Deutsche Juden in Argentinien
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Deutsche Juden in Argentinien
Deutsche Juden in Argentinien Auf den Spuren einer fast verschwundenen Minderheit Von: Dr. Thomas O. H. Kaiser, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 8 / 2009 Argentinien, Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts: Das Land der Rinderzüchter und Viehbarone ist zu einem der bedeutendsten Einwanderungsländer für Verfolgte des Naziregimes geworden. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nimmt Argentinien in der Zeit der Nazidiktatur mehr Flüchtlinge aus Deutschland auf als etwa die USA. Doch die Spur der Juden aus Deutschland hat sich im Lauf der Zeit so gut wie verloren und über die Situation jüdischer Emigranten aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Argentinien ist relativ wenig bekannt. Thomas Kaiser informiert über das Argentinien der 30er Jahre, über Fluchthilfe und über das Leben der jüdischen Gemeinschaft dort, insbesondere während der Jahre 1933 - 45. 1. Die politische Situation im Argentinien der 30er Jahre Die politische Situation im Argentinien der 30er Jahre ist gekennzeichnet durch die weltweite Wirtschaftskrise. Seit 1912 das allgemeine und geheime Wahlrecht eingeführt und das Land auf den Weg zur Demokratie gebracht worden war, ist Argentinien der Verfassung nach eine Präsidialdemokratie.(1) Bei den Präsidentschaftswahlen 1916, 1922 und 1928 geht jeweils die liberale Partido Radical als Siegerin hervor. Ihr gegenüber steht als politische Interessenvertretung der Großgrundbesitzer das nationalkonservative Oppositionsbündnis Concordancia. Die Konservativen machen die liberale Regierungspartei für die Krise des Landes verantwortlich, in die Argentinien im Zuge der weltweiten Krise geraten war. Deshalb putscht 1930 das Militär. Wie immer bei einem Putsch, werden in der Folgezeit die Opposition und die Gewerkschaften unterdrückt, die Presse zensiert, die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Über weite Teile des Landes wird der Ausnahmezustand verhängt. Politische Unruhen sind an der Tagesordnung. Mehrere Jahre lang werden jetzt rechtsgerichtete Politiker Argentinien regieren, im Wechsel mit Generälen. José F. Uriburu (1868 - 1932) macht den Anfang, weitere Militärs folgen; über Scheinwahlen gelangen sie ins Amt. Er errichtet ein ultranationalistisches, ständestaatlich-autoritäres Systems faschistischer Prägung. Wenig später wird die Seccíon Especial de Represión al Communismo gegründet, jene Polizei-Spezialeinheit, die die grausame Folter an Oppositionellen zu verantworten hat. Im Mai 1936 vereinigt sich die Rechte zur Nationalen Front. Sie fordert offen die Errichtung einer Diktatur. Autoritär nach innen, verhält sich Argentinien nach außen politisch neutral. Am 4. Juli 1943 putscht die Militärjunta, die faschistische Grupo de Oficiales Unidos (GOU), erneut. Letzte Spuren der Demokratie werden jetzt endgültig beseitigt.(2) Immer wieder sind die Beziehungen Argentiniens zu den Achsenmächten schwankend, die Neutralität wankend. Unter General Edelmiro J. Farell (1887 - 1980), der offene Sympathien für die Achsenmächte zeigt, sich aber wegen der Kriegsführung den Alliierten annähern muss, wird ein Mitglied der Militärjunta, Oberst Juan Domingo Perón (1885 - 1974) wird Vizepräsident. Am 27. März 1945 - zu einem Zeitpunkt, als der Sieg der Alliierten bereits feststeht - erklärt Argentinien Deutschland und Japan den Krieg. Nach 1945 wird Perón, dem es gelingt, seine Macht weiter auszubauen, zum argentinischen Präsidenten gewählt. Die Mehrheit der jüdischen Immigrantinnen und Immigranten steht Perón und dem Perónismus aufgrund ihrer Erfahrungen, die sie mit der NS-Diktatur gemacht hat, ablehnend gegenüber. So wird bei vielen die Freude über den Sieg der Alliierten durch das Aufleben eines neuen diktatorischen Regimes mit der Ära Perón getrübt. 2. Die jüdische Emigration aus Deutschland nach Argentinien Jüdinnen und Juden deutscher Herkunft waren bereits Mitte des 19. Jh. in Argentinien eingewandert. 