Europäische Politik für den Balkan und Kosovo neu gedacht

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Europäische Politik für den Balkan und Kosovo neu gedacht
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In April 2005 the International Commission on the Balkans presented its long-awaited
findings for a rethinking of European policies for the future of the Balkans and most
prominently for the deadlocked question of Kosovo’s future status. Albeit not an official
institution, the political and academic standing of its members guarantees the report
substantial strategic impact. Essentially the authors argue that the EU should start to think of
the enlargement process as a strategic instrument rather a reward for reforms accomplished.
According to the report, only opening a track towards EU integration for the Balkans has the
potential to unravel Kosovo’s Gordian knot by providing the Kosovars with a framework for
conditional statehood and Serbia with an appealing compensation for the loss of Kosovo
without destabilising the region as a whole. In 2005 as a decisive year for the Balkans, the
report with its creative and bold recommendations could not have come timelier.
Wim van Meurs
Europäische Politik für den Balkan und Kosovo neu gedacht ∗
Überlegungen zum Report der Internationalen Balkankommissioni
Für die Urheber eines Strategiepapiers mit Empfehlungen zur europäischen Balkan- und
Kosovopolitik, wie es im April 2005 von der „International Commission on the Balkans“
(ICB) vorgelegt wurde, ist der Inhalt wohl das geringste Problem. Namen wie Ivan Krastev
(ICB-Sekretär, Sofia), Misha Glenny (London), Gerald Knaus (Berlin), Ivan Vejvoda und
Jovan Teokarevic (Belgrad) stehen für geballten Sachverstand, messerscharfe Analysen und
strategische Kreativität. Nichtsdestotrotz ist der Erfolg eines solchen Reports mit davon
abhängig, wer – politisch gesehen – seinen Namen mit den Empfehlungen verbindet. So muss
die Idee entstanden sein, eine Kommission politischer Schwergewichte einzurichten mit
Namen wie Giuliano Amato (ehemaliger Premier Italiens und Vizevorsitzender des
Europäischen Konvents), Carl Bildt (ehemaliger Premierminister Schwedens), Kiro Gligorov
(ehemaliger Präsident Mazedoniens), Zlatko Lagumdzija (ehemaliger Premier von BosnienHerzegowina), Goran Svilanovic (ehemaliger Außenminister von Serbien und Montenegro),
Richard von Weizsäcker u.a. Diese Kommission machte Ende 2004 / Anfang 2005 mehrere
Reisen durch die Region, um mit ausgewählten lokalen Schlüsselakteuren zu sprechen und
ihre Vorschläge empirisch zu untermauern.
Aus dem gleichen Grund wurde wohl auch der traditionsreiche und prestigeträchtige Name
„International Commission on the Balkans“ gewählt. Unproblematisch ist der Name nicht,
ging doch die erste vom Carnegie Endowment nach den Balkankriegen Anfang des 20.
Jahrhunderts initiierte Balkankommission noch von der Annahme aus, dass blutige Konflikte
gewissermaßen zur regionalen Eigenart der Balkanvölker gehörten. ii – Diesmal gilt es jedoch
nicht, existierende Vorurteile über den Balkan und seine Bewohner zu bestätigen oder zu
schüren. Wie im Vorwort deutlich angesprochen wird, hält sich im Moment die Bereitschaft
in Europa für ein Umdenken in der Balkanpolitik in engen Grenzen. Somit galt es, die Kosten
und Risiken einer Fortschreibung der heutigen Vorgehensweise ebenso überzeugend
darzulegen wie die Vorzüge einer anvisierten neuen Strategie. Wer sich bei diesem
Drahtseilakt der Politikberatung zu weit von der inhärent konservativen und optimistischen
Brüsseler Sichtweise entfernt, wird nicht gehört. Wer zu nah an der heutigen Politiklinie
entlang argumentiert, erregt keine Aufmerksamkeit. Zu guter Letzt blieb den Urhebern die
Entscheidung, wann der Bericht lanciert werden soll. Wegen der Beitrittsverhandlungen
Kroatiens, wegen der Reform von Dayton nach zehn Jahren, wegen Mazedoniens EUBeitrittsantrag, wegen der bevorstehenden Entscheidung über das Staatsgebilde Serbien und
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Montenegro und vor allem wegen der angekündigten Verhandlungen über den finalen Status
von Kosovo wurde 2005 schon im Vorfeld zum „entscheidenden Jahr“ oder (etwas
optimistischer) zum „Jahr der Entscheidungen“ für Südosteuropa apostrophiert.
