Gehen Sie einfach rein, hier ist der Code
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Gehen Sie einfach rein, hier ist der Code
SEITE R 6 · DONNERSTAG, 21. APRIL 2016 · N R . 9 3 Reiseblatt F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G Kann ich mal Ihre Wohnung sehen? Cleveland Gehen Sie einfach rein, hier ist der Code Text und Fotos Naomi Schenck Vor einem Kurzbesuch in Cleveland versprach ich meiner Zahnärztin, ein kleines Gemälde des Künstlers Seth Chwast mitzubringen, das sie online auf einem Portal für Outsider-Art erworben hatte. Kurz vor meiner Ankunft teilte mir Debra, die Mutter des Künstlers per E-Mail mit, Seth und sie hätten beschlossen, ihren Aufenthalt auf den Kaimaninseln zu verlängern, es sei deshalb niemand da, um mich in ihrem Haus in den Cleveland Heights zu empfangen. Mit einem sechsstelligen Code könne ich aber ganz einfach die Alarmanlage ausschalten und die Tür öffnen. Das Bild läge bereit, in Folie verpackt, auf dem großen Tisch im Atelier unterm Dach. Die entwaffnende Art mancher Amerikaner, einen mit Pragmatismus, Offenheit und Vertrauensvorschüssen zu verblüffen, ist mir immer mal wieder aufgefallen und genauso auch die positive Wirkung auf meine Gemütslage, die sich daraufhin einstellt. Auch jetzt wieder, als ich am verabredeten Nachmittag meinen Kurierdienst antrete. Unterwegs erfahre ich von meinem Taxifahrer, einem leutseligen Patrick-Swayze-Typ, dass der riesige Eriesee, an den sich die Stadt Cleveland schmiegt, durch Verpestung lange Zeit „Das Tote Meer von Nordamerika“ genannt wurde und sogar mehrfach gebrannt habe. Offiziell nach den Erie-Indianern benannt, sei die eigentliche etymologische Erklärung viel einfacher: Eerie . . . unheimlich . . . Auf dem Grund lie- gen noch immer versenkte Schiffe aus dem Britisch-Amerikanischen Krieg, der ersten Seeschlacht, die die Amerikaner gegen die Briten gewonnen haben. Das war 1813. Gerade mal sechzig Jahre bevor John D. Rockefeller sich in Cleveland niederließ, um von hier aus sein Öl-Imperium aufzubauen. Sein Haus stand in der Euclid Street, und seine Gärten zogen sich weit in die Gegend, die heute Cleveland Heights genannt wird: ein wohlhabender Vorort, mit ruhigen, breiten, von Eichen gesäumten Straßen, weitläufigen Vorgärten und historisch inspirierten Steinhäusern. Auf der Suche nach der richtigen Hausnummer rollen wir im alten Taxi langsam vorbei. Das gesuchte Haus liegt auf einer sanft ansteigenden Wiese. Roter Backstein mit TudorTürmchen und Fachwerkmuster rund um die bleiverglasten Erkerfenster. Leise piepsend bestätigt der Code meine Eingabe, die schwere Rundbogentür springt surrend auf. In der Eingangshalle spiegelt blankgebohnertes dunkles Parkett das Nachmittagslicht der vielen kleinen Fenster. Meine Kamera hängt mir um die Schulter, und ich halte sie eisern, als könnte sie mir helfen, falls in dem fremden Haus, das trotz der eingeschalteten LED-Beleuchtung schummrig wirkt, eine Gefahr drohen sollte. Debra hatte gesagt, ich solle mich ruhig umschauen und Fotos machen: „We have four floors full of art!