1821 - also fünf Jahre Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 1/9 nach der argentinischen Befreiung von der spanischen Vorherrschaft - hatte man in Argentinien ein Gesetz zur Unterstützung der Immigration erlassen, mit dem Ziel, das riesige Land schnell zu bevölkern und das wirtschaftliche Wachstum zu fördern. 1854 regelte die erste argentinische Verfassung die Aufnahme von Emigranten, die fortan unbürokratisch Land und Immobilien erwerben, ihren Beruf ausüben und ihren Glauben frei ausüben durften. Diese liberale Einwanderungspolitik wurde schnell publik: Ab 1881 wanderten viele Jüdinnen und Juden aus Osteuropa auf der Flucht vor russischen Pogromen ein. Schon 1868 war es unter der Beteiligung vieler deutscher Juden in Buenos Aires zur Gründung der ersten jüdischen Gemeinde, der Congregación Israelita de la República Argentina (CIRA) gekommen. In den Jahren 1890 bis 1920 folgten viele Juden aus Deutschland, überwiegend Repräsentanten deutscher Handelsgesellschaften. Doch zum ersten Höhepunkt der jüdisch-deutschen Immigration in Argentinien im 20. Jh. kam es Mitte der "Golden Twenties". Die instabile wirtschaftliche Situation in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg hatte viele Menschen dazu gebracht, ihr Land zu verlassen und anderswo einen Neuanfang zu suchen.(3) Weil die Vereinigten Staaten zu dieser Zeit einen Einwanderungsstopp verfügt hatten und eine restriktive Einwanderungspolitik verfolgten, verschob sich der Schwerpunkt der Emigration nach Süden. Es kamen orthodoxe und liberale Juden, auch Zionisten und solche, die ihre Konfession nicht angaben. Argentinien war damals bei den europäischen Flüchtlingen nicht unbedingt das beliebteste Emigrationsland. So wies etwa Brasilien einen weitaus höheren Anteil deutscher Emigranten auf: Hierhin flüchtete sich beispielsweise der Vorsitzende der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), Erich Koch-Weser (1875 - 1944). Nachdem die Nazis dem evangelischen Anwalt und Mitglied des Reichstags im April 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung die Kanzlei geschlossen hatten, emigrierte er noch im selben Monat ins brasilianische Nordparana, wohin er seit 1932 Verbindungen hatte. Argentinien war allerdings das europäischste der latein­amerikanischen Länder und wurde unter diesem Gesichtspunkt für viele Juden attraktiv. In Buenos Aires gab es beispielsweise eine von Europa beeinflusste Musik- und Kunstszene.(4) Mit der Zeit wurden die Einreisebestimmungen nach Argentinien immer komplizierter. Denn bald verlor die Regierung das Interesse an den mehrheitlich städtischen europäischen Flüchtlingen. Gefragt waren jetzt Bauern und Handwerker. 1933 versuchte die Regierung per Dekret den Flüchtlingsstrom einzudämmen, wobei die Verschärfungen insbesondere allein stehende Frauen mit Kindern, Jugendliche und Kranke betrafen. Anders Familien: Hatte ein Familienmitglied längere Zeit in Argentinien gelebt - wie das beispielsweise bei vielen Einwanderern vor 1933 der Fall gewesen war - , konnten Angehörige unter Vorlage einer Llamada, einer finanziellen Bürgschaftserklärung ähnlich der US-amerikanischen Affidavits, und nicht über den Weg eines Arbeitsvertrages zwecks Familienzusammenführung nachkommen. Das sollte für die jüdischen Emigrantinnen und Emigranten von erheblicher Bedeutung werden. Im Juli 1936 kam es im Zuge des Spanischen Bürgerkriegs und der Angst vor kommunistischen Einflüssen, die über politische Flüchtlinge nach Argentinien gelangten, erneut zu drastischen Verschlechterungen in der argentinischen Einwanderungspolitik. Dies bekamen auch die jüdischen Flüchtlinge aus Europa zu spüren. Hatten bis 1933 viele Juden in Deutschland die Gefahr des Nationalsozialismus unterschätzt und keine Notwendigkeit gesehen, Europa zu verlassen, so änderte sich dies nach der Verabschiedung der "Nürnberger Gesetze", durch die sie nach all den vorangegangenen Repressalien nun ihrer bürgerlichen Rechte beraubt wurden. 1938 setzte nach der Reichspogromnacht eine regelrechte Massenflucht von Deutschland nach Übersee ein. Viele flohen nach Israel, in die USA, nach Südafrika, ja sogar bis nach China - erst an letzter Stelle stand Südamerika!