwenden.
Erfährt Hilfe, wo sie es nicht erwartet hat.
Findet eine neue Lebensaufgabe.
Oder es muss ja nicht gerade eine Lebensaufgabe sein.
Auf jeden Fall: man entdeckt wieder Möglichkeiten im Leben.
Wahrscheinlich könnten wir uns nun unsere Geschichten erzählen.
Einige würden vielleicht davon erzählen, dass sie noch hinaufschauen,
die Kraft zum Weitergehen noch nicht gefunden haben.
Andere könnten von der Rückkehr ins Leben erzählen, vom neuen Glück, das sie
gefunden haben, von der neuen Aufgabe, die sich ihnen eröffnet hat.
Und die einen könnten so die anderen ermutigen.
Wir werden diese Ermutigung ja dann im Abendmahl auch feiern.
Das Versprechen vorausnehmen:
dass Gott uns gibt, was wir brauchen für den Weg zurück ins Leben.
Immer wieder.
III
Das ist die eine persönlich-existenzielle Seite der Geschichte.
Nun gibt es noch die andere.
Sie ist eine Herausforderung für meine Sicht auf Gott und die Welt.
Was haben die Jüngerinnen und Jünger von Jesus erwartet?
Erwartet haben sie, dass er das Gottesreich bringt - hier und jetzt.
Dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen werden – hier und jetzt.
Dass Gerechtigkeit vom Himmel schaut und Verlässlichkeit aus der Erde spriesst – hier
und jetzt.
Und dann verlässt er sie.
Und die Erde ist von den gleichen Mächten beherrscht wie zuvor.
Gewalt scheint ihr Meister zu sein - wie zuvor.
Die Hungernden hungern weiter.
Die Armen bleiben arm.
Und die Jüngerinnen und Jünger schauen dem entschwundenen Meister nach.
Glotzen in den Himmel, wie es etwas grob heisst.
Der Himmel dort – die Erde hier.
Wir lächeln vielleicht ein wenig über dieses alte Weltbild in der Geschichte.
Wir wissen mittlerweile, dass der Himmel nicht dort oben ist.
Wir haben einfach dummerweise nur dies eine Wort.
Im Englischen ist das viel praktischer. Da gibt es zwei Wörter: Sky und heaven.
Sky ist das, was wir sehen, wenn wir in den Himmel hinaufschauen.
Heaven ist dort, wo Gott ist. Und heaven ist dann nicht unbedingt oben.
Heaven on earth. Heaven - Himmel kann dann auch auf der Erde sein.
Das wissen wir ja, das erleben wir manchmal auch in unserem Leben.
Und trotzdem, obwohl ich weiss, dass der Heaven-Himmel überall sein kann,
gleiche ich doch den Jüngern, die Gott nicht zuerst in der Welt zu finden glauben.
Mir fällt es schwer, Hoffnung und Zuversicht für die Welt aufrecht zu erhalten.
Für mein eigenes Leben ja.
Für meine kleine Welt ja.
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Predigt an Auffahrt 2010, 13. Mai 2010, Nydeggkirche
Aber für die Erde? Da fällt es mir schon schwer.
Was gegenwärtig vor den Küsten Amerikas passiert mit diesem Öl, das wie eine
apokalyptische Fontäne aus der Erde schiesst und dem Ölteppich, der auf Jahrzehnte die
ganze Natur in dieser Region zerstört,
das nährt schon meine Hoffnungsunfähigkeit bezüglich unserer Erde.
Und wenn ich an die Ungerechtigkeit in unserer Welt denke, wenn ich daran denke,
dass wir hier mit unserem Konsumverhalten und mit unserer Wirtschaftsordnung
mitschuldig sind am Elend und am Hunger in der Welt,
und wenn ich selbst keinen Ausweg sehe, weil alles so miteinander verhängt ist,
dann fällt es mir schon schwer zu glauben, dass der Heaven-Himmel auf Erden möglich ist
über meine kleine Welt hinaus.
Da bin ich schon eher auch eine, die in den Himmel hinaufglotzen möchte,
wenn aufgeklärte Frau das denn noch tun könnte.
