Vokale Improvisation im Klassenzimmer am Beispiel

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Vokale Improvisation im Klassenzimmer am Beispiel
Martin Eibach / Stefanie Anzenhuber
Vokale Improvisation in der Sekundarstufe I am Beispiel
von Gerhard Rühms, "die winterreise dahinterweise"
Der erste Schritt zur produktiven Eigentätigkeit
Bereits im 18. Jahrhundert wies Jean-Jacques Rousseau mit seinem Erziehungsroman "Emile"
auf die zentrale Bedeutung der Eigentätigkeit als einer elementaren Grundlage für die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen hin. Diese Erkenntnis blieb sowohl in der allgemeinen Pädagogik als auch in der Musikerziehung lange unbeachtet. Erst in den 20er Jahren
des 20. Jahrhunderts kam "die produktive Selbsttätigkeit und das Schöpferische als Grundsatz
der Musikerziehung" 1 durch die Reformpädagogen wieder stärker ins Bewusstsein. Seither ist
die musikalische Improvisation ein wichtiger Bestandteil der musikalischen Erziehung, was
Auswirkungen sowohl auf deren Inhalte und Ziele als auch auf Arbeitsformen und -mittel
hat. 2
Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung
2.1 Theoretische Grundlagen
2.1.1 Zum Begriff Improvisation
Rainer Eckhardt definiert „musikalische Improvisation“ als eine „Musizierweise (...), bei der
aktuelle Klangvorstellungen, also musikalische Gedanken und Ideen, während ihrer Entstehung oder unmittelbar im Anschluss vokal und/oder instrumental verwirklicht werden und
individuell oder kollektiv zu einer erklingenden musikalischen Gestaltung ausgebaut werden.
Aufgrund der zeitlichen Nähe folgt diese Gestaltung nicht nur den Klangvorstellungen, sondern kann auch auf diese erweiternd oder modifizierend zurückwirken. Im Verlauf der Impro-
1
Kramer, Wilhelm (1997): Musik erfinden. In: Helms, Siegmund/Schneider, Reinhold/Weber (Hg.) (1997): Handbuch des Musikunterrichts – Sekundarstufe I, Kassel (Bosse), S. 335
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visation können Klänge oder Klangfolgen, die von der zugrude liegenden musikalischen
Spielidee abweichen (...), ebenso wie beabsichtigte oder zufällige Beiträge der Mitspieler,
aber auch akustische Ereignisse aus der Umgebung produktiv verarbeitet werden und die Gestaltung bereichern.“ 3 Je nach Ausmaß des Bezuges auf zuvor wahrgenommene und verarbeitete Musik oder Klänge ist somit zwischen Improvisation und Reproduktion zu unterscheiden.
Der Prozess des Erfindens von Musik lässt sich aus der Perspektive der Kreativitätsforschung
in vier Phasen teilen:
•
Vorbereitung,
•
Inkubation (innere Auseinandersetzung durch Umstrukturierung und unzensiertes
Ausprobieren),
•
Illumination (Auftauchen der Idee) und
•
Verifikation (Prüfung und Ausarbeiten einer Lösung). 4
Der Prozess des „Erfindens von Musik“ hängt dabei sowohl von der kreativen Produktivität
als auch vom handwerklichen Können ab.
2.1.2 Das musikalische Material
Eine wichtiges Moment für die Anleitung zum Improvisation ist die Auswahl des zur Verfügung stehenden Materials. Kriterien hierfür sind neben dem individuellen Geschmack, der
bereits eine Grenze aufgrund des Gefallens setzt, vor allem der didaktische Zweck, der mit
der jeweiligen Aufgabe verbunden ist. In der Praxis haben sich unterschiedliche Strategien
der Materialauswahl für den Einstieg bewährt:
1) Einfache Schalleffekte oder auch Klangereignisse (z.B. zur akustischen Nachahmung
einer Gewitterszene oder für die Gestaltung einer „Geräuschmaschine“) können, gerade weil sie ohne Metrik und konventionelles Tonsystem auskommen, die produktive
Kreativität steigern, aber auch „das musikbezogene Vorstellungsvermögen anrei-
2
ebd.
3
Eckhart, Rainer (1995): Improvisation in der Musikdidaktik, Augsburg (Wißner), S.15.