(5) Bald wurde die Einreise nach Argentinien auf direktem Wege nahezu unmöglich. Der größte Strom der Flüchtlinge aus Deutschland erreichte Argentinien trotz der verschlechterten Einreisebedingungen in den Jahren 1938/39. Da für jüdische Flüchtlinge ein Flugverbot bestand, reiste man über die Nachbarländer, vor allem aber auf dem Seeweg ein: Nach einer vierwöchigen Odyssee per Schiff kam endlich der Hafen von Buenos Aires in Sicht. Hier wurden viele Flüchtlinge von Verwandten oder Bekannten abgeholt. Viele wurden auch abgeschoben, weil mit ihren Visa etwas nicht stimmte, andere schafften es, die begehrte Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, wiederum anderen gelang die Flucht nicht. Von 1933 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im September 1939 verließen über 380.000 Jüdinnen und Juden Deutschland und Österreich6, ca. 45.000 gelang die Flucht nach Argentinien. Am 23. Oktober 1941 erließen die Nazis ein Emigrationsverbot. Von nun an kam niemand mehr legal aus Deutschland heraus. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 2/9 3. Fluchthilfe für jüdische Emigranten aus Nazi-Deutschland Aber wie wurde die Flucht aus Europa eigentlich organisiert - sieht man von individuellen Hilfsmaßnahmen auf verwandtschaftlicher Basis ab?(7) Welche Institutionen halfen den Flüchtenden aus Nazi-Deutschland? Neben Freunden, Bekannten und einzelnen Gerechten unter den Völkern, die die Flüchtlinge unterstützten sowie kirchlichen Organisationen wie dem legendären Büro Grüber, waren in Deutschland bereits 1933 Hilfsorganisationen auf jüdischer Seite entstanden. Eine besondere Bedeutung kam dabei der Gründung der Reichsvertretung der deutschen Juden unter dem Vorsitz von Leo Baeck (1873 - 1956) zu, die sich intensiv um die Belange der Deutschland verlassenden Juden kümmerte. Auch die Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (JOINT) unterstützte die Emigrantinnen und Emigranten. Insgesamt erhielten 260.000 Flüchtlinge aus Deutschland oder den von den Nazis besetzten Ländern Unterstützung in finanzieller Form oder durch die Beschaffung von Ausreisepapieren.(8) Vor allem setzte sich der Hilfsverein der Juden in Deutschland - 1904 gegründet - für die Angelegenheiten der Flüchtlinge ein. Er gab an die Flüchtlinge genaue Informationen über die Länder und wie man sie erreichen konnte weiter und verschaffte den Argentinien-Auswanderern die begehrten Schiffsplätze. 1938 durfte jede Person nur noch den Gegenwert von zehn Reichsmark aus Deutschland ausführen, persönlicher Besitz und Ware durften nur im Wert von 1000 Reichsmark mitgeführt werden. Außerdem mussten die Flüchtlinge eine Reichsfluchtsteuer zahlen, die schon im Jahre 1931 45% des Eigentums ausmachte. Der NS-Staat bediente sich zu diesem Zeitpunkt zu seiner Bereicherung noch pseudolegaler Mittel.(9) Im Mai 1937 war die Allgemeine Treuhandstelle für die jüdische Auswanderung GmbH (Altreu) eingerichtet worden, die mittellose Emigrantinnen und Emigranten unterstützte. Das Geld für die Unterstützung kam von Flüchtlingen, die bei der Altreu ihre Devisen mit hohem Verlust umtauschen konnten; die Einnahmen aus dieser Transaktion flossen dann in den Altreu-Fond zur Unterstützung anderer. Fast dreitausend Personen erhielten ein Altreu-Darlehen, das ihre Auswanderung nach Lateinamerika erst ermöglichte. Im Februar 1939 wurde der Altreu-Fond aufgelöst, da seine Reserven erschöpft waren. In Argentinien selbst hatten wachsame Zeitgenossen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft die nationalsozialistische Bedrohung erkannt. Schon lange mehr oder weniger in die deutsche Gemeinschaft Argentiniens integriert - jüdische Kinder gingen auf deutschsprachige Schulen, Juden und Christen deutscher Herkunft begruben ihre Verstorbenen auf demselben christlichen Friedhof etc. - , verloren mit der sog. Machtergreifung der Nazis in Deutschland plötzlich viele ihren Job, wurden diskriminiert und aus deutschen Einwanderer-Organisationen ausgeschlossen. Bei vielen Juden entstand in dieser Situation ein neues Bewusstsein ihrer Konfession und ihrer Herkunft, was zuvor nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. 