Eine ernüchternde Bestandsaufname
Sowohl in einer verhältnismäßig kurzen Analyse (sechs der insgesamt gut 30 Textseiten) über
die Defizite des heutigen strategischen Konsenses und des regionalen Status quo als auch in
der ausführlichen Argumentation der Empfehlungen für die Staatsordnungs- und Statusfragen
einerseits und den Prozess der EU-Integration andererseits, knüpft der Report an bekannte
Reformansätze an. Die Handschrift von Ivan Krastev ist unverkennbar, iii aber auch die
Problemanalysen, Argumentationen und Empfehlungen der letzten Jahre aus anderen think
tanks spiegeln sich wider. Der Mehrwert des Reports liegt neben dem politischen Gewicht der
Kommission aber vor allem darin, dass er:
− einen in sich schlüssigen Ansatz für die gesamte Region des Westbalkans bietet,
− die Verknüpfung zwischen Statusfragen und EU-Integration nicht nur behauptet, sondern
auch als Prozess durchdenkt;
− gerade in der Schlüsselfrage des Kosovos über bekannte Lösungsvorschläge hinaus denkt
und neue Wege geht.
Letzteres stellt an sich in dieser viel diskutierten und festgefahrenen Schicksalsfrage bereits
eine kaum zu überschätzende Leistung dar.
Die Lageanalyse des Reports ist unter Balkananalysten kaum strittig, aber politisch
unerfreulich. Trotz massiven Einsatzes von europäischen Human- und Finanzressourcen weist
die Region fünf Jahre nach Milosevic vor allem schwache Staaten und Protektorate ohne
Wirtschaftswachstum mit horrender Arbeitslosigkeit auf. Somit befinde sich der Balkan heute
„as close to failure as to success“ (S. 7) und ein Umdenken sei von europäischer Seite
zwingend und dringend erforderlich. Allein schon weil sich Europa kein schwarzes Loch
leisten kann, aber auch wegen der historischen Verantwortlichkeit, wurde der Report wohl mit
dem aussagekräftigen Titel „The Balkans in Europe“ überschrieben – ohne damit die
Eigenverantwortung der politisch Verantwortlichen in der Region schmälern zu wollen. Die
Kommission schlussfolgert unerbittlich, dass „the status quo has outlived its usefulness“ (S.
8), betont, dass es für die Probleme des Balkans keine „quick and easy solutions“ (S. 8) geben
kann, und sieht somit die Verknüpfung mit dem EU-Integrationsprozess als einzigen Erfolg
versprechenden Ansatz an.
Den diplomatischen und anerkennenden Formulierungen zum Trotz legt die Problemanalyse
des Reports bei den Grundannahmen die Axt an die Wurzeln der EU-Balkanstrategie: Die
UN-Resolution 1244 und die Daytoner und Belgrader Verträge seien alternativlos und
vielleicht sogar zielführend unter den damaligen Umständen im Rahmen einer
Stabilisierungsstrategie gewesen. iv „Constructive ambiguity“ (S. 13) und die Fortschreibung
der erreichten fragilen und teils trügerischen Stabilität seien aber keine Grundlage für
nachhaltige politische und wirtschaftliche Entwicklung, die die Staaten der Region
mittelfristig an die Europäische Union heranführen würde. v Wie die Kommission richtig
erkannt hat, lässt sich der entscheidende Fortschritt zu Demokratie, Marktwirtschaft und
Staatsfunktionalität nicht durch Geduld und Beharrlichkeit erreichen. Fortschritt erfordert
Risikobereitschaft und ein Durchbruch impliziert die Konfrontierung gefestigter
Machtstrukturen und somit neue Konfliktpotenziale.
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Die EU hat gerade die von mehreren think tanks energisch vertretene Forderung nach
Überführung der Westbalkanländer vom Ressort „Außenbeziehungen“ zum Ressort
„Erweiterung“ mit der neuen Europäischen Kommmission vollzogen. vi Der Report geht aber
einen Schritt weiter: Das beim Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 bestätigte
Integrationsversprechen wird nie die gleiche Reformwirkung entfalten wie das Versprechen
vor zehn Jahren in Ostmitteleuropa. „The classical enlargement model that worked for Central
and Eastern Europe in 1990 simply does not fit the conditions prevailing in the Balkans“ (S.
9). Die glaubwürdige EU-Perspektive ist eine notwendige, aber keine ausreichende
Bedingung für Reformen auf dem Balkan, da die Probleme teils qualitativ andersartig und
teils von einer anderen Größenordnung sind als damals in den heutigen Neumitgliedsstaaten.
