`DER BARMHERZIGER SAMARITER` VON LISBETH ZWERGER

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`DER BARMHERZIGER SAMARITER` VON LISBETH ZWERGER
Religionspädagogisches Institut Loccum
Bild: Marco Görlich / pixelio.de
'DER BARMHERZIGER SAMARITER'
VON LISBETH ZWERGER
Vorbemerkung
Das Bild zur Geschichte vom barmherzigen Samariter
ist der „Bibel mit Bildern von Lisbeth Zwerger“
entnommen, für die die Künstlerin im Jahr 2002 den
vom Gemeinschaftswerk Evangelischer Publizistik
(GEP) ausgeschriebenen Illustrationspreis für Kinder
und Jugendbücher erhielt.
Bildbeschreibung
Der Hintergrund des Bildes zeigt eine kahle, triste
Hügellandschaft in braun-grauen Farbtönen. Die
vereinfachten Formen und Flächen werden nur durch
wenige horizontale Linien strukturiert. Im oberen Teil
des Bildes sind die Farben der Landschaft heller als
im unteren Teil. Am rechten oberen Rand öffnet sich
der grau-weiße Horizont des Himmels.
Durch die Horizontale zieht sich ausgehend von der
rechten unteren Ecke in einem weiten nach links
führenden Bogen ein Weg - wie ein rot-braunes
Band - durch die Landschaft. Er endet in der Ferne
der Hügel.
Auf diesem klar abgegrenzten Weg befinden sich
mehrer Personen und Gegenstände. Unübersehbar
Der barmherziger Samariter von Lisbeth Zwerger - Buchillustration, Aquarell
im Vordergrund liegt exakt quer zum Weg ein Mann
auf dem Rücken. Kopf und Füße ragen über den
Weg hinaus. Als einziges Kleidungsstück trägt er eine schlichte dunkle Alltagshose. Die Augen des Mannes sind
verschlossen. Eine Gesichtshälfte scheint mit Blut verschmiert zu sein. Vor dem Mann liegt ein Wanderstab, der am
unteren Ende ebenfalls Blutspuren aufweist. Hinter dem Mann liegt geöffnet ein leerer Koffer, aus dem lediglich noch
ein unscheinbares Kleidungsstück heraushängt.
Mit großen Schritten voranschreitend sieht man dahinter eine Person. Sie trägt einen mit einem Pelzkragen und
Pelzärmeln besetzten langen blauen Mantel sowie eine Kopfbedeckung, die an einen wohlhabenden Kaufmann
erinnern kann. Dazu trägt die Person feste Schuhe und eine Hose, was aber durch die Rückenansicht nur
angedeutet bleibt. In einigem Abstand zu dieser Person geht ein geistlicher Würdenträger auf dem Weg. Er liest
vertieft in einem roten Buch. Sein überlanges reichlich verziertes goldgelbenes Gewand schleift über den Weg.
Durch das helle Licht im oberen Teil des Bildes wird die wertvolle Kleidung des Mannes noch einmal
hervorgehoben. Die Mitra und das weiße Unterkleid weisen den Mann als hohen christlichen Würdenträger aus.
Am Ende des im Horizont verschwindenden Weges stürmen zwei nur noch schwer zu erkennende Personen davon.
Der hintere von ihnen trägt ein Bündel mit Kleidungsstücken oder Tüchern im Arm. Außerhalb des Bildes stehen an
der unteren rechten Ecke einer Vignette ähnelnd drei verschiedenfarbige Gefäße: eine mit einem Korken
verschlossene braune Flasche, auf der ein rotes Kreuz zu erkennen ist, ein heller Kelch mit rotem Wein und ein
grüner Krug, der vermutlich Wasser enthält.
Bilderverständnis
Die Darstellung bezieht sich auf die berühmte biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37).
Jesus verschaulicht mit der Geschichte seinen Hörern, dass Nächstenliebe und Barmherzigkeit das Herzstück der
großen, grenzüberschreitenden Liebe Gottes sind.
