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Bevölkerungsforschung Aktuell (PDF, 755KB, Datei ist nicht
33. Jahrgang
Juli 2012
Bevölkerungsforschung
Mitteilungen aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
Editorial
Ausgabe 04/2012
Liebe Leserinnen und Leser,
nach den neuesten Daten des Statistischen
Bundesamtes ist auch im Jahr 2011 die
Zahl der Geburten in Deutschland weiter
zurückgegangen und damit auf einem historischen Tiefstand. Diese Entwicklung ist
nicht überraschend, da auch die Zahl der
potenziellen Mütter immer weiter zurückgeht, so dass auch künftig nicht von einem
spürbaren Anstieg der Geburtenzahlen auszugehen ist.
Wie sich diese Entwicklung auf das seit vier
Jahrzehnten konstant niedrige Niveau der
Geburtenzahl je Frau auswirken wird, kann
derzeit allerdings noch nicht belastbar prognostiziert werden. Zwar kann angenommen werden, dass ein weiteres Absinken
nicht zu erwarten ist, ob jedoch der von
manchen (infolge des sich verlangsamenden Aufschubs der Familiengründung) vorhergesagte Anstieg auf 1,6 oder 1,7 Geburten je Frau eintreten wird, ist derzeit noch
unklar.
Die Suche nach den Ursachen für das niedrige Geburtenniveau und nach Möglichkeiten für einen Anstieg der Fertilität ist immer
wieder ein Thema der Beiträge in „Bevölkerungsforschung Aktuell“, so auch in dieser
Ausgabe. Ein wesentlicher Punkt bei der
Entscheidung für ein Kind ist das Vorhandensein einer gesicherten Möglichkeit der
Kinderbetreuung – sei es durch öffentliche
oder private Unterstützung, etwa durch die
Großeltern. So haben Studien des BiB bereits vor einiger Zeit gezeigt, dass die Oma
den Unterschied macht, d.h. die Verfügbarkeit einer Kinderbetreuung wirkt sich positiv auf den Kinderwunsch aus. Vor diesem
Hintergrund untersuchen Linda Beyreuther
und Detlef Lück den Beitrag der Großelternbetreuung zur Erklärung der unterschiedlichen Fertilitätsentwicklung bei Deutschen
und Türken in Deutschland.
Prof. Norbert F. Schneider, Direktor des BiB
Ak
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e
tu
Oma und Nene als Tagesmutter? – Welchen Beitrag leisten
Großelternbetreuung und die kulturelle Wertschätzung von
Kindern zur Erklärung der Fertilitätsunterschiede zwischen
Deutschen und Türken in Deutschland?
Als Ursachen für das anhaltend niedrige Fertilitätsniveau in Deutschland werden in der
Forschung meist einzelne Faktoren wie politische Rahmensetzungen, kulturelle Einflüsse oder die Arbeitsmarktstrukturen genannt.
Weitere Einflussfaktoren wie die Familienund Beziehungsstrukturen sind im Zusammenhang mit Fertilität vergleichsweise weniger untersucht worden. Belegt ist allerdings,
dass es im internationalen Vergleich zum Teil deutliche Unterschiede im Hinblick auf die
Verbreitung und Relevanz der Kinderbetreuung durch die Großeltern gibt. Dabei ist ungeklärt, wie weit die unterschiedliche Verbreitung der Großelternbetreuung einen Teil
zur Erklärung von unterschiedlichen Fertilitätsniveaus beiträgt. Vor diesem Hintergrund
untersucht der Artikel anhand von Daten des Generations and Gender Survey (GGS),
welchen Beitrag der unterschiedliche Grad an Unterstützung durch die eigenen Eltern
oder Schwiegereltern zur Erklärung der unterschiedlichen Fertilitätsniveaus zwischen
Deutschen und Türken liefern kann. Zudem wird untersucht, wie sich die unterschiedliche kulturelle Wertschätzung von Kindern bei deutschen und türkischen Frauen für die
Erklärung der Fertilitätsunterschiede auswirkt. (Seite 2)
Wie unterschiedlich betreuen wir unsere Kinder? –
Ein Vergleich zwischen deutschen und türkischen Eltern unter
Berücksichtigung von Einstellungsmerkmalen
Die Betreuungssituation für Kinder hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. So
wurde das Platzangebot kontinuierlich ausgebaut und die Betreuungskonzepte erweitert. Neben einer unterschiedlichen Betreuungssituation in Ost- und Westdeutschland
zeigen sich auch Unterschiede bei der Betreuung zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. So werden unter Dreijährige ohne Migrationshintergrund mehr als
doppelt so häufig in einer Tageseinrichtung betreut als solche mit Migrationshintergrund (14 zu 30 %). Sind die festgestellten Unterschiede durch verschiedene Einstellungen zur Kindererziehung und Berufstätigkeit begründet? Lassen in Deutschland lebende türkische Migranten ihre Kinder tatsächlich institutionell seltener betreuen als
Deutsche ohne Migrationshintergrund? Diese Fragen analysiert der Beitrag auf der Basis von Daten des Generations and Gender Survey (GGS) des BiB. In der Analyse zeigt sich,
dass sich die Einstellungen zur Kindererziehung
und Müttererwerbstätigkeit zwischen deutschen
und türkischen Frauen in Westdeutschland unterscheiden. Die unterschiedlichen Einstellungen
zur Fremdbetreuung alleine können aber das
Betreuungsverhalten beider Gruppen nicht erklären. (Seite 10)
+++ www.bib-demografie.de ++ www.bib-demografie.de ++ www.bib-demografie.de +++
Analysen aus dem BiB
Linda Beyreuther (BiB) und Detlev Lück (BiB)
Oma und Nene als Tagesmutter? –
Welchen Beitrag leisten Großelternbetreuung und die kulturelle Wertschätzung
von Kindern zur Erklärung der Fertilitätsunterschiede zwischen Deutschen und
Türken in Deutschland?
Warum ist die Fertilität in Deutschland so niedrig?
krippen nicht besser als in Westdeutschland; allerdings ist
Diese Frage beschäftigt mehrere Forschungsdiszipli-
die Individualisierung noch vergleichsweise wenig vorange-
nen seit Jahrzehnten. Mit derzeit 1,39 Kindern pro
schritten, die Orientierung am „Normallebenslauf“ noch sehr
Frau (zusammengefasste Geburtenziffer 2010) liegt
stark und die Institution Ehe noch sehr stabil. Spitzenreiter
das deutsche Geburtenniveau deutlich unter dem der
in Sachen Fertilität sind andererseits Länder wie Frankreich
meisten anderen Gesellschaften Europas. Vor allem
(2009: 1,99), das Vereinigte Königreich (2009: 1,94) oder
Westdeutschland zeichnet sich durch eine seit über
Schweden (2010: 1,98). In diesen Ländern sind die Indivi-
dreißig Jahren konstant niedrige Fertilität von 1,3 bis
dualisierungsprozesse ähnlich weit vorangeschritten und die
1,4 Kindern je Frau aus. In Ostdeutschland sind die
Frauenerwerbsneigung mindestens so hoch wie in Deutsch-
Zahlen zwar, nach einem drastischen Einbruch infol-
land; allerdings ist die Akzeptanz von Müttererwerbstätigkeit
ge der Wende, wieder im Steigen begriffen. Doch vor-
und öffentlicher Betreuung von Kleinkindern höher und die
läufig können sich auch die neuen Bundesländer mit
entsprechende Infrastruktur besser ausgebaut (BiB 2012).
1,46 Kindern je Frau (2010) nur unwesentlich vom
Von einigen Rahmenbedingungen, die zur Erklärung von
niedrigen westdeutschen Fertilitätsniveau absetzen
Länderunterschieden relevant sein könnten, ist die Rolle
(Statistisches Bundesamt 2012).
besser erforscht als von anderen. Vergleichsweise wenig Li-
Die Suche nach Gründen weist in unterschiedliche Rich-
teratur gibt es zum Einfluss der Familien- und Beziehungs-
tungen. Häufig werden politische Rahmensetzungen verant-
strukturen. Diese werden in aller Regel nur zur Erklärung
wortlich gemacht, beispielsweise Defizite in den Angebo-
von Wandel oder von Unterschieden im Geburtenverhalten
ten öffentlicher Kinderbetreuung (Haan/Wrohlich 2009). Oft
innerhalb einer Gesellschaft herangezogen, nicht aber zur
wird auf kulturelle Einflüsse verwiesen, etwa auf die gesell-
Erklärung von Unterschieden zwischen verschiedenen Ge-
schaftliche Wertschätzung von Kindern oder die geringe Ak-
sellschaften. Das gilt unter anderem für Unterstützungsleis-
zeptanz von Kinderreichtum (Trommsdorff/Nauck 2005). Zu-
tungen der Herkunftsfamilie bei der Familienarbeit, für die
weilen werden Arbeitsmarktstrukturen thematisiert, wie die
ein solcher Erklärungsansatz durchaus plausibel erscheint.
hohen Anforderungen an Flexibilität und Mobilität der Arbeit-
Zwar ist für (West-)Deutschland belegt, dass die (potenti-
nehmer (Blossfeld/Hofäcker/Bertolini 2011). Familienstruktu-
elle) Verfügbarkeit von Unterstützung bei der Kinderbetreu-
ren und Familienbeziehungen, beispielsweise die Instabilität
ung durch die eigenen Schwiegereltern und Eltern einen po-
von Partnerschaften (Keizer/Dykstra/Jansen 2007), werden
sitiven Einfluss auf die Familienplanung und -gründung hat
nur selten ins Gespräch gebracht.
(Ette/Ruckdeschel 2007; Del Boca 2002; Hank/Kreyenfeld/
Eine vollständige Erklärung muss verschiedene Rahmen-
Spieß 2004). Und es ist auch belegt, dass es im internatio-
bedingungen im Zusammenhang sehen, denn im interna-
nalen Vergleich zum Teil deutliche Unterschiede hinsichtlich
tionalen Vergleich zeigt sich, dass kein Merkmal für sich ge-
der Verbreitung und Relevanz von Großelternbetreuung gibt
nommen ein hohes oder niedriges Geburtenniveau garantiert
(Nauck/Suckow 2003: 57f.). Doch inwieweit die unterschied-
(Hülskamp 2006). Vielmehr können sehr unterschiedliche
liche Verbreitung der Großelternbetreuung einen Teil zur Er-
Konstellationen aus strukturellen und kulturellen Rahmen-
klärung von unterschiedlichen Fertilitätsniveaus beiträgt, ist
bedingungen jeweils zu höheren Geburtenniveaus führen.
nicht nachgewiesen. An dieser Forschungslücke setzt der
So finden sich unter den europäischen Spitzenreitern einer-
vorliegende Beitrag an. Ergänzend fragt er nach dem Ein-
seits Länder (jeweils die zusammengefasste Geburtenziffer
fluss kultureller Unterschiede im Vergleich dazu. Die Einflüs-
von 2010) wie Island (2,20), Irland (2,07) oder die Türkei
se von politischer Rahmensetzung und Arbeitsmarktstruk-
(2,04). In diesen Ländern ist die Versorgung mit Kinder-
turen werden dagegen ausgeblendet, um eine eindeutigere
2
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Analysen aus dem BiB
Interpretation der gemessenen Unterschiede zu ermöglichen
sche Mehrheit sind den gleichen politischen, rechtlichen und
(vgl. den nachfolgenden Abschnitt).
arbeitsmarktbedingten Einflüssen ausgesetzt. Diese müssen
zur Erklärung von Fertilitätsunterschieden nicht mehr kon-
Forschungsfrage und Hypothesen
trolliert werden (was in einem Zwei-Länder-Vergleich ohne-
Unsere Untersuchung geht also von zwei theoretischen
hin nicht möglich wäre) und scheiden dennoch als mögliche
Ausgangsfragen aus: Welchen Beitrag leisten die Unterschie-
Erklärungen für die gemessenen Fertilitätsunterschiede ka-
de hinsichtlich der antizipierten Unterstützung durch die ei-
tegorisch aus. Übrig bleiben drei Kategorien von Einflussfak-
genen Eltern oder Schwiegereltern zur Erklärung der Fer-
toren: zum einen individuelle Merkmale wie Bildung oder
tilitätsunterschiede zwischen Deutschen und Türken? Und:
Einkommen, zum zweiten die kulturell geprägten (Wert-)
Welchen Beitrag leisten die Unterschiede hinsichtlich der kul-
Vorstellungen und zum dritten die Familienstrukturen.
turellen Wertschätzung von Kindern zur Erklärung der Fer-
Somit lauten unsere Forschungsfragen: Welchen Beitrag
tilitätsunterschiede zwischen Deutschen und Türken? Wir
leisten die Unterschiede hinsichtlich der antizipierten Unter-
gehen diesen beiden Fragen anhand von Daten des deut-
stützung durch die eigenen (Schwieger-)Eltern zur Erklärung
schen Generations and Gender Survey (GGS) der ersten Wel-
der Fertilitätsunterschiede zwischen westdeutschen und tür-
le (2005/2006) nach. Unsere Forschungsfragen werden, da-
kischen Frauen in Deutschland? Und welchen Beitrag leisten
von ausgehend, in dreierlei Hinsicht modifiziert.
diesbezüglich die Unterschiede hinsichtlich der Wertschät-
Zunächst konzentrieren wir uns bei der Analyse auf Frau-
zung von Kindern? Wir gehen von drei Annahmen aus:
en. Dies hat vor allem den Grund, dass die Zuordnung von
1. Türkische Frauen in Deutschland können – bedingt durch
Mutter und Kind in den Daten eindeutiger möglich ist als
geographische Nähe, zeitliche Verfügbarkeit oder Bereit-
die Zuordnung zwischen Vater und Kind. Daneben hat es
schaft – für Unterstützung bei der Kinderbetreuung häu-
die Vorteile, dass das Geburtenverhalten für Frauen zuver-
figer auf ihre (Schwieger-)Eltern zurückgreifen als die
lässiger erfasst ist als für Männer und dass direkte Einflüs-
deutschen Frauen.
se und Interaktionseffekte des Geschlechts nicht kontrolliert
werden müssen.
2. Türkische Frauen in Deutschland sehen in Kindern eher
noch als deutsche Frauen eine Sicherheit bei Pflegebe-
Zweitens reduzieren wir die deutschen Frauen ohne Migrationshintergrund auf jene Frauen, die in Westdeutschland
dürftigkeit im Alter sowie ein Statussymbol bzw. einen
normativen Standard (Nauck/Klaus 2007).
leben. Das hat den Grund, dass es zwischen Ost- und West-
3. Die Unterschiede zwischen deutschen und türkischen
deutschland nach wie vor deutliche Unterschiede im Gebur-
Frauen hinsichtlich der verfügbaren Unterstützung bei der
tenverhalten gibt, die sich schlecht zu einem „mittleren“ ge-
Kinderbetreuung sowie hinsichtlich der Wertschätzung
samtdeutschen Muster zusammenfassen lassen. Statt einer
von Kindern erklären einen relevanten Teil der Unterschie-
zusätzlichen Differenzierung soll die Beschränkung auf West-
de im generativen Verhalten.
deutschland Vergleichbarkeit herstellen.
Drittens vergleichen wir nicht die Türkei mit Deutschland,
sondern in Westdeutschland lebende Deutsche (ohne Mi-
Fertilität von Deutschen und Türkinnen in Deutschland
grationshintergrund) mit in Deutschland lebenden Türkin-
Dass es tatsächlich Fertilitätsunterschiede gibt – nicht nur
nen bzw. Frauen mit türkischem Migrationshintergrund. Die-
zwischen der Bevölkerung der Türkei und der Bevölkerung
se sind im GGS 2006 in einer Zusatzerhebung gezielt erfasst
Deutschlands, sondern auch zwischen Türken und Deut-
worden und zeigen zwar moderatere aber dennoch ähnliche
schen innerhalb Deutschlands – ist durch amtliche Daten be-
Unterschiede in ihrem generativen Verhalten zu den Deut-
reits belegt: So lebten 2010 unter den in Deutschland leben-
schen wie Frauen in der Türkei (vgl. den nachfolgenden Ab-
den Menschen ohne Migrationshintergrund 24 % als Eltern
schnitt). Der Fokus auf Türkinnen in Deutschland hat den
mit ihren Kindern zusammen, unter den Menschen mit tür-
Vorzug, dass eine Vielzahl struktureller Rahmenbedingung-
kischem Migrationshintergrund „im engeren Sinn“1 44 %
en konstant gehalten wird: Ethnische Minderheit und ethni-
und unter den Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit
1
Nicht dazu gezählt werden Menschen, deren Migrationshintergrund nicht durchweg bestimmbar ist, weil sie nicht mit ihren Eltern im gleichen Haushalt leben und deren Geburtsort und Staatsbürgerschaft daher nicht erfasst wurde (Statistisches Bundesamt 2011: 388f.).
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
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Analysen aus dem BiB
Anteilswert, der auch weiter rechts auf der Kur-
Abb. 1: Familiengründung nach Alter –
ve, also in hohem Alter, nicht unterschritten wird,
Türkinnen und westdeutsche Frauen
deutet an, wie viele Frauen dauerhaft kinderlos
bleiben. So lässt sich zum einen vergleichen, in
100
welchem Alter typischerweise Kinder geboren
werden, und zum anderen, wie hoch der Anteil
80
der dauerhaft Kinderlosen ist.
Die folgenden Analysen werden nur für bestimmte Teilgruppen gerechnet, und zwar für
60
westdeutsche und türkische Frauen im Alter zwischen 18 und 49, die bis 2000 (also etwa 6 Jahre vor der Erhebung) kinderlos waren. Diese Ein-
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schränkung hat verschiedene Gründe: Erstens
ist sie der Stichprobenbegrenzung des GGS geschuldet (Personen ab 18 Jahre), zweitens er-
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höht sie die Vergleichbarkeit der Gruppen (west-
deutsche Frauen
deutsche), drittens isoliert sie die Altersgruppe,
türkische Frauen
von der eine Geburt sinnvollerweise erwartet
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werden kann, (Frauen bis 49 Jahre), und viertens (bis 2000 kinderlos) wird sie in späteren
Altersjahre
Datenquelle: Generations and Gender Survey 2005/2006, eigene Berechnungen, grafische Darstellung: BiB
Analysen wichtig sein, in denen der Einfluss verschiedener Rahmenbedingungen (wie z. B. der
60 % (Statistisches Bundesamt 2011: 216f.). Ein ähnliches
subjektiven Wertschätzung von Kindern) auf die Fertilität
Bild ergibt sich, wenn man die Lebensformen (d.h. mit einem
überprüft werden soll: Denn wenn die Geburt eines Kindes
Kind zusammenlebend oder nicht) in Deutschland betrach-
zu lange her ist, dann ist es unwahrscheinlich, dass die in
tet: Unter den Lebensformen, in denen die Bezugsperson
der Befragung 2005/2006 gemessenen Rahmenbedingung-
keinen Migrationshintergrund hat, hatten 26 % Kinder; unter
en zum Zeitpunkt der Geburt bereits bestanden haben und
denen, in denen die Bezugsperson einen türkischen Migrati-
in der Lage waren, einen Einfluss auszuüben.
onshintergrund hat, hatten 59 % Kinder. Die durchschnittli-
Auf diese Weise ermöglichen die Analysen einen Ver-
che Kinderzahl in den „türkischen“ Familien lag bei 2,1; die
gleich zwischen den Teilgruppen hinsichtlich ihres Geburten-
in den „deutschen“ Familien lediglich bei 1,6 (Statistisches
verhaltens. Was sie nicht leisten – und nicht leisten sollen
Bundesamt 2011: 240f.).
–, ist eine präzise und repräsentative Beschreibung des Ge-
Diese Unterschiede lassen sich auch mit den Daten des
burtenverhaltens der deutschen Frauen und der Türkinnen
GGS nachzeichnen. Um ein differenzierteres Bild zu bekom-
in Westdeutschland. Beispielsweise wird das durchschnitt-
men, das den unterschiedlichen Altersstrukturen Rechnung
liche Erstgeburtsalter leicht überschätzt.2 Auch ist der An-
trägt, vergleichen wir keine Anteils- oder Mittelwerte, son-
teil der Frauen, die im analysierten Zeitfenster kinderlos blei-
dern sogenannte Survivalfunktionen (vgl. Abb. 1): Diese Kur-
ben, deutlich höher als der Anteil, der tatsächlich dauerhaft
ven zeigen den Anteil der Frauen an, die noch keine Kinder
kinderlos bleibt, zumal vor allem die jüngeren Frauen in der
haben, nach dem Lebensalter differenziert. So ergibt sich ein
Analyse mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit nach der
Kurvenverlauf, der links (in jungen Jahren) bei 100 % Kin-
Erhebung 2005/2006 noch Kinder bekommen (haben) wer-
derlosigkeit startet und in den Lebensjahren stark abfällt, in
den.3
denen Frauen typischerweise Kinder zur Welt bringen. Der
2
3
4
Das durchschnittliche Erstgeburtsalter in unserer Stichprobe liegt mit 24,8 für Türkinnen und 29,7 für westdeutsche Frauen etwas höher,
als es die amtliche Statistik ausweist. Dort liegt es bei 22,2 für Türkinnen und 29,2 für Frauen in den alten Bundesländern (BAMF 2010:
192; Statistisches Bundesamt 2012).
Der Anteil der dauerhaft kinderlosen Frauen wird in der amtlichen Statistik für Türkinnen in Deutschland auf 3,7 % und für westdeutsche
Frauen auf 17 % geschätzt (BAMF 2011: 144; Statistisches Bundesamt 2009: 10).