Die Sonderprobleme der Region werden wirkungsvoll als „expectations gap“, „development
gap“ und „integration trap“ identifiziert. Das erste bezieht sich auf die (laut eigener
Umfragen der Kommission) massive Politikverdrossenheit und den wirtschaftlichen
Pessimismus der Balkanbevölkerung, Tendenz steigend (S. 40-53). Das zweite ist die
strukturelle Folge der EU-Konditionalität: Wenn die Unterstützung sich auf die Länder
konzentriert, die erfolgreicher bei der Erfüllung bestimmter EU-Kriterien sind als andere,
wird die Kluft zwischen den Gewinnern und den Verlierern zwangsläufig wachsen. Dies
gefährdet nicht nur den Europäischen Integrationsprozess, sondern auch die regionale
Stabilität. Mit den Fahrplänen für Rumänien und Bulgarien (2003) hat die EU erste
Gegenmaßnahmen in Bezug auf dieses Dilemma eingeleitet. vii
Regionalität und
Konditionalität als problemlos komplementäre Ansätze darzustellen, deute somit auf ein
Strategiedefizit seitens der EU hin. viii Das dritte Problem folgt aus dem zweiten: die
Disfunktionalität der Staaten und Protektorate der Region (z.B. die Kopenhagener Kriterien
ad absurdum geführt von einem Paddy Ashdown, der Bosnien-Herzegowina per Erlass zum
Beitrittsantrag zwingt, oder die Anwendung der politischen Kriterien auf die evident
undemokratische Macht der UNMIK, etc.). Diese Disfunktionalität verhindert Forschritt im
EU-Integrationsprozess, während just dieser Prozess die entscheidende Grundlage für
Staatskonsolidierung und -funktionalität bieten könnte. Diese Pattstellung lässt sich nüchtern
betrachtet nur durch strategische Parallelität und ein schrittweises Vorgehen aufheben – in
den Begrifflichkeiten der EU-Balkanpolitik: „Status und Standards“ statt „Standards vor
Status“.
Während die letzten beiden Dilemmata sofort einleuchten, weil das „development gap“ von
den Wirtschaftsdaten der letzten Jahre bestätigt wird und die „integration trap“ von den mehr
als mühsamen Fortschritten im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess unterstrichen wird,
ist das Argument des „expectations gap“ problematischer. Wenn Mehrheitsmeinung und
populäre Erwartungen allentscheidend wären, wäre Kosovo längst unabhängig und BosnienHerzegowina bereits EU-Mitglied. Erwartungsmanagement ist schlussendlich eine
Kernaufgabe erfolgreichen Konfliktmanagements. Außerdem wäre die ganze Idee der EUIntegration des Westbalkans bei entsprechenden Referenden in den Mitgliedstaaten nie in die
Nähe der Brüsseler Agenda gekommen. Unvereinbare und unrealistische Erwartungen bilden
eine der Hauptingredienzien der Balkan-Instabilität, darauf weist der Report zu Recht hin –
aber eine zielführende Lösungsstrategie muss davon abstrahieren und gleichermaßen bereit
sein, sich über europäische und balkanische Bedenken hinwegzusetzen. Nichtsdestotrotz
bleibt das dahinter liegende Argument aus Ivan Krastevs brillantem „inflexibility trap“ gültig:
Der Auf- und Ausbau einer gesellschaftlichen Tragfläche für Reformpolitik verdient einen
höheren Stellenwert in europäischen Strategieüberlegungen, die gelegentlich dem
Umkehrschluss gefährlich nahe kommen, so dass das, was Publikum und Politik auf dem
Balkan nicht goutieren, dementsprechend richtig sein muss. ix
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Im Weiteren konzentriert sich der Report auf die Staatsordnungs- und Statusfragen, und er
identifiziert Kosovo als die in mehreren Hinsichten alles entscheidende Statusfrage, den
Mühlstein am Hals des gesamten politischen Prozesses in der Region. Das Herbeiführen
funktionierender Staaten gilt somit als conditio sine qua non für eine sozialwirtschaftliche
Kehrtwende. Die von EU und Weltbank gehegten Erwartungen einer umgekehrten Sequenz,
wonach wirtschaftliche Entwicklung und Prosperität der Statusfrage ihre Schärfe und
schließlich ihre Bedeutung nehmen werden, wird erstens in der Realität nicht eintreten und sei
laut Kommission auch theoretisch nicht haltbar. Der Report betont zwar, dass der Balkan
Strategien für beide – Wirtschaftsentwicklung und Staatsbildung – braucht, sieht aber
kurzfristig die Statusfragen doch als prioritär an.