Und das ist jetzt die wirkliche Herausforderung der Geschichte von der Himmelfahrt.
Nicht dass da gemäss einem alten Weltbild Jesus in den Himmel fährt,
oder auf jeden Fall von einer Wolke aufgenommen wird.
Nicht das ist die Herausforderung.
Das passiert immer wieder etwa in den Erzählungen der alten Welt.
Aber dass da von einem offenen Horizont für diese Welt die Rede ist – vom Königreich
Gottes, das kommen wird und von Jesus, der wiederkommen wird – das ist die
Herausforderung.
Und dass uns als Kirche zugemutet wird, davon Zeugen zu sein.
Denn das ist ja der Kern der Geschichte.
Sie sagt:
Glotzt nicht in den Himmel hinauf.
Geht zurück in die Welt.
Seid meine Zeuginnen und Zeugen vom Königreich Gottes, das ist und das kommen wird.
Seid Zeugen und Zeuginnen davon, dass der Heaven-Himmel, der kommt, die Erde schon
grüsst.
Seid Zeuginnen und Zeugen davon in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samaria, in Bern und
in Ostermundigen und bis an die Enden der Erde.
IV
Und das, liebe Gemeinde, geht jetzt über meinen Horizont hinaus.
Das fordert meinen Glauben heraus wie sonst nichts – diese Rede vom kommenden
Königreich Gottes und der grossen Hoffnung für die Welt.
Zum Glück sind wir mit dieser Herausforderung nicht allein.
Wenn mein Glaube dafür nicht ausreicht, kann ich mir doch den Glauben anderer
Zeuginnen und Zeugen auszuleihen.
Zeuginnen und Zeugen zum Beispiel, die vor uns lebten.
Dorothea Sölle schreibt einmal:
Die Toten (sie meinte damit zum Beispiel Leute wie Elisabeth von Thüringen, Franz von
Assisi, Martin Luther King, Oscar Romero, Bruno Manser) sind nicht tot, sie sind bei uns,
sind nicht allein, nicht abgeschnitten von der Wurzel, die trägt. Wir haben miteinander eine
Tradition des Glaubens und der Hoffnung. Wir können uns an andere erinnern, die vor uns
geglaubt und gehofft haben.
Glauben, liebe Gmeinde, kann man nicht machen.
Den Glauben kann man sich nicht selbst schenken.
Aber man kann sich entscheiden, den Glauben dieser Zeugen ernst zu nehmen.
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Predigt an Auffahrt 2010, 13. Mai 2010, Nydeggkirche
Man kann sich entscheiden, die Stimmen dieser Boten nicht als weltfremde Gefühlsduselei
abzutun, sondern als Zeugnis davon, dass der Himmel geerdet ist.
Dass der Himmel, der kommt, der versprochen ist, die Erde schon grüsst.
Und wir können um die versprochene Kraft des Heiligen Geistes bitten,
dass sie in uns die Sehnsucht und die Hoffnung aufrecht erhalte auf die neue Stadt,
in der Frieden und Gerechtigkeit hausen und mit der Liebe ein Fest feiern.
Dann können wir vielleicht selbst Schritte tun – Zeugen sein.
Da wo wir sind und so, wie wir es können.
Bei jemandem wird das Zeugnis vielleicht darin bestehen, dass er nach einem langen
Konflikt zu vergeben bereit ist.
Bei einer anderen wird das Zeugnis vielleicht darin bestehen, dass sie sich in einer
Menschenrechtsorganisation engagiert.
Jemand leistet vielleicht Aufgabenhilfe bei einem Kind, das Unterstützung braucht.
Eigentlich brauche ich gar nicht mehr aufzuzählen.
Wir finden unsere Möglichkeiten zur Zeugenschaft schon.
Das sind dann eben die kleinen „Schon da“ des kommenden Himmels.
Kurt Marti schreibt in einem Lied, das wir anschliessend singen werden:
Der Himmel, der kommt, grüsst schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben
verändert.
Amen
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