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Analysen aus dem BiB
Abb. 2: Familienerweiterung (Übergang vom ersten zum zweiten
Kind): Türkinnen und westdeutsche Frauen
ser Anteil, wie bereits dargestellt, den tatsächlichen
Umfang der dauerhaften Kinderlosigkeit für beide
Vergleichsgruppen deutlich überschätzt. Bei den
100
Türkinnen sind es weniger als 30 %, die bis 2006
kinderlos bleiben. Der Unterschied beschränkt sich
also nicht nur auf den typischen Zeitpunkt der Fa-
80
miliengründung im Lebensverlauf. Er schließt auch
eine unterschiedliche Neigung ein, überhaupt Kinder zu bekommen (wie die eingangs vorgestellten
60
amtlichen Zahlen noch eindrucksvoller belegen).
Was für die Familiengründung gilt, gilt in gleicher
Weise für die Familienerweiterung. Auch diese fin-
40
det bei deutschen Frauen später und seltener statt
als bei Türkinnen in Deutschland. Abbildung 2 zeigt
dies beispielhaft für den Übergang vom ersten zum
20
zweiten Kind. Deutliche Unterschiede gibt es auch
deutsche Frauen
türkische Frauen
hinsichtlich der Häufigkeit, mit der Frauen mehr als
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Datenquelle: Generations and Gender Survey 2005/2006, eigene Berechnungen, grafische Darstellung: BiB
Deutschland bekommen früher Kinder als westdeutsche
Frauen. Und sie bleiben seltener kinderlos.
zwei Kinder bekommen. Unter deutschen Frauen
ist dies selten, unter Türkinnen durchaus verbreitet
Altersjahre
Die Analysen bestätigen zwei Fakten: Türkinnen in
49
(Statistisches Bundesamt 2011: 240f.).
Fertilitätsunterschiede und Großelternbetreuung
Die oben aufgezeigten Fertilitätsunterschiede sollen nun
im nächsten Abschnitt genauer untersucht werden. Als ers-
Wie Abb. 1 zeigt, hat im Alter von 27 Jahren bereits die
tes wird analysiert, welchen Beitrag die Unterschiede hin-
Hälfte der Türkinnen, die bis 2000 kinderlos waren, eine Fa-
sichtlich der antizipierten Unterstützung durch die eigenen
milie gegründet. Unter den westdeutschen Frauen ist die-
Eltern oder Schwiegereltern zur Erklärung der Fertilitätsun-
ser Punkt erst im Alter von 35 erreicht. Das durchschnittliche
terschiede leisten können.
Erstgebäralter unter den Türkinnen liegt – bezogen auf all
Betrachtet man, wie viele westdeutsche Frauen und tür-
diejenigen, die im untersuchten Zeitraum überhaupt ein Kind
kische Migrantinnen Hilfe bei der Kinderbetreuung durch die
bekommen – bei 25, das unter den deutschen Frauen bei 30
eigenen (Schwieger-)Eltern bekommen, zeigt sich, dass dies
Jahren. Für türkische Frauen fällt der Kurvenverlauf bereits
in beiden Gruppen weniger als die Hälfte ist. Bei den deut-
mit der Volljährigkeit relativ steil ab und signalisiert, dass
schen Frauen erhalten etwa 38 % Unterstützung durch die
bereits in relativ jungen Jahren Familien gegründet werden.
(Schwieger-)Eltern, bei den türkischen Frauen sind es 27 %,
Wer mit Anfang 30 noch kein Kind hat, bekommt dagegen
also elf Prozentpunkte weniger. Das bedeutet, dass unsere
wahrscheinlich keins mehr. Die Familiengründungsphase für
erste Annahme, welche besagt, dass türkische Frauen mehr
Türkinnen in Deutschland liegt also typischerweise zwischen
Unterstützung bekommen als deutsche Frauen, anhand der
20 und 30. Unter deutschen Frauen ist sie um etwa fünf Jah-
Daten des GGS nicht bestätigt werden kann. Das ist inso-
re verzögert: Vor dem 25. Lebensjahr bekommen relativ we-
fern überraschend, als die wechselseitige Unterstützung
nige dieser Frauen ihr erstes Kind; mit etwa 35 ist die Fami-
der Generationen in der Türkei durchaus intensiver ist als in
liengründungsphase weitgehend abgeschlossen.
Deutschland (Nauck/Suckow 2003: 57f.). Unsere Analysen
Deutsche Frauen bekommen nicht nur später Kinder als
zeigen jedoch, dass eine Hilfe bei der Kinderbetreuung bei
Türkinnen in Deutschland; sie bleiben auch deutlich häufiger
den meisten Migrantinnen in Deutschland aufgrund einer zu
dauerhaft kinderlos. So haben mehr als 40 % der deutschen
großen Wohnentfernung gar nicht möglich ist: Während bei
Frauen in der Analyse bis zum Zeitpunkt der Erhebung noch
der Hälfte der deutschen Frauen die Eltern und Schwieger-
kein Kind zur Welt gebracht (vgl. Abb. 1) – auch wenn die-
eltern 30 Minuten oder weniger weit entfernt wohnen, woh-
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
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Analysen aus dem BiB
Abb. 3: Familienerweiterung (Übergang vom ersten zum zweiten Kind)
bei westdeutschen und türkischen Frauen nach Alter und Großelternbetreuung
ben ein zweites Kind zu bekommen. Die Unterschiede zwischen den Gruppen sind aber nicht
signifikant. Das heißt, bei deutschen Frauen
zeigt sich kein Einfluss der antizipierten Unter-
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stützung durch die (Schwieger-)Eltern auf das
Geburtenverhalten.
deutsche Frauen
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60
Abbildung 3 zeigt denselben Sachverhalt für
keine Unterstützung bei der
Betreuung des ersten Kindes
die türkischen Migrantinnen. Auch hier zeigen
Unterstützung bei der
Betreuung des ersten Kindes
sich keine signifikanten Unterschiede. Ob die
Mütter bei der Betreuung ihres ersten Kindes
durch ihre (Schwieger-)Eltern unterstützt wurden oder nicht, hat keinen Einfluss auf die Ge-
türkische Frauen
40
burt eines zweiten Kindes.
keine Unterstützung bei der
Betreuung des ersten Kindes
Zusammenfassend kann man festhalten, dass
Unterstützung bei der
Betreuung des ersten Kindes
unsere Analysen keinen Effekt der antizipierten
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Unterstützung bei der Kinderbetreuung auf das
Geburtenverhalten aufgezeigt haben. Weder
unter den Türkinnen noch unter den westdeut-
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schen Frauen lassen sich Unterschiede hinsichtlich der Großelternunterstützung nachweisen.
Entsprechend sind die Unterschiede im Gebur-
Datenquelle: Generations and Gender Survey 2005/2006, eigene Berechnungen, grafische Darstellung: BiB
tenverhalten zwischen Türkinnen und westdeutschen Frauen auch dann unvermindert groß,
nen die (Schwieger-)Eltern türkischer Frauen in der Mehrzahl
wenn man lediglich Frauen mit oder Frauen ohne Unterstüt-
über drei Stunden entfernt. Hauptgrund könnte der Umstand
zung durch die Großeltern betrachtet. Demnach können die
sein, dass bei vielen Türkinnen die (Schwieger-)Eltern in der
Fertilitätsunterschiede zwischen deutschen Frauen und tür-
Türkei leben. Obwohl Türken generell dazu neigen, näher an
kischen Migrantinnen in Westdeutschland wahrscheinlich
ihren Eltern oder Schwiegereltern zu wohnen, (ebd.) schei-
nicht durch unterschiedliche Unterstützungspotentiale der
tert also für Türkinnen in Deutschland die Unterstützung
eigenen (Schwieger-)Eltern erklärt werden.
durch die (Schwieger-)Eltern sehr oft an der Aufspaltung des
Familienverbandes auf zwei Länder. Dieser Effekt könnte in
Fertilitätsunterschiede und Wertschätzung von Kin-
unseren Analysen dadurch noch stärker ausfallen, dass in
dern
unserer Stichprobe Migrantinnen der ersten Generation (mit
Nach der Analyse des Unterstützungspotentials der
(Schwieger-)Eltern bei der Kinderbetreuung soll im Folgen-
48 %) überrepräsentiert sind.
Dennoch soll im Folgenden untersucht werden, ob eine
den untersucht werden, inwiefern eventuelle Unterschiede
bisherige Unterstützung bei der Betreuung des ersten Kin-
bei der Wertschätzung der Kinder das unterschiedliche Ge-
des einen Effekt auf die Wahrscheinlichkeit hat, ein zweites
burtenverhalten von deutschen und türkischen Frauen in
Kind zu bekommen. Abbildung 3 zeigt die Survivalfunktio-
Westdeutschland erklären können. Zu diesem Zweck wur-
nen für den Übergang zum zweiten Kind.4 Für westdeutsche
den anhand mehrerer Fragen zur Einstellung gegenüber der
Frauen zeigt sich kein deutlicher Unterschied. Bis zum Alter
Wertschätzung von Kindern drei Summen-Scores gebildet.
von 35 unterschieden sich Frauen mit und Frauen ohne Un-
Diese bilden ab, wie hoch der „emotionale Nutzen“ (wie z. B.
terstützung in ihrem Geburtenverhalten kaum voneinander.
Freude und Glück), der „praktische Nutzen“ (wie z. B. Si-
Ab diesem Alter zeigt sich zwar, dass Mütter, die Unterstüt-
cherheit im Alter oder Unterstützung bei Pflegebedürftigkeit)
zung bekommen haben, eine höhere Wahrscheinlichkeit ha-
und die „Nachteile“ von Kindern (wie z. B. höhere finanziel-
4
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Der Übergang zum zweiten Kind wird untersucht, weil man nur bei Frauen, die bereits ein Kind haben, untersuchen kann, inwiefern die
tatsächlich Unterstützung der Eltern bei der Kinderbetreuung Einfluss auf die Entscheidung für ein weiteres Kind hat.
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Analysen aus dem BiB
der Fall ist. Man könnte vermuten, dass die westdeutschen
Abb. 4: Subjektive Wertschätzung von Kindern nach
Frauen stärker ihre eigene berufliche Selbstverwirklichung
Migrationshintergrund (Mittelwerte)
im Blick haben und Kinder per se nicht als wichtigsten Lebenszweck ansehen.
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deutsche Frauen
Nachfolgend soll nun überprüft werden, ob diese unter-
türkische Frauen
schiedlichen Einstellungen ursächlich für das unterschied-
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liche Geburtenverhalten der beiden Gruppen sind. Bei den
folgenden Analysen werden lediglich der „emotionale Nutzen“ sowie die „Nachteile“ von Kindern betrachtet. Die
60
Einschränkung auf diese beiden erfolgt aus Gründen der
besseren Übersichtlichkeit. Für die Untersuchung wurden
40
die Indikatoren so kategorisiert, dass sie jeweils nur noch
zwei Ausprägungen haben (Einschätzung des “Nutzens“
bzw. der „Nachteile“ als hoch oder als niedrig). Abbildung
20
5 zeigt den Zusammenhang zwischen der Wertschätzung
von Kindern und der Geburt eines (ersten) Kindes. Unse-
0
"emotionaler" Nutzen
"praktischer" Nutzen
ren Annahmen zufolge sollten ein hoher „emotionaler Nut-
Nachteile
zen“ und geringe „Nachteile“ die Geburt eines Kindes wahrscheinlicher machen als ein niedriger „emotionaler Nutzen“
Datenquelle: Generations and Gender Survey 2005/2006, eigene Berechnungen, grafische Darstellung: BiB
und große „Nachteile“.
le Ausgaben) von den Befragten eingeschätzt werden. Ab-
In Abbildung 5 ist deutlich der Zusammenhang zwi-
bildung 4 zeigt die Verteilung der verschiedenen Wertedi-
schen dem „emotionalen Wert“ und der Geburt eines Kin-
mensionen nach Migrationshintergrund und verdeutlicht die
des zu sehen. Frauen, die den „emotionalen Wert“ von Kin-
Unterschiede zwischen deutschen und türkischen Frauen in ihrer Wertschätzung von Kindern, wobei der Wert 0
für die geringst mögliche und 100 für die maximale Zustimmung steht.
Türkische Migrantinnen messen dem „emotionalen
Abb. 5: Familiengründung nach Migrationshintergrund und
Einschätzung des „emotionalen Nutzens“ und der
Nachteile von Kindern
100
Nutzen“ von Kindern deutlich mehr Bedeutung bei als
deutsche Frauen. Während der Mittelwert bei den türkischen Frauen auf der von 0 bis 100 genormten Skala bei
80
84,6 liegt, liegt er bei den deutschen Frauen lediglich bei
70,2. Das bedeutet, dass türkische Frauen Fragen nach
60
dem „emotionalen Wert“ von Kindern im Durchschnitt
häufiger bzw. deutlicher zustimmen als westdeutsche
Frauen. Auch der „praktische Nutzen“ wird von den türki-
40
schen Frauen etwas höher eingeschätzt. Hier unterscheiden sich die Mittelwerte aber deutlich weniger als im Hinblick auf den „emotionalen Wert“. Die „Nachteile“ von
20
Kindern werden dagegen von den deutschen Frauen etwas größer eingeschätzt als von den türkischen. Das bedeutet, dass türkische Migrantinnen nicht nur den Wert
von Kindern höher, sondern auch die Einschränkungen durch Kinder niedriger bewerten. Für die Türkinnen
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niedrig hoch
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niedrig hoch
türkische
Frauen
"emotionaler Nutzen"
keine Geburt
scheinen Kinder immer noch eher ein Lebenszweck zu
sein, als dies bei den Frauen ohne Migrationshintergrund
niedrig hoch
deutsche
Frauen
niedrig hoch
türkische
Frauen
"Nachteile" von Kindern
Geburt des 1.Kindes
Datenquelle: Generations and Gender Survey 2005/2006, eigene Berechnungen, grafische Darstellung: BiB
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Analysen aus dem BiB
dern als hoch einstufen, bekommen eher Kinder als Frauen,
Unterschiede einen Beitrag zur Erklärung des unterschiedli-
die diesen als gering einstufen. Bei den deutschen Frauen
chen Fertilitätsverhaltens beider Gruppen leisten.
bekommen von allen Frauen, die einen hohen „emotionalen
Wert“ von Kindern angaben, 61 % ein erstes Kind im Unter-
Fazit und Diskussion
suchungszeitraum. Bei den türkischen Migrantinnen sind es
Unsere Analysen bestätigen ein unterschiedliches Gebur-
59 %. Betrachtet man sich die Frauen, die den „emotionalen
tenverhalten von westdeutschen Frauen und türkischen Mi-
Wert“ als niedrig einstufen, so bekommen bei den westdeut-
grantinnen in Deutschland. Türkische Migrantinnen bekom-
schen Frauen 24 % ein erstes Kind, bei den türkischen Frauen
men tendenziell früher ihr erstes Kind als die westdeutschen
sind es nur 18 %. Bei den Türkinnen ist der Unterschied zwi-
Frauen und bleiben auch seltener kinderlos. Auch beim
schen den beiden Gruppen deutlicher zu sehen als bei den
Übergang zum zweiten Kind zeigen sich diese Unterschiede.
deutschen Frauen. Doch der Unterschied zwischen dem Ge-
Die Familienerweiterung findet bei den Türkinnen früher und
burtenverhalten von Türkinnen und deutschen Frauen wird
häufiger statt als bei den westdeutschen Frauen.
durch die Differenzierung nach hoher und niedriger Wert-
Bei der Betrachtung möglicher Ursachen dieser Differen-
schätzung verringert. Somit kann davon ausgegangen wer-
zen zeigt sich, dass die Wertschätzung von Kindern unter
den, dass die unterschiedliche Wertschätzung von Kindern
Türkinnen in Deutschland, geprägt durch ihren türkischen
zumindest einen Teil der Fertilitätsunterschiede zwischen
kulturellen Hintergrund, höher ist als unter westdeutschen
Frauen mit und ohne türkischen Migrationshintergrund in
Frauen und dass darin ein wesentlicher Erklärungsfaktor für
Deutschland erklären kann.
das unterschiedliche Geburtenverhalten liegen dürfte. Die
In Abbildung 5 ist auch der Zusammenhang zwischen der
potentielle Unterstützung bei der Kinderbetreuung durch
Einschätzung der „Nachteile“ von Kindern und dem Gebur-
die eigenen Eltern oder Schwiegereltern wirkt sich dage-
tenverhalten zu sehen. Auch hier zeigt sich ein Effekt, wo-
gen nicht nachweislich auf das Geburtenverhalten aus. Und
bei dieser nicht so stark ausgeprägt ist wie hinsichtlich des
wenn es sich auswirken würde, könnte dies nicht die hö-
„emotionalen Wertes“ von Kindern. Während 39 % der west-
here Fertilität der Türkinnen in Deutschland begründen, da
deutschen Frauen, die die „Nachteile“ von Kindern als gering
deren Eltern und/oder Schwiegereltern häufig in der Türkei
eingestuft haben, ein erstes Kind bekommen, sind es bei de-
leben und für eine Unterstützung nicht in Frage kommen.
nen, die große „Nachteile“ sehen, 31 %. Bei den türkischen
Obwohl die potentielle Unterstützung bei der Kinderbetreu-
Migrantinnen liegt der Unterschied bei 10 Prozentpunkten.
ung durch die eigenen Schwiegereltern und Eltern innerhalb
Auch zeigen sich hier keine so deutlichen Unterschiede zwi-
Westdeutschlands die Familienentwicklung begünstigt (Ette/
schen den Frauen mit und ohne Migrationshintergrund. Das
Ruckdeschel 2007; Hank/Kreyenfeld/Spieß 2004), geben un-
könnte daran liegen, dass die „Nachteile“, die die Geburt ei-
sere Befunde also keinen Hinweis darauf, dass die Unter-
nes Kindes haben kann, von beiden Gruppen relativ ähn-
schiede in den Generationenbeziehungen zwischen Türken
lich eingeschätzt werden, was wiederum mit den gleichen
und Deutschen einen nennenswerten Beitrag zur Erklärung
gesellschaftlichen, strukturellen und rechtlichen Regelung-
der deutlichen Fertilitätsunterschiede zwischen den beiden
en zusammenhängt. Da beide Gruppen in Deutschland le-
Ländern und Kulturen leisten.
ben und somit denselben Rahmenbedingungen ausgesetzt
Wir sind von der Frage ausgegangen, warum die Fertili-
sind, ist es logisch, dass die Einschätzung der „Nachteile“
tät in Deutschland, gemessen an anderen europäischen Län-
vergleichsweise ähnlich ausfällt.
dern (zum Beispiel der Türkei), so niedrig ist. Für die Befun-
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es einen sehr
de aus einem Vergleich zwischen Türkinnen in Deutschland
deutlichen Zusammenhang zwischen der Wertschätzung von
und westdeutschen Frauen stellt sich daher nun die Fra-
Kindern und dem Geburtenverhalten gibt. Wenn der Wert
ge, ob sie sich auf den Ländervergleich Türkei-Deutschland
von Kindern im emotionalen Bereich als sehr hoch einge-
übertragen lassen? Generell ist bei einer solchen Schlussfol-
schätzt wird und die „Nachteile“ als gering eingestuft wer-
gerung Zurückhaltung geboten. Doch es gibt Gründe, anzu-
den, dann steigt die Wahrscheinlichkeit ein Kind zu bekom-
nehmen, dass unsere Kernbefunde auch in einem Vergleich
men. Unsere Analysen haben weiterhin gezeigt, dass es
zwischen der Türkei und Deutschland gültig wären.
zwischen deutschen und türkischen Frauen Unterschiede bei
Dagegen, dass Unterschiede in der Großelternbetreuung
der Einschätzung dieser Faktoren gibt. Folglich können diese
auch im Vergleich zwischen der Türkei und Deutschland Fer-
8
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Analysen aus dem BiB
tilitätsunterschiede nicht erklären könnten, spricht, dass es
Literatur
der besonderen Situation der Migrantinnen geschuldet ist,
Blossfeld, Hans-Peter; Hofäcker, Dirk; Bertolini, Sonia (2011)
dass ihre Eltern und Schwiegereltern in der Mehrzahl zu weit
(Hg.): Youth on globalised labour markets. Rising uncer-
weg wohnen, um Unterstützung leisten zu können. Dafür
tainty and its effects on early employment and family lives
spricht, dass sich die Unterstützung beim ersten Kind weder
in Europe. Leverkusen: Barbara Budrich.
unter den Türkinnen noch unter den deutschen Frauen sta-
BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) (2009):
tistisch auf die Familienerweiterung auswirkt. Dafür spricht
Muslimisches Leben in Deutschland. Forschungsbericht 6.
ferner, dass der Zusammenhalt zwischen den Generationen
BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) (2010):
unter Türken in Deutschland eigentlich als noch stärker gilt
Fortschritte in der Integration. Zur Situation der fünf
als der unter den Türken in der Türkei (Steinbach 2004).
größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. For-
Und dafür spricht schließlich, dass türkische Mütter zu ei-
schungsbericht 8. von Christian Babka von Gostomski.
nem sehr hohen Anteil weder von öffentlicher noch von pri-
Nürnberg.
vater Unterstützung bei der Kinderbetreuung Gebrauch ma-
BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) (2011):
chen, sondern ihre Kinder generell selbst betreuen. Insofern
Generatives Verhalten und Migration. Eine Bestandsauf-
ist es glaubhaft, dass sich das Ergebnis auf den Länderver-
nahme des generativen Verhaltens von Migrantinnen in
gleich Türkei-Deutschland übertragen lässt.
