Klinefelter Syndrom

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Klinefelter Syndrom
Medizinische Universitäts-Kinderklinik
Prof. Dr. med. Primus E. Mullis
Abteilungsleiter Pädiatrische Endokrinologie /
Diabetologie & Stoffwechsel
CH 3010 Bern
DAS KLINEFELTER SYNDROM
Einleitung
Dieses Informationsblatt soll die wichtigsten bekannten Tatsachen über das Klinefelter
Syndrom zusammenfassen. Es soll Ihnen die Möglichkeit geben, Gehörtes wieder
aufzufrischen und zu vertiefen. Auf keinen Fall kann es aber das individuelle Gespräch mit
Ihrem Spezialisten ersetzen.
Was ist das Klinefelter Syndrom?
Das Klinefelter Syndrom wurde 1942 von einem jungen amerikanischen Arzt namens Harry
Klinefelter zum ersten Mal beschrieben. Ein Syndrom ist eine Kombination aus bestimmten
Symptomen, die immer wieder in einem bestimmten Muster auftreten.
Das Klinefelter-Syndrom tritt bei Jungen auf, die mit einem X-Chromosom zu viel geboren
werden. Chromosomen sind kleine X-förmige Strukturen, auf denen unsere Erbanlagen in
tausenden von Genen kodiert sind. Diese tragen Informationen für Körpermerkmale und –
funktionen, wie z.B. Größe, Haarfarbe oder sprachliche Fähigkeiten. Jeder Mensch besitzt
normalerweise 46 Chromosomen; 23 kommen vom Vater, 23 von der Mutter. Zwei
besondere, das X und das Y-Chromosom bestimmen das Geschlecht einer Person. Ein
Neugeborenes mit zwei X-Chromosomen (XX) ist weiblich; ein Neugeborenes mit einem XChromosom und einem Y-Chromosom (XY) ist männlich. Man schreibt 46 XX respektive 46
XY, wenn man deren Chromosomensatz (Karyotyp) beschreiben will. Die meisten Jungen
mit Klinefelter Syndrom, auch genannt XXY-Jungen, haben zwei anstatt einem XChromosom. Das zusätzliche X-Chromosom ist meist in allen Körperzellen vorhanden. In
einigen Fällen tritt das zusätzliche X-Chromosom nur in einem Teil der Körperzellen auf
(Mosaik), woraus eine geringere Ausprägung der Merkmale resultiert. Gibt es drei oder gar
mehr X-Chromosomen kann dies zu einem schwereren Krankheitsbild führen.
Was verursacht das Klinefelter Syndrom?
Das zusätzliche Auftreten eines X-Chromosoms scheint zufällig zu passieren. Das Syndrom
wird nicht von den Eltern vererbt, da die meisten Eltern von Kindern mit Klinefelter Syndrom
selber eine normale Anzahl an Chromosomen besitzen. Wenn im menschlichen Körper
Spermien oder Eizellen gebildet werden, kommt es aber gelegentlich zu einer ungleichen
Verteilung der Chromosomen, so dass ein Spermium oder eine Eizelle ein X-Chromosom zu
viel bekommt. Bei der Befruchtung führt dies zu einem Jungen mit Klinefelter-Syndrom. Nur
in wenigen Fällen lässt sich dafür eine Erklärung finden (z.B. ein höheres Alter der Mutter).
Das Klinefelter Syndrom kommt in 1:750 männlicher Neugeborener vor, daher werden in der
Schweiz jährlich etwa 50 Jungen mit Klinefelter Syndrom geboren. Häufig wird die Diagnose
erst im Erwachsenenalter gestellt. Das definitive Vorliegen eines zusätzlichen XChromosoms kann mittels einer Blutentnahme und Auszählung der Chromosomen
(Bestimmung des Karyotyps) erfolgen.
Karyotyp eines
Jungen mit Klinefelter
Syndrom. Das
zusätzliche XChromosom ist rot
markiert.
Der Karyotyp kann auch vor der Geburt im Fruchtwasser (Amniozentese) oder in der
Plazenta (Chorionzottenbiopsie) bestimmt werden. Daher wurde in den letzten zehn Jahren
die Diagnose eines Klinefelter Syndroms vermehrt bereits vor der Geburt gestellt.
Nur in seltenen Fällen kommt es bei weiteren Schwangerschaften zu einer erneuten
Fehlverteilung der Chromosomen mit Auftreten eines Klinefelter-Syndroms. Das Klinefelter
Syndrom ist als Geburtsgebrechen im Sinne der IV anerkannt und kann unter GG-Nr. 466 in
den kantonalen IV-Stellen angemeldet werden.