Ein Dreistufenplan für den Westbalkan
Angesichts der strukturellen Unterschiede zwischen Ostmitteleuropa und dem Westbalkan ist
der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP) von 1999 ein schwaches Instrument, das
einerseits trotz ungelöster grundlegender Fragen von Staatsordnung und Staatsfunktionalität
governance und Verwaltungsreform in den Mittelpunkt stellt, aber andererseits die
notwendigen kurz- und mittelfristigen Anreize vermissen lässt. x Der Report „The Balkans in
Europe’s Future“ bietet daher im Wesentlichen einen Dreistufenplan „Standards und Status“
für die Gesamtregion und einen Vierstufenplan nach dem gleichen Muster für Kosovo.
Bei einem Gipfel im Herbst 2006 sollte die EU demnach in Vorleistung treten und allen
Balkanstaaten mit einem Beitrittsfahrplan („accession roadmap“) eine institutionell und
prozedural gleiche Ausgangsposition einräumen. Als zweite Stufe würde jedes Land ab
diesem Moment (abhängig von der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien) direkt
Beitrittsverhandlungen eröffnen oder (was wahrscheinlicher ist) zuerst ein VorbeitrittsEuropaabkommen für eine „Mitgliedstaatsbildung“ xi schließen können, um dann 2009-2010
die dritte Stufe der Beitrittsverhandlungen zu erreichen, die 2014-2015 in eine
Vollmitgliedschaft münden könnte. Komplementär dazu sollte das Instrument der NATOIntegration (Partnerschaft für den Frieden, Mitgliedschaftsaktionsplan/MAP und
Vollmitgliedschaft) eingesetzt werden. Alle Staaten (und heutige Entitäten, die noch zu
Staaten werden könnten) würden an der gleichen „Regatta“ teilnehmen, während der
Zieleinlauf nach wie vor von der individuellen Leistung abhängig bliebe.
Wenn die Südosterweiterung nicht wie die EU-Osterweiterung ablaufen kann, sollte
folgerichtig auch die Erweiterungsstrategie gegen das Licht gehalten und angepasst werden.
Der Dreistufen-Masterplan des Reports hat vier wichtige Vorzüge im Vergleich zur heutigen
EU-Strategie:
1. Der Tatsache, dass auf dem Balkan Staatsbildung und „Mitgliedstaatsbildung“ parallel
stattfinden, wird Rechnung getragen. Der SAP neigt eindeutig dazu, alle
„Konfliktnachbearbeitungs-“ und klassischen Staatsbildungsfragen auszublenden.
2. Der politische und öffentliche Druck auf die Nationalregierungen, sich auf das formelle
Erreichen des nächst besseren Status vis-a-vis der EU anstatt auf Reformmaßnahmen zu
konzentrieren, wäre beendet. Indem allen der Status eines Beitrittslandes verliehen würde,
ließe diese „Statuskonkurrenz“ sich ggf. in einen konstruktiven Wettbewerb ummünzen.
3. Es würde auch das Dickicht aus EU-Instrumenten und Statusunterschieden gelichtet:
Abgesehen vom Regionalansatz und dem Nicht-EU-Instrument des Stabilitätspakts kennt
die Region im Moment „beitretende Länder“ (Rumänien und Bulgarien), „noch-nichtverhandelnde Kandidaten“ (Kroatien und Türkei), Länder mit einem Stabilisierungs- und
Assoziierungsabkommen/SAA (Mazedonien und Kroatien), Länder ohne SAA (z.B.
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Serbien und Montenegro), Länder mit einer Feasibility Study für ein SAA (z.B. Albanien)
und Länder ohne Feasibility Study (z.B. Bosnien-Herzegowina). Heute gilt immer noch
die optimistische, aber unbewiesene, Brüsseler Arbeitshypothese, dass sich
Beitrittsperspektive, SAP, Stabilitätspakt und Thessaloniki-Agenda reibungslos
gegenseitig verstärken und unablässig Synergieeffekte erzeugen.
4. Keine Unterschiede im vertraglichen Status vis-a-vis der EU könnten die notwendige
regionale Zusammenarbeit mehr behindern.