1933 gründeten deutsche Juden in Argentinien eine Selbsthilfeorganisation, den Hilfsverein deutschsprechender Juden, die heutige Associación Filantrópica Israelita (AFI). Die AFI arbeitete eng mit der Jewish Colonization Association (JCA) zusammen und wurde von 1937 - 39 u.a. von JOINT unterstützt. Insgesamt half der Hilfsverein über 12.000 Menschen. Von anfangs 175 Mitgliedern wuchs die Mitgliederzahl auf 2000 Personen an. Im Mai 1935 besaß der Hilfsverein ein eigenes Flüchtlingswohnheim; er vermittelte Arbeitseinsätze und bot Spanischkurse an, da die meisten Flüchtlinge kein Spanisch sprachen. Denn mit der Beherrschung der Sprache waren für die Einwanderer qualifizierte Jobs verbunden. Viele von ihnen konnten ihren erlernten Beruf nicht mehr ausüben und waren auf neue Jobs angewiesen. Später half den Emigranten die Organisation CENTRA, der Dachverband jüdischer Gemeinden und Organisationen mitteleuropäischer Herkunft in Lateinamerika, der 1956 von Ernst Simon (1899 - 1988) in Jerusalem ins Leben gerufen worden war. Besonders hart waren Akademikerinnen und Akademiker betroffen. Oft wurden - wie bei vielen Ärzten, Zahnärzten und Rechtsanwälten - Prüfungen nicht anerkannt, so dass es bald ein Überangebot an qualifizierten Fachleuten auf dem argentinischen Arbeitsmarkt gab. Weil im landwirtschaftlichen Bereich die besten Chancen zur Lebensunterhaltssicherung bestanden, wurde außerhalb von Buenos Aires in Choele Choel in der Provinz Rio Negro eine Obstplantage gegründet, die Fomento Agrícola Adolfo Hirsch, die 120 Flüchtlingen Arbeit gab. 1938 gründete man ein Kinderheim, das - um den Eltern die Arbeitssuche zu erleichtern - als Kindertagesstätte fungierte und in dem schließlich bis zu 100 Kinder betreut wurden. Viele Emigranten fanden früher oder später ein neues Betätigungsfeld, mussten z.T. jedoch mehrere Berufe gleichzeitig ausüben, um zu überleben. Für die Älteren unter ihnen, denen schließlich als letztes die Flucht nach Argentinien gelungen war, gründete der Hilfsverein am 27. Oktober 1940 ein Altersheim in San Miguel in der Nähe von Buenos Aires, in Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 3/9 dem Mitte der 90er Jahre noch 200 Jüdinnen und Juden deutscher Herkunft lebten. Die AFI wurde zu einer der wichtigsten Hilfsorganisationen des Landes. 4. Jüdisches Leben in Argentinien von 1933 - 45 Für die jüdischen Emigrantinnen und Emigranten aus Deutschland war das Leben auf dem Lande hart. Familien wurden durch die Flucht auseinander gerissen, Ehen zerbrachen, Freundschaften wurden durch den Gang der Ereignisse beendet. Der Verlust der Heimat, der Verwandtschaft, der Identität und oftmals auch des Berufs wurde manchem zuviel - die Folgen waren oft Alkoholismus und Suizid. Von denen, die es geschafft hatten, konnten viele, besonders die Älteren, den Kulturschock nicht verkraften. Die ungewohnt harte körperliche Arbeit, die schlichten Lebensverhältnisse, das Leben ohne Elektrizität und mit unzureichenden sanitären Anlagen sowie Überschwemmungen und Dürre stellten die Einwanderer auf eine harte Probe. Eine ausgebaute Infrastruktur existierte nicht, meist lag die nächste größere Stadt Kilometer entfernt. Zu den wirtschaftlichen Sorgen traten seelische Nöte: Alles war anders in Argentinien - das Klima, die Sprache, die Mentalität der Leute, der Lebensrhythmus, die Normen- und Wertevorstellungen. Keineswegs nur Juden scheiterten: Ein Beispiel des Scheiterns von nicht-jüdischen Emigranten in Argentinien ist Oskar Schindler, der 1200 Juden vor dem sicheren Tod gerettet hatte und der - unterstützt vom JOINT - mit dem letzten jüdischen Transport nach Argentinien ausgewandert war und einen Bauernhof 60 km südlich von Buenos Aires in San Vincente gekauft hatte. Erst in den 90er Jahren konnte Schindlers Ehefrau Emilie ihren Bericht der Ereignisse vorlegen, in dem sie eindrücklich auch auf die Umstellung ihres Lebens in Argentinien einging. Sie war nach der Rückkehr ihres Mannes nach Deutschland hoch verschuldet in Argentinien zurück geblieben. Mit Hilfe der jüdischen Hilfsorganisation B´nai B´rith gelang es ihr 1962, den Bauernhof zu verkaufen und von dem Erlös ein kleines Häuschen zu bauen.(10) Zu ihrem Mann, der inzwischen wieder in Deutschland lebte, stellte sie den Kontakt ein. Emilie Schindler gelang es mehr schlecht als recht, sich in Argentinien einleben zu können. Andere, die das nicht schafften, zogen weg, vom Land in die Stadt, vor allem ins pulsierende Zentrum des Landes: nach Buenos Aires. Hier, im Paris Südamerikas, wie die Großstadt am Rio de La Plata auch genannt wurde, war die deutsche Gemeinschaft während der Zeit des Nationalsozialismus in zwei verfeindete Lager gespalten.(11) Der Streit zwischen Demokraten und Nationalsozialisten wurde besonders offensiv in den beiden größten deutschsprachigen Tageszeitungen Argentiniens ausgefochten, dem freisinnig-republikanischen Argentinischen Tageblatt und der monarchistisch-konservativen, später nationalsozialistischen Deutschen La Plata Zeitung (DLPZ). Die DLPZ war 1880 von Hermann Tjarks (1856 - 1916) aus Carolinensiel gegründet worden und bald zur auflagenstärksten deutschsprachigen Zeitung Lateinamerikas geworden, in der zeitweise bis zu 120 Personen arbeiteten. 1916 übernahm sie sein Sohn Emilio Tjarks (Jg. 1892), der mit den Nazis sympathisierte und seinerseits von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hofiert wurde, mit dem Ziel, die 250.000 Deutschen in Argentinien politisch zu infiltrieren. So konnte ab 1931 die NSDAP-Auslandsorganisation in Argentinien vor allem über die DLPZ ihre Hetzpropaganda verbreiten. 1933 erhielten die argentinischen Nazis durch den fanatischen deutschen Diplomaten Freiherr Edmund von Thermann (1884 1951), Mitglied der NSDAP und der SS, Auftrieb. Mit dem Machtzuwachs der NSDAP in Deutschland nahmen auch die Mitgliederzahlen der Partei in Argentinien zu, bis 1941 ein Höhepunkt von ca. 2100 aktiven Mitgliedern erreicht wurde. Weil die Aktivitäten der NS-Auslandsorganisation der argentinischen Regierung zuviel wurden, erließ sie 1939 ein Dekret, das allen ausländischen Organisationen eine politische Betätigung untersagte. 1942 wurde Botschafter von Thermann aus Buenos Aires abgezogen. Das Schiff, mit dem er nach Europa zurückkehrte, wurde mehrmals von britischen Kriegsschiffen angehalten und durchsucht. Beschlagnahmt wurden das Reisegepäck des Botschafters: 103 Koffer im Gesamtgewicht von 30 Tonnen, über 3000 kg Lebensmittel, nicht gerechnet 50 kg Schokolade; 24 Pelzmäntel, 20 neue Mäntel, ein Zentner Seife, 30 kg Strickwolle und gewaltige Mengen Tabak; an Devisen hatte Thermann im vorletzten Kriegsjahr 100 Golddollar, 520 Goldfranken, 80 Goldlire, ferner zehn Pfund Sterling und 1686 Dollar in Noten sowie ein ansehnliches Paket argentinischer Wertpapiere bei sich! 1944 wurde die DLPZ per Regierungsdekret geschlossen, Thermann nach Kriegsende von den Amerikanern verhaftet. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 4/9 Demgegenüber trat das Argentinische Tageblatt für Demokratie und Freiheit ein und berichtete früh von Judenverfolgungen und Konzentrationslagern. Nach der Ankunft tausender jüdischer Flüchtlinge aus dem sog. Dritten Reich wurde die von dem Schweizer Reformierten Johann Allemann (Juan Alemann, 1826 - 93) im Jahre 1889 gegründete Zeitung zum Forum und Berater der deutschen Intellektuellen mit einer Auflage von 28.000 Exemplaren - zu einer Zeit, als es in Nazi-Deutschland bereits 1933 keine freie Presse mehr gab! Die Liste prominenter Mitarbeiter reicht von Thomas Mann (1875 - 1955), Lion Feuchtwanger (1884 - 1958) bis zu Theodor Heuss (1884 - 1963). Zeitung und Herausgeber waren den Repressionen der Nazis ausgesetzt: In Argentinien wurden Mitarbeiter der Zeitung durch Nationalsozialisten bedroht; die Universität Heidelberg entzog 1936 dem Tageblatt-Herausgeber, Ernesto Alemann (1893 - 1982), den dort erworbenen Doktorgrad. Als die Schweizer Zeitung Die Nation und auch die 1940 gegründete deutschsprachige Jüdische Wochenschau vom Zeitungsmarkt verschwanden, war das Tageblatt die einzige deutschsprachige demokratische Zeitung südlich von Mexiko. Nachdem die Deutsche La Plata Zeitung 1938 am Ruin vorbeigeschlittert war und nur dank einer Subvention von 100 Tonnen Zeitungspapier und 20.000 Reichsmark aus dem NS-Propagandaministerium überleben konnte, wurde im Oktober 1944 aufgrund der veränderten politischen Haltung Argentiniens die Schließung der Deutschen La Plata Zeitung verfügt. Damit hatte als einzige deutschsprachige Zeitung das Argentinische Tageblatt überlebt. Bis heute: Es erscheint wöchentlich samstags in Buenos Aires und wird von den Urenkeln des Gründers, den Wirtschaftsexperten Roberto T. und Juan E. Alemann, herausgegeben. Im Internet kann es im pdf-Format gelesen werden.(12) Mit der langsamen Akkulturation im neuen Land ging die institutionelle Entwicklung des sozialen, religiösen und kulturellen Lebens einher. In Buenos Aires entstanden immer mehr jüdische Organisationen. So kam es beispielsweise am 6.10.1937 zur Gründung der Jüdischen Kulturgemeinschaft (JKG), der späteren Asociación Cultural Israelita de Buenos Aires (ACIBA), unter deren Gründungsmitgliedern sich deutsch-jüdische Emigrantinnen und Emigranten befanden. Der Arbeitsschwerpunkt dieser noch heute in Argentinien bestehenden Organisation lag neben der Ausrichtung religiöser Feste auf sozialen und kulturellen Angelegenheiten. Auf dem Bildungssektor versuchte man eine relative Autonomie zu erreichen. Als die Schulen nationalsozialistisch infiltriert wurden, gründeten Emigranten, darunter Ernesto Alemann, 1934 in Buenos Aires eine Pestalozzi-Schule, in der der Unterricht auf Deutsch stattfand. Das wurde für die deutschsprachigen Emigrantenkinder zunehmend wichtiger, weil die humanistisch orientierte Schule außerdem nicht von nationalsozialistischer Ideologie durchsetzt wurde. Auch als kulturelles Zentrum war die Schule schnell beliebt. In der Zentralsynagoge in Buenos Aires versuchte man über das Angebot deutschsprachiger Gottesdienste die deutschen Juden in die jüdische Gemeinde zu integrieren. Aber unter den Einwanderern war das Bedürfnis nach einer eigenen Gemeinde als religiösem und kulturellem Mittelpunkt stärker. So gründete eine kleine Gruppe deutschsprachiger Juden Mitte der 30er Jahre in Belgrano eine kleine Synagoge. In diesem Stadtteil, in dem die meisten Auslandsdeutschen lebten, gab es bereits deutsche Schulen, eine deutsche Kirche und Geschäfte mit deutschem Namen. Das Viertel hat auch dem Belgranodeutsch seinen Namen geliehen, jenem noch heute gesprochenen, mit deutschen Begriffen durchzogenen Spanisch. In Belgrano wuchs der Einfluss der Nazis unter den Deutschen stetig. Mit der Ankunft vieler jüdischer Emigranten spaltete sich die Gemeinde in einen orthodoxen Teil, die Adjut Israel - er bildete den Ausgangspunkt für die Concordia Israelita, deren Mitglieder später nach Israel auswanderten - und in einen liberalen Teil, die Nueva Comunidad Israelita, die Neue Israelische Gemeinschaft (NCI). Gleichzeitig zur NCI spaltete sich eine weitere, liberale Richtung ab, die heutige Benei Tikva. Eine weitere Spaltung geschah, nachdem verstärkt zionistische Ideen aus Israel in die Gemeinde hineingetragen wurden. Unterstützt von der Theodor-Herzl-Gesellschaft kam es zur Gründung der Gemeinde Bet-Israel. Später konsolidierten sich die Gruppen unter der Bezeichnung Benei Tikva. 1939 wurde schließlich eine deutschsprachige jüdische Gemeinde ins Leben gerufen, in der Gottesdienst auf Deutsch gefeiert wurde. Auch andernorts entstanden eigene Gemeinden: Mataderos, Villa Ballester und die Communidad Israelite del Sur. Viele deutsch-jüdische Einwanderer zogen später in die nördlichen Vororte von Buenos Aires, wo 1944 die Asociación Religiosa y Cultural Israelita: Lamroth Hakol als Filiale der Hauptgemeinde in Belgrano gegründet wurde. So wurden in dieser Zeit der 30er und 40er Jahre aus dem Gefühl heraus, ein Minimum an Vertrautem als Heimatersatz zu schaffen, verschiedene jüdisch-deutsche Gemeinschaften in Argentinien ins Leben gerufen. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 5/9 5. Das Leben danach Es gibt sie bis heute.(13) Gegenüber anderen Exilländern hat sich die spezifisch deutsch-jüdische Kultur in Argentinien lange erhalten. Obwohl es für die überlebenden Juden nach 1945 schwierig war, in Israel oder anderswo eine neue Heimat zu finden und sich eine neue Existenz aufzubauen, befand sich Argentinien unter den Ländern, die schon früh vielen Verfolgten eine neue Heimat geboten hatten. Doch wenige deutsche Flüchtlinge jüdischen Glaubens fühlten sich in diesem für sie fremden südamerikanischen Land richtig zuhause. Sie litten Zeit ihres Lebens unter dem Verlust ihrer Heimat, ihrer familiären Beziehungen und ihrer Arbeit. Noch heute bezeichnen sich die wenigen Überlebenden von damals als Emigranten - ein Ausdruck dafür, wie sehr ihr Leben und ihre Emigration nach Argentinien mit der Flucht vor der Shoah zusammenhängen. Deutschland blieb für viele bis an ihr Lebensende eine geistige Heimat, wurde - oftmals aus der Ferne mythisch verklärt mit hohen kulturellen Idealen gleichgesetzt, für die die Namen Johann Wolfgang von Goethe, Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beet­hoven standen. Kontakte zu den Einheimischen hielten sich in Grenzen. Selbst über den Tod hinaus: Die meisten der deutschen Flüchtlinge wählten unter den bestehenden sieben Friedhöfen in Buenos Aires den jüdischen Cementerio Sefardi de Lomas de Zamora für den Platz ihrer letzten Ruhe. Während die Kinder der Emigranten-Generation ihre Probleme mit der Integration hatten - u.a. deshalb, weil sie permanent unter dem Militärregime gelebt hatten - haben heute ihre Enkelinnen und Enkel, also die Angehörigen der dritten Generation, begonnen, sich in das argentinische Leben zu integrieren und sich als "argentinische Staatsbürger jüdischen Glaubens deutscher Herkunft" zu verstehen. Nur noch die Hälfte von ihnen spricht die Muttersprache ihrer Eltern und Großeltern. Die meisten von ihnen haben einen argentinischen Pass und denken und fühlen argentinisch. Die Angehörigen der jüngeren Generation stellen sich die Frage, wie sie sich als argentinische Juden und nicht als deutsche Juden oder jüdische Deutsche in Argentinien definieren sollen. Dabei hilft ihnen heute, dass es über die Synagogen hinaus insgesamt mehr jüdische kulturelle Einrichtungen gibt als früher. Boten 1930 zwei Synagogen in Buenos Aires Gottesdienste in deutscher Sprache an, bestanden ca. 25 Jahre später zwischen achtzig und hundert Gemeinden, von denen fünf deutsch waren. Schätzungen zufolge leben heute in Argentinien ca. 250.000 Jüdinnen und Juden, es gibt ca. 50 Synagogen in Buenos Aires mit ca. 3000 praktizierenden Familien. Es gibt jüdische Museen, Informationszentren, Bibliotheken und Sammlungen sowie Theater und ein Rabbinerseminar. Langsam beginnt auch eine andere Seite der Vergangenheit Argentiniens gesellschaftlich aufgearbeitet zu werden: Nach dem Krieg konnten in dem Land, das zuvor vielen deutschen Jüdinnen und Juden Zuflucht geboten hatte, hohe Nazis, deutsche NS-Kriegsverbrecher und Mörder mit Billigung oberster Regierungsstellen untertauchen und dort jahrzehntelang unerkannt leben. Das Absetzen ins Ausland gestaltete sich für die Nazi-Verbrecher im allgemeinen als relativ einfach: Beispielsweise reiste der Kriegsverbrecher Josef Mengele (1911 - 79), der im KZ Auschwitz Menschenversuche durchgeführt hatte, mit dem Dampfer North King aus Genua am 20.6.1949 in Buenos Aires mit zigtausend weiteren europäischen Einwanderern und gefälschten Ausweisdokumenten (alias Helmuth Gregor, 38 Jahre alt, katholisch, Mechaniker) unerkannt ein.(14) Adolf Eichmann (1906 - 62), der Organisator der Vertreibung, der Deportation und des industriellen Mordes an sechs Millionen Juden, führte in Argentinien zehn Jahre lang ein unauffälliges, "normales" Leben und arbeitete in einer Mercedes-Benz-Niederlassung, bis er 1960 vom israelischen Geheimdienst Mossad entführt, ihm in Jerusalem der Prozess gemacht und er zwei Jahre später hingerichtet wurde. Eichmanns gefälschter Einreisepass, mit dem er sich unter dem Decknamen "Ricardo Klement" nach Argentinien abgesetzt hatte, wurde erst 2007 per Zufall von einer Studentin in einer alten Gerichtsakte entdeckt, die 1960 angelegt worden war.(15) Aber auch weniger bekannte Nazis waren in Argentinien untergekommen: Wilfred von Oven (1912 - 2008), ab 1943 bis Kriegsende persönlicher Pressereferent von Goebbels, siedelte 1951 nach Argentinien über, arbeitete später als SPIEGEL-Korrespondent für Südamerika und blieb bis zu seinem Tod in Buenos Aires ein unverbesserlicher Nazi. KZ-Kommandant Eduard Roschmann (1908 - 77), der "Schlächter von Riga", floh als "Frederico Wegener" nach Argentinien, erhielt die argentinische Staatsbürgerschaft und starb 1977 in Paraguay; der ehemalige SS-Gruppenführer, NSDAP-Reichstagsabgeordnete und Generalleutnant der Waffen-SS, Ludolf-Hermann von Alvensleben (1901 - 70), in Polen zum Tode verurteilt, setzte sich unter dem Decknamen "Carlos Lücke" nach Argentinien ab und starb in Santa Rosa de Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 6/9 Cálamuchita; SS-Hauptsturmführer Erich Priebke (Jg. 1913), verantwortlich für die Erschießung von 335 Zivilisten in Italien, lebte ab 1949 in Argentinien, leitete den Trägerverein der Deutschen Schule und nahm, von der Deutschen Botschaft geduldet, bald wieder seinen alten Namen an. Die Naziverbrecher waren unter falschem Namen in der deutschen Gemeinschaft in Argentinien untergetaucht und lebten dort unauffällig und unerkannt. Seit 1992 Präsident Carlos Menem (Jg. 1930) verschlossene Aktenbestände der Öffentlichkeit zugänglich machte, richtet sich das besondere Augenmerk des Interesses verstärkt auf Diktator Perón und auf die Rolle seiner im Volk fast wie eine Heilige verehrten und seit dem bekannten Musical mit Madonna zur Pop-Ikone gewordenen Gattin Evita Perón (1919 1952).(16) Argentiniens ehemaliger Staatspräsident Néstor Kirchner (Jg. 1950) ordnete im Juni 2003 an, alle staatlichen Archive zu öffnen und die Rolle des Nachkriegsregimes unter Perón bei der Flucht von Kriegsverbrechern aus Europa aufzuklären. Er entsprach damit dem Antrag des Simon-Wiesenthal-Zentrums vom Dezember 2002, die Akten von 68 nach dem Zweiten Weltkrieg in Argentinien untergetauchten NS-Kriegsverbrechern zu sichten.(17) Es gilt inzwischen historisch als erwiesen, dass die Einreise vieler NS-Täter erst durch die Peróns ermöglicht wurde. Inzwischen ist Bewegung in den Aufarbeitungsprozess gekommen, u.a. durch die Veröffentlichungen des argentinischen Journalisten und Historikers Uki Goni (Jg. 1953). Er geht mit seinem 2002 in England und 2006 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch über die "Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen" (ODESSA) der Frage nach, warum sich Diktator Perón und seine Frau Evita einerseits gegen die Einwanderung naziverfolgter Juden in Argentinien ausgesprochen hatten (die Geheimorder aus dem Jahre 1938 wurde erst 2005 offiziell aufgehoben!) und andererseits nach Kriegsende 300 nachweislich von der Todesstrafe bedrohten Nazi-Verbrechern die Einreise gestattet hatten. Goni hat Beweise dafür gefunden, dass es eine von Perón und anderen aufgebaute Nazi-Fluchthilfeorganisation gegeben hat, die vom Vatikan sowie britischen und amerikanischen Alliierten gebilligt worden war ("Rattenlinie" genannt). Simon Wiesenthal (1908 - 2005) hatte bereits in den 60er Jahren dieses Netzwerk alter Nazis aufgedeckt, das Frederick Forsyth (Jg. 1938) als Vorlage für sein 1972 erschienenes Buch "Die Akte Odessa" diente. Goni kam zu dem Ergebnis, dass sich die Peróns in ihrer Politik von Antikommunismus und Antisemitismus leiten ließen. Ziel perónistischer Politik war es, möglichst viele qualifizierte Fachleute nach Argentinien einzuschleusen, damit diese in Zeiten des Kalten Krieges mit ihrem technologischen Knowhow in einem ins Kalkül gezogenen siegreichen Dritten Weltkrieg gegen die Sowjetunion Argentinien zum Sieg verhelfen konnten.(18) Noch einen anderen Aspekt zieht die Debatte im Aufarbeitungsprozess der jüngsten argentinischen Vergangenheit durch die jüngere Generation nach sich: die Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur in den Jahren 1976 - 83. Mitte der 70er Jahre hatte Argentinien eine Zeit der politischen und wirtschaftlichen Instabilität erlebt, was sich in Militärputschen, Verhängung von Ausnahmezuständen und politisch motivierten Gewalttaten manifestierte. Menschenrechtsorganisationen zufolge sind in der Zeit der Militärjunta bis zu 30.000 Menschen spurlos "verschwunden" - etliche wurden gefoltert, umgebracht oder lebendig über dem Meer abgeworfen. Unter den zu beklagenden Opfern der Diktatur befanden sich auch zahlreiche Juden. In Deutschland gelangte das Schicksal der Tochter des Tübinger Theologieprofessors Ernst Käsemann, Elisabeth Käsemann (1947 - 77), die in Buenos Aires als Sozialarbeiterin arbeitete und von den Todesschwadronen erschossen wurde, zu trauriger Berühmtheit. Details ihrer Ermordung kamen erst bruchstückhaft ans Licht, die Namen der Mörder wurden bekannt, der Anwalt der Familie stellte Strafantrag wegen Mordes - erfolglos: 2007 wurde das Verfahren von argentinischen Gerichten endgültig ad acta gelegt. Der Mord an Elisabeