Schulmädchen im Internet
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Schulmädchen im Internet
Gesellschaft Schulmädchen im Internet Von Claudia Schumacher und Manca Flajs (Illustration) _ Teenager veröffentlichen heute ganz s elbstverständlich freizügige Bilder auf Online-Plattformen. Wer kein Smartphone besitzt, läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Wie ist es, heute ein Mädchen zu sein? «Geil», meint Sheila, 15, abends am Bahnhof und wirkt angeschwipst. «Schön», sagt die grazile Anna, 13, an einem Ballettabend im Opernhaus. «Schwierig», findet es Mia, die in der Bibliothek für die Matura lernt und gerade bei Starbucks eine Pause einlegt. Während die dreizehnjährige Sandrine, die letztes Jahr einen Kuraufenthalt für essgestörte Mädchen hinter sich gebracht hat, die Frage am Telefon erst gar nicht beantwortet. Und dann heult. So weit, so normal. Glückliche, mittelglückliche und unglückliche Mädchen existieren, seit es Wodka Red Bull, wohlhabende Eltern, langweilige Gene und fiese Mitschüler gibt. Wovon die Befindlichkeit heutiger Mädchen abhängt, weiss man nach ein paar Gesprächsstunden dann auch: Beliebtheit. Immer noch. Wie kleine Prominente Anders sind heute aber die Mittel und Wege der Mädchen, um zu denen zu gehören, in die sich die Jungs verlieben. Beliebtheit unterliegt weniger als früher der subjektiven Wahrnehmung. Sie ist messbar geworden. Was Sheila so treibt – mit wem sie rumhängt, welche Grösse ihr Bikini hat (angeblich ein C-Körbchen), wie sie sich die langen schwarzen Haare schön glättet und dann ein Bild von sich schiesst, auf dem aber vor allem ihr beachtlicher Hintern zu sehen ist – das verfolgen auf der Foto-Plattform Instagram 2436 Menschen, ihre Follower. Ganz schön viel für ein Schulmädchen aus dem Zürcher Oberland. Sheila ist bereit, viel von sich zu zeigen. Viel Körper, viel Haut, das gibt mehr Follower. Sofern man gut aussieht. Ballettmädchen Anna von der Goldküste hat 429 Follower. Weniger als die halbnackte Sheila, aber immer noch viele. Anna zeigt sich nie sexy, aber mitunter auf Spitzenschuhen und ist immer «di Schönschte ♥♥», wie ihre Follower kommentieren. Mia hingegen hat kein besonderes Hobby und ist sich «zu schade dafür», Belfies (Fotos von ihrem Hintern) oder ähnliche anzügliche Aufnahmen von sich im Internet zu verbreiten. Die braven Bilder von ihr mit den ebenso anständigen Freundinnen auf In stagram finden 243 Menschen interessant – womit auch sie als beliebt gilt. Mia und ihre Freundinnen sind die netten, hübschen Mädchen von nebenan. Auch das hat Appeal. Sandrine hat keinen einzigen Follower. Sie hat sich nach einem Gespräch mit ihrer Therapeutin entschieden, keine Profile in den so 14 zialen Netzwerken mehr zu betreiben. Jetzt ist sie überall abgemeldet. Nur Whatsapp nutzt sie noch, aber als reines Kommunikationsmedium, mit dem man gratis Nachrichten verschicken kann. Sie wechselt dort nicht mehrmals täglich ihr Profilfoto, wie es andere Mädchen tun. Instagram, Snapchat, Whatsapp, Facebook, Ask.fm (eine Plattform für Frage-AntwortSpielchen). In diversen sozialen Netzwerken und Kommunikationsforen im Internet müssen sich Mädchen heute beweisen. Sie stecken im Aufmerksamkeitsgeschäft wie kleine Prominente. Wer auf dem Schulhof dazugehören will, muss sich auch in der virtuellen Welt behaupten. Das heisst: Follower, Abonnenten, Likes und Herzchen sammeln und in die Whatsapp-Gruppen kommen, wo zu den wichtigen Partys eingeladen wird. Wer mit elf Jahren kein Smartphone besitzt, läuft Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Gerade sind zwei Bücher erschienen, die der Befindlichkeit heutiger Mädchen nachgehen. «Mädchen im Netz – süss, sexy, immer online» heisst das eher beunruhigende Werk des Münchner Sprachforschers Martin Voigt. Selbstdarstellung, Freundinnenkult, Realitätsverlust und Narzissmus sind die Schlagworte, um die das Buch kreist. Eine gewisse Verwunderung darüber, wie leidenschaftlich intensiv Mädchen das Internet nutzen, ist spürbar. Ebenso, dass der Autor ein Mann ist, der selbst nie eine frühere oder heutige Mädchenkultur von innen erlebt hat und teilweise auch dort Veränderungen und Verschärfungen beschreibt, wo keine stattgefunden haben. So ist etwa der Kult um die beste Freundin nicht neu – auch nicht in der starken Emotionalität, mit der er heute praktiziert wird. Früher schrieben sich Mädchen unaufhörlich Botschaften unter der Schulbank, küssten sich, hielten Händchen und schmusten in den Pausen. Es konnte auch vorkommen, dass sich mal eine Mutige in das Sekretariat der Schule schlich, um der allerbesten Freundin ein Liebeslied über den Lautsprecher zu singen. Diese Mädchen drehen heute kitschige Freundschaftsvideos, die sie auf Youtube oder Snapchat stellen, und veröffentlichen Fotos von sich mit der Liebsten auf Instagram und Facebook, dazu schreiben sie Sprüche wie «Sister of another mister» oder «Mini Beschti!!!