Abgesehen von dem im Report selbst genannten Gegenargument der Erweiterungsmüdigkeit
Europas sind drei Einwände als Brüsseler Reaktion auf den Report vorhersehbar:
1. Wäre der Dreistufenplan nicht der nächste Versuch, xii einen Zwischenstatus der EUIntegration vorzuschieben und würde er nicht auch von den Balkanstaaten als solcher
(ab)gewertet werden? – Da keiner der Staaten den gebotenen Status bereits hat und alle
ihn anstreben, wäre dies ein geringeres Problem, solange die individuelle Entscheidung
2006 für Beitrittsverhandlungen oder Vorbeitritts-Europaabkommen vermittelbar und
nachvollziehbar wäre.
2. Würde der Plan die Pluriformität der Instrumente und Kriterien nur vergrößern? – Der
Plan wäre nur effektiv, wenn mit der Angleichung des Ausgangsstatus auch eine
Entrümpelung der Instrumente einhergehen würde.
3. Liegt dem Plan nicht eine unbegründete Hoffnung zugrunde, dass die EU-Perspektive auf
dem Balkan als Allheilmittel funktionieren kann? – Implizit werden die Sonderprobleme
des Balkans vor allem als Folgefragen der jugoslawischen Kriege in den 1990er Jahren
gesehen, während einiges dafür spricht, die Wurzeln der Wirtschaftskrisen und
Staatsschwächen wenigstens teilweise im gesamten Modernisierungsprozess ab dem 19.
Jh. zu suchen. Die Konflikte wären dann nicht nur Ursachen, sondern auch Folgen der
Entwicklungsdefizite.
Was den Urhebern des Reports vorschwebt, ist eine Gesamtstrategie, die anders als der SAP
die Staatsschwächen des Balkans nicht ausblendet und anders als klassische außengesteuerte
Staats- und Nationsbildung durch die EU-Integration positive Anreize und Steuerung
bereithalten kann. Zurecht weisen die Autoren auf die heutige Gefahr hin, die Balkanstaaten
könnten das acquis communautaire formell übernehmen, ohne dabei den europäischen
Grundprinzipien der Kopenhagener Kriterien Genüge zu tun und ohne die entsprechende
Umsetzungskapazität und -bereitschaft zu entwickeln. Das EU-Angebot der zweiten Stufe
sollte Vorbeitrittsunterstützung umfassen und Integrationsschritte (Zollunion, Visaregelungen
usw.), die jedoch vom Ausbau des regionalen Freihandels abhängig gemacht werden würden.
Nicht weniger dezidiert prangern die Autoren das Demokratiedefizit der heutigen
Entwicklung an: Staatsfunktionalität umfasst neben Verwaltungsaufbau und -ausbau auch
„constituency building“ (S. 32). Ohne Revitalisierung des politischen Prozesses und ohne
Anhängerschaften von Reform- und Europabefürwortern wird der Entwicklungsprozess nie
tragfähig. Sowohl die lokalen Politiker als auch die Protektoratsverwaltungen von UNMIK
und OHR vernachlässigen diesen Demokratiefaktor.
Auch im Bezug auf das Haager Tribunal argumentieren die Autoren, dass das Tribunal
wesentlich zur Stabilisierung der Region beigetragen hat, die Vermittlung seiner Aufgaben
und Entscheidungen in die Region hinein jedoch sträflich vernachlässigt und damit
Rechtsnationalisten in die Karten gespielt wurde. Weniger überzeugend erscheint der
Vorschlag einer gestaffelten Bewertung von „Kooperation mit dem ICTY“. Strategisch mag
es einleuchten, aber es wäre schwer zu vermitteln, warum eine schleppende Zusammenarbeit
mit dem Tribunal das Ausschlusskriterium bei EU- und NATO-Beitrittsverhandlungen sein
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könnte, aber gleichzeitig ausreichen würde für eine Aufnahme in die Partnerschaft für den
Frieden oder für die Unterzeichnung eines Europaabkommens. Gleichermaßen sollte
mittelfristig, wie gefordert, der politische Wille zur offenen gesellschaftlichen
Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit an die Stelle der juridischen
Vergangenheitsbewältigung treten. Dies wäre aber wohl kaum eine Aufgabe des ICTY.