4
Müller, Otto-Walter (1998): Intelligenz, Begabung und Kreativität. In: Bovet, Gislinde/Huwendiek (Hg.)(1998):
Leitfaden Schulpraxis. Pädagogik und Psychologie für den Lehrberuf. 2. Aufl., Berlin (Cornelsen), S. 387-408.
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chern.“ 5
2) Die Verwendung eines überschaubaren Tonvorrats einer spezifischen Musikkultur
(z.B. Gamelan-Musik, Jazz, Blues oder Epochen, wie dem Impressionismus) hilft dabei, die Übersicht beim Einstieg nicht zu verlieren. Nach und nach kann dann das
Tonmaterial der traditionellen Dur-Moll-Tonalität z.B. um pentatonische Skalen oder
Ganztonleitern erweitert werden. 6 Möglich ist auch die Beschränkung des Skalenmaterials auf nur wenige Töne, kurze Patterns oder einfache Rhythmen. Dies gibt dem
Schüler schneller eine gewisse Sicherheit mit dem musikalischen Material, gleichzeitig eröffnet die Materialreduzierung die Chance, dass die Phantasie im Umgang mit
ihm gefördert wird. Zu beachten ist allerdings, dass eine bestimmte Flexibilität des
Materials erhalten bleibt, um ein mögliches „Festfahren“ zu verhindern.
3) Eine dritte Möglichkeit des Einstiegs beschreibt Renate Brandmüller. Ihrer Überzeugung nach erleichtert ein mehrdimensionaler, fächerübergreifender Ansatz Kindern
häufig den Zugang zur Improvisation. Durch die Bereitstellung einer Fülle an Darstellungsmöglichkeiten wie z.B. Poesie, Tanz, Gesang, Rollenspiele oder ähnliches wird
die Phantasie und Kreativität der Improvisierenden besonders angesprochen. Vorbilder für diesen Ansatz sind Multimedia- und Integrationsmodelle (z.B. Film oder Theater). 7
2.1.3 Ziele der Improvisation in der Musikpädagogik
Die Improvisation nimmt in der heutigen Musikpädagogik aus zweierlei Gründen eine wichtige Rolle ein: Einerseits als Methode zur Förderung musikalischer Lernprozesse, andererseits
als deren Zielpunkt, im Sinne eines aktiven, selbstbestimmten und kreativen Umgangs mit
musikalischem Material. So oder so lässt sich Improvisation als eine intensive Form des lernenden Umgangs mit Musik auffassen. Dazu zählt als erster Schritt die Vermittlung von Ba-
5
Eckhardt, Rainer (2000): Nichts als Fragen? – Musikalische Improvisation in der Schule. In: Terhag, Jürgen
(Hg.) (2000): Populäre Musik und Pädagogik 3 – Orale Musiktradierung, Musiktheorie, Improvisation, Mediale
Lebenswelten, Oldershausen: Lugert Verlag, S. 482-191.
6
Vgl. Kramer, Wilhelm a.a.O., S. 340.
7
Vgl. Nimczick, Ortwin (1997): Erfinden von Musik. In: Helms, Siegmund/Schneider, Reinhold/Weber (Hg.):
Handbuch des Musikunterrichts – Sekundarstufe II, Kassel: Bosse, S. 183-184;
Kramer, Wilhelm (1997): Musik erfinden. In: Helms, Siegmund/Schneider, Reinhold/Weber (Hg.): Handbuch des
Musikunterrichts – Sekundarstufe I, Kassel: Bosse, , S. 340-343.
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siswissen und Hörfähigkeit. Die zweite Ebene, Improvisation als Lernziel, führt zu einer Erweiterung des Verständnisses für bestimmte Musikwerke und -stücke. Des Weiteren kann
sich beim Schüler „ein allgemeine[s] Verständnis für künstlerisch-musikalisches Schaffen“ 8
entwickeln.