Deutschland. Forschungsbericht 10. von Susanne Schmid
Dagegen, dass die unterschiedliche Wertschätzung von
Kindern auch im Ländervergleich Türkei-Deutschland Fertili-
& Martin Kohls. Nürnberg.
BiB (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung) (2012): Da-
tätsunterschiede erklären könnte, spricht, dass die Türkinnen
ten und Befunde: Fertilität. www. bib-demografie.de, letz-
in Deutschland im Vergleich zu ihrer Herkunftsgesellschaft in
ter Zugriff am 5.7.2012.
der Türkei eine selektive Gruppe darstellen, die unter ande-
Del Boca, Daniela (2002): The effect of child care and part
rem eher aus ländlichen Regionen und niedrigen Bildungs-
time opportunities on participation and fertility decisi-
schichten stammt (BAMF 2009: 304). Insofern könnte die
ons in Italy. In: Journal of Population Economics, Jg. 15:
Wertschätzung für Kinder unter den Migrantinnen höher
549-573.
ausfallen als unter Türkinnen in der Türkei. Dafür spricht,
Ette, Andreas; Ruckdeschel, Kerstin (2007): Die Oma macht
dass sich die Türkinnen in Deutschland (wie alle Migranten-
den Unterschied! Der Einfluss institutioneller und infor-
gruppen) mit zunehmender Verweildauer und insbesonde-
meller Unterstützung für Eltern auf ihre weiteren Kinder-
re in der zweiten und dritten Migrantengeneration tendenzi-
wünsche. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft,
ell den Einstellungs- und Verhaltensmustern der Deutschen
Jg. 32, Heft 1-2/2007: 51-72.
anpassen, so dass unsere Analysen die Unterschiede in der
Haan, Peter; Wrohlich, Katharina (2009): Can child care
Wertschätzung von Kindern eher noch unterschätzen. Da-
policy encourage employment and fertility? Evidence
für spricht ferner, dass die kulturellen Unterschiede auch im
from a structural model. Rostock: MPIDR Working Paper,
Ländervergleich nachgewiesen sind (Nauck/Klaus 2007). Da-
2009-025.
für spricht außerdem, dass die typische Familienbiographie
Hank, Karsten; Kreyenfeld, Michaela; Spieß, C. Katharina
sowohl unter Türken in Deutschland als auch unter Türken in
(2004): Kinderbetreuung und Fertilität in Deutschland. In:
der Türkei weitgehend dem traditionellen Modell entspricht,
Zeitschrift für Soziologie, Jg. 33, Nr. 3: 228-244.
bei dem Heirat und Familiengründung früh im Leben aufei-
Hülskamp, Nicola Elke (2006): Ursachen niedriger Fertilität
nanderfolgen. Dieses Muster geht typischerweise mit einer
in hoch entwickelten Staaten. Soziologische, ökonomische
höheren Selbstverständlichkeit einer Familiengründung ein-
und politische Einflussfaktoren. Köln: Kölner Universitäts-
her. Insofern ist es plausibel, dass kulturelle Vorstellungen
verlag.
von Familie einen großen Teil der Fertilitätsunterschiede zwischen Deutschland und der Türkei erklären können.
Inwieweit Rahmensetzungen durch die Politik oder den
Arbeitsmarkt zusätzliche Erklärungen liefern, bleibt offen.
Keizer, Renske; Dykstra, Pearl A.; Jansen, Miranda D. (2007):
Pathways Into Childlessness: Evidence Of Gendered Life
Course Dynamics. In: Journal of Biosocial Science, Jg. 40,
Nr. 6: 863-878.
Insbesondere für einen Einfluss der Familienpolitik bieten
sich jedoch wenige Argumente an.
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
9
Analysen aus dem BiB
Nauck, Bernhard; Klaus, Daniela (2007): The Varying Value
Statistisches Bundesamt (2011): Fachserie 1, Reihe 2.2:
of Children. Empirical Results from Eleven Societies in
Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Mi-
Asia, Africa and Europe. In: Current Sociology, Jg. 55:
grationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2010.
475-486.
Wiesbaden.
Nauck, Bernhard; Suckow, Jana (2003): Generationenbezie-
Statistisches Bundesamt (2012): Zahlen & Fakten: Bevöl-
hungen im Kulturvergleich – Beziehungen zwischen Müt-
kerung: Geburten. www.destatis.de, letzter Zugriff am
tern und Großmüttern in Japan, Korea, China, Indonesien,
5.7.2012.
Israel, Deutschland und der Türkei. In: Feldhaus, Michael;
Steinbach, Anja (2004): Solidarpotenziale in Migrantenfami-
Logemann, Nils; Schlegel, Monika (Hg.): Blickrichtung Fa-
lien. In: Krüger-Potratz, Marianne; Huxel, Katrin (Hg.): Fa-
milie. Vielfalt eines Forschungsgegenstandes. Würzburg:
milien in der Einwanderungsgesellschaft. Göttingen: V&R
Ergon: 51–66.
unipress.
Statistisches Bundesamt (2009): Mikrozensus 2008. Neue
Daten zur Kinderlosigkeit in Deutschland. Wiesbaden.
Trommsdorff, Gisela; Nauck, Bernhard (2005) (Hg.): The value of children in cross-cultural perspective. Case studies
from eight societies. Lengerich: Pabst Science.
10
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Analysen aus dem BiB
Corinna Kröber (Universität Bremen) und Linda Beyreuther (BiB)
Wie unterschiedlich betreuen wir unsere Kinder? –
Ein Vergleich zwischen deutschen und türkischen Eltern unter Berücksichtigung
von Einstellungsmerkmalen
Kinderbetreuung, ihre Bedeutung und Ausgestaltung,
werden zum einen alle in der Türkei geborenen Zugezoge-
war in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer ein
nen als Personen mit Migrationshintergrund eingeordnet.
gesellschaftlich breit diskutiertes Thema. Zum einen
Außerdem werden auch in Deutschland Geborene mit zu-
wurde sie im Rahmen des Fachkräftemangels disku-
mindest einem aus der Türkei zugezogenen oder als Auslän-
tiert (siehe Ette, Ruckdeschel 2007: 4). Gut ausgebil-
der in Deutschland geborenen Elternteil dieser Gruppe zuge-
dete Mütter sollten nicht den Arbeitsmarkt verlassen,
ordnet (Statistisches Bundesamt 2011a).
um ihre Kinder Zuhause zu betreuen. Zum anderen
Von 16 Millionen Menschen in Deutschland, welche einen
spielte immer häufiger der Kontext frühkindlicher
Migrationshintergrund aufweisen, stammt knapp ein Fünftel
Bildung eine Rolle (Peucker, Fuchs 2007: 62f.). Sie
aus der Türkei (3 Mio.). Damit stellen die Türken die größ-
müsse ausgebaut werden, um auch die Kleinsten in
te Migrantengruppe. Im Gegensatz zur zweitgrößten, den
der Gesellschaft schon früh zu fördern und ihren Bil-
Spätaussiedlern, unterscheiden die türkischen Migranten
dungserfolg zu optimieren.
sich maßgeblich durch ihren muslimischen Glauben von der
Ein besonderes Interesse in dieser Diskussion gilt
meist christlich geprägten Bevölkerung ohne Migrationshin-
stets der Betreuung von Kindern mit Migrations-
tergrund (Statistisches Bundesamt 2010: 8f.). Glaube und
hintergrund (siehe z.B. Berg-Lupper 2007). Mütter
Kultur bilden die Grundlage der Leitbilder und Werte, welche
könnten durch Berufstätigkeit integriert und die sys-
auch die Kindererziehung bestimmen (siehe dazu Duncan et
tematische Benachteiligung der Kinder im Bildungs-
al. 2004). Daher sollten hier Unterschiede bei der Kinderbe-
system verringert werden – wenn nur mehr Betreu-
treuung besonders deutlich ausfallen. Ob in Deutschland le-
ungsangebote genutzt würden.
bende türkische Migranten ihre Kinder tatsächlich seltener
Dieser Beitrag soll zu dieser Diskussion einige grundlegende Informationen beisteuern. Es soll zunächst aufgezeigt
institutionell betreuen lassen als Deutsche ohne Migrationshintergrund, soll im Folgenden untersucht werden.
werden, inwieweit sich die Inanspruchnahme von Kinderbetreuung zwischen Deutschen und türkischen Migrantinnen
Formelle Kinderbetreuung in Deutschland
tatsächlich unterscheidet. Danach soll der Frage, ob diese
Zunächst soll ein Überblick über die aktuelle Betreuungs-
Unterschiede durch verschiedene Einstellungen zur Kinder-
situation in Deutschland vermittelt werden. Diese hat sich in
erziehung und Berufstätigkeit begründet sind, nachgegan-
den letzten Jahren stark gewandelt. Das Platzangebot wurde
gen werden.
kontinuierlich ausgebaut und die Betreuungskonzepte wur-
Dabei sollen speziell die unter 3-Jährigen betrachtet wer-
den erweitert (siehe u.a. Rauschenbach 2007: 13). Im Jahr
den. Denn für diese Altersgruppe sind bereits große Unter-
2011 besuchten 30 Prozent der unter 3-Jährigen und 97 Pro-
schiede in der institutionellen Betreuung zwischen Kindern
zent der 3- bis 6-jährigen Kinder ohne Migrationshintergrund
mit und ohne Migrationshintergrund bekannt. Für die 3- bis
eine Kindertageseinrichtung. Dazu zählen alle öffentlichen
6-Jährigen nähern sich die Besuchsquoten der Kindergär-
Institutionen1, welche den Eltern fünf Tage die Woche zur
ten immer weiter an (siehe Böttcher et al. 2010). Außerdem
Verfügung stehen – unabhängig davon ob ganz- oder nur
werden unterschiedliche Wertebilder bei den Kleinsten be-
halbtags. Außerdem zählen Angebote der öffentlich geför-
sonders deutlich.
derten Kinderpflege durch Tagesmütter dazu, welche jedoch
Weiterhin findet eine Eingrenzung auf Kinder von Eltern
nur einen geringen Anteil ausmachen (3,5 % bei den unter
mit türkischem Migrationshintergrund statt. Dabei erfolgt die
3-Jährigen; 0,9 % bei den 3- bis 6-Jährigen im Jahr 2010).
Zuordnung nicht anhand der Staatsbürgerschaft. Vielmehr
Der Prozentsatz der in einer Kindertageseinrichtung oder öf-
1
Ebenfalls dazu gezählt werden nicht-staatliche Einrichtungen, wie z.B. kirchliche oder private Kindertagesstätten.
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
11
Analysen aus dem BiB
Tabelle 1: Vergleich der Betreuungsquoten in Kindertageseinrichtungen (und öffentlich geförderter Kindertagespflege) für verschiedene Bevölkerungs- und
Altersgruppen
(Anteile der betreuten Kinder in %)
Unter 3-Jährige 3- bis 6-Jährige
Kinder ohne Migrationshintergrund in
Deutschland
30,0
97,0
Kinder ohne Migrationshintergrund in
Westdeutschland
23,0
96,0
Kinder ohne Migrationshintergrund in
Ostdeutschland
52,0
99,0
Kinder mit Migrationshintergrund in
Deutschland
14,0
85,0
Kinder mit Migrationshintergrund in
Westdeutschland
13,0
86,0
3-jährige Kinder in Westdeutschland (ohne Berlin) ohne
Migrationshintergrund liegt 10 Prozentpunkte höher als für
dortige Kinder mit Migrationshintergrund (13 % zu 23 %)
(Statistisches Bundesamt 2011b). Wegen dieser starken
Unterschiede zwischen der Betreuungssituation und -kultur innerhalb Deutschlands werden im Folgenden nur in
Westdeutschland lebende Kinder betrachtet.
Informelle Kinderbetreuung in Deutschland
Eine andere Möglichkeit der Kinderbetreuung ist die
Beschäftigung eines Babysitters, eines Au-pairs oder einer Tagesmutter (Henry-Huthmacher 2005: 8). Aber auch
Familie und Freunde können die Eltern bei der Kinderbetreuung unterstützen. Da diese informelle Kinderbetreu-
Datenquelle: Statistische Bundesamt 2011b
ung nicht statistisch erfasst werden kann, wird seit Jahren
über ihr Ausmaß und ihre Bedeutung diskutiert. Übereinstimmung besteht mittlerweile dahingehend, dass meist
fentlich geförderten Kinderpflege betreuten Kinder an allen
die Großeltern als bevorzugter Betreuer genutzt werden
Kindern einer Altersgruppe wird auch als ‚Kinderbetreuungs-
(siehe unter anderem Alt; Teubner 2007; Ruckdeschel; Ette
quote’ bezeichnet (Statistisches Bundesamt 2011b).
2010). Laut dem Sozio-oekonomischen Panel (2005) wür-
Zwischen den Betreuungssituationen in Ost- und West-
den lediglich 7 % der unter 3-Jährigen (in Westdeutschland)
deutschland zeigen sich deutliche Unterschiede. Während im
im Rahmen der Tagespflege durch kostenpflichtige Betreu-
früheren Bundesgebiet lediglich 23 % der Kinder unter 3 Jah-
er privat betreut. Im Vergleich dazu mache die Pflege durch
ren eine Tageseinrichtung besuchen, liegt die Betreuungs-
Freunde und Bekannte mit 30 % einen deutlicheren Anteil
quote in den ostdeutschen Bundesländern bei über 50 %.
aus (SOEP nach Henry-Huthmacher 2005: 22f.).
Bei den 3- bis 6-Jährigen fällt der Unterschied mit 4 Prozent-
Daher werden kostenpflichtige informelle Arrangements
punkten weniger deutlich aus (Ost: 9 %, West: 96 %) (Sta-
hier nicht mehr berücksichtigt. Auf diese Weise steht die pri-
tistisches Bundesamt 2011b). Das hohe Betreuungsniveau
vate Betreuung durch Familie und Freunde der staatlichen
in den neuen Bundesländern folgt aus dem in der DDR stark
Fürsorge gegenüber. Die Betreuung im familiären Umfeld
vorangetriebenen Ausbau der Kindertageseinrichtungen, um
durch andere Personen als die Eltern würde der Mutter bei-
die Berufstätigkeit der Mütter zu ermöglichen (siehe Dörfler
spielsweise Berufstätigkeit ermöglichen, obwohl sie Kinder-
2007: 24; Rauschenbach 2007: 13).
betreuung für eine Familienaufgabe hält.
Ähnlich deutliche Unterschiede existieren zwischen Kin-
Zur Nutzung privater Betreuungsarrangements durch Kin-
dern mit und ohne Migrationshintergrund. Unter 3-Jähri-
der mit türkischem Migrationshintergrund existieren weni-
ge ohne Migrationshintergrund werden mehr als doppelt so
ge Informationen. Der Generation and Gender Survey (GGS)
häufig in einer Tageseinrichtung betreut als solche mit Mi-
kann über diesen „schwarzen Fleck“ der Forschungsland-
grationshintergrund (14 % zu 30 %). Auch hier ist der Un-
schaft weiteren Aufschluss geben. Außerdem erfasst er Ein-
terschied bei den Älteren geringer. Immerhin 85 % der 3-
stellungen zum intergenerativen Verhalten, auch zur Kinder-
bis 6-jährigen Kinder mit Migrationshintergrund besuchen
betreuung, was für den zweiten Teil der Fragestellung von
den Kindergarten (oder eine ähnliche Einrichtung), im Ver-
Bedeutung ist. Dabei wurden in einer Zusatzerhebung die
gleich zu 97 % derer ohne Migrationshintergrund (Statisti-
türkischen Migranten als wichtigste Migrantengruppe be-
sches Bundesamt 2011b).
fragt. Es standen, wenn nötig, Übersetzungshilfen zur Verfü-
Lässt man Ostdeutschland mit dem hohen Niveau der Kin-
gung, welche es ermöglichten, auch nicht deutschsprachige
derbetreuung und der geringen Anzahl an Migranten außer
Türken zu interviewen. Auf diese Weise entstand eine hohe
Acht, bleibt die Differenz im Hinblick auf den Migrationshin-
Repräsentativität der Daten (siehe Ruckdeschel et al. 2006,
tergrund dennoch eindeutig. Die Betreuungsquote für unter
Ette et al. 2007).
12
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Analysen aus dem BiB
Tabelle 2: Unterstützung bei der Kinderbetreuung nach Migrationshintergrund,
in %
Westdeutsche
Frauen ohne
Migrationshintergrund
Einstellungen als Erklärungsfaktor
für Kinderbetreuung
Nachdem die Ergebnisse aus Tabelle 2
zeigen, dass es Unterschiede im Betreu-
Türkische
Migrantinnen
Gesamt
ungsverhalten zwischen deutschen Frauen und türkischen Migrantinnen in West-
Keine Unterstützung
49,7
61,1
57,4
deutschland gibt, soll im Folgenden der
Informelle Unterstützung
26,2
20,1
22,1
Frage nachgegangen werden, wie diese
Institutionelle Unterstützung
24,1
18,8
20,5
Gesamt
100,0
100,0
100,0
Datenquelle: GGS Deutschland und türkische Zusatzerhebung, 1.Welle 2005/2006,
nur Frauen mit mindestens einem Kind unter 3 Jahren im Haushalt
erklärt werden können.
Einstellungsmerkmale der Eltern sind
nur einer von zahlreichen Erklärungsfaktoren. Auch die besonderen Bedingungen
der Migrationssituation und kulturelle
Hintergründe des Herkunftslandes könn-
Betreuungsarrangements von Deutschen und türki-
ten Besonderheiten erklären (siehe dazu u.a. Berg-Lupper
schen Migranten
2007; Nauck et al. 2008; Dörfler 2007). Einstellungen neh-
Wie weiter oben bereits erläutert, beziehen sich die nach-
men jedoch eine besondere Rolle als Erklärungsfaktor ein.
folgenden Analysen nur auf Mütter mit unter 3-jährigen Kin-
Sie basieren auf grundlegenden Leitbildern und sind gleich-
dern in Westdeutschland.
zeitig durch die individuellen Erfahrungen beeinflusst.
Betrachtet man die Betreuungsarrangements der beiden
Die Leitbilder, aus welchen Einstellungen resultieren, wer-
Gruppen, zeigt sich als erstes der hohe Anteil an türkischen
den in der Literatur in drei Gruppen unterteilt. Zunächst gibt
Frauen, die keinerlei Unterstützung bei der Kinderbetreuung
es die modernisierte männliche Versorgerehe. Hier ist die
bekommen. 61,1 % aller Frauen mit türkischem Migrations-
Kindererziehung hauptsächlich Aufgabe der Mutter. Sie setzt
hintergrund betreuen ihre Kinder selbst (siehe Tabelle 2).
ihre Berufstätigkeit bei der Geburt aus und arbeitet dann
Zudem wird auch hier sichtbar, dass Kinder aus türkischen
halbtags weiter bis das Kind nicht mehr betreuungspflichtig
Familien sich deutlich weniger in institutioneller Kinderbe-
ist. Kinderbetreuung in Kindertageseinrichtungen oder durch
treuung befinden als deutsche Kinder.
Freunde und Familie ergänzt lediglich die Betreuung durch
Während 24,1 % der deutschen Familien mit Kindern un-
die Mütter.
ter 3 Jahren institutionelle Kinderbetreuung beanspruchen,
Außerdem existieren Doppelversorgermodelle, in de-
sind es bei Familien mit türkischem Migrationshintergrund
nen beide Elternteile berufstätig sind. Die Kinderbetreuung
nur 18,8 %. Aber auch informelle Betreuungsarrangements
kann dann entweder als staatliche oder als familiäre Auf-
werden von türkischen Familien weniger in Anspruch ge-
gabe angesehen werden (Doppelversorgermodell mit außer-
nommen als von deutschen (20,1 % vs. 26,2 %).
häuslicher Kinderbetreuung/ mit Kinderbetreuung in der er-
Die Ergebnisse machen deutlich, dass in Familien mit tür-
weiterten Familie). Dementsprechend werden die Kinder in
kischem Migrationshintergrund die Kinder vor allem zu Hau-
Kindertageseinrichtungen oder durch Freunde und Familie
se betreut werden, während deutsche Familien auch auf an-
betreut (zu familienbezogenen Leitbildern und Kinderbetreu-
dere Möglichkeiten zurückgreifen. Wenn aber auf andere
ung siehe Pfau-Effinger 2009).
Arrangements zurückgegriffen werden muss, dann nehmen
Sich unterscheidende Leitbilder zwischen Türken und
türkische Familien vor allem informelle Hilfe in Anspruch.
Deutschen könnten unterschiedliches Verhalten bei der Kin-
Eine genauere Betrachtung dieser zeigt, dass hier vor al-
derbetreuung erklären (siehe dazu Nauck et al. 2008). Aller-
lem die Großeltern die Betreuung der Kinder übernehmen.
dings sind diese mit den hier genutzten Daten nicht messbar.
68,8 % aller türkischen Migrantinnen, die informelle Hilfe
Aber die mit den familienbezogenen Leitbildern verbunden-
in Anspruch nehmen, bekommen diese von den Eltern bzw.
en Einstellungen können erfasst werden. Es ist bekannt, dass
Schwiegereltern (GGS, eigene Berechnungen).