Der obige Rahmen des Dreistufenplans ist den Urhebern des Reports wichtig, um die
verschiedenen Statusfragen mit neuen Hebeln anzugehen. In fast der gesamten Region
stammen die Staatsordnungen aus internationaler Feder: der Dayton-Vertrag für BosnienHerzegowina, Resolution 1244 für das Kosovo, das Ohrid-Abkommen für Mazedonien und
das Belgrader Abkommen für Serbien und Montenegro. Die Ergebnisse dieser
Konfliktbeendigungsabkommen liegen z.B. mit den Protektoraten in Bosnien und Kosovo oft
weit von den Zielvorstellungen – Demokratie, Multiethnizität, Staatsfunktionalität,
Gleichberechtigung – entfernt. xiii Das wichtigste Argument für die Beibehaltung der
unvollkommenen Arrangements des jetzigen Status quo ist der befürchtete regionale DominoEffekt: Wer den Status von Montenegro ändert, schafft einen Präzedenzfall für Kosovo, was
eine Reaktion der Kosovo-Serben auslösen wird, die wiederum die Republika Srpska auf den
Plan ruft und die Albaner im Presevo-Tal aufhorchen lässt.
Aus den Umfragen der Kommission im November 2004 zu statusrelevanten Fragen ergaben
sich einige bemerkenswerte Befunde. So befürworten 85 % der ethnischen Mazedonier und
77,5 % der Albaner die territoriale Integrität Mazedoniens. Abgesehen von dem ewigen
Problem, dass tatsächliche Statusänderungen in der Region die „perceptions map“ auf nicht
vorhersehbare Weise ändern würden, bleibt auch die Bewertung von Zahlen strittig. Ist es ein
positives Zeichen, dass fast die Hälfte der Serben in der Republika Srpska eine Sezession von
Bosnien-Herzegowina für unwahrscheinlich und unerwünscht hält? Jedenfalls sprechen die
hohe Zustimmung in Albanien und Kosovo für ein Großalbanien sowie die ausgeprägte
Meinung der Albaner über die Sezession der Republika Srpska für eine Verquickung der
Statusfragen und gegen eine Verharmlosung der Domino-Theorie. Dem Report ist aber
zuzustimmen, dass nicht die Antwort auf die Statusfragen die Hauptgefahrenquelle sei,
sondern der Weg dorthin.
Auch auf dieser Ebene ist die Kommission der Meinung, dass „the status quo has outlived its
usefulness“. Für alle genannten Staatsordnungs- und Staatsfragen schlägt sie – eingedenk
ihrer obigen Schlussfolgerungen – einen Lösungsansatz vor, der der Bevölkerung eine Wahl
lässt, jedoch innerhalb von eng gezogenen Grenzen durch die internationale Gemeinschaft,
d.h. die Europäische Union (z.B. kein Großalbanien, keine Teilung des Kosovos).
Gleichzeitig wird die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft (UN, EU und/oder OSZE),
eine Entität als „Quasi-Protekorat“ Erfolg versprechend zu verwalten und zu regieren,
entschieden verneint: „With no real stake in these territories, international representatives
insist on quick results to complex problems; they dabble in social engineering but are not held
accountable when their policies go wrong“ (S. 11).
Die Lage in Bosnien-Herzegowina habe sich so weit stabilisiert, dass eine Debatte über eine
Verfassungsreform Gewinn bringend geführt werden könne und sollte, da die heutige
Verfassung sich zunehmend als disfunktional erweist. Die „Bonn Powers“ des Hohen
Repräsentanten bilden nicht nur ein evidentes Hemmnis der EU-Integration, sondern
verzerren auch nachhaltig die demokratisch-politischen Entwicklungen im Lande. So sollte
die Verantwortung für Bosnien-Herzegowina dem Erweiterungskommissar in Brüssel
übertragen werden, der dann auch in diesem Rahmen die Verfassungsreform als „honest
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broker“ (S. 25) zu begleiten hätte. Die EU-Integration würde die richtigen Anreize für eine
funktionale Zentralisierung der Staatsordnung bereithalten.
Der neue zweigleisige Ansatz der EU selbst im Rahmen des SAP für einerseits Serbien und
andererseits Montenegro zeige, wie disfunktional deren heutige Staatsunion ist. Über die
Zukunft der Staatsunion von Serbien und Montenegro sollten im Frühjahr 2006 die Bürger
entscheiden: funktionale Föderation oder funktionale Trennung. Eine Fortschreibung der
heutigen Situation mit der montenegrinischen Obstruktionspolitik sollte jedoch unterbunden
werden.
Aus Sicht der Kommission ist Mazedonien als relativer Erfolg xiv der lebende Beweis für die
konstitutive Kraft der Verknüpfung von Staatsordnungs- und Statusfragen einerseits und dem
EU-Integrationsprozess andererseits, die sie für die gesamte Region empfiehlt.