2.1.4 Die Rolle des Musiklehrers
Da die produktive Hauptaufgabe beim Schüler selbst liegt, hat der Lehrer nur eine vermittelnde Rolle. Er sollte gestalterische Hilfen geben, die die Schüler ermutigen, eigenständig improvisatorische Möglichkeiten zu erkunden. „Es geht […] insgesamt darum, gestalterische
Ideen freizusetzen und die Energien aufzuspüren und zu bündeln, die zu ihrer Realisierung
notwendig sind." 9 Dabei liegt die Hauptaufgabe des Lehrers in der Vorbereitung des Umfelds
für die Improvisationsarbeit. Während der Improvisation sollte er sich möglichst zurückhalten, um ein experimentelles Klima zu erlauben, in dem sich Gruppenprozesse möglichst frei
entfalten können. 10
2.2 Umsetzung der vokalen Improvisation
2.2.1 Überlegungen zur Sprachimprovisation
Während die instrumentale Improvisation ein inzwischen etabliertes Element des Musikunterrichts darstellt, ist die Improvisation mit der Stimme vielen Lehrern noch fremd, 11 obwohl die
menschliche Stimme das voraussetzungsloseste und am vielseitigsten einsetzbare Instrument
ist. Bereits in der Antike war die Musik immer eng mit der Sprache verbunden. Der Vortrag
von Texten ist durch ähnliche Begrifflichkeiten wie die Gestaltung von Musik gekennzeichnet: Wir sprechen z.B. vom Sprachrhythmus, Sprachmetrik und Sprachmelos.
Eine Herausforderung bei der vokalen Improvisation liegt darin, dass viele Schüler es heute
8
Kramer, Wilhelm (1997): Musik erfinden. In: Helms, Siegmund/Schneider, Reinhold/Weber (Hg.): Handbuch des
Musikunterrichts – Sekundarstufe I, Kassel: Bosse, S. 340.
9
Vgl. Kramer a.a.O., S. 343.
10
Vgl. Jahnz, Rolf (1991): Zurück in die Zukunft – Experimentelle Lyrik im Musikunterricht mit lmprovisationsmodellen aus den siebziger Jahren. In: Musik und Unterricht 8/1991, S. 21; Vgl. Kramer, Wilhelm (1997): Musik
erfinden. In: Helms, Siegmund/Schneider, Reinhold/Weber (Hg.): Handbuch des Musikunterrichts – Sekundarstufe I, Kassel: Bosse, S. 341-343.
11
Vgl. Jahnz, Rolf (1991): Zurück in die Zukunft – Experimentelle Lyrik im Musikunterricht mit lmprovisationsmodellen aus den siebziger Jahren. In: Musik und Unterricht 8/1991, , S. 21.
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nicht mehr gewohnt sind, spontan mit ihrer Singstimme umzugehen. Es bereitet ihnen
Schwierigkeiten, durch das Singen Emotionen oder auch musikalischen Ausdruck zu zeigen,
da ihnen bereits das Singen an sich Probleme bereitet. Daher ist es zumeist sinnvoll über die
Sprechstimme einen Zugang zur vokalen Improvisation zu finden. Doch auch dieser bedeutet
ein gewisses Maß an Überwindung für den Schüler. 12
2.2.2 Anregungen aus der Literaturgeschichte
Dadaistische Texte, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts
entstanden, sind geradezu eine Fundgrube für Anregungen
und Ideen zur Sprachimprovisation. In dieser Literaturströmung haben Zufallsmomente und Spontanität einen
hohen Stellenwert. Zudem führt die Denkweise des Dadaismus von der Idealform des Gedichts weg und hin zum
Lautgedicht. Es steht also nicht mehr der Sinngehalt der
Worte im Vordergrund sondern deren Klang und Rhythmus. Auf diese Art und Weise sprechen z.B. in simultanistischen Gedichten mehrere Sprecher gleichzeitig ihre
Abbildung 1: Hugo Balls Gedicht eigenen Texte „wie in einem polyphonen Vokalwerk." 13
"Karawane"
Hugo Ball (1917)Dies ist meistens bereits in der Form des Gedichts wieder
zu erkennen, bei der die Worte häufig ähnlich einer Collage zusammengefügt sind. 14
Zur Veranschaulichung kann Hugo Balls vielzitiertes Lautgedicht „Karawane“ (siehe Abb. 1)
von 1921 dienen. 15 Ball verzichtet völlig auf sinnerfüllte Wörter, und baut durch Schriftbild
und Lautmalerei auf eine assoziative Wirkung beim Zuhörer.
Aus dem Dadaismus entwickelte sich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine weitere
Richtung, die konkrete und visuelle Poesie, welche ebenfalls für den Musikunterricht neue
12
Vgl. Schmitt, Rainer (1992): Konkrete und visuelle Poesie, Mittler zwischen Sprache und Musik. In: Musik und
Unterricht 12/1992, S 24; Vgl. Gellrich, Martin (1995): Förderung des musikalischen Ausdrucks durch die Arbeit mit Stimme und Gestik. In: Musik und Unterricht 34/1995, S. 22-23.
13
Rötzer, Gerd Hans (1992): Geschichte der deutschen Literatur – Epochen, Autoren, Werke, Bamberg: Buchners Verlag, S.328.
14
Vgl. http://www.krreEkrefeld.schulen.net/referate/deutsch/r07I9t00.htm; Vgl. Rötzer, Gerd Hans (1992): Geschichte der deutschen Literatur – Epochen, Autoren, Werke, Bamberg: Buchners Verlag, S.327-328.
15
Zu Einsatzmöglichkeiten im Musikunterricht vgl. Schmitt, Rainer (1992): Konkrete und visuelle Poesie – Mittler
in Sprache und Musik. In: Musik und Unterricht 12/1992, S 25.
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Anregungen liefern kann. „Die konkrete Poesie ist eine Richtung innerhalb der modernen
Lyrik, welche die phonetische, visuelle und akustische Dimension der Sprache als literarisches Mittel verwendet." 16 Als hervorragende Beispiele lassen sich hier beispielhaft das Gedicht „lauter leise leute" von Ernst Jandl oder Gerhard Rühms Gedicht, „jetzt" nennen. Beide
Texte fordern durch ihre Form zu einer dynamischen und improvisatorisch-räumlichen Umsetzung heraus. 17
Gerhard Rühm komponierte auf Anregung des Festivals des "steirischen herbstes" 1990 nach
dem Vorbild des Liederzyklus „Die Winterreise“ von Franz Schubert in einer „literarischradiophonen Auseinandersetzung“ 18 das Stück „die winterreise dahinterweise - ein Zyklus
von Zwölf Hörbildern.“ 19 Rühm hatte bei dieser Komposition die Idee, den Sprachklang der
Winterreisentexte Wilhelm Müllers beizubehalten. Daher ersetzte er Müllers Worte durch
Worte, bei denen der Vokalklang und soviel wie möglich des Konsonantenklangs erhalten
blieb. „[D]ie auf diese weise eigentümlich verzerrt wirkende klanggestalt der gedichte signalisiert eine halluzinative aussageschicht, die "dahinter", nämlich hinter den originalworten, zu
liegen scheint und sie zugleich konterkariert." 20 Die Wahl der Wörter steht im assoziativen
Zusammenhang der Klangstimmung des jeweiligen Stückes. Zur Verdeutlichung der Vorgehensweise von Gerhard Rühms folgt eine Gegenüberstellung der beiden Gedichte:
Wilhelm Müller: Der Leiermann
Gerhard Rühm: der geile bann
Drüben hinterm Dorfe
Steht ein Leiermann
Und mit starren Fingern
Dreht er was er kann.
Hügel in den koffer
näht ein geiler bann
stunden harren schlingern
zehrt der schattendrang
Barfuß auf dem Eise
Wankt er hin und her
fahrlust auf die reise
16
Vgl. http://virtuelleschuledeutsch.at/literatur3/ly_konkret_vtfg.htm.
17
Vgl. Schmitt, Rainer (1992): Konkrete und visuelle Poesie – Mittler in Sprache und Musik. In: Musik und Unterricht 12/1992,, S. 26-27.
18
http://www.kunstradio.at/2005A/13_02_05.html.
19
Vgl. http://www.kunstradio.at/2005A/13_02_05.html.
20
Rühm, Gerhard (o.J.): Die winterreise dahinterweise. Internet: http://www.kunstradio.at/2005A/13 02 05.html
(21.1.2006)
http://www.schott4music.com/netzspezial/; 01.02.2006
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.
dankt beginnend schwer
mund weint weiche fälle
treibt geflimmer her
Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an,
Und die Hunde knurren
Um den alten Mann.
deine fragen stören
leine zieht am bann
um die wunde lungern
stumme fallen dann
Und er läßt es gehen,
Alles wie es will,
Dreht, und seine Leier
Steht ihm nimmer still.
runder pressen wehen
bald des zieles bild
weht um steine geier
bläht die zimmer wild
Wunderlicher Alter !
Soll ich mit dir geh'n ?
Willst zu meinen Liedern
Deine Leier dreh'n ?
kunde lichter falter
groll im stille steh'n
schwillt zu steilen zittern
geiles beine seh'n
Rühm verbindet in seiner Komposition „die winterreise dahinterweise“ die Schubert'schen
Vertonung mit der gesprochenen Neutextierung und kombiniert sie mit Geräuschen, die die
Stimmung des Stückes unterstreichen. 21 Im Hintergrund hört man Wasserplätschern und
Windgeheule. In der im Internet präsentierten Radiofassung spricht der Komponist den Text
sehr ruhig und einheitlich ohne großen emotionalen Ausdruck. 22
2.2.4 Kreative Umsetzung am Beispiel „der geile bann" von Gerhard
Rühm
Die Begegnung mit der kompositorischen Idee Rühms in „die winterreise dahinterweise“
kann im Musikunterricht der Sekundarstufe I als Impuls dienen, eigene Sprachimprovisationen zu den Texten Wilhelm Müllers zu erstellen. Ein Beispiel aus der Arbeit mit Studierenden
der Schulmusik sei an dieser Stelle exemplarisch vorgeführt.
21
Vgl. http://www.kunstradio.at/2005A/13 02 05.html
22
Eine Tonaufnahme findet sich unter http://stream.sil.at:7562/content/2005A/13 02 05.mp3
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Stefanie Anzenhofer, eine Studentin an der Hochschule für Musik Würzburg, hat sich bei
ihrer Vorgehensweise an Gerhard Rühms Beschreibung seines Stückeaufbaus orientiert. Beim
wiederholten Anhören des Stückes „Der Leiermann“ von Schubert dachte sie spontan an eine
verwitterte, alte Holzbank, die bei Wind und Wetter in einem verwahrlosten Schrebergärtchen
steht. Mit dieser gedanklichen Vorstellung versuchte sie eine Neutextierung zu finden, bei der
ebenfalls Vokale und weitestgehend die Konsonanten erhalten bleiben:
Stefanie Anzenhofer: die zweierbank
trüber in der sorge
kräht die zweierbank
wunden starren drinnen
bretter krasser an
ruhm verblasst bestehnd
kaltes wider will'
weht stund' keiner zweier
stetig schimmernd' ziel
zart muss laufen leise
rankt er blind und leer
runzeln greinen greller
treibt gewimmer schwer
und zerbricht erkaltet
völlig sitz vergeh'nd
fühlst du deine glieder
weinend leiden seh'n?
steine lagen öder
weiter zieh'n in bann
um die hundert spuren
ruhm der alten bank
Wie Rühm verwendete sie als Hintergrundmusik Franz Schuberts „Der Leiermann“ und kombinierte dies mit Wind- und Regengeräuschen, die in ihrer Assoziation sofort mit aufgetreten
waren. Diese Geräusche enden wie in der Version von Gerhard Rühm erst mit dem Ende der
Schubertschen Vertonung. Auch bei der Sprechweise hat sie sich stark am Vorbild des Texts
„geiler bann“ orientiert.
2.2.5 Möglichkeiten zur Umsetzung im Musikunterricht
Schülern fällt es vermutlich leichter einen vorgegebenen Text in einer Instrumental- oder Vokalimprovisation zu verarbeiten, als einen eigenen Text zu kreieren. Dies gilt besonders, wenn
die Beibehaltung der Vokale und bestmöglich auch der Konsonanten gefordert ist. Eine solche Aufgabe erfordert viel Kreativität und Zeitaufwand von den Schülern. Man sollte deshalb
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einige Abstriche bei den „Kompositionsregeln“ machen, zum Beispiel nur die Beibehaltung
der Vokale fordern. Eine weitere Schwierigkeit für die Umsetzung kann sich daraus ergeben,
dass der Dadaismus in einigen Lehrplänen für das Fach Deutsch nicht enthalten ist. Den
Schülern wird deshalb der zeitgeschichtliche Hintergrund fehlen, was zu Verständnisproblemen führen kann. Um dieses Problem zu entschärfen, empfiehlt sich im Vorfeld eine Einführung in diese Literaturströmung (evtl. Kooperation mit dem Fach Deutsch). Hilfreich ist es
auch, wenn das gewählte Gedicht oder der gewählte Text zunächst im Deutschunterricht behandelt wird.
Falls der Lehrer die als Vorlage dienende Vokalkomposition nicht aus dem Bereich des klassisch-romantischen Repertoires, sondern aus der Pop- oder Rockmusik wählt, sollte darauf
geachtet werden, dass der Text deutschsprachig ist, da ansonsten die Vokalunterschiede in
den unterschiedlichen Sprachen zu zusätzlichen Schwierigkeiten führen können. Sollte dennoch ein englischsprachiger Text gewählt werden, bietet sich die Zusammenarbeit mit Fach
Englisch an.
Eine Arbeitserleichterung ergibt sich, wenn Vokalkompositionen mit Refrain gewählt werden,
da dann nur die Strophen neu textiert werden müssen.
Die Bestimmung der richtigen Arbeitsgruppengröße ist nicht einfach. Je mehr Schüler beieinander sind, desto schneller fällt sicherlich jemandem ein entsprechendes Wort ein. Allerdings
wächst mit der Zahl der Gruppenmitglieder die Gefahr, dass sie sich nicht auf eine Assoziation einigen können oder einer sich aus der Verantwortung stielt.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Ansatz Rühms für den Musikunterricht ein wirkungsvoller Einstieg in die Thematik der vokalen Improvisation mit Schülern ist, da hier alle
drei geforderten Ziele der Improvisation berücksichtigt werden: Es wird Basiswissen der Musik gelernt wie zum Beispiel der Aufbau eines romantischen Kunstliedes und das Hörverständnis. Eine Förderung der Persönlichkeits- und Wertevermittlung erfolgt durch die intensive Zusammenarbeit der SchülerInnen. Außerdem sind wir überzeugt, dass diese Form der
Improvisation ein hohes Maß an Kreativität bei den SchülerInnen freisetzen kann.
Bei einer Umsetzung erscheint es sinnvoll, diesen Vorschlag zur vokalen Improvisation in ein
längeres fächerübergreifendes, vielleicht sogar einen ganzen Jahrgang umfassendes Projekt
einzufügen, an dem auch Deutsch- und Kunstlehrer beteiligt sind. Dieses Projekt könnte in
einer großen Präsentation enden, um den Schülern einen weiteren Anreiz zu bieten.
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Literaturverzeichnis:
Eckhart, Rainer (1995): Improvisation in der Musikdidaktik, Augsburg (Wißner).
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Gellrich, Martin (1995): Förderung des musikalischen Ausdrucks durch die Arbeit mit Stimme und Gestik. In: Musik und Unterricht 34/1995, S. 22-24.
Hyro-Mediaservice E.K.: Hugo Ball – Karawane,
<http://www.gedichteforen.de/archive/465/thread.html> 01.05.2005
Jahnz, Rolf (1991): Zurück in die Zukunft – Experimentelle Lyrik im Musikunterricht mit
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Kunstradio: Gerhard Rühm, <http://www.kunstradio.at/BIOS/ruehmbio.html> (01.05.2005)
Kunstradio: KUNSTRADIO 12. Juni 1997, <http://www.kunstradio.at/1997A/12_6_97.html>
01.05.2005
Kunstradio: KUNSTRADIO - RADIOKUNST SONNTAG, 13. Februar 2005,
http://www.kunstradio.at/2005A/13_02_05.html mit
<http://stream.siI.at:7562/content/2005A/13_02_05.mp3> 01.05.2005.
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Roscher, Wolfgang (1978): Improvisation. In: Gieseler, Walter (Hg.) (1979): Kritische
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Schmitt, Rainer (1992): Konkrete und visuelle Poesie – Mittler in Sprache und Musik. In:
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Vogt, Jürgen (2004): (K)eine Kritik des Klassenmusikanten. Zum Stellenwert Instrumentalen
Musikmachens in der Allgemeinbildenden Schule.
<http://home.arcor.de/g/zfkm/vogt7.pdf>
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Poppernitsch, Brigitte: LYRIK des 20. Jhdt. Vertiefung Konkrete Poesie,
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Margo Briessinck: Winterreise – Song Text,
<http://www.gopera.com/winterreise/songs/cycle.mv> 01.05.2005
Schubert, Franz: Lieder– Volume III, Deutsche Grammophon, Hamburg (1972)
http://www.schott4music.com/netzspezial/; 01.02.2006

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