Dem Bild Lisbeth Zwergers gelingt es aufgrund seiner ästhetischen und inhaltlichen Reduzierungen problemlos in die
Geschichte vom barmherzigen Samariter einzutauchen. Das „unter die Räuber gefallene“ Opfer“ liegt uns
unübersehbar vor den Füßen. Wer die biblische Geschichte kennt, identifiziert schnell die weiter beteiligten
Personen: Den Priester, der am Opfer vorbei ging, den Leviten, der ebenso handelte und die Räuber, über deren
Motive wir nie etwas erfahren werden. Doch das Bild entwickelt die Dramatik dieses Geschehens in einer eigenen
unverwechselbaren Weise. Der Mann, der „von Jerusalem nach Jericho hinab ging“, liegt wie ein Barriere auf dem
Weg. Der Wohlhabende, der eben den Weg entlang kam, muss über ihn hinweg gestiegen sein. Statt ihn dabei
anzusehen und ihm zu helfen, hat er offensichtlich über ihn hinweggesehen. Auch der Geistliche, der sich in sein
Gebets- oder Gottesdienstbuch vertieft hat, muss ähnlich gehandelt haben. Fast könnte er über den Verletzten
gestolpert sein, ohne ihn dabei wahrzunehmen. Kein Blick zurück und kein Blick nach vorn ist an ihm zu erkennen.
Den Räubern, die davonflüchten, ist er nicht auf der Spur. Sie zur Rechenschaft zu ziehen, könnte zumindest
Gerechtigkeit herstellen.
Im Ablauf der Geschehnisse, die sich auf dem roten-braunen Band aneinander reihen, gewinnt die Geschichte etwas
Zeitloses. Was Jesus erzählt ist nicht etwas Vergangenes, sondern etwas, was bis heute immer wieder geschieht.
Die gegenwartsbezogene Darstellung der Beteiligten hat dabei einen kritisch- provozierenden Charakter. Sowohl die
institutionelle Religion als auch die wohlstandsbezogene Gesellschaft sieht über die Opfer, die auf dem Weg liegen,
häufig hinweg. Die Gründe werden in der Symbolik des Bildes nur angedeutet. Sie machen aber deutlich, dass es
sich bei der Darstellung letztlich nur im vordergründigen Sinn um eine Illustration der biblischen Geschichte handelt.
Die Darstellung drängt vielmehr zu einer eigenen Beteiligung am Bild. Denn was zur traditionellen Darstellung der
biblischen Geschichte zählt, fehlt hier: das vorbildliche Handeln des Samariters selbst. In den Gemälden und
Zeichnungen zum Beispiel von van Gogh oder Rembrandt wird das hingebungsvolle Tun des Samariters immer mit
dargestellt. Das Bild von Lisbeth Zwerger stellt den Betrachter quasi selbst auf den Weg. Niemand anderes als er
bzw. sie ist der barmherzige Samariter - womit die Künstlerin nicht besser bei der biblischen Geschichte sein könnte
(Lukas 10,37)!
Rembrandt Harmensz. van Rijn 1632-1633,
Öl auf Holz, 27,5 × 21 London
Vincent van Gogh: Der gute Samariter 1890,
Öl auf Leinwand, 73 x 60, Otterlo
Damit wird deutlich, dass auch
die drei Gegenstände
außerhalb des Bildes keine
Beiläufigkeit sind. Symbolisch
verdichtet sich in ihnen die
Hilfe, die zugleich auf die
Ebene des Hier und Jetzt
übertragen wird. Um zu helfen
und Nächster zu werden bedarf
es der Tat! So wie in der
biblischen Erzählung soll sie
konkret und nachhaltig sein
(Lukas 10,34f).
Lisbeth Zwerger hat in vielen
ihrer Bilder sowohl Bezüge zur
Gegenwart als auch
interreligiöse Motive
eingebunden, so beispielsweise
in der feinsinnigen Darstellung
der Geschichte von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1-12)
oder auch in der Anbetung der Heiligen Drei Könige (Mt 2,1-2), die eine
Maria zeigt, wie sie in keiner traditionellen Überlieferung zu finden ist. (1)
Von dieser Freiheit und Weite
ist auch im Bild vom
barmherzigen Samariter etwas
zu spüren. Die rötliche Farbe
des Weges erinnert sowohl an
eine lange Geschichte von Leid
und Opfer als auch an eine
Tradition von Barmherzigkeit
und Liebe, die in allen großen
Kulturen und Religionen
verankert ist. Ihre
Menschlichkeit baut Brücken zu
Gott und den Menschen.
Bildeinsatz im Unterricht
Das Bild lässt sich u.a. zu
folgenden Themen einsetzen:
Nächstenliebe, Gebote, Diakonie, Zivilcourage, Gerechtigkeit.