♥ Looove you forever!!! #abf #bff #schwöschter #mishimmelgüegeli». Durch die Hashtags werden ihre Viel Körper, viel Haut, das gibt mehr Follower. Beiträge in den sozialen Netzwerken kategorisiert und können besser gefunden werden. Die Abkürzung «abf» steht für allerbeste Freundin, und «bff» heisst best friend forever. Mädchenfreundschaften waren schon immer der Probelauf für das, was später in der ersten intimen Liebesbeziehung folgte. Neu sind nur die Me dien, in denen die Gefühle zelebriert werden. Die Journalistin Melanie Mühl geht in «15 sein – Was Jugendliche heute wirklich denken» ebenfalls kritisch auf die virtuellen Welten ein, in denen Mädchen ihre Selbstbilder erschaffen. Sie beleuchtet den Schönheitswahn und den Weltwoche Nr. 19.16 wusstsein hat. Die anderen Mädchen begannen, sich wie kleine Frauen zu verhalten. Sie flirteten mit den Jungs, machten Kussmünder auf Fotos und verhalfen ihren neuen Brüsten mit ausgestopften BHs zu einem fotogenen Décolleté. Sandrine konnte da nicht mithalten, es gab noch nichts zu zeigen bei ihr. Also wurde sie von ihrer bis dahin «besten Freundin für immer» gegen ein körperlich reiferes Mädchen ausgetauscht. Innerhalb eines Schuljahres entwickelte sie sich vom normalen Schulmädchen zu einem, das Angst vor Pausen hatte. Weil es dann oft allein herumstand. Das ursprünglich dünne Mädchen begann, den Frust in sich hineinzufressen. Bis ein Junge sich über Sandrines «muffin top» lustig machte: den kleinen speckigen Schwimmring am oberen Rand ihrer Jeans. Über Plattformen wie Instagram werden magere Körperbilder mit «thigh gap» (Lücke zwischen den Oberschenkeln) oder «bikini bridge» propagiert (Lücke zwischen Bauch und einer über zwei hervorstehende Hüftknochen gespannten Bikinihose). Sandrine machte, was viele Mädchen in so einer Situation tun: Sie hörte auf zu essen. Bis es gefährlich wurde und die Eltern sie vorübergehend aus der Schule nehmen mussten. Backrezepte und Reisefotos Popularitätsdruck bei heranwachsenden Frauen. Ihr Buch ist ein beobachtendes, erzählerisches Werk, in dem viele Jugendliche zu Wort kommen. Dazwischen werden Studien und Wissenschaftler zitiert. Mühl bezeichnet die heutigen Jugendlichen als «digitale Kommunikationsprofis» und als «vorbildliche Freundschaftspfleger, denen keine Whatsapp-Nachricht zu viel, kein Chat zu langweilig, kein Like zu mühsam ist und die selbst kurz bevor sie einschlafen noch Emojis versenden». «Mir wurde das alles too much», erzählt Sandrine am Telefon. «Furchtbar.» Die Geschichte Weltwoche Nr. 19.16 der Dreizehnjährigen ist ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn obsessiver SmartphoneKonsum und ein gewisser Druck zur Selbstdarstellung auf ein kindliches, unreflektiertes Alter stossen. Während bei Mädchen heute die Pubertät früher beginnt und sie meist b ereits mit zwölf oder dreizehn Jahren ihre Periode bekommen, ist Sandrine eine Spätzünderin. Sie gehört zu den kleinsten Mädchen in ihrer Klasse und wirkt körperlich wie eine Elfjährige. Was ist passiert, dass Sandrine so unglücklich wurde und eine Essstörung entwickelte? Zu viel für ein Kind, das nicht genug Selbstbe- Mädchen wie Sandrine sind allerdings die Ausnahme und nicht die Regel. Auch wenn ihre Geschichte eng mit der jugendlichen Fokussierung auf den eigenen Auftritt im Internet verquickt zu sein scheint, ist dieser selten der Auslöser von Unglück. Popularitätsdruck auf dem Pausenplatz, das Schlankheitsparadigma und die Erwartung an Mädchen, hübsch zu sein, sind viel älter als das Internet. Anorexie und verwandte Krankheiten sind es ebenso. Die meisten Mädchen scheinen die Möglichkeiten der neuen Medien und ihre Rolle darin im Griff zu haben. Ballettmädchen Anna teilt auf Instagram die sonnigen Momente ihres Lebens, weil sie das «schön» findet und es ihr «Spass macht». Neben den Tanzstunden sieht man sie auf Instagram etwa auch, wie sie mit ihrem Hund im Garten spielt oder mit einer Freundin sonntags in einem coolen Café frühstückt. Dazu schreibt sie dann «#ischguetgsi» oder «#goodtimes». Sie tauscht Backrezepte mit Freundinnen aus oder stellt Reisefotos online. Wer allerdings im Internet ausrutscht, der fällt härter als früher, als noch nicht jeder Fauxpas fotografiert und auf Video festgehalten werden konnte. Fast jede Achtzehnjährige, mit der man redet, hat schon einmal ein im Netz kursierendes Sexvideo von einem betrunkenen Mädchen aus der eigenen Schule gesehen, das nach einer Disconacht zu weit ging und dabei mit dem Smartphone gefilmt wurde. «Nie war es so einfach, einen Ruf zu ruinieren», schreibt Mühl. * Namen geändert 15