Werte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen auch nach
ihrer geographischen Herkunft variieren und die Kinderbetreuungsform bestimmen (siehe dazu Duncan et al. 2004;
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
13
Analysen aus dem BiB
ne Auswirkungen auf die tatsächliche Kinderbetreuung
Tabelle 3: Einstellungen zur Fremdbetreuung und Müttererwerbstätigkeit nach Migrationshintergrund,
Zustimmung in %
Aussage
Westdeutsche Frauen
ohne Migrationshintergrund*
Für Australien zeigen Hand und Hughes (2004)
ebenfalls qualitativ, dass unterschiedliche Einstellun-
türkische
Migrantinnen*
Viele in Tagesstätten Betreute haben später Probleme.
18,4
47,7
Die beste Betreuung sind
die eigenen Eltern.
79,5
92,8
Ein Kind im Vorschulalter
leidet darunter, wenn die
Mutter arbeitet.
betrachtet.
gen zur Kinderbetreuung auch in verschiedenem Verhalten resultieren. So betreuen Mütter, welche Fremdbetreuung für schädlich hielten, ihre Kinder meist
selbst. Andere hingegen sprachen der Förderung der
Kinder in Kindertageseinrichtungen einen besonderen
Wert zu und nutzen eben diese.
Tabelle 3 zeigt, dass die oben aufgestellten Annah-
38,2
men bestätigt werden können. Die Einstellungen zwi-
76,7
schen den beiden Gruppen variieren sehr stark. Eine
*Werte für „Stimme (sehr) zu“
negative Einstellung gegenüber institutioneller Betreuung zeigen vor allem die Mütter mit türkischem Migrati-
Datenquelle:
GGS Deutschland und türkische Zusatzerhebung, 1. Welle 2005/2006,
nur Frauen mit mindestens einem Kind unter 3 Jahren im Haushalt
onshintergrund. 47,7 % stimmen der Aussage zu, dass
viele Kinder, die in Tageseinrichtungen betreut werden, später Probleme bekommen. Bei den westdeut-
Herwartz-Emden 2003). Doch trifft das auch auf türkische
schen Müttern sind es gerade 18,4 %. Auch die Einstellung
Migranten zu? Und bestimmen diese Einstellungen zur Kin-
gegenüber Müttererwerbstätigkeit unterscheidet sich deut-
dererziehung tatsächlich über die Nutzung von institutionel-
lich. Während nur 38 % der deutschen Mütter der Meinung
len und privaten Betreuungsformen?
sind, dass Kinder im Vorschulalter darunter leiden, wenn die
Betrachtet man die obigen Ergebnisse zur Nutzung insti-
Mutter erwerbstätig ist, sind es bei den türkischen Müttern
tutioneller Betreuungsformen, so wird deutlich, dass Kinder
fast 77 %. Dennoch zeigen sich auch Gemeinsamkeiten zwi-
von Eltern mit türkischem Migrationshintergrund seltener
schen den beiden Gruppen. Gerade bei dem Item: „Die be-
Kinderkrippen besuchen. Somit ist zu vermuten, dass ihre
ste Betreuung sind die eigenen Eltern“ ist die Zustimmung
Eltern häufiger negative Einstellungen gegenüber institutio-
in beiden Gruppen sehr hoch. Von allen deutschen Frauen in
nellen Betreuungsformen aufweisen und vor allem staatli-
dieser Analyse stimmen 79,5 % der Aussage zu, dass die El-
che Kinderbetreuung ablehnen. Die Versorgung der Jüngs-
tern die beste Betreuung für die Kinder sind. Bei den türki-
ten könnte daher als Aufgabe der Familie, insbesondere der
schen Migrantinnen sind es fast 93 %.
Mutter, angesehen werden. Die Trennung von Mutter und
Zur genaueren Untersuchung der Einstellung zur Fremd-
Kind überhaupt sollte als negativ für die emotionale Entwick-
betreuung wurde für die weitere Analyse ein Index aus drei
lung des Kindes angesehen werden. Außerdem ist zu vermu-
verschiedenen Items gebildet:
ten, dass die Berufstätigkeit von Frauen, insbesondere von
•
Müttern, abgelehnt wird. Diese sollten vollkommen in ihrer
Es ist gut für Kinder, wenn sie früh von anderen Personen
betreut werden.
Mutterrolle aufgehen (zum Thema Einstellungen und Kinder-
•
Die beste Betreuung sind die Eltern.
betreuung siehe Dörfler 2007).
•
In Tagesstätten betreute Kinder haben später Probleme.
Dagegen sollte die höhere Kinderbetreuungsquote deut-
Je höher der Wert einer Person auf diesem Index, des-
scher Kinder in Tageseinrichtungen mit Zustimmung zum
to positiver ist ihre Einstellung gegenüber Fremdbetreuung.
Nutzen institutioneller Betreuungsformen für die frühkindli-
Abbildung 1 zeigt, dass die beiden Gruppen konträre Ein-
che Entwicklung einhergehen.
stellungen gegenüber Fremdbetreuung von Kindern haben.
Bisher wurde dieser Zusammenhang bereits von Her-
Während die westdeutschen Mütter ohne Migrationshinter-
wartz-Emden (2003) untersucht. Es wurde auf Basis einer
grund mit unter 3-jährigen Kindern häufiger positiv gegen-
qualitativen Untersuchung gezeigt, dass sich die Einstellun-
über einer Fremdbetreuung eingestellt sind, sehen türkische
gen zur Mutterschaft und Weiblichkeit zwischen Migranten
Frauen das eher negativ. Bei Westdeutschen sind die Werte
und Deutschen stark unterscheiden. Es wurden jedoch kei-
1 und 2 des Index am wenigsten vertreten (6 % bzw. 11 %),
14
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Analysen aus dem BiB
den Zusammenhang zwischen der Einstellung der Mütter
Abbildung 1: Einstellung zur Fremdbetreuung (Indexwerte) nach Migrationshintergrund, in %
zur Fremdbetreuung und den genutzten Betreuungsarrangements.
Betrachtet man die deutschen Frauen, so zeigt sich, dass
30
ihre Einstellung zur Fremdbetreuung und ihre Betreuungsarrangements zusammenhängen. Haben die Frauen eine po-
25
sitive Einstellung zur Fremdbetreuung, so nehmen sie auch
eher institutionelle oder informelle Unterstützung in An-
20
spruch. Jeweils rund 25 % der westdeutschen Frauen, die
eine positive Einstellung zur Fremdbetreuung haben, neh-
15
men informelle oder institutionelle Unterstützung an. Dagegen sind es bei einer negativen Einstellung zur Fremdbetreu-
10
ung nur 16 % die institutionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Die Erwartung, dass Frauen mit negativen Einstellungen ge-
5
genüber Fremdbetreuung auch seltener auf solche zurückgreifen und insbesondere auch auf institutionelle Kinderbe-
0
sehr negativ
sehr positiv
Einstellung zur Fremdbetreuung (Indexwerte)
westdeutsche Frauen, ohne Migrationshintergrund
treuung verzichten, lässt sich für die deutschen Frauen somit
bestätigen.
Bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund zeigt
türkische Migrantinnen
Datenquelle: GGS Deutschland und türkische Zusatzerhebung, 1.Welle 2005/2006, nur Frauen mit mindestens
einem Kind unter 3 Jahren im Haushalt, grafische Darstellung: BiB
sich dieser Zusammenhang ebenfalls. Aber auch hier sind
die Tendenzen zu erkennen. Bei türkischen Frauen, die eine
während bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund
stark negative Einstellung zur Fremdbetreuung aufzeigen,
hier die Werte bei 24 % bzw. 26 % liegen. Ein umgekehr-
nehmen nur 18,4 % institutionelle und nur 16 % informel-
tes Verhältnis liegt bei einer sehr positiven Einstellung zur
le Hilfe bei der Kinderbetreuung an. Haben die türkischen
Fremdbetreuung vor.
Frauen dagegen eine sehr positive Einstellung, haben 24 %
Dies weist darauf hin, dass bei Frauen mit türkischem Migrationshintergrund tatsächlich ein anderes familienbezogenes Leitbild vorliegt als bei westdeutschen Frauen ohne
Migrationshintergrund. Letztere befürworten eher die Berufs-
Abbildung 2: Zusammenhang zwischen der Einstellung
zur Fremdbetreuung und der Unterstützung
bei der Kinderbetreuung, in %
70
tätigkeit der Mütter und sind allgemein gegenüber Fremd-
65
betreuung aufgeschlossener. Dies weist auf ein Leitbild hin,
60
das eher im Sinne des Doppelversorgermodells ist. Dagegen
55
lehnen die türkischen Frauen die Berufstätigkeit der Mütter
50
ebenso wie Fremdbetreuung häufiger ab und tendieren da-
45
mit mehr zur männlichen Versorgerehe. Dies untermauert
40
35
insbesondere die Tatsache, dass drei Viertel der türkischen
30
Frauen die Berufstätigkeit von Müttern ablehnen.
25
20
Einstellungen als Erklärungsfaktor für Kinderbetreu-
15
ung
10
Wie gezeigt wurde, unterscheiden sich die Einstellungen zur Kindererziehung und Berufstätigkeit von Frauen zwischen deutschen und türkischen Eltern in Westdeutschland.
Nun soll geklärt werden, ob diese Unterschiede einen Beitrag zur Klärung der unterschiedlichen Betreuungsarrangements der beiden Gruppen leisten können. Abbildung 2 zeigt
5
0
negativ
weder noch
positiv
westdeutsche Frauen
ohne Migrationshintergrund
negativ
weder noch
positiv
türkische Migrantinnen
Einstellung zur Fremdbetreuung
keine Unterstützung
informelle Unterstützung
institutionelle Unterstützung
Datenquelle: GGS Deutschland und türkische Zusatzerhebung, 1.Welle 2005/2006, nur Frauen mit mindestens
einem Kind unter 3 Jahren im Haushalt, grafische Darstellung: BiB
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
15
Analysen aus dem BiB
informelle und 25 % institutionelle Unterstützung bei der
im Gegensatz zu den westdeutschen Frauen sieht man hier
Betreuung ihrer unter 3-jährigen Kinder. Für die türkischen
neben dem hohen Prozentsatz der zu Hause betreuten Kin-
Frauen trifft die Erwartung, dass positivere Einstellung ge-
der keinen Zusammenhang zwischen Einstellung zur Fremd-
genüber Fremdbetreuung auch zu häufigerer und intensiver-
betreuung und Betreuungsarrangement. Das bedeutet, egal
er Nutzung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten führt, somit
wie die Frauen zur Fremdbetreuung stehen, sie betreuen
zwar zu, aber in einem schwächeren Ausmaß.
ihre Kinder vor allem selbst.
Diese Schlussfolgerung macht deutlich, dass in beiden
Zusammenfassung und Fazit
Gruppen die männliche Versorgerehe am häufigsten präfe-
Die Ergebnisse haben gezeigt, dass es tatsächlich Unter-
riert wird, die Auswirkungen dieses Leitbildes auf die Betreu-
schiede im Betreuungsverhalten von westdeutschen Frauen
ung von unter 3-jährigen Kindern aber unterschiedlich sind.
ohne Migrationshintergrund und Frauen mit türkischem Mig-
Deutsche Frauen lassen ihre Kinder trotzdem häufiger durch
rationshintergrund gibt. Türkische Frauen betreuen ihre Kin-
andere Personen oder institutionell betreuen, während türki-
der häufiger selbst als deutsche. Diese nehmen dafür öfter
sche Migrantinnen auf die Betreuung zu Hause setzen. Somit
institutionelle Unterstützung in Anspruch. Auch wurden star-
zeigen unsere Analysen, dass die unterschiedlichen Einstel-
ke Unterschiede in der Einstellung zur Fremdbetreuung und
lungen zur Fremdbetreuung von Kindern keinen Beitrag zur
zur Müttererwerbstätigkeit gezeigt. Türkische Migrantinnen
Erklärung des unterschiedlichen Betreuungsverhaltens von
stehen der Erwerbstätigkeit einer Mutter negativer gegen-
deutschen und türkischen Frauen leisten können. Nicht nur
über als deutsche Frauen. Auch haben sie eine geringere Ak-
die Einstellung zur Fremdbetreuung, sondern auch zur Rolle
zeptanz von Fremdbetreuung. Der Zusammenhang zwischen
der Frau und Mutter könnte entscheidend für die Ausgestal-
Einstellungen und der Nutzung von Kinderbetreuung konnte
tung der Kinderbetreuung sein. Aufschlussreich könnte zu-
in beiden Gruppen gezeigt werden. Haben deutsche und tür-
dem die Berücksichtigung ökonomischer Zwänge oder der
kische Frauen in Westdeutschland eine positive Einstellung
Einstellungen der Väter sein.
zur Fremdbetreuung, so nehmen sie auch häufiger institutionelle oder informelle Unterstützung in Anspruch. Zeigen die
Literaturverzeichnis
Frauen in unserer Analyse eine negative Einstellung, so be-
Alt, Christian; Teubner, Markus (2007): Private Betreuungs-
treuen sie ihre Kinder zum Großteil selbst.
verhältnisse. Familien und ihre Helfer. In: Bien, Walter;
Die Belege dafür, dass diese unterschiedlichen Einstellun-
Rauschenbach, Thomas; Riedel, Birgit (Hg.): Wer betreut
gen die unterschiedliche Nutzung der Betreuungsarrange-
Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreuungsstudie. Berlin:
ments zwischen den beiden Gruppen erklären, lassen sich
Cornelsen Verlag.
jedoch in unseren Analysen nicht nachweisen. Auch unter
Berg-Lupper, Ulrike (2007): Kinder mit Migrationshinter-
Kontrolle der Einstellung zur Fremdbetreuung bleiben Unter-
grund. Bildung und Betreuung von Anfang an? In: Bien,
schiede in der Kinderbetreuung zwischen deutschen und tür-
Walter; Rauschenbach, Thomas; Riedel, Birgit (Hg.): Wer
kischen Frauen in Westdeutschland bestehen.
betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreuungsstu-
Bezüglich der familienbezogenen Leitbilder lassen sich
die. Berlin: Cornelsen Verlag.
auf Grundlage unserer Ergebnisse folgende Schlussfolgerun-
Böttcher, A.; Krieger, S.; Kolvenbach, F.-J. (2010): Kinder
gen treffen. Für die westdeutschen Frauen lässt die Über-
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einstimmung von Einstellungen und Verhalten darauf schlie-
Statistisches Bundesamt: Wirtschaft und Statistik, Heft
ßen, dass ein zugrundliegendes Leitbild, das oft dem Modell
2/2010: 158- 164.
der Doppelversorgerehe entspricht, die Nutzung von Betreu-
Dörfler, Sonja (2007): Kinderbetreuungskultur in Europa. Ein
ungsarrangements bedingt. Dennoch zeigen die Ergebnisse,
Vergleich vorschulischer Kinderbetreuung in Österreich,
dass auch bei den westdeutschen Frauen ohne Migrations-
Deutschland, Frankreich und Schweden. Herausgegeben
hintergrund noch ein großer Prozentsatz die Kinder selbst
von Universität Wien. Österreichisches Institut für Famili-
betreut, was wiederum mit dem Leitbild der männlichen VerBei den türkischen Migrantinnen entsprechen die Ergebnisse auch dem Modell der männlichen Versorgerehe. Doch
16
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(Stand: 12.07.11).
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
17
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Aktuelles
„Gender, Politics and Population“:
Aktuelle Ergebnisse der demografischen und familiensoziologischen Forschung bei
der European Population Conference 2012 vom 13. bis 16. Juni 2012 in Stockholm
Bei der diesjährigen European Population Confe-
lenwert von Geschlechterthemen in der demografischen
rence der European Association for Population Stu-
Forschung. Dabei spielten vor allem bestehende Geschlech-
dies in Kooperation mit der Stockholm University De-
terunterschiede bei der Gesundheit, der Lebenserwartung
mography Unit (SUDA) vom 13. bis 16. Juni 2012
und Mortalität und ihre wachsende Bedeutung für die Be-
in Stockholm stand neben der Präsentation aktuel-
völkerungsentwicklung in Europa eine immer größere Rol-
ler Forschungsergebnisse und -stände vor allem das
le. Was die Betonung der Geschlechtergleichheit in allen Le-
Schwerpunktthema „Gender, Policies and Populati-
bensbereichen angehe, sei Schweden schon früh zu einem
on“ im Mittelpunkt.
Vorreiter in Europa geworden, betonten die Wissenschaft-
In ihrem Eröffnungsstatement betonten die Komiteemit-
ler. So werde in vielen demografischen Analysen Schweden
glieder Elisabeth Thomson, Helen Eriksson, Gunnar Anders-
als Referenzland bei der Untersuchung der komplexen Be-
son und Gerda Neyer den mittlerweile gestiegenen Stel-
ziehungen zwischen Geschlechtergleichheit, den politischen
Maßnahmen und den demografischen Auswirkungen betrachtet. Die Kommitteemitglieder betonten,
dass die Konferenz zum wissenschaftlichen Austausch der gut 900 anwesenden Wissenschaftler
gerade im Hinblick auf diese Thematik beitragen
solle. An der Konferenz waren auch Wissenschaftler des BiB mit der Vorstellung eigener Forschungsergebnisse in Vorträgen bzw. Poster Sessions aus
ihrem Forschungsbereich beteiligt, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Tineke Fokkema, Robert Naderi: Warum haben ältere türkische Migranten ein höheres
Risiko, sich einsam zu fühlen?
Mit der Frage, ob und warum ältere türkische
Neben zahlreichen Beiträgen von Wissenschaftlern und Wissenschaflerinnen präsentierte das BiB auch sein kürzlich runderneuertes zentrales wissenschaftliches Publikationsorgan, die Zeitschrift „Comparative Population Studies“ auf der European Population Conference in
Stockholm. Mit Informationsflyern und gedruckten Artikeln der Zeitschrift gewährte Redakteurin Katrin Schiefer interessierten Wissenschaftlern einen Einblick in die Online-Zeitschrift. Seit der Umstellung der ehemaligen Zeitschrift für Bevölkerungsforschung in ein frei
zugängliches elektronisches Open-Access-Format hat das Interesse
in der Wissenschaftswelt an der Publikation stark zugenommen. Begrüßt wurde zudem die zweisprachige Veröffentlichung der Beiträge
in Englisch und Deutsch, was zu einer Erweiterung sowohl des Autoren- als auch des Leserkreises erheblich beitrug. (Weitere Informationen unter www.comparativepopulationstudies.de).
(Bild: Katharina S. Becker; Text: Bernhard Gückel)
18
Migranten in Deutschland, die eine wachsende Bevölkerungsgruppe darstellen, ein höheres Risiko
haben, sich einsam zu fühlen als ältere Personen
ohne Migrationshintergrund, beschäftigten sich Tineke Fokkema und Robert Naderi in ihrem Vortrag.