Merkmale, die bei Menschen mit Klinefelter Syndrom auftreten können:
Säuglings-, Kleinkind und
Jugendliche können zusätzlich Erwachsene könne
Schulalter
haben:
zusätzlich haben:
-
Ein- oder beidseitiger
Hodenhochstand
-
Kleine schmale Hoden
-
-
Kleiner Penis
-
Brustvergrößerungen,
genannt Gynäkomastie
-
-
Schwache Muskulatur
-
Reduzierte Muskelmasse
Vermehrte Fettanlagerung
im Bauchbereich
-
-
Lange Beine und ein
kurzer Stamm
Über dem Durchschnitt
liegendes
Längenwachstum
Lern- und Leseprobleme
-
-
Verzögerte und
erschwerte
Sprachentwicklung
Lern- und
Leseprobleme
-
-
Niedriger
Testosteronspiegel
(männliches
Geschlechtshormon)
Erektionsprobleme,
verminderte Libido
Unfruchtbarkeit
aufgrund eines
Mangels an Spermien
Übergewicht
Erhöhte Blutfette
Erhöhter Blutzucker
Schwierigkeiten in der
Handlungsplanung
Soziale Schwierigkeiten
Mobbing und
Verhaltensauffälligkeiten
Gesundheitsprobleme, die mit einem Klinefelter Syndrom assoziiert sind
Beim Klinefelter Syndrom kann es vermehrt zu brüchigen Knochen (Osteoporose),
Krampfadern und Autoimmunerkrankungen (wenn das Immunsystem den eigenen Körper
angreift), wie z.B. Lupus oder Rheumatoide Arthritis kommen. XXY Jungen haben ein
erhöhtes Risiko für Brustkrebs und Krebsarten, die das Blut, Knochenmark oder die
Lymphknoten betreffen, wie beispielsweise die Leukämie. Sie tendieren ebenso zu einem
erhöhten Anteil an Bauchfett, das ein gesundheitliches Risiko für Herz-und
Gefäßerkrankungen sowie zu Typ 2 Diabetes mellitus birgt.
Wie wird das Klinefelter Syndrom behandelt?
Menschen mit Klinefelter Syndrom können ein ganz normales Leben führen. Jungen mit
Klinefelter Syndrom sollten von einem interdisziplinären Team betreut werden. In diesem
Team sollten Endokrinologen, Hausärzte, Logopäden, genetische Berater und Psychologen
vertreten sein. Die Behandlung des Klinefelter Syndroms hilft den Jungen viele der
körperlichen und sozialen Probleme, sowie die mit dem Syndrom assoziierten Lernprobleme
in
den
Griff
zu
bekommen.
Chirurgisch
könnte
eine
allenfalls
vorhandene
Brustvergrösserung reduziert werden. Besonderes Augenmerk muss auf die Vermeidung
von Übergewicht gerichtet werden. Ab der Pubertät ist es empfehlenswert einmal im Jahr
Blutfette und Blutzucker zu bestimmen.
Die Testosteron-Ersatztherapie während der Pubertät, um eine normale Entwicklung von
Muskeln, Knochen, männlichen Geschlechtsmerkmale wie z.B. Barthaare, und der
Fortpflanzungsfähigkeit zu ermöglichen, ist kontrovers. Es gibt nämlich Hinweise darauf,
dass eine zu großzügige Testosteronbehandlung noch vorhanden Samenvorläuferzellen
schädigen kann. Der Entscheid über die Notwendigkeit einer solchen Therapie gehört daher
in die Hand des Spezialisten (Endokrinologe). Eine kontinuierliche lebenslängliche
Behandlung mit Testosteron ist im Erwachsenenalter oft nötig. Jedoch kann eine
Testosteronbehandlung nicht die in den meisten Fällen bestehende Unfruchtbarkeit
verhindern. Während man früher davon ausgehen musste, dass alle Klinefelter-Männer
unfruchtbar waren, bietet die moderne Fruchtbarkeitsmedizin die Möglichkeit, dass Männer
mit Klinefelter-Syndrom mit operativer Spermienextraktion (TESE) und in vitro Fertilisierung
(IVF) Kinder zeugen können. Eine solche Infertilitätsbehandlung wird in speziellen Zentren
angeboten und ist sehr kostenaufwändig. Die Erfolgsrate ist zudem nicht sehr hoch.
Wann sollte das Kind über das Klinefelter Syndrom erfahren?
Wir glauben, dass ein Kind altersgerecht über sein Klinefelter Syndrom informiert werden
sollte. Wir empfehlen den Eltern, dass ein Kind etwa mit 10 Jahren erfahren sollte, dass es
ein Klinefelter Syndrom hat. Wir erklären ihm, dass die Zellen seines Körpers ein XChromosom zu viel haben und dass dies dazu führt, dass es etwas schneller wachse und die
Tendenz habe, übergewichtig zu werden. Wenn später eine Testosteronbehandlung nötig
wird, erklären wir, dass dies für die normale Entwicklung der Muskeln, Knochen und
Geschlechtsorgane wichtig ist. Zwischen 16-18 Jahren sollten Themen wie Sexualität und
Unfruchtbarkeit besprochen werden. Wichtig ist zu wissen, dass ein Mann mit Klinefelter
Syndrom eine völlig normale, erfüllte sexuelle Beziehung zu seiner Frau haben kann. Bei
Kinderwunsch sollte der Kontakt mit einem Spezialisten in der Fertilitätssprechstunde
gesucht werden.
Kontakte:
In der Schweiz kann man Informationen und Kontakte im Internet finden unter
www.klinefelter.ch. Desweiteren hat die deutsche Klinefelter Vereinigung ebenfalls eine gute
Webseite mit weiterem Informationsmaterial: www.Klinefelter.de. Bei weiteren Fragen
können Sie sich selbstverständlich auch immer an uns wenden.
cand. med. Lea Reuter & cand. med. Stefanie Fetzer; Dr. Marco Janner, Oktober 2010