“ Vier Etagen voller Kunst. Ich hatte mich im Vorfeld nicht weiter mit Seth Chwasts Arbeit auseinandergesetzt, vielleicht auch weil ich manchmal meine, die Dinge intensiver zu erleben wenn ich unvorbereitet bin; so freue ich mich jedes Mal, wenn es mir gelingt, im Kino von einem guten Film überrascht zu werden, über den ich zuvor nicht das Geringste wusste. Alles was ich jetzt weiß, ist, dass Seth 33 Jahre alt ist und Autist. Das erste Bild, das ich sehe, hängt im Salon, fast wandfüllend, über dem Sofa: ein blaues Pferd im Profil, so groß, dass der Kopf fast die Decke berührt, stabil auf seinen vier Beinen stehend, mit einem langen Schweif, der wie ein fünftes Bein im Boden verwurzelt scheint. Das Pferd fasziniert mich, seine Starrheit, seine Einfachheit, der freundliche Gesichtsausdruck. Als ich mich umdrehe, schauen mich sechs als Block montierte Portraits an. Sie füllen die Wand über dem anderen Sofa komplett aus. Einfarbig, frontal, mit starken Kontrasten. Die Gesichter haben etwas Archaisches, wie afrikanische Masken, aber wirken auch irgendwie futuristisch, roboterhaft. Ich reiße mich los, zunächst einmal will ich meinen Auftrag erfüllen, also nach oben über die Freitreppe, an der sich gepflegte, glänzende Grünpflanzen entlangranken, über Perserteppiche, vorbei an indischen Wandbehängen und Vier Etagen voller Kunst – und alles selbst gemalt: Die liebsten Motive sind Seth Chwast Pferde in allen Größen und Farben sowie das eigene Konterfei, gern auch in Serie. asiatischen Skulpturen, an offen stehenden Schlaf- und Gästezimmern, mit Büchern vollgestapelt bis unter die Decke, Nischen voller gerahmter Familienfotos und Sammlungen von Muscheln auf niedrigen Tischen; und immer wieder sehr farbige Gemälde derselben naiven, ausdrucksstarken Handschrift: Vögel, Blumen, Wimmelbilder. Freie Abstraktionen. Ein wandfüllendes Selbstportrait Seths über einem mit Quilt bedeckten Kingsize-Bett. Hier stehen vorm Fenster auch ein paar Pferdeskulpturen, die möglicherweise als Vorlage dienten. Das helle Dachgeschoss erstreckt sich von einer Seite des Hauses zur anderen, darin ein beinahe ebenso langer Tisch. Da liegt das eingepackte Bild und darauf ein Buch von Debra Chwast: „An unexpected life“. Die Geschichte einer Mutter und ihres Sohnes. Wieder unten, im holzvertäfelten Salon, setze ich mich mit dem Buch in einen Sessel. Sie sei gespannt, hatte Debra mir per E-Mail geschrieben, wie Seths Kunst auf mich wirke. Intensiv und ruhig, denke ich. So wie das Pferd eben, von dem ich den Blick nicht losreißen mag. In meiner Heimatstadt, in Mülheim, auf einer Wiese, auf halbem Weg von unserem Haus zum Haus meiner Großeltern, da war das Pferdedenkmal, ein steinernes Mahnmal für die letzten dort gesichteten Wildpferde. Die drei Pferde waren in einer Galoppbewegung dargestellt, die wehenden Mähnen und Schweife versteinert, in den hohen Sockel waren unleserliche Buchstaben eingeritzt. Jedes Mal, wenn wir dort vorbeigingen – ich war noch ein Kind –, verspürte ich die starke Sehnsucht, obendrauf zu sitzen und auf den Pferden zu reiten. Einmal hob mich ein Erwachsener auf den Rücken des mittleren Pferdes. Doch in dem Moment wurde mir schon langweilig, weil sich nichts bewegte. Der Stein war hellgrau und porös. Ich zucke zusammen wegen des mannsgroßen Schattens, der plötzlich außen hinter den gelblichen Fensterscheiben aufgetaucht ist. Der Taxifahrer. Ich hatte ihn völlig vergessen. Auch die Zeit hatte ich vergessen. Er presst sich mit seiner umgedrehten Baseballkappe ans Glas. Ich bin versucht, weiter reglos sitzen zu bleiben, einfach nicht zu reagieren. Er hat mich auf dem Sofa entdeckt, sein Blick bleibt auf mir haften, das spüre ich durch die trüben Fenster hindurch. Aber es dauert noch eine Weile, bis ich mich rühre, den Arm hebe, als Zeichen, dass ich gleich komme.