Hierfür untersuchten sie die Gründe für Einsamkeit im Alter zwischen 50 und 79 Jahren auf der
Basis der Daten des Generations and Gender Survey (GGS) der ersten Welle. Es zeigt sich, dass ältere türkische Staatbürger tatsächlich ein höheres
Risiko aufweisen, sich einsam zu fühlen. Als besondere Risikofaktoren stellten sich ein schlechter
selbsteingeschätzter Gesundheitszustand, niedrige
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Bildung und die ökonomische Situation heraus. Vor Einsam-
bei beiden Untersuchungsgruppen die Geburt eines Kindes.
keit hingegen schützen eine zufriedenstellende Partnerschaft
Generell zeigt sich, dass Änderungen in den Einstellungen
und der Kontakt zu den eigenen Kindern. Dabei kompen-
und der Familiensituation eine Veränderung der Lebensform
sieren positiv bewertete Eltern-Kind-Beziehungen auch eine
mit sich bringen, Veränderungen im Beruf und der ökonomi-
räumliche Distanz zwischen den Generationen. Betrachtet
schen Situation aber keinen Einfluss haben.
man die Risikofaktoren, so kann gesagt werden, dass mit
der schlechteren Gesamtsituation türkischer Befragter nied-
Can Aybek, Gaby Strassburger (Katholische Hoch-
rigere Partizipationsmöglichkeiten einhergehen und daher
schule für Sozialwesen Berlin) sowie İlknur Yüksel
ein stärkeres Gefühl von Einsamkeit im Alter im Vergleich zu
und İsmet Koç (beide Hacettepe Universität, Anka-
Deutschen ohne Migrationshintergrund festzustellen ist.
ra): Heiratsmigration aus der Türkei nach Deutschland
Robert Naderi, Jürgen Dorbritz: Entwicklung nicht-
Tiefgehende Analysen zu den Charakteristika der Paarbe-
ehelicher Partnerschaften im Vergleich zwischen in
ziehungen bei transnationalen Paaren sowie den Prozessen
Deutschland lebenden türkischen Staatsbürgern und
der Heiratsmigration sind das Ziel des Projekts „Marriage Mi-
Deutschen ohne Migrationshintergrund im Verlauf
gration from Turkey to Germany – A Qualitative Longitudinal
von drei Jahren
and Dyadic Perspective“ von Can Aybek, Gaby Strassburger,
Welche Faktoren beeinflussen die Dauerhaftigkeit einer
İlknur Yüksel und İsmet Koç, dessen zentrale Resultate die
nichtehelichen Partnerschaft und welche Umstände bewir-
Wissenschaftler auf der Konferenz vorstellten. Sie befrag-
ken, dass eine Ehe eingegangen oder die Beziehung beendet
ten dazu Paare in transnationalen Beziehungen (Männer und
wird? Ist die nichteheliche Partnerschaft mehr oder weni-
Frauen), die im Zeitraum des ersten Interviews in der Türkei
ger eine „Vorübung“ für die Ehe oder eine echte Alternative?
bzw. in Deutschland lebten, auf welchem Weg sich die Paa-
Gibt es hier Unterschiede zwischen türkischen Migranten und
re kennengelernt haben oder welche Faktoren ihre (trans-
Deutschen ohne Migrationshintergrund? Diese Fragen unter-
nationale) Partnerwahl beeinflussten. Dabei erlauben die
suchten Robert Naderi und Jürgen Dorbritz auf der Basis der
Daten des Projekts einen Blick auf unterschiedliche Aspek-
Daten zweier Wellen des Generations and Gender Surveys
te der Partnerschaft. Für ihren Beitrag zur Konferenz kon-
(GGS) in einem Abstand von drei Jahren. Hierzu wurden alle
zentrierten sich die Soziologen auf die Phase, in der die in
Befragten, die in der ersten Welle eine nichteheliche Paarbe-
der Türkei lebenden Partner, bzw. die Partnerin, noch nicht
ziehung geführt haben, dahingehend untersucht, welche Si-
nach Deutschland gezogen war. Die untersuchten Faktoren,
tuation mit diesem Partner in der zweiten Welle vorliegt. Ihre
wie unter anderem die Kommunikation zwischen den Part-
Hypothesen folgten dabei der Vorstellung, dass die Werte
nern bzw. ihre Erwartungen an den anderen und die Art der
und Meinungen zur Eheschließung, welche selbst durch kul-
Beziehungserfahrungen vor der Hochzeit erlaubten es, ein
turelle Faktoren beeinflusst sind, eine entscheidende Rol-
besseres Verständnis über die Paarformierungs- und Part-
le für die Pfade in Richtung Dauerhaftigkeit der nichteheli-
nerwahlprozesse im transnationalen Kontext zu entwickeln,
chen Beziehung, Eheschließung oder Trennung spielen. So
betonten die Wissenschaftler.
wurde deutlich, dass die türkischen Befragten stärker positive Einstellungen zur Ehe haben und im Vergleich zu den
Thomas Skora, Gil Viry, Heiko Rüger: Berufsbedingte
deutschen Befragten ohne Migrationshintergrund eine nied-
räumliche Mobilitätsverläufe und ihre Beziehung zur
rigere Akzeptanz gegenüber nichtehelichen Partnerschaf-
Sozialstruktur am Beispiel Deutschland
ten aufweisen. In den Ergebnissen zeigt sich folglich zum
Der technologische Fortschritt und die Intensivierung in-
einen, dass generell nichteheliche Paarbeziehungen bei tür-
ternationaler Wirtschaftsbeziehungen haben einen Wand-
kischen Staatsbürgern kaum vorkommen, selten innerhalb
lungsprozess in Gang gebracht, der die Menschen in zuneh-
eines gemeinsamen Haushalts praktiziert werden und schon
mendem Maße mit Flexibilitäts- und Mobilitätserfordernissen
gar nicht dauerhaft bestehen bleiben. Auffallend ist, dass
konfrontiert. Während Beobachter gesellschaftlicher Trends
nicht-eheliche Paarbeziehungen bei Türken häufiger in eine
betonen, dass eine Bereitschaft zu Mobilität zunehmend not-
Trennung mündeten als bei Deutschen ohne Migrationshin-
wendig ist, um die eigene Integration in den Arbeitsmarkt zu
tergrund. Wesentlicher Faktor für den Übergang zur Ehe ist
sichern, verweisen mehrere empirische Forschungsarbeiten
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
19
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
auf einen positiven Zusammenhang zwischen Mobilitätser-
tete Frau Becker die Ursachen für die divergierenden und
fahrungen und beruflichem Erfolg (z.B. in Form eines höhe-
konvergierenden Aussagen der Partner. Erste Ergebnisse der
ren Einkommens). Diese Arbeiten blieben jedoch vornehm-
Analyse zeigten, dass eine Übereinstimmung der Aussagen
lich auf eine Analyse von Umzügen beschränkt.
dann wahrscheinlicher ist, wenn das Paar zusammenlebt,
Vor diesem Hintergrund analysierten Thomas Skora (BiB),
wenn die Partner Kindern einen ähnlichen Stellenwert bei-
Gil Viry (Universität Lancaster) und Heiko Rüger (BiB) den
messen oder wenn bereits gemeinsame Kinder vorhanden
Zusammenhang zwischen bisherigen Mobilitätserfahrungen
sind. Insgesamt überrasche es, dass Faktoren wie Altersho-
im Lebensverlauf und gegenwärtigen sozioökonomischen
mogenität, ein ähnlicher sozioökonomischer Status oder die
und soziodemografischen Merkmalen auf Basis der 2010 in
Partnerschaftsdauer keine signifikanten Effekte zeigten.
Deutschland erhobenen zweiten Welle der Studie „Job Mobilities and Family Lives in Europe“. Mit den Methoden der Se-
Frank Micheel, Ines Wickenheiser: Der Einfluss so-
quenzmusteranalyse extrahierten die Wissenschaftler aus In-
zioökonomischer Charakteristika auf die Bereitschaft
formationen zu vergangenen Berufs- und Mobilitätsepisoden
zur Weiterbeschäftigung im Rentenalter
typische Berufs- und Mobilitätsverläufe, wobei neben Um-
Lassen sich auf der Grundlage von Informationen über den
zügen auch zirkuläre Formen beruflicher Mobilität, wie täg-
sozioökonomischen Status – gemessen an der beruflichen
liches Fernpendeln oder häufiges Übernachten fern von zu-
Stellung und dem verfügbaren Haushaltseinkommen – zuver-
hause im Zuge der Typenbildung Berücksichtigung fanden.
lässige Aussagen über die Bereitschaft, im Ruhestandsalter
Die Befunde der anschließenden Zusammenhangsanalyse
weiter zu arbeiten, treffen? Frank Micheel und Ines Wicken-
ergänzen die Erkenntnisse aus bisherigen Forschungsarbei-
heiser zeigten anhand der Daten ihrer Studie zur Weiterbe-
ten: Personen, die in der Vergangenheit über ausgedehnte
schäftigung im Rentenalter, dass der sozioökonomische Sta-
Zeitepisoden zirkulär mobil waren, sind überdurchschnittlich
tus einen statistisch bedeutsamen Beitrag zur Erklärung der
häufig in den höheren Einkommensgruppen zu finden. Die
Weiterbeschäftigungsbereitschaft leisten kann. Beschäftigte
Resultate zeigten darüber hinaus, dass Personen, deren Be-
in einer höheren beruflichen Stellung waren – im Vergleich
rufsverlauf durch eine häufige berufsbedingte Abwesenheit
zu Arbeitnehmern in einer unteren bzw. mittleren berufli-
von zuhause geprägt war, zum Befragungszeitpunkt eher
chen Position – signifikant stärker bereit, länger im Erwerbs-
Führungspositionen einnahmen. Für langjährige Fernpend-
leben zu bleiben, wobei dieser Zusammenhang allerdings
ler ließ sich ein derartiger Zusammenhang hingegen nicht
geschlechtsspezifisch zu sein scheint. Insbesondere für die
feststellen.
Frauen könne die berufliche Stellung als ein Motivationsfaktor für eine Weiterbeschäftigung gesehen werden, erläuterte
Katharina S. Becker: Was wissen Sie? Was wissen
Micheel. Der zweite untersuchte Indikator, das Einkommen,
wir? Widersprüche in den Äußerungen von Partnern
erwies sich in der Analyse hingegen als ein bedeutender ne-
zur praktizierten Verhütungsmethode des Paares
gativer Einflussfaktor. Hier zeigte sich, dass die Bereitschaft
Studien, die die Verhütungsmethoden in Beziehungen un-
zur Weiterbeschäftigung im Rentenalter umso größer aus-
tersuchen, basierten meist auf den Informationen nur eines
fiel, je niedriger das monatliche Nettohaushaltseinkommen
Partners, nämlich der weiblichen Seite. Nur wenige Unter-
der Beschäftigten war. Dieser Befund deute, so Micheel,
suchungen konnten sich auf Informationen beider Partner
auf einen ökonomischen Anreiz der Weiterbeschäftigung im
stützen, wie Katharina S. Becker in ihrem Vortrag einleitend
Renten- und Ruhestandsalter hin, wobei auch hier der Zu-
betonte. Um dieses Forschungsdefizit zu beheben, berück-
sammenhang geschlechtsspezifisch unterschiedlich zu sein
sichtigte sie die Äußerungen beider Partner zur gewählten
scheine.
Verhütungsmethode und konstatierte bei jedem vierten Paar
widersprüchliche Äußerungen beider Partner zur gewählten
Lenore Sauer, Kerstin Ruckdeschel, Robert Naderi:
Form der Geburtenkontrolle. Erste Resultate ihrer Untersu-
Zum Problem der Reliabilität eines retrospektiven
chung auf der Basis des Pairfam-Surveys zeigten deutlich
Forschungsansatzes im deutschen „Generations and
differerierende Aussagen bei der Frage, ob in der Beziehung
Gender Survey“
überhaupt verhütet wird (ja oder nein), und wie konsequent
Im Mittelpunkt ihres Vortrags standen methodische Pro-
Verhütung praktiziert wird. Vor diesem Hintergrund betrach-
bleme des Generations and Gender Survey. Dieser Survey
20
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
bietet unter anderem Informationen zum Lebensverlauf der
sich durch eine gesundheitliche Anpassungsfähigkeit bzw.
Befragten, die methodisch unterschiedlich erhoben wurden.
Resilienz gegenüber solchen Gesundheitsrisiken auszeich-
Zum einen wurde ein prospektiver Ansatz mit einem Panel-
nen. Genauere Kenntnisse über diese Prozesse sind für die
Design gewählt, zum anderen wurde mit retrospektiven Fra-
Theorieentwicklung sowie für die Ableitung von Ansatzpunk-
gen, deren Qualität im Falle der deutschen Daten allerdings
ten gesundheitlicher Interventionsprogramme mit dem Ziel
teilweise als problematisch bezeichnet werden muss, gear-
der Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten bedeut-
beitet. Insbesondere wird durch die vorliegenden Daten die
sam. Dies gilt vor allem dann, wenn sich sozialstrukturell
Kinderlosigkeit bei den älteren Kohorten über- und in den
verankerte, gesundheitliche Schutzfaktoren bestimmen lie-
mittleren Kohorten unterschätzt. Zudem war der Anteil je-
ßen, durch welche sich diese „abweichenden“ Fälle von ge-
mals verheirateter Frauen in den älteren Kohorten zu nied-
sundheitlich vulnerablen Alten der gleichen Sozialschicht un-
rig. Als Ursache für diese Probleme wurde eine Kombination
terscheiden.
aus Stichprobenziehung auf Basis eines Random Route Ver-
Vor dem Hintergrund des Konzepts gesundheitlicher Resi-
fahrens sowie Fehlkodierungen in Folge eines zu komplexen
lienz präsentierte Andreas Mergenthaler empirische Ergeb-
Fragebogens und in Folge von Interviewereffekten ausge-
nisse zu gesundheitlicher Ungleichheit und Anpassungsfähig-
macht. Letztere nahmen besondere Bedeutung im Rahmen
keit älterer Menschen (65 Jahre und älter) auf der Grundlage
des Vortrages ein. Abschließend wurden mögliche Lösungs-
des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Die physische ge-
ansätze für den Umgang mit den Daten diskutiert.
sundheitliche Lebensqualität der Männer folgt einem ausge-
Im Rahmen der EPC fand zudem die neunte Sitzung des
prägten Schichtgradienten. Bei den Frauen sind gesundheit-
„Network of National Focal Points“ des „Generations and
liche Ungleichheiten schwächer ausgeprägt und zeigen sich
Gender Programme“ statt, an dem für das BiB Robert Na-
nur hinsichtlich des mentalen gesundheitlichen Wohlbefin-
deri teilgenommen hat. Hier wurde der Stand der Dinge in
dens. Ein Schwerpunkt der Ausführungen lag auf den Er-
den einzelnen am GGS teilnehmenden Ländern präsentiert
gebnissen zu gesundheitlichen Schutzfaktoren, wie z.B. ge-
(u.a. Verwirklichung der Befragungen der 2. und 3. Welle)
sundheitsbezogenen Lebensstilen oder sozialem Kapital. Die
und über die zukünftige Entwicklung des Programms gespro-
Vermeidung einer lebensstilbedingten Kumulation gesund-
chen.
heitlicher Risikoverhaltensweisen und Einstellungen erhöht
bei Männern und Frauen die Chance gesundheitlicher An-
Andreas Mergenthaler: Soziale Determinanten für
passungsfähigkeit. Auch die Zufriedenheit mit der materiel-
gesundheitliche Resilienz bei Älteren
len Wohlfahrt wirkt sich günstig auf die Wahrscheinlichkeit
Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken folgen auch
gesundheitlicher Resilienz bei den Männern aus. Hinsichtlich
bei Senioren einem sozialen Gefälle (Gradienten): Je höher
der mentalen gesundheitlichen Lebensqualität älterer Frau-
der während der aktiven Erwerbsphase erworbene sozioöko-
en kommen – neben „gesundheitsbewussten“ Lebensstilen
nomische Status, desto besser der Gesundheitszustand im
– die Größe des Freundes- und Verwandtschaftsnetzwerkes
Rentenalter. Ältere Menschen aus benachteiligten Status-
sowie die Zufriedenheit mit Aspekten der materiellen Lage
gruppen tragen somit die vergleichsweise höchsten Krank-
als gesundheitliche Schutzfaktoren in Betracht.
heits- und Sterblichkeitsrisiken. Wenig beachtet wurden
bislang gesundheitliche Unterschiede innerhalb dieser Statusgruppen. Von besonderem Interesse sind Senioren, die
Text: Bernhard Gückel unter Mitarbeit von Andreas Mer-
trotz sozioökonomischer Risiken eine überdurchschnittlich
genthaler, Can Aybek, Thomas Skora, Katharina Becker,
hohe Gesundheit im Altersverlauf aufrechterhalten, da sie
Lenore Sauer und Robert Naderi, BiB
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
21
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Aktuelles: Das BiB in den Medien
Macht Mobilität krank? – Die Soziologen Dr. Detlev Lück, Silvia Ruppenthal und
Prof. Dr. Norbert F. Schneider zu den gesundheitlichen Folgen berufsbedingter
räumlicher Mobilität und Bewältigungsstrategien
Immer mehr Arbeitnehmer müssen aus beruflichen
kommen, zweimal so hoch im Vergleich mit Nicht-Mobilen.
Gründen mobil sein und das hat Folgen für die Ge-
Die Betroffenen berichteten oftmals über Kopfschmerzen,
sundheit, wie der aktuelle Gesundheitsreport der
Rückenprobleme und Schlaflosigkeit. Hinzu komme, dass sie
Techniker Krankenkasse zeigt. So wurde festgestellt,
keine Zeit hätten zum Arzt zu gehen und öfter Probleme mit
dass Menschen, die berufsbedingt pendeln oder um-
ihren Zähnen aufwiesen, weil sie meist zu spät zum Zahnarzt
ziehen, häufiger an psychischen Störungen leiden.
gingen. Sie seien öfter krank als Nichtmobile und hätten ein
Amerikanische Studien zur Gesundheit von Pend-
höheres Risiko, in einen Arbeitsunfall verwickelt zu werden,
lern zeigen, dass sie überdurchschnittlich oft über-
erläuterte Frau Ruppenthal.
gewichtig sind und unter hohem Blutdruck leiden.
Neben den gesundheitlichen Folgen wirke sich Mobilität
Zudem leiden die Sozialkontakte und die Familien-
auch auf das Familienleben aus: zu wenig Zeit für die Familie
beziehungen, wie die Familiensoziologen Dr. Detlev
belaste den Partner daheim, der die ganzen täglichen Fami-
Lück (BiB) im Interview mit der Presseagentur www.
lienaktivitäten alleine organisieren müsse. Zudem gehe Mo-
pressetext.com vom 19.06.2012 und Silvia Rup-
bilität bei den Frauen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit
penthal (BiB) in einem Vortrag in der Europäischen
kinderlos zu bleiben einher.
Akadamie Berlin am 27. Juni 2012 betonten. Wie sich
die Auswirkungen des Pendelns eingrenzen lassen,
Wie wird man zum „Besser-Pendler“? –
erläuterte der Direktor des BiB, Prof. Dr. Norbert F.
Prof. Dr. Norbert F. Schneider zu Bewältigungsstra-
Schneider, am 15. Juli 2012 in der „Frankfurter All-
tegien des Pendelns in der FAZ vom 15. Juli 2012:
gemeinen Zeitung“.
Welche Möglichkeiten für die pendelnden Arbeitnehmer gibt
Als ein wesentlicher Faktor, der die Pendlergesundheit be-
es, um ihre Situation zu verbessern?
lastet, gilt Stress, wie Dr. Lück im Interview mit der Pres-
In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zei-
seagentur „www.pressetext.com“ betonte. Insbesondere bei
tung“ vom 15. Juli 2012 betonte der Direktor des BiB, Prof.
nichtbeeinflussbaren Momenten, etwa im Stau oder bei ver-
Dr. Norbert F. Schneider, dass für den Einzelnen nicht so sehr
passten Zügen, hätten die Betroffenen hohe psychische Be-
die Pendelentfernung ausschlaggebend sei, sondern viel-
lastungen auszuhalten. Dabei gehöre Deutschland zu den
mehr die Zeit, die für das Pendeln benötigt werde, sowie die
mobilsten Ländern Europas, wobei die jüngeren Generati-
Regelmäßigkeit. Die besser ausgebaute Infrastruktur führe
onen mehr Mobilitätserfahrung besäßen als ältere. Für die
dazu, dass längere Strecken heute viel schneller zurückgelegt
gesundheitlichen Folgen der Mobilität spiele allerdings auch
werden könnten als noch vor ein paar Jahren und die Pend-
die Mobilitätsform eine wichtige Rolle, wie Silvia Ruppenthal
ler nähmen das dann auch in Kauf. Diese Freiwilligkeit des
in ihrem Vortrag am 27. Juni 2012 in der Europäischen Aka-
Pendelns sei entscheidend für die Frage, ob es als belastend
demie Berlin bei der deutsch-türkischen Experteninitiative
empfunden werde oder nicht. Stressfördernd bzw. -senkend
„likeminds: german-turkish junior expert initiative - mobili-
sei dazu auch die Verlässlichkeit des gewählten Verkehrsmit-
ty today“ erläuterte. Ergebnisse der 2007 in sechs Ländern
tels und die Bequemlichkeit, also die konkrete Ausgestaltung
durchgeführten Mobilitätsstudie zu „Job Mobilities and Fami-
des Arbeitsweges. Auch der Arbeitgeber könne zur Entspan-
ly Lives“ zeigten, dass rekurrierende Formen der Mobilität,
nung der Lage beitragen: mit flexiblen Arbeitszeiten, einzel-
also zum Beispiel das tägliche Pendeln, von den Betroffenen
nen Heimarbeitstagen oder durch die Übernahme von Über-
als belastender empfunden werde als residenzielle Mobilität.
nachtungskosten am Arbeitsort.
Für Fernpendler sei die Chance, Gesundheitsprobleme zu be-
22
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Die beste Strategie für den gestressten Arbeitnehmer sei
bericht des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumfor-
es, die Pendelzeit für sich sinnvoll zu nutzen – mit Schla-
schung zufolge immer weniger Menschen in ihrer Heimatge-
fen, Lesen, Musikhören oder bei einem Gespräch mit Mit-
meinde und müssten pendeln.
reisenden. Letztlich müsse jeder für sich die richtige Lösung
finden – schließlich arbeiten dem aktuellen Raumordnungs-
Bernhard Gückel, BiB
„Mehr Zeit, mehr Kinder“:
Wirkt sich Familienpolitik auf die Geburtenentwicklung aus?
Dr. Martin Bujard im Essay der „Welt“ zu den Wirkungsmöglichkeiten von familienpolitischen Maßnahmen in der Ausgabe vom 03. Juli 2012 (Seite 2)
Nach den neuesten Zahlen des Statistischen Bundes-
Die Wirkung familienpolitischer Maßnahmen erfolge zeit-
amtes ist die Zahl der Geburten im Jahr 2011 weiter
verzögert, was auch mit sich nur langsam wandelnden Nor-
zurückgegangen. Damit wurden noch nie so wenige
men und Einstellungen zu tun habe. Anders als in der Wirt-
Kinder in Deutschland geboren. Mit welchen famili-
schaft gebe es in der Familienpolitik keine schnellen Effekte,
enpolitischen Mitteln lässt sich diese Entwicklung
da familienpolitische Maßnahmen aufeinander abgestimmt
positiv beeinflussen?
werden müssten – zumal in einem föderalen System, das ei-
Die Frage, ob sich mithilfe familienpolitischer Maßnah-
nen einheitlichen Politikansatz erschwere. Grenzen bei der
men auch die Geburtenentwicklung beeinflussen lässt, wird
Wirkung von Familienpolitik setzten auch ökonomische und
in der Wissenschaft seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert.
kulturelle Faktoren. Da innerhalb einer Legislaturperiode
Dr. Martin Bujard aus dem BiB zeigt in seinem Beitrag für
kaum sichtbare Erfolge von familienpolitischen Maßnahmen
die „Welt“ auf der Grundlage seiner Studie zum Zusammen-
vorweisbar sind, sei es um so wichtiger, eine langfristige fa-
hang zwischen Geburtenrückgang und Familienpolitik, die
milienpolitische Strategie zu kommunizieren. Bei allen fami-
für 28 Industrieländer die Entwicklung seit 1970 untersucht,
lienpolitischen Maßnahmen sollte es in erster Linie um das
dass es hier auf längere Sicht sehr wohl Auswirkungen gebe.