Ein Vierstufenplan für Kosovo
Keine der obigen Staatsordnungs- und Statusfragen ist jedoch so komplex und verquickt wie
die Kosovofrage. Die Urheber entfalten im Report für Kosovo einen Vierstufenplan:
1. „de facto separation“ Kosovos von Serbien (Resolution 1244);
2. „independence without full sovereignty“ (mit „reserved powers“ für die internationale
Gemeinschaft im Bereich Menschenrechte und Minderheitenschutz);
3. „guided sovereignty“ während den EU-Beitrittsverhandlungen;
4. „shared sovereignty“ nach dem EU-Beitritt.
Der Report kritisiert Belgrad, das die Kosovo-Serben als Spielball benutze, und Pristina, das
jede Bereitschaft zu Versöhnung und einer multiethnischen Gesellschaft vermissen ließe, aber
auch eine ohnmächtige und konzeptionslose UNMIK.
Realistischerweise verneint die international erfahrene Kommission die oft von Belgrad unter
der Hand geforderte Option einer aufoktroyierten Lösung für die Kosovofrage in Anbetracht
des als sicher geltenden russischen und chinesischen Vetos im UN-Sicherheitsrat. Sie räumt
den möglicherweise bevorstehenden Direktverhandlungen zwischen Belgrad und Pristina aber
auch nur geringe Erfolgschancen ein. Der einzige Anreiz, die Öffentlichkeit und Politik in
Belgrad zu Zugeständnissen bezüglich Kosovo bewegen zu können, sei der EUIntegrationsprozess, falls Serbien ein „fast track“ (S. 23) zur Mitgliedschaft geboten werden
könne. Folglich sollte der Vierstufenprozess von Anfang an unter der Ägide der EUIntegration stattfinden.
Obwohl der Report sich über die vorgeschlagene erste Phase für Kosovo etwas kryptisch
auslässt – „the first stage would see the de facto separation of Kosovo from Serbia“ – tendiert
die Kommission offensichtlich in die gleiche Richtung wie einige Analysen nach den
Unruhen vom März 2004. Die Scheinoption eines Rückkehrs zum status quo ante sollte
eliminiert werden und Kosovo sollte (de jure) zum Protektorat der UN oder EU werden ohne
formelle serbische Souveränitätsansprüche. xv Die nächste Phase (2005/2006) beinhaltet die
de jure Anerkennung der Unabhängigkeit (aber nicht Souveränität) des Kosovos mit
internationaler Verantwortung (und Interventionsrecht) für Menschenrechte und
Minderheitenschutz. Formell ein UN-Protektorat sollte diese Verantwortung jedoch von der
EU (mit KFOR-Unterstützung) und nicht länger von UNMIK wahrgenommen werden,
während alle normalen Staatsfunktionen der kosovarischen Regierung übertragen werden.
Dies impliziert eine „Standards und Status“-Politik, bei der Flüchtlingsrückkehr,
Eigentumsfragen und Dezentralisierung zu den Schlüsselfragen gehören. xvi Eine Teilung des
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Kosovos sollte explizit und unwiderruflich ausgeschlossen werden. Erst in der dritten Phase,
wenn Kosovo die Kriterien für EU-Beitrittsverhandlungen erfüllt, würde die EU ihre
Interventionsrechte aufgeben und ihren Einfluss direkt über die Beitrittsverhandlungen
geltend machen. Der Begriff „shared sovereignty“ für die vierte Phase unterstreicht lediglich,
dass alle EU-Mitgliedstaaten ihre souveränen Rechte teilen und nicht „unkontrolliert“
ausüben können.
Erweiterung oder Imperium?
Dieser Masterplan erfordert, dass die EU bereit ist, das Erweiterungsinstrument mehr
strategisch und weniger wie bislang prozedural einzusetzen, indem z.B. Serbien für
sachfremde Leistungen im Dienste der regionalen Stabilität aus der Schatulle der Integration
belohnt wird. Dennoch spiegelten sich ähnliche Neuüberlegungen in der Rede vom
Vizeaußenminister der USA Nicholas Burns im Kongressausschuss am 18. Mai. xvii Burns
nahm eine positive Beurteilung der Standards fast vorweg und prognostizierte einen
Abschluss der Statusverhandlungen bis Ende 2006, mit offenem Ergebnis – Rückkehr zu
Serbien, Unabhängigkeit oder ein Hybrid, Hervorgehoben wurde der Nexus zwischen einer
konstruktiven Haltung Belgrads in der Kosovofrage und Serbiens Vorankommen auf dem
Wege zu NATO- und EU-Vollmitgliedschaft. Der Wink mit dem Zaunpfahl wurde
verstanden: Am nächsten Tag erklärte Präsident Boris Tadic, Serbien habe nur als EU- und
NATO-Mitglied Zukunftschancen, die EU-Perspektive könne sich aber auf 2020
verflüchtigen. Kosovo, fügte er hinzu, dürfe Serbiens Entwicklung nicht behindern. xviii So
hieße der Weg für Kosovo Standards und Status, für die EU Erweiterung und Imperium.
∗
Der Beitrag erscheint in: Südosteuropa-Mitteilungen 45/3 (2005)
Dr. Wim van Meurs ist Dozent für europäische Politik und Zeitgeschichte an der Universität Nimwegen,
Niederlande, und Research Associate am Centrum für angewandte Politikforschung, München. Der folgende
Beitrag basiert in nicht geringem Maße auf Diskussionen, die im Rahmen eines von der Stiftung Wissenschaft
und Politik und der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Workshops mit dem Titel „The Western Balkans in
2005: Domestic Instabilities and European Perspectives“ vom 2.-3. April 2005 in Tutzing stattfanden, bei dem
manche Dilemmata und Konzepte des Reports bereits eingehend erörtert wurden.
i
International Commission on the Balkans: The Balkans in Europe's Future. Sofia: Center for Liberal Studies,
April 2005, 64 Seiten. Als Internet-Dokument: www.balkan-commission.org/activities/Report.pdf.
ii
Carnegie Endowment for International Peace, Other Balkan Wars: a 1913 Carnegie Endowment Inquiry in
Retrospect (Washington DC 1993).
iii
Ivan Krastev, The Inflexibility Trap. Frustrated Societies, Weak States and Democracy: The State of
Democracy in the Balkans (Bratislava 2003).
iv
Wim van Meurs, Das Belgrader Abkommen und die EU als Mediator, in: Montenegro im Umbruch.
Reportagen und Essays. Hrsg. Jens Becker / Achim Engelberg (Münster 2003), S. 63-74.
v
European Stability Initiative (ESI), Western Balkans 2004. Assistance, Cohesion and the New Boundaries of
Europe. A Call for Policy Reform (Berlin, Nov. 2002)
vi
Wim van Meurs / Alexandros Yannis, The EU and the Balkans: From Stabilisation to Southeastern
Enlargement (Gütersloh 2002).
vii
Andreas Wittkowsky, Stability through Integration? South Eastern Europe as a Challenge for the European
Union (Bonn 2000). Wim van Meurs, The Next Europe. South-Eastern Europe after Thessaloniki, in: South East
Europe Review for Labour and Social Affairs 5/3 (2003), S. 9-16.
viii
The Balkans and New European Responsibilities (Gütersloh 2000).
ix
Ivan Krastev, The Inflexibility Trap ... (vgl. Fußnote 3).
x
Marie-Janine Calic, Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess auf dem Prüfstand. Empfehlungen für die
Weiterentwicklung europäischer Balkanpolitik, SWP-Studie 33 (Berlin 2004).
xi
European Stability Initiative (ESI), The Helsinki Moment. European Member-State Building in the Balkans
(Berlin, Febr. 2005).
xii
Karl Lamers / Peter Hintze / Klaus-Jürgen Hedrich, Eine Perspektive für den Balkan – Überlegungen für eine
Südost-Europäische Union (Berlin, Juni 2001).
9
xiii
Florian Bieber, Institutionalising Ethnicity in the Western Balkans: Managing Change in Deeply Divided
Societies (Flensburg 2004).
xiv
Nicholas Whyte, The Macedonian Framework Document and European Standards, in: Centre for European
Policy Studies (CEPS) Europa South-East Monitor 26 (Aug. 2001).
xv
Vgl. den Antrag des MdB Rainer Stinner für Kosovo als EU-Treuhandgebiet (Deutscher Bundestag,
Drucksache 15/2860, 31. März 2004); Wim van Meurs, Kosovo’s Fifth Anniversary – On the Road to Nowhere?,
in: Global Review of Ethnopolitics, 3/3-4 (2004), S. 60-74.
xvi
Kai Eide, The Situation in Kosovo. Report to the Secretary-General of the United Nations (Brüssel 2004).
xvii
R. Nicholas Burns, „Kosovo: Current and Future Status“ (18.05.2005) www.state.gov/2005/46471.htm.
xviii
Beta (18.05.2005)

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