Schülerinnen und Schüler werden das Bild in einem ersten Schritt schnell beschreiben können. Der Aufbau ist
einfach. Die Darstellungen sind gut erkennbar. Die weichen, teilweise sehr blassen Farben des Aquarells können
zunächst ungewohnt wirken, zwingen dann jedoch zum genauen Hinsehen. Da die Geschichte vom barmherzigen
Samariter Schülerinnen und Schülern zumindest teilweise bekannt sein dürfte, bietet es sich an, den biblischen Text
frühzeitig hinzuzuziehen. Hierbei können zentrale Begriffe, Ortsbezeichnungen und Personen besprochen werden.
Auf dem Hintergrund des Textes werden Vertrautes und „Befremdliches“ der bildlichen Darstellung um so stärker
hervortreten. Die künstlerische Auslegung der Geschichte kann produktiver Ausgangspunkt für eine eigene
Interpretation der biblischen Geschichte werden. Gerade der Versuch die Geschichte in die heutige Zeit zu
„übersetzen“ und mit „Beispielen von der Straße“ zu konfrontieren, kann viele Situationen aus der heutigen
Schülerwirklichkeit aufnehmen (2). Dabei werden die Schülerinnen und Schüler sich vermutlich in allen im Bild
vorgegebenen Rollen wieder finden können.
Neben Methoden wie Standbilder und Rollenspiel legt es sich nahe, besonders der offenen Rolle des barmherzigen
Samariters und seiner Motive nachzugehen. Den Aufforderungscharakter des Bildes ernst nehmend kann ein
konkretes zeitlich begrenztes Hilfsprojekt entwickelt oder unterstützt werden. Wichtigste Voraussetzung bleibt dabei
die Wahrnehmung von konkreter Not, die in einer Gesellschaft, in der Konkurrenz und Unrecht zur Gewohnheit
zählen, immer wieder geübt werden muss.
Anregend kann zudem der Vergleich mit anderen Bildern der Kunstgeschichte sein. (3)
Weitere Materialien:
„Tapferkeit im zivilen Bereich ist eine republikanische Tugend. Sie lebt vom Mut des Einzelnen in schwierigen
Situationen, wo es cleverer wäre, abzuwarten, zu schweigen oder wegzuschauen. Wir bezeichnen diese Tugend als
Zivilcourage. Zivilen Mut beweist, wer dem Opfer einer Gewalttat zu Hilfe eilt, selbst wenn er oder sie allein bleibt.
Zivil mutig handelt auch, wer trotz überwältigenden Konformitätsdruck auf seinen Ansichten und Prinzipien beharrt.
Zivilcourage wünscht sich Anerkennung, wer sie übt, ist allerdings in der Regel allergisch gegenüber dem
Heldenstatus, gegenüber Podesten und Denkmälern.“
aus: Christian Semler: Die vergiftete Tugend Tapferkeit, in: TAZ 7. Juli 2009, S.4.
Anmerkungen
1) Vgl. zum Beispiel das Bild „Anbetung der Heiligen Drei Könige“ vom Bamberger Nachfolger des Hans
Pleydenwurff, um 1470 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Nr. 133, in: Gabriele Harrassowitz: IM BILDE
SEIN, Schriften des Kunstpädagogischen Zentrums im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 1994; siehe auch:
artothek.rpi-virtuell.net/themenraeume/dreikoenige/index.htm
2) Siehe z. B. Den Unicef-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland 2013
http://www.unicef.de/presse/2013/kinder-in-deutschland/25812; auch
www.theoneminutesjr.org/index.php?thissection_id=10&movie_id=200600109
3) Vgl. Loccumer Pelikan 1/08, 15 in: www.rpi-loccum.de; siehe auch: Gerd-Rüdiger Koretzki/Rudolf Tammeus (Hg.):Religion
entdecken verstehen gestalten, 7/8, Göttingen 2001, S. 5-20
Literatur:
Deutsche Bibelgesellschaft/Verlag katholisches Bibelwerk (Hg.): Die Bibel mit Bildern von Lisbeth Zwerger, Stuttgart 2000
Friedrich-August von Metzsch: Menschen helfen Menschen. Der Barmherzige Samariter als Leitbild und in der Kunst,
Neuhausen-Stuttgart, 1998
UNICEF (Hg.): Mit den Augen der Kinder. Jugendliche aus dem Ruhrgebiet filmen zum Thema Kinderarmut in Deutschland, in:
www.unicef.de/3805.html