Wohlbefinden von Kindern und ihren Eltern gehen, denn:
Schließlich kristallisiert sich hier die Familienpolitik sogar als
Wenn es Familien gut gehe, entschieden sich auch mehr
Schlüsselfaktor heraus, wenn es um die Erklärung der unter-
Menschen für Kinder, so sein Resümee.
schiedlichen Geburtenraten in den einzelnen Ländern geht.
Wichtig sei, so Dr. Bujard, dass nicht eine einzelne familiBernhard Gückel, BiB
enpolitische Maßnahme zum Erfolg führe, sondern das Zusammenspiel von Zeitpolitik, Kinderbetreuung und finanziellen Transfers für Familien. Dabei zeige der internationale
Ländervergleich über den Zeitraum zwischen 1970 bis 2008,
dass Deutschland bei den kindbezogenen Leistungen im Mittelfeld liege, wenn man sie in Relation zu den Seniorenausgaben setze.
http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/
article107702111/Kommt-Zeit-kommt-Kind.
html
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
23
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Vorträge und Forschungsaktivitäten
Norbert F. Schneider: Folgen berufsbedingter Mobili-
Norbert F. Schneider zu den Inhalten des 8. Familien-
tät für die Familie und das Wohnen
berichts der Bundesregierung
Mit den Konsequenzen von berufsbedingter Mobilität
Im Mittelpunkt des kürzlich veröffentlichten 8. Famili-
für die Familienentwicklung und die Wohnsituation hat sich
enberichts der Bundesregierung steht das Thema „Zeit für
der Direktor des BiB, Prof. Dr. Norbert F. Schneider bei
Familien“. Er stellt die Bedeutung gemeinsam verbrachter
der Konferenz des European Network for Housing Research
Zeit für das Gelingen von Familie heraus und untersucht die
(ENHR) zum Thema „Housing: Local Welfare and Local Mar-
Gründe für subjektive und objektive Zeitknappheit der Fami-
kets in a Globalised World“ in seinem Vortrag am 25. Juni
lien in Deutschland.
2012 in Lillehammer befasst. Anhand ausgewählter Ergeb-
Der Bericht bildete den Hintergrund des Fachgesprächs
nisse der Studie zu „Job Mobilities and Family Lives in Eu-
mit dem Thema „Ach Du liebe Zeit!“ – Hintergründe und
rope“, die 2007 in mehreren europäischen Staaten durch-
Positionen für eine moderne Zeitpolitik“ der Arbeitsgemein-
geführt wurde, konstatierte er erhebliche Auswirkungen der
schaften der Familienorganisationen in Rheinland-Pfalz (AGF)
Mobilität auf die Familie. So hätten mobile Frauen ein vier-
am 13. Juni 2012 in Mainz, das von der Ministerin für Inte-
fach höheres Risiko kinderlos zu bleiben als Frauen ohne
gration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen der Landesregie-
Mobilitätserfahrungen, Frauen mit einer langen Mobilitäts-
rung Rheinland-Pfalz, Irene Alt, mit einem Grußwort zu den
geschichte sogar ein fünffach höheres Risiko. Zudem hätten
„Handlungsfeldern einer Familienzeitpolitik“ eröffnet wur-
die mobilen Frauen, die Kinder haben, eine durchschnittlich
de. Über die unterschiedlichen Begrifflichkeiten des Berichts
niedrigere Kinderzahl als nichtmobile Frauen; bei den Män-
und ihre Bezüge zur Lebenswirklichkeit der Familienmitglie-
nern zeigten sich hier keine Unterschiede, so Prof. Schnei-
der informierte der Direktor des BiB, Prof. Dr. Norbert F.
der. Die Mobilitätserfahrung wirke sich darüber hinaus auch
Schneider, der als Familiensoziologe an der Erstellung des
auf das Alter der Frauen bei der Erstgeburt aus. Es zeige sich
Familienberichts beteiligt war. Im Zentrum seines Vortrags
nämlich, dass die mobilen Frauen ihre Kinder in einem spä-
stand vor allem die Frage, wie eine moderne Zeitpolitik auf
teren Alter bekommen als die nichtmobilen Frauen. Je nach
unterschiedlichen Ebenen den Bedürfnissen einer Familie
gewählter Mobilitätsform könne der Altersunterschiede zwi-
entgegen kommen könnte.
schen ein bis zwei Jahren liegen. Im Gegensatz dazu treten
mobile Männer ihre Vaterschaft früher als die nichtmobilen
Norbert F. Schneider zur demografischen Entwick-
Männer an; hier liege die Differenz bei über 2 Jahren zwi-
lung in Deutschland
schen den mobilen und nichtmobilen Männern.
Mit den demografischen Perspektiven und Herausforde-
Was die Verteilung der Geschlechterrollen angehe, so füh-
rungen in Deutschland und Tschechien befasste sich am 24.
re die Mobilität der Männer zu einer Rückkehr zur traditio-
Mai 2012 eine Vortragsveranstaltung der Deutschen Bot-
nellen Arbeitsverteilung in der Partnerschaft, besonders bei
schaft in Prag, bei der der Direktor des BiB, Prof. Dr. Nor-
Paaren mit Kindern. Die Mobilität der Frauen hatte dagegen
bert F. Schneider, die Grundzüge der demografischen
nur einen geringen Einfluss auf die Verteilung der Hausarbeit
Entwicklung in Deutschland skizzierte. Die Lage in Tschechi-
und der Kinderbetreuung. Insgesamt seien berufsbedingte
en untersuchte Prof. Dr. Jitka Rychtaříková vom Lehr-
räumliche Mobilität und die Familienentwicklung in hohem
stuhl für Demografie und Geodemografie der Karlsuniversität
Maße miteinander verbunden, resümierte der Familiensozio-
Prag. Im demografischen Vergleich der beiden Länder zeigen
loge, wobei die Familienentwicklungsprozesse auch die Wahl
sich einige Gemeinsamkeiten. So wird auch die tschechische
der Wohnform signifikant beeinflussten. Zudem bestimme
Bevölkerung trotz ihrer momentan relativ stabilen Gesamt-
die Art der Wohnverhältnisse neben der gewählten Mobili-
zahl ähnlich wie Deutschland zukünftig beträchtlich altern.
tätsform auch das Ausmaß der Mobilität. So wählten Haus-
Zudem liegt die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) seit
besitzer vorzugsweise wiederkehrende Mobilitätsformen, wie
geraumer Zeit noch unter der Deutschlands. Die Veranstal-
das Pendeln.
tung fand im Rahmen der Veranstaltungen zum zwanzigjährigen Bestehen des deutsch-tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrages statt.
24
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Zum gleichen Thema referierte Prof. Schneider in sei-
Ein nachhaltiger Wandel sei nur dann möglich, wenn zu-
nem Vortrag beim „Brown-Bag-Seminar“ des Instituts der
dem die Geschlechtergleichstellung weiter vorangetrieben
deutschen Wirtschaft in Köln am 06. Juli 2012. Beginnend
würde. Letztlich müsse eine familienpolitische Zieldiskussion
bei der Frage, was unter Bevölkerungsentwicklung zu ver-
geführt werden, an welchem familienpolitischen Modell sich
stehen sei, skizzierte er die grundlegenden Trends der de-
Deutschland orientieren wolle. Als außerordentlich positiv ist
mografischen Entwicklung in Deutschland. Abschließend
zu bewerten, dass in der deutschen Familienpolitik mit dem
präsentierte er Überlegungen zur Frage, inwieweit und in
Ausbau der Kinderbetreuungsplätze und dem Elterngeld ein
welcher Form eine aktive Bevölkerungspolitik Einfluss auf die
Paradigmenwechsel stattgefunden hat, der sich auch auf
Bevölkerungsentwicklung nehmen könne.
die Geburtenziffern auswirken kann. Klar sei, resümierte Dr.
Dorbritz, dass ein Anstieg der Fertilität aber nur langfristig
Jürgen Dorbritz:
stattfinden könne und es dafür eines grundlegenden Wan-
Möglichkeiten und Grenzen der Familienpolitik
dels in den Paritätsmustern, insbesondere eines Rückgangs
Mit den „Möglichkeiten und Grenzen der Familienpolitik“
der Kinderlosigkeit, bedürfe.
beschäftigte sich Dr. Jürgen Dorbritz in seinem Vortrag bei
der Fachtagung „Antworten auf den demografischen Wan-
Andreas Mergenthaler: Bedingungen für eine Weiter-
del“ der Hanns-Seidel-Stiftung am 06. Juli 2012 in München.
beschäftigung im Rentenalter
Nach einer Definition und Begründung der Familienpolitik
Beim Forschungs-Workshop zum Thema „Arbeit und Pro-
richtete er den Blick auf familienpolitische Ziele aus demo-
duktivität im demografischen Wandel“ der Forschungsunion
grafischer Sicht. Hier gehe es vor allem darum, vorhandene
Wirtschaft-Wissenschaft des Bundesministeriums für Bildung
Kinderwünsche erfüllbar zu machen. Zum Erreichen dieser
und Forschung in Zusammenarbeit mit der Promotorengruppe
Ziele bedürfe es einer Familienförderung mit einer Kombi-
„Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Innovation“ am 23.
nation von Zeit-, Geld- und Strukturpolitik. Wissenschaftli-
Mai 2012 hat Dr. Andreas Mergenthaler wesentliche Ergeb-
che Studien zeigten, dass die sinnvolle Kombination der drei
nisse der vom BiB durchgeführten Studie zur „Weiterbeschäfti-
Faktoren wesentlichen Einfluss auf die Höhe des Geburten-
gung im Rentenalter“ vorgestellt. Ein Hauptergebnis war dabei
niveaus hätte. Hinzu kämen weitere Faktoren wie Arbeits-
die recht hohe Bereitschaft der Befragten zur Weiterbeschäfti-
losigkeit und die Leistungsfähigkeit des Dienstleistungssek-
gung. So antworteten rund 47 % der 1.500 Befragten in der
tors, analysierte der Soziologe, der sich in seinem Vortrag
Altersgruppe von 55 bis unter 65 Jahren zustimmend auf
auch mit Vorwürfen in den Medien auseinandersetzte, dass
die Frage, ob sie nach ihrem Renten- bzw. Ruhestandsein-
die familienpoltischen Maßnahmen in Deutschland vor dem
tritt noch erwerbstätig sein wollten. Dieses Ergebnis deu-
Hintergrund eines erneuten Geburtenrückgangs 2011 „teuer
te angesichts des bislang noch recht geringen Anteils er-
und wirkungslos“ seien. Er warnte davor, den Erfolg der Fa-
werbstätiger Ruheständler von rund 5 % auf ein Potenzial
milienpolitik ausschließlich über das Fertilitätsniveau zu be-
hin, das es vor dem Hintergrund des Bevölkerungswandels
werten, da es in erster Linie um das Wohlbefinden der Kinder
in den kommenden 10 bis 20 Jahren zu nutzen gelte, beton-
und ihrer Eltern sowie um die Wahlfreiheit bei der privaten
te Dr. Mergenthaler. Er wies zudem darauf hin, dass es für
Lebensführung gehe. Die bisherige Annahme, dass Famili-
die politischen Entscheider nicht den einzig möglichen An-
enpolitik nicht geburtenfördernd wirke, müsse nicht dauer-
satz zur Erhöhung der Weiterbeschäftigungsbereitschaft äl-
haft richtig sein, betonte Dr. Dorbritz. Bei der Beurteilung
terer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gebe. Daher sei
der Wirkung familienpolitischer Maßnahmen seien kurzfris-
es wichtig, die ganze Vielfalt der Lebenslagen älterer Be-
tige Effekte nicht zu erwarten. Zahlreiche wissenschaftliche
schäftigter hinsichtlich der Chancen aber auch der Hinder-
Studien zeigten, dass einzelne Maßnahmen alleine das Ge-
nisse für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu berück-
burtenverhalten nicht ändern. Dazu bedürfe es auch eines
sichtigen.
kulturellen Wandels etwa von gesellschaftlichen Leitbildern,
Die Potenziale älterer Beschäftigter ließen sich erst dann
der das Wirken von Maßnahmen begünstige. Gegenwärtig
erschließen, wenn es gelinge, Bedingungen wie unter ande-
sei in Deutschland das Bild einer arbeitenden Mutter als „Ra-
rem die Möglichkeiten für eine Gestaltbarkeit der Erwerbs-
benmutter“ noch immer vorhanden; zudem sei eine Wert-
tätigkeit, die Förderung der Bereitschaft zur Weiterbe-
schätzung großer Familien nicht gegeben.
schäftigung bis zum bzw. im Rentenalter, die Stärkung der
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
25
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Unternehmensverbundenheit und die Erhöhung der Flexibili-
ligen Engagements und der Gesundheit älterer Menschen
tät in großen Unternehmen zu erhöhen.
nur teilweise. Er vermutete, dass die schwachen und inkon-
Insgesamt stehe die Forschung zu den Einstellungen ge-
sistenten Zusammenhänge darauf hinwiesen, dass gesund-
genüber einer Weiterbeschäftigung im Rentenalter und den
heitlichen Selektionseffekten die größere Erklärungskraft zu-
dafür zu schaffenden Bedingungen in Deutschland noch am
komme. Hierfür seien allerdings gesonderte Analysen nötig,
Anfang. Im Hinblick auf ein bereits beträchtliches und weiter
resümierte Dr. Mergenthaler.
anwachsendes Potenzial bei den Rentnern der Zukunft sollte eine weiterführende Forschung unbedingt gewährleistet
werden, resümierte Dr. Mergenthaler.
Detlev Lück: Wandel der Lebensformen
Neben der klassischen Familienkonstallation „Mutter-Vater-Kinder-(Großeltern)“ hat sich in den letzten 50 Jahren in
Andreas Mergenthaler: Freiwilliges Engagement und
Deutschland eine Vielfalt neuer Familienformen entwickelt,
Gesundheitszustand älterer Menschen
die die Frage aufwerfen, was eigentlich gemeint ist, wenn
Gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen freiwil-
von Familie gesprochen wird. Dr. Detlev Lück präsentier-
ligem Engagement und der Gesundheit älterer Menschen?
te vor diesem Hintergrund am 21. Mai 2012 einen Vortrag
Diese Frage stand im Fokus des Beitrags von Dr. Andre-
beim Netzwerk Familienbildung Landau/Südliche Weinstra-
as Mergenthaler beim Institutskolloquium des Instituts für
ße, in dem er auf den Wandel der Familie und der Lebens-
Medizinische Biometrie, Epidemiologie und Informatik (IM-
formen in Deutschland einging. Es gebe mittlerweile eine
BEI) in Mainz am 28. Juni 2012. Er konstatierte zunächst ein
größere Vielfalt der Formen des Zusammenlebens und vor
Forschungsdefizit bei der Betrachtung des Zusammenhangs
allem eine stärkere soziale Akzeptanz für unkonventionelle
zwischen freiwilligen Tätigkeiten (wie z.B. ehrenamtlichem
Lebensformen, betonte Dr. Lück. Weit verbreitet seien neben
Engagement oder Nachbarschaftshilfen) und der Gesundheit
der klassischen Kernfamilie allerdings nur einzelne Formen,
älterer Menschen in Deutschland im Gegensatz zum ang-
wie vor allem Singles und kinderlose Paare. Hinzu kämen
loamerikanischen Raum. Seine Analysen auf der Basis des
noch Alleinerziehende, Stieffamilien, nichteheliche Lebens-
Deutschen Alterssurveys der Jahre 1996 bis 2008 zeigten,
gemeinschaften und Paare mit getrennten Haushalten. Ver-
dass ein ursächlicher Einfluss auf die funktionale Gesundheit
gleichsweise selten seien hingegen Regenbogen- und Patch-
älterer Menschen für Formen informeller Tätigkeiten, wie der
workfamilien. Insgesamt verliere die „Normal-Familie“ an
Nachbarschaftshilfe, beobachtet werden konnte. Dabei hat-
Verbindlichkeit und nichtkonventionelle Lebensformen wür-
ten ehrenamtliche Tätigkeiten keinen Einfluss auf die soma-
den häufiger.
tische, psychische oder funktionale Gesundheit der 40-Jährigen und Älteren. Insgesamt stützten die Ergebnisse die
Bernhard Gückel, BiB
Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen freiwil-
Literatur aus dem BiB
Martin Bujard:
den kann. Dabei geht es nach Ansicht des Autors vor allem
Zeit für Familie. Die Rush-hour des Lebens entzerren.
darum, Beruf und Familie nicht als Gegensatz zu denken,
In: Stimme der Familie. 59. Jg., Heft 02/2012
sondern beides so miteinander zu verzahnen, dass diese
Die Parallelität von Beruf und Familie stößt im Alltag mit
beiden Grundpfeiler moderner Biographien von Frauen und
kleinen Kindern und Vollzeitstellen häufig an Grenzen. Hin-
Männern verwirklicht werden können. Es bedarf nach Sicht
zu kommt die sogenannte „Rush-hour des Lebens“, die eine
des Autors einer neuen Zeitaufteilung im Lebensverlauf – ei-
Überforderung der jungen Generation zwischen 25 und 40
ner Entzerrung der Rush-hour des Lebens – um künftigen
Jahren kennzeichnet und in der oftmals intensive berufliche
Generationen sowohl Zeit für berufliche Teilhabe als auch
und familiäre Aufgaben zeitgleich anfallen. Der Beitrag zeigt
Zeit für Familie zu ermöglichen.
hier Perspektiven auf, wie die Komprimierung von beruflichem Einsatz und der Familiengründungsphase entzerrt wer-
26
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Bernhard Gückel, BiB
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Sven Rahner und Martin Bujard:
Neues BiB-Working-Paper erschienen:
Lebenslauforientierte Bildungs-, Arbeitsmarkt- und
Dr. Andreas Mergenthaler:
Familienpolitik als Grundlage für sozialen und wirt-
Health resilience: Concept and empirical evidence to
schaftlichen Fortschritt.
reduce health inequalities among the elderly.
In: WISO Diskurs April 2012: Wohlstand, Wachstum,
BiB Working Paper 02/2012
In der Reihe “Working Paper” des BiB ist eine neue Publi-
Investitionen: 47-60.
Der Beitrag fragt anhand von zwei der gegenwärtig dring-
kation erschienen, in der Andreas Mergenthaler untersucht,
lichsten Herausforderungen unserer Zeit – dem Fachkräfte-
wie sich soziale Ungleichheiten der Gesundheit im hohen Le-
mangel und dem Geburtenrückgang – nach den Quellen für
bensalter reduzieren lassen. Mithilfe des Konzepts der „Ge-
sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt. Ziel des Artikels ist
sundheitlichen Resilienz“ analysiert er, inwieweit soziales
es, vorhandene vielversprechende Konzepte lebenslaufori-
Kapital oder Gesundheitslebensstile eine Anpassung an so-
entierter Politiken, wie das Modell der Beschäftigungsversi-
zioökonomische Gesundheitsrisiken alter Menschen aus un-
cherung, die Ideen des Siebten Familienberichts sowie den
teren Statusgruppen fördern.
vorsorgenden Sozialstaat, mit neuen Überlegungen in einem
integrierten Ansatz zusammenzuführen. Wichtige praxisrelevante Ansätze liegen dabei in einer Kombination verschiedener Politikmaßnahmen, die darauf abzielen, Leben, Familie
und Arbeiten in eine neue Balance zu bringen. (Verlagstext)
http://www.bib-demografie.de/cln_099/
nn_2295088/SharedDocs/Publikationen/DE/Download/BiB__Working__Paper/Health__resilience.html
Neue Studie des BiB erschienen:
schen Kreisen auf der Grundlage der Auswertung langjähri-
Stephan Kühntopf und Susanne Stedtfeld: Wenige
ger Wanderungsdaten auf kleinräumiger Ebene.
junge Menschen im ländlichen Raum:
Ergänzt wird die Analyse durch eine Literaturauswertung
Ursachen und Folgen der selektiven Abwanderung in
zur Frage, welche Gründe vor allem junge Frauen zu einer
Ostdeutschland. Wiesbaden 2012
Abwanderung veranlassen. Darüber hinaus werden auch die
Bei der Analyse der demografischen Entwicklung in Ost-
Auswirkungen regionaler Geschlechterungleichgewichte in
deutschland wurden bisher das deutliche, wanderungsbe-
ihrer demografischen, wirtschaftlichen und sozialen Dimen-
dingte Geschlechterungleichgewicht und dessen Folgen we-
sion diskutiert. Aus den gewonnenen Erkenntnissen werden
nig untersucht. Prägnant ist hier vor allem ein großes Defizit
schließlich politische Handlungsansätze abgeleitet.
an jungen Frauen in den ländlichen Räumen, das auch auf
europäischer Ebene beispiellos ist.
In dieser Studie analysieren Stephan Kühntopf und Susanne Stedtfeld Ausmaß und Entwicklung der alters- und
geschlechtsspezifischen Migrationsmuster in den ostdeut-
http://www.bib-demografie.de/abwanderung
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
27
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Comparative Population Studies Aktuell
Neue Beiträge bei CPOS Juni/Juli 2012
Marcel Erlinghagen:
Der theoretische Teil des Artikels beschäftigt sich mit Fak-
Kein schöner Land? Glück und Zufriedenheit deut-
toren, die einen Einfluss auf räumliche Fertilitätsunterschie-
scher Aus- und Rückwanderer
de haben können. Dies umfasst sowohl Entscheidungen und
Der Aufsatz geht der Frage nach, inwieweit sich das sub-
Entwicklungen in Lebensverläufen auf individueller Ebene
jektive Wohlbefinden von Auswanderern, Nicht-Wanderern
als auch kontextuell wirkende sozioökonomische Makrophä-
und Rückwanderern unterscheidet. Als wesentliche Aspekte
nomene, die auf unterschiedlichen geografischen Maßstabs-
des subjektiven Wohlbefindens werden auf Basis der Daten
ebenen operieren können (lokal, regional, national, global).
des European Social Surveys (ESS) die subjektive Lebenszu-
Der anschließende empirische Teil nimmt Bezug auf Euro-
friedenheit und das Glücksempfinden von in Deutschland und
stat-Veröffentlichungen zu räumlichen Fertilitätsunterschie-
im Ausland lebenden Deutschen mit Hilfe multivariater Re-
den in Europa. Die Aussagekraft dieser Eurostat-Analysen ist
gressionsanalysen untersucht. Als wesentlicher Befund zeigt
begrenzt, da es ihnen an geografischem Detail mangelt und
sich, dass deutsche Auswanderer im Schnitt glücklicher und
nur eine kurze Zeitspanne betrachtet wird. Diese Beschrän-
zufriedener sind als in Deutschland verbliebene Deutsche
kungen versuchen wir zu überwinden, indem wir für Ös-
bzw. deutsche Rückwanderer. Dieses höhere Wohlbefinden
terreich, Deutschland und die Schweiz lange Zeitreihen mit
ist jedoch nicht durch Unterschiede in der sozio-demographi-
möglichst hohem geografischen Detail untersuchen. Hierfür
schen oder sozio-ökonomischen Struktur der verschiedenen
verwenden wir historische Daten aus dem Princeton Euro-
Untersuchungsgruppen begründet. Vielmehr hängt das ver-
pean Fertility Project und anderen Quellen, die uns erlau-
größerte subjektive Wohlbefinden von Auswanderern vor al-
ben, komparative räumliche Fertilitätszeitreihen für die letz-
lem mit psychosozialen Unterschieden bzw. einer im Ausland
ten 150 Jahre zu konstruieren. Darüber hinaus präsentieren
besseren Einkommensbewertung zusammen.
wir eine Fallstudie zu lokalen Fertilitätsentwicklungen in den
Städten und Samtgemeinden des deutschen Bundeslandes
Stuart Basten, Johannes Huinink, Sebastian Klü-
Niedersachsen und den Stadtteilen der deutschen Stadt Bre-
sener
men.
Räumliche Unterschiede in der subnationalen Fertili-
In unserer Analyse kommen wir zu dem Ergebnis, dass die
tätsentwicklung in Österreich, Deutschland und der
jüngst beobachtete Angleichung subnationaler Fertilitätsun-
Schweiz
terschiede – insbesondere auf makro-regionaler Ebene – sehr
Räumliche Unterschiede in der subnationalen Fertilitäts-
bemerkenswert ist. Allerdings können wir in der Langzeitbe-
entwicklung sind für Politiker und Raumplaner von hoher Re-
trachtung über die letzten 150 Jahre einige Phasen identifi-
levanz. Ziel dieses Artikels ist es, politischen Entscheidungs-
zieren, in denen räumliche Fertilitätsunterschiede eine diver-
trägern ein theoretisches und empirisches Bezugssystem zu
gierende Entwicklung nahmen. Dies deutet darauf hin, dass
vermitteln. Dabei berücksichtigen wir sowohl historische und
das derzeitige Bild nicht notwendigerweise das Ende der Ge-
aktuelle Fertilitätstrends als auch theoretische Erklärungs-
schichte (Fukuyamas „end of history“) für die kommenden
ansätze für die beobachteten Entwicklungen. Ein derartiges
Jahrzehnte darstellt. Außerdem zeigt die Analyse der Daten
Bezugssystem ist unserer Ansicht nach wesentlich, um Aus-
auf kleinräumiger Ebene, dass, im Gegensatz zu den in al-
sagen über zukünftige Trends und politische Einflussmög-
len drei Staaten beobachteten makro-regionalen Konver-
lichkeiten geben zu können.
genztrends, innerhalb der Stadt Bremen auf der Ebene der
28
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Stadtteile ein divergierender Trend bei den räumlichen Ferti-
In diesem Artikel werden die offiziellen Fertilitätsprogno-
litätsunterschieden zu erkennen ist. Dies demonstriert, dass
sen der Statistischen Ämter in Deutschland, Österreich und
lokale Divergenztrends parallel zu makro-regionalen Konver-
der Schweiz untersucht. Zunächst betrachten wir für alle drei
genztrends ablaufen können.
Länder die historische Entwicklung der Fertilitätsprognosen.
Es zeigt sich, dass in allen drei Ländern die Fertilitätsprogno-
Dimiter Philipov, Laura Bernardi
sen auf einer Fortschreibung der aktuellen Fertilitätsentwick-
Konzepte und Operationalisierung von reproduktiven
lungen in die Zukunft beruhen. Im Anschluss untersuchen
Entscheidungen am Beispiel Österreichs, Deutsch-
wir detailliert die aktuellen Prognosen – mit besonderer Be-
lands und der Schweiz
rücksichtigung ihrer Beschaffenheit im Hinblick auf die Ver-
Die Diskrepanz zwischen tatsächlicher und hypothetischer
änderungen im Timing und Quantum der Fertilität. Wir zei-
Fertilität (im Englischen auch unter dem Begriff Fertility Gap
gen, dass die Annahmen zum erwarteten Ende des Anstiegs
gebräuchlich) wurde in jüngerer Zeit zum Anlass für famili-
des durchschnittlichen Gebäralters im Prognosezeitraum ei-
enpolitische Maßnahmen genommen, um eine höhere Ge-
nen Rückgang im Quantum der Fertilität implizieren. Dies
burtenhäufigkeit zu erzielen. Dieser Beitrag untersucht die
ist insbesondere vor dem Hintergrund niedriger Geburtenzif-
Relevanz einer anhand von Fertilitätsidealen und -absichten
fern, wie sie in den drei betrachteten Ländern vorherrschen,
gemessenen hypothetischen Fertilität, mit der die Schätzung
von Relevanz. Analoge Schlussfolgerungen zeigen sich, wenn
des Fertility Gap angestrebt wird. Ausgehend von einem
wir von einer Kohortenperspektive ausgehen. Basierend auf
Überblick der relevanten Literatur untersuchen wir die Be-
diesen Ergebnissen, schlagen wir vor, explizit die Verschie-
deutung dieser Konzepte und deren Operationalisierung an-
bung des durchschnittlichen Gebäralters und deren Aus-
hand empirischer Beobachtungen in drei Vergleichsländern:
wirkung auf die Fertilitätsniveaus zu berücksichtigen. Dies
Österreich, Deutschland und der Schweiz. Wenngleich der
könnte mittels des Bongaarts-Feeney-Ansatzes zur Tempo-
Begriff des gesellschaftlichen Ideals der Fertilität mehrdeu-
korrektur oder auf Grundlage eines ähnlichen Tempoansat-
tig ist, kann er bei sorgfältiger Messung Aussagekraft in Be-
zes geschehen. Zudem zeigen wir drei konsistente Varianten
zug auf Reproduktionsentscheidungen bieten. Die Operatio-
(niedrig, mittel und hoch) am Beispiel von Deutschland und
nalisierung kurzfristiger und langfristiger Fertilitätsabsichten
weisen nach, dass entsprechende Berechnungen unter Be-
wird ebenso erörtert wie deren Realisierung. Analysen von
rücksichtigung des Tempoansatzes in den meisten Fällen die
Absichten sollten auf einem theoretischen Fundament grün-
mittlere Variante der Prognose, die von einem konstanten
den, etwa dem Miller-Pasta-Rahmen oder der sozialpsycho-
Niveau der Fertilität ausgeht, übertreffen kann.
logischen Theorie des geplanten Verhaltens. Letztere findet
in Österreich und in Deutschland auf Grundlage von GGS-
Dirk Godenau, Dita Vogel, Vesela Kovacheva, Yan
Daten Anwendung. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass
Wu
anhand des Fertility Gap mitunter falsche Schlüsse gezogen
Arbeitsmarktintegration
werden können, da sowohl der Indikator der tatsächlichen
nehmung von Migranten: Ein Vergleich zwischen
Fertilität als auch die Indikatoren der beabsichtigten Ferti-
Deutschland und Spanien während der Wirtschafts-
lität unpräzise sein können. Aufschlussreiche politisch rele-
krise
und
öffentliche
Wahr-
vante Informationen können aus einer spezifischen Form der
In Deutschland und Spanien hatte die Krise ganz unter-
Diskrepanz abgeleitet werden, wenn die Realisierung der in-
schiedliche Konsequenzen für den Arbeitsmarkt im Allgemei-
dividuellen kurzfristigen Absichten des Einzelnen betrachtet
nen und die zugewanderten Arbeitskräfte im Besonderen. Die
wird.
Haupterklärung dafür wird ersichtlich, wenn man die Muster
des Wirtschaftswachstums vor der Krise betrachtet. In Spani-
Joshua R. Goldstein, Felix Rößger, Ina Jaschinski,
en wurde das stärker ausgeprägte, eher beschäftigungsinten-
Alexia Prskawetz
sive Wachstum durch einen zuwanderungsbedingten Anstieg
Fertilitätsprognosen im deutschsprachigen Raum:
des Arbeitskräfteangebots ermöglicht, das durch eine faktisch
Bisherige Erfahrungen und Verbesserungsmöglich-
permissive Zuwanderungspolitik gefördert wurde; in Deutsch-
keiten
land hingegen verhinderte eine restriktive Migrationspolitik einen Anstieg des Arbeitskräfteangebots und begünstigte ein
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
29
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
eher kapitalintensives Wachstum, das niedrig qualifizierten
Mustern der Vergangenheit auf die Gegenwart hinwegge-
Einheimischen und insbesondere Zuwanderern die Integrati-
sehen und somit verhindert, dass Erkenntnisse über Kon-
on erschwerte. Daher argumentieren wir, dass die institutio-
tinuitäten und Vergleiche gewonnen werden. Nicht die Mig-
nellen Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes die jeweili-
ranten werden „entwurzelt“, wie bisweilen behauptet wird,
gen Muster förderten. In Spanien waren zugewanderte und
sondern dem historischen Gedächtnis werden gezielt seine
jüngere Arbeitskräfte durch ihre wichtige Rolle in der befris-
Wurzeln entzogen. Der Beitrag geht zunächst auf die ver-
teten und der informellen Beschäftigung, den am stärksten
schiedenen Probleme der heutigen Migrationsdebatten und
von der Krise berührten Arbeitsmarktsegmenten, besonders
die Historisierung der Perspektiven ein. Die einwanderer-
betroffen.
feindlichen Zuschreibungen, Stigmata und Ideologien wer-
Durch die Wirtschaftskrise sind Teile der Bevölkerung in
den kritisiert. Sodann werden die Daten präsentiert und die
beiden Ländern skeptischer in Bezug auf Zuwanderung ge-
geographischen Dimensionen der Migrantenwege im Kon-
worden. Allerdings scheint es keinen Zusammenhang zwi-
text der translokalen, transregionalen, transnationalen und
schen der Schwere der Krise und den öffentlichen Debat-
globalen Vernetzung besprochen. Ein integrativer Ansatz im
ten über die Migration zu geben. Auch wenn Spanien von
Sinne transkultureller Gesellschaftswissenschaften wird vor-
der Krise fraglos stärker getroffen wurde als Deutschland,
geschlagen. Schließlich geht der Beitrag auf das Handeln
und die Zuwanderer mehr darunter gelitten haben, scheinen
(agency) von Migranten ein, wobei die „Viktimisierungs”-An-
in Deutschland mindestens so heftige öffentliche Debatten
sätze kritisiert werden und argumentiert wird, dass Anders-
über Migrations- und Integrationsthemen geführt zu werden
artigkeit eine Ressource ist, aber auch eine Angriffsfläche für
wie in Spanien. Das Erbe vergangener Wanderungsbewe-
Ausbeutung bietet. Geldüberweisungen werden als Beispiel
gungen und Migrationspolitiken wirkt sich offenbar stärker
für die Schnittpunkte zwischen dem Handeln von Migran-
auf die öffentliche Wahrnehmung der Migration als Gefahr
ten und staatlichen Bedürfnissen angeführt. In der Schluss-
aus als aktuelle wirtschaftliche Faktoren.
folgerung wird die Gegenwart kurz in den Kontext der globalen Ungleichheiten, des wirtschaftlichen Aspekts und der
Dirk Hoerder:
Einwandererfeindlichkeit sowie des ideologischen national-
Allmähliche Transformation oder plötzlicher Wandel:
essentialistischen Aspekts gesetzt.
Historische Betrachtungen zu Massenmigrationen
und Menschenleben
Alle Texte: Die Autoren/innen
Sowohl die Migration als auch die Einstellungen dazu sind
historisch tief verwurzelt. Wenn die aktuellen Wanderungsbewegungen und die von Derivatehändlern im Herbst 2008
verursachte Wirtschaftskrise als „neu und historisch beispiel-
www.comparativepopulationstudies.com
los“ bezeichnet werden, wird über die Auswirkungen von
BiB Online: Neues bei www.bib-demografie.de
Aktualisierte „Daten und Befunde“
chen Haushaltsgröße in Deutschland, West- und Ostdeutsch-
Im Bereich „Daten und Befunde“ wurden die Rubriken
land, in den Bundesländern und in Europa, der Struktur der
„Fertilität“ und „Sterblichkeit“ mit den aktuellen Daten für
Haushalte (nach Alter und Geschlecht, Anzahl der Generati-
2010 auf den neuesten Stand gebracht.
onen, Familienstand) und zu Haushalten mit Migrationshin-
Zudem gibt es die neue Rubrik „Haushaltsstrukturen“, die
Daten, Tabellen und Abbildungen zur Zusammensetzung der
tergrund. Grundlage der Daten sind die Ergebnisse des Mikrozensus.
Haushalte in Deutschland bietet. Darunter fallen unter anderem Daten zur Zahl der Haushalte und zur durchschnittli-
30
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Bernhard Gückel, BiB
Aktuelle Mitteilungen aus dem BiB
Personalien
Seit dem 04. Juni 2012 ist Frau Amelie Franke neu am BiB.
menbereich „internationale Mobilität, Arbeitsmigration und
Sie hat Geographie (B.A.) an der Royal Holloway – University
kulturelle Vielfalt“ gearbeitet. Nach einer dreijährigen Tätig-
of London sowie Kommunikations- und Kulturmanagement
keit als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, Redenschreibe-
(M.A.) an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen studiert
rin und Texterin in der freien Wirtschaft verstärkt sie nun am
und dort auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin im The-
BiB das CPoS-Team als Language Editor.
Veranstaltungen
Vorankündigung:
Informationsveranstaltung zum Thema „Fertilität“ des BiB am 15. Oktober 2012
für Mitarbeiter/innen von Behörden und Ministerien in Berlin
Auch in diesem Jahr wird das BiB wieder eine Informations-
durchführen. Geplanter Schwerpunkt der Veranstaltung ist
veranstaltung zu demografischen Themen für die Mitarbeiter/
das Thema Fertilität. Termin ist der 15. Oktober 2012. Nähe-
innen von Referaten und Abteilungen von Behörden in Ber-
re Informationen und das detaillierte Programm folgen in der
lin, deren Arbeitsschwerpunkt im Bereich Demografie liegt,
nächsten Ausgabe von „Bevölkerungsforschung Aktuell“.
Call for Papers:
Workshop der Arbeitskreise „Familiendemografie“ und „Migration – Integration
– Minderheiten“ der Deutschen Gesellschaft für Demographie (DGD) zum Thema
„Paardynamiken in Zeiten gesellschaftlicher Diversität“ am 29. und 30. November
2012 in Rostock
Die Arbeitskreise „Familiendemografie“ und „Migration -
Vortragsinteressenten werden gebeten, ihre Themenvor-
Integration - Minderheiten“ der Deutschen Gesellschaft für
schläge zusammen mit einem kurzen Abstract (500 Wörter)
Demographie e.V. (DGD) veranstalten am 29. und 30. No-
bis zum 27. Juli 2012 per E-Mail an die jeweiligen Ansprech-
vember 2012 den gemeinsamen Workshop zum Thema
partner/innen einzureichen.
„Paardynamiken in Zeiten gesellschaftlicher Diversität“ an
der Universität Rostock.
Kontakt:
Vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher
Vielfalt der Lebensformen stellt der Workshop den Wandel
Arbeitskreis Familiendemographie:
Dr. Katja Köppen, Universität Rostock, Institut für Soziologie
der Partnerschaftsdynamiken in Deutschland und im interna-
und Demographie, Ulmenstr. 69, 18057 Rostock,
tionalen Vergleich in den Mittelpunkt. Geplant sind unter an-
Fon: +49(381)498-4041,
derem Themen zu Partnerschaftskarrieren im Lebenslauf, zu
E-Mail: [email protected]
Partnerschaftsqualität und -zufriedenheit sowie zu bilokalen
Partnerschaften aufgrund von regionaler Molbilität. Deswei-
Arbeitskreis Migration-Integration-Minderheiten:
teren finden folgende Themen Beachtung:
Dr. Nadja Milewski, Universität Rostock, Institut für Soziologie und Demographie, Ulmenstr. 69, 18057 Rostock,
•
Trennung, Scheidung, Wiederverheiratung;
•
Paardynamiken im internationalen Vergleich;
Fon: +49(381)498-4396,
•
Transnationale Partnerschaften;
E-Mail: [email protected]
•
Partnerschaftsverhalten in der zugewanderten und in der
Mehrheitsbevölkerung;
•
Paardynamiken im Vergleich verschiedener Zuwanderergruppen.
www.demographie-online.de
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
31
Neue Literatur
Buch im Blickpunkt
Hans Bertram; Martin Bujard (Hrsg.):
Zeit, Geld, Infrastruktur – zur Zukunft der Familienpolitik.
Sonderband 19 der Reihe „Soziale Welt“. Nomos-Verlag Baden-Baden 2012
Die
ökono-
se begründen beide Herausgeber des Bandes, warum das
mischen und demografischen Veränderungen der
weitreichenden
gesellschaftlichen,
Wohlbefinden von Eltern und Kindern das primäre Ziel von
letzten Jahrzehnte stellen die deutsche Familienpo-
Familienpolitik sein sollte. Die systematische Verbindung von
litik vor neue Herausforderungen. Neue Lebensläufe,
Zeit-, Geld- und Infrastrukturpolitik mit den sechs Dimensi-
spätere Erstgeburten, veränderte Lebensformen so-
onen des Wohlbefindens wird als Grundlage für zukünftige
wie Bildungs- und Berufsbiografien führten zu einem
Wirkungsanalysen vorgestellt.
sichtbaren quantitativen und qua-
Die Kapitel 2 bis 6 vertiefen das Kon-
litativen Wandel der Familienpoli-
zept der familienpolitischen Trias in der
tik und zu einer Bedeutungszunah-
Lebensverlaufsperspektive. Dazu konsta-
me dieses Politikfeldes. Aufgrund
tiert Hans Bertram in Kapitel 2, dass
dieses Wandels der Familienpolitik
der beschleunigte Prozess des Erwach-
ist es lohnend, Zukunftsperspekti-
senenwerdens in der heutigen Zeit die
ven zu diskutieren, wie die Beiträge
nachwachsende Generation überfordert.
dieses Bandes zeigen. Hier werden
Er beschreibt, wie sich die Übergangs-
soziologische,
und
prozesse vom Jugendalter zum Erwach-
ökonomische
politikwissenschaftliche
Analysen
senenalter verändert haben und wo in
über Familien, neue Lebensverläufe
den Bereichen von Bildung, Arbeitsmarkt
und Familienpolitik mit konkreten
und Familie so reagiert werden kann,
politikberatenden
Empfehlungen
dass sich die derzeit festzustellende zu-
verbunden, wobei die Trias aus
nehmende Überforderung der jungen
Zeit-, Geld- und Infrastrukturpo-
Generation in eine angemessene Lebens-
litik von den Autoren in einer Le-
perspektive mit ökonomischer Sicherheit,
bensverlaufsperspektive konzipiert
subjektiver Zufriedenheit und Teilhabe
wird. Der Band ist im Rahmen der Akademiegruppe
an der gesellschaftlichen Entwicklung überführen lässt. Da-
„Zukunft mit Kindern“ – getragen von der Nationalen
bei setzt eine konstruktive Reaktion auf diesen Wandel von
Akademien der Wissenschaften Leopoldina und der
Politik und Gesellschaft Unterstützung voraus, ohne die die
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen-
Fürsorge für Kinder und ältere Familienmitglieder kaum zu
schaften (BBAW) – entstanden und bildet eine wis-
leisten ist.
senschaftliche Grundlage für familienpolitische Empfehlungen dieser Akademiegruppe.
Einen neuen Referenzrahmen für die geschlechter- und
familiengerechte Gestaltung von Sozialpolitik bietet die Lebensverlaufperspektive, wie Ute Klammer in Kapitel 3
Familienpolitik als Kombination von Zeit, Geld und
zeigt. Die Lebenslaufperspektive ermöglicht es, die unter-
Infrastruktur
schiedliche Verteilung von Zeitbedarf in der indivduellen Bio-
Hans Bertram und Martin Bujard versuchen hierzu in
grafie besser sichtbar zu machen und Phasen der Zeitnot,
Kapitel 1 Entwicklungsperspektiven für die zukünftige Fami-
wie in der sogenannten „rush hour of life“ (also die Phase,
lienpolitik und deren wissenschaftliche Analyse aufzuzeigen.
in der in wenigen Jahren die Familiengründung, die Erwerbs-
Dabei wird das Konzept der lebensverlaufsbezogenen Fami-
tätigkeit und die berufliche Karriere in verdichteter Form zu-
lienpolitik erläutert und mit Lebensverlaufsgrafiken zu Ein-
sammenfallen) zu identifizieren. Sie betrachtet dazu auch die
kommen und Zeitverwendung diskutiert. In normativer Wei-
Lebenslaufperspektive und die Zeithorizonte aus der Sicht
32
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Neue Literatur
der Unternehmen, wobei sie konstatiert, dass es hier eine
hintergrund in Deutschland mit wachsender Tendenz beson-
Diskrepanz gibt, da die Zeithorizonte, die die Unternehmen
ders in den jungen Altersgruppen. Angesichts dieser Ent-
ihrem Handeln zugrunde legen, weniger eindeutig zu be-
wicklung sieht die Autorin die Familienpolitik vor spezifischen
stimmen sind als die Lebenslaufperspektive aus Sicht der
Aufgaben. Für das Wohlbefinden und die Entwicklungschan-
Beschäftigten. Hier besteht die Schwierigkeit darin, die lang-
cen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshinter-
fristig orientierten Bedürfnisse und Strategien von Unterneh-
grund kann die Familienpolitik begünstigende Rahmenbedin-
men mit denen der Beschäftigten zu synchronisieren bzw.
gungen schaffen und so bei der erfolgreichen Eingliederung
aufeinander abzustimmen.
dieser Kinder und Jugendlichen unterstützend wirken. So-
Mit den Reformoptionen des Familienlastenausgleichs
zur Bekämpfung von Kinderarmut befassen sich in Kapitel
mit ist sie auch Integrationspolitik in einer heterogenen Gesellschaft.
4 Richard Hauser und Irene Becker. Sie konstatieren,
dass die Kinderarmut nur auf der Ebene der Sekundärein-
Familienpolitik im internationalen Vergleich
kommen durch Transferzahlungen wie den Kinderlasten-
Wie präsentiert sich Familienpolitik im internationalen
ausgleich geschehen kann und nicht auf der Ebene der Pri-
Vergleich aus institutioneller Perspektive? Diese Frage bildet
märeinkommen, die besonders bei Alleinerziehenden kaum
den roten Faden, der sich durch die Beiträge des Abschnitts
zur Versorgung einer Familie ausreichen. Zu einer massiven
2 zieht. Eröffnet wird dieses Thema mit einem Vergleich des
Verbesserung des Kindeswohls schlagen die Autoren daher
familienpolitischen Wandels in Deutschland, Österreich und
eine Kindergrundsicherung vor, die das sozio-kulturelle Exis-
der Schweiz von Carina Marten, Gerda Neyer und Ilona
tenzminimum von Kindern unabhängig vom Arbeitseinkom-
Ostner in Kapitel 7. Sie untersuchen in einer vergleichenden
men ihrer Eltern sichern könnte.
Perspektive, ob und wie diese drei Vertreter der „konserva-
Aus einer vergleichenden Perspektive betrachten Aila-
tiven Wohlfahrtsstaatswelt“ in ihren familienpolitischen Maß-
Leena Matthies und Marjo Kuronen in Kapitel 5 die fa-
nahmen für Eltern und Kinder auf die neuen sozialen, öko-
milienpolitische Infrastrukturpolitik in Finnland, was auch für
nomischen und demografischen Herausforderungen reagiert
die jetzige Diskussion in Deutschland um die Ganztagsbe-
haben. Im Vergleich zeigt sich, dass in allen drei Ländern der
treuung relevant sein könnte. Sie fragen, wie eine familien-
Schwerpunkt bei Hilfen für Familien noch in Geldleistungen
politische Infrastruktur im 21. Jahrhundert aussehen müsste,
liegt, wenngleich sich mittlerweile die Zielsetzung der Trans-
um pluralistische Muster des Familienlebens unterstützen zu
fers teilweise geändert hat, etwa in Richtung auf eine Förde-
können, da auch in Finnland atypische Lebensverläufe und
rung der Erwerbsarbeit und der Investitionen in Kinder. Insge-
unsichere Lebensabschnitte nicht mehr zur Ausnahme zäh-
samt haben die drei Länder aus heutiger Sicht ein durchaus
len, sondern zur Regel geworden sind. Was Deutschland hier
vergleichbares Bündel an familienpolitischen Maßnahmen
von Finnland ihrer Ansicht nach lernen kann, ist, dass die
entwickelt, jedoch auch einige Unterschiede, die sich als
familienpolitischen Dienstleistungen wie Kinderbetreuung
lehrreich erweisen können.
und Ganztagsschulen von Anfang an der Pluralität von Fa-
In der Analyse der Schweiz zeigt Beat Fux in Kapitel 8,
milie, der Zeit und der Arbeit angemessen angepasst wer-
wie sozialstrukturelle Rahmenbedingungen und kulturelle
den sollten. Anhand des finnischen Beispiels lässt sich auch
Traditionen die Familienpolitik prägen und wie der Föderalis-
erkennen, dass eine familienfreundliche Arbeitsmarktpoli-
mus Varianten- und Leistungsvielfalt ermöglicht.
tik und eine Flexibilisierung des Berufslebens in bestimmten
Wolfgang Mazal analysiert in Kapitel 9 Österreich und
Lebensphasen trotz jahrzehntelanger Debatten immer noch
zeigt, dass Familie in der österreichischen Gesellschaft
weit entfernt zu bleiben scheinen, insbesondere was die Si-
den höchsten Stellenwert besitzt, wenngleich ihre Struktur
tuation der Väter betrifft.
schleichend schwindet. Er konstatiert eine wachsende Kluft
Die spezifischen Lebensbedingungen von Kindern in Familien mit Migrationshintergrund und die Herausforderungen
zwischen Familienwunsch und -wirklichkeit und schlägt Maßnahmen zur künftigen Gestaltung von Familienpolitik vor.
einer nachhaltigen Familienpolitik in heterogenen Gesell-
Im Beitrag zu Deutschland wirft Irene Gerlach in Kapi-
schaften stehen im Fokus des Beitrags von Helen Bayka-
tel 10 einen kritischen Blick auf den „Generationenvertrag im
ra-Krumme in Kapitel 6. Sie konstatiert zunächst einen
Wandel der Interpretationen“: Sie verfolgt die diversen Re-
steigenden Anteil von Kindern und Familien mit Migrations-
formschritte seit Einführung der dynamischen Rente im Jah-
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
33
Neue Literatur
re 1957 und stellt die Frage, ob die Gesetzliche Rentenver-
men an Kinderwünschen und dem Aufkommen an realisier-
sicherung angesichts der Tatsache der Zunahme des Anteils
ten Geburten. Ihre Ergebnisse untermauern die Bedeutung
von Kinderlosen in der deutschen Gesellschaft auf Dauer von
von familienpolitischen Forderungen, die auf verbesserte
einer Differenzierung der Beiträge zwischen Eltern und Kin-
Rahmenbedingungen der Kinderwunschrealisierung für hö-
derlosen absehen kann. Vor dem Hintergrund veränderter
herqualifizierte und unsicher beschäftigte junge Erwachse-
Biografiekonzepte der Menschen im Vergleich zu 1957 müs-
ne abzielen.
se auch der Generationenvertrag in mancherlei Hinsicht neu
Karriere und Familie in der Wissenschaft
angepasst werden.
Die Kapitel 14 und 15 beschäftigen sich mit der speziArbeitsteilung von Paaren und zeitpolitische Heraus-
ellen Situation in der Wissenschaft. Welche Unterschiede
forderungen
bestehen in den Karrierechancen von Männern und Frauen
Die Kapitel 11 bis 13 beleuchten die Verhaltensmuster
in bestimmten wissenschaftlichen Fächergruppen und wel-
und Interaktionen von Paaren. Miriam Beblo geht der Fra-
che Rolle spielt dabei der Partnerschaftskontext der Wissen-
ge nach, wie sich institutionelle Rahmenbedingungen wie
schaftler/innen? Dieser Frage gehen auf der Basis von Daten
zum Beispiel das Ehegattensplitting auf die Arbeitsteilung
des Projekts „Gemeinsam Karriere machen. Die Verflech-
von Paaren und die Verteilung familieninterner Ressourcen
tung von Berufskarrieren und Familie in Akademikerpartner-
auswirken. Sie zeigt auf der Basis von Analysen des Sozio-
schaften“ Alessandra Rusconi und Heike Solga nach. Es
oekonomischen Panels (SOEP), dass es in Deutschland Un-
zeigt sich, so das Fazit, dass die Realisierung von Doppelkar-
terschiede in der Arbeitsteilung bei unverheiratet und ver-
rieren (teilweise mit Kindern) in Akademikerpartnerschaften
heiratet zusammenlebenden Paaren gibt, wobei sich beide
eine schwierige Aufgabe darstellt: So müssen Wissenschaft-
Gruppen auch in anderen sozio-ökonomischen Merkmalen
lerinnen häufiger als ihre Kollegen die Erwerbstätigkeit ihrer
wie Bildungshintergrund und Beitrag zum Haushaltserwerbs-
Partner bei ihrer eigenen beruflichen Entwicklung berück-
einkommen unterscheiden. Insgesamt zeigen die Analysen,
sichtigen. Ihre männlichen Kollegen haben hier einen grö-
dass die befragten Paare im Durchschnitt eine höhere Ar-
ßeren Entscheidungsspielraum, weil viele ihrer Partnerinnen
beitsteilung haben, wenn sie verheiratet sind.
keiner (bezahlten) Arbeit nachgehen. Die Analyse differen-
Geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Beschäfti-
ziert nach Wissenschaftszweigen: Vor allem Naturwissen-
gungsformen, Arbeitszeiten und Verdiensten im längerfris-
schaftlerinnen leben in wissenschafts- und/oder fachhomo-
tigen Vergleich untersuchen Guido Heineck und Joachim
genen Partnerschaften. Insgesamt waren zehn Jahre nach
Möller. Sie zeigen auf der Grundlage von Daten der Stich-
dem Hochschulabschluss Doppelkarrieren beider Partner
probe der Integrierten Erwerbsbiografien (SIAB), dass sich
deutlich seltener als Ein-Karriere-Arrangements. In Akade-
eine über die Zeit steigende Arbeitsmarktbeteiligung von
mikerpartnerschaften scheitern Doppelkarrieren zumeist an
Frauen findet, wobei das Volumen aufgrund des hohen und
der Verwirklichung einer Karriere der Frau.
wachsenden Anteils von Teilzeitbeschäftigungen bei Frauen
Dass beim Zusammenhang der Planung der wissenschaft-
nur unterdurchschnittlich zugenommen hat. Ihre Ergebnisse
lichen Karriere und der Familiengründung auch Zeitstress
belegen aber auch, dass Erwerbsunterbrechungen mit deut-
eine Rolle spielt, zeigen Sigrid Metz-Göckel, Kirsten
lichen Einbußen an Lebenseinkommen einhergehen. Nach
Heusgen und Christina Möller. Ihre Analyse verweist
Ansicht der Autoren dürfte kaum an der Diagnose zu rütteln
darauf, dass Zeit ein relevanter Parameter im Sinne eines
sein, dass Frauen hinsichtlich Erwerbsbeteiligung und Ver-
„Zeitkorsetts“ darstellt, das die Optionen für eine Familien-
diensten die Leidtragenden der Familienarbeit sind.
gründung begrenzt. Das Ausmaß der Kinderlosigkeit von
Mit den Rahmenbedingungen und Motiven für die Reali-
Wissenschaftler/innen ist im hohen Maße status-, alters- und
sierung von Kinderwünschen im Lichte der Daten des Fami-
geschlechtsabhängig. Selbst ein bedarfsgerechtes Angebot
liensurveys beschäftigen sich Jan Eckhard und Thomas
der Kinderbetreuung im deutschen Hochschulsystem würde
Klein. Vor dem Hintergrund einer vielfach belegten Diskre-
das Zeitkorsett für junge Eltern nicht lockern, wenn an den
panz zwischen Kinderwunsch und Realität stützt ihre Analyse
Karriere- und Rekrutierungsmechanismen der Hochschulen
das Vorhandensein einer Fertilitätslücke, d.h. eine mit gro-
nicht gerüttelt wird, resümieren die Autorinnen.
ßer Konstanz feststellbare Differenz zwischen dem Aufkom-
34
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
Neue Literatur
Wirkungen von Familienpolitik
Mit den Potenzialen, Grenzen und methodischen Opti-
Welche Wirkungen hat Familienpolitik? Die Beantwortung
onen von Makroanalysen zur Wirkung von Familienpolitik be-
dieser Frage erfolgt im vierten Abschnitt des Bandes (Kapi-
schäftigt sich Martin Bujard im letzten Kapitel des Bandes.
tel 16 bis 18) im Rahmen einer kritischen Bestandsaufnah-
Er gibt einen Überblick zu Makroanalysen in der Literatur
me. Den Anfang machen Marina Hennig, Mareike Ebach,
und stellt eigene empirische Befunde zum Zusammenhang
Stefan Stuth und Anna Erika Hägglund mit einer Analy-
von Familienpolitik und Fertilität dar. Darin belegt er die Wir-
se zu den Einflussfaktoren auf die Vereinbarkeit von Familie
kung von Kinderbetreuung und Geldleistungen auf die Ge-
und Beruf in sieben europäischen Ländern. Sie zeigen, dass
burtenrate und zeigt zugleich erhebliche Interpretationsbe-
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Ländern bes-
dingungen und Grenzen für die festgestellte Wirkung. Dabei
ser gelingt, die ihre wohlfahrtsstaatliche Politik auf die indivi-
diskutiert er generell die Möglichkeiten, mit Makroanalysen
duelle Integration von Kindern, Männern und Frauen ausrich-
zu kausalen Befunden zu kommen und nennt methodische
ten. Hierzu zählen in ihrer Untersuchung Finnland, Dänemark
Bedingungen, die für diesen Anspruch notwendig sind. Da-
und Schweden. In Ländern wie Deutschland, Großbritannien
bei betont er, dass sich Mikro- und Makrostudien ergänzen,
und der Schweiz hingegen ist die Unterstützung der Familie
da beide auf unterschiedlichen Ebenen zu Erkenntnissen ge-
und ihrer Lebensbedingungen primäres Ziel. Hier ist die Er-
langen.
werbstätigenquote der Mütter von Kindern im Alter zwischen
3 und 5 Jahren deutlich niedriger, zudem wird auch die Vereinbarkeitsfrage weniger positiv wahrgenommen als in Frankreich, Dänemark, Schweden und Finnland.
Neue Impulse für die Familienpolitik
Insgesamt lässt der Band Experten der Familienpolitik aus
unterschiedlichen Disziplinen zu Wort kommen, die neue Im-
C. Katharina Spieß skizziert Befunde empirischer Mi-
pulse in die familienpolitische Debatte bringen können. Die
krostudien zum Zusammenhang von Zeit, Geld, Infrastruktur
Vielzahl an empirischen Analysen verdeutlicht den differen-
und Fertilität und welche Schlüsse daraus gezogen werden
ziellen Bedarf bestimmter Gruppen und Reformoptionen, wo-
können. Sie kritisiert, dass die Ergebnisse der überwiegend
bei institutionelle Aspekte der Umsetzung ebenso diskutiert
international ausgerichteten Wirkungsstudien nicht einheit-
werden wie die Notwendigkeit, familienpolitische Maßnah-
lich sind und nur wenige dieser Studien eindeutige kausale
men zu evaluieren. Die familienpolitische Trias des Siebten
Effekte identifizieren können. Es gibt aber Hinweise darauf,
Familienberichts wird in diesem Band konzeptionell weiter-
das die Trias aus Zeit, Infrastruktur- und Geldleistungspoli-
entwickelt, wobei die Autoren auch Fragen für die zukünftige
tik für bestimmte Gruppen von Müttern bzw. Eltern positive
Forschung aufwerfen. Im Besonderen fordern die Autoren
Effekte aufweist. Die Autorin entwirft einen umfangreichen
eine Anwendung des methodischen Wissens von Wirkungs-
Forschungskatalog, so unter anderem Analysen zur Interakti-
analysen für die Evaluierung der Familienpolitik bezüglich
on der Maßnahmen und zu Wirkungen für spezielle Zielgrup-
des familialen Wohlbefindens.
pen, um die Defizite gerade für die Forschung in Deutschland zu beseitigen.
Bernhard Gückel , BiB
Aktuelle Literatur kurz vorgestellt
Stefan Hradil (Hrsg. zusammen mit Adalbert Hepp):
litik wie dem Regierungssystem oder
Deutsche Verhältnisse – Eine Sozialkunde. Bundes-
den Medien. So befasst sich beispiels-
zentrale für politische Bildung. Bonn 2012
weise der Direktor des BiB, Prof. Dr.
Der Band gibt einen Überblick über Gesellschaft, Wirt-
Norbert F. Schneider, mit der Ent-
schaft und Politik Deutschlands und informiert in einzelnen
wicklung der Familie zwischen traditi-
Beiträgen über zentrale Felder der sozialen und politischen
oneller Institution und individuell ge-
Entwicklung. Die Palette reicht dabei vom Sozialen Wandel,
stalteter Lebensform. Dabei wendet
über die demografische Zukunft bis hin zu Bereichen der Po-
er sich gegen familiensoziologische
Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012
35
Neue Literatur
Tendenzen, die von einer Auflösung der Familie oder einem
lienpolitik“ bisher eine nur sehr rudimentäre theoretische
grundlegenden Wandels ihres Charakters ausgehen. Er kon-
Konzeption zugrunde liegt.
statiert vielmehr, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass
Als ursprünglich in der Umweltpolitik entstandenes Kon-
sich die Familie der Zukunft grundlegend von der der Gegen-
zept gewinnt das Leitbild der Nachhaltigkeit seit der Jahr-
wart unterscheiden wird.
tausendwende auch in der deutschen Familienpolitik an Be-
Eine Besonderheit dieses Bandes besteht in der Beigabe
deutung. Regina Ahrens bietet sowohl der Fachöffentlichkeit
von Materialien, Schaubildern, Abbildungen, Texten etc., die
als auch den politisch-administrativen Entscheidungsträgern
ausschließlich auf der Website der bpb einzusehen sind und
einen Vorschlag für ein indikatorengestütztes familienpoliti-
regelmäßig aktualisiert werden. Auf diese Weise versuchen
sches Nachhaltigkeitskonzept. (Verlagstext)
Herausgeber und Redaktion, die Nachhaltigkeit der Beiträge
über einen längeren Zeitraum hinweg sicherzustellen.
Ronald Lee; Andrew Mason (Hrsg.):
Population Ageing and the generational economy:
Bernhard Gückel, BiB
A global perspective.
Edward Elgar 2011
Der
Wandel
rungsstruktur
http://www.bpb.de/sozialkunde
den
in
Jahrzehnten
der
Bevölke-
den
kommen-
wird
Wirtschaftswachstum,
–
was
Generatio-
nengerechtigkeit, Humankapital, InRegina Ahrens:
vestitionen und Nachhaltigkeit von
Nachhaltigkeit in der deutschen Familienpolitik.
öffentlichen und privaten Transfer-
Grundlagen – Analysen – Konzeptionalisierung
systemen angeht – beträchtliche
Springer VS Verlag Wiesbaden 2012
Auswirkungen auf die Makroökono-
Ursprünglich in der Umweltpolitik
Ur
mie haben. Wie sich die Zukunft gestaltet, wird dabei von
en
entstanden, gewinnt das Leitbild
Schlüsselakteuren in der Generationenökonomie abhängen:
de
der Nachhaltigkeit seit der Jahr-
den Regierungen, Familien, Finanzinstitutionen und ande-
ta
tausendwende auch in der deut-
ren. Dieser Band bietet dazu einen umfassenden konzeptu-
sc
schen
kontinuier-
ellen Rahmen bei der Analyse der makroökonomischen Ef-
lic
lich an Bedeutung. Im Widerspruch
Familienpolitik
fekte durch die veränderte Altersstuktur der Bevölkerung in
zu
zum augenscheinlichen Interesse
globaler Perspektive. Er präsentiert unter anderem umfas-
fa
familienpolitischer Akteure an einer
sende Prognosen von privaten und öffentlichen Kosten zwi-
Ve
Verbindung der Themen „Familien-
schen den Generationen und betont den globalen Charakter
po
politik“ und „Nachhaltigkeit“ steht
der veränderten Altersstruktur, die reiche und arme Länder
die Tatsache
Tatsache, dass dem P
Postulat einer „nachhaltigen Fami-
gleichermaßen treffen wird. (Verlagstext)
Impressum
Herausgegeben vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung – 33. Jahrgang
Schriftleitung: Prof. Dr. Norbert F. Schneider
Redaktion: Bernhard Gückel
Dienstgebäude: Friedrich-Ebert-Allee 4, 65185 Wiesbaden
Telefon: (0611) 75 22 35
E-Mail: [email protected]
Internet: www.bib-demografie.de
ISSN 1869-3458 / URN:urn:nbn:de:bib-bfa0420124
„Bevölkerungsforschung Aktuell“ erscheint alle 2 Monate. Die Publikation kann im Abonnement im PDF-Format bezogen werden. Anmeldungen bitte an [email protected]. Das Heft finden Sie auch auf der Homepage des BiB (www.bib-demografie.de). – Nachdruck mit Quellenangabe gestattet (Bevölkerungsforschung Aktuell 4/2012 des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung). Belegexemplar erbeten.
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Bevölkerungsforschung Aktuell 04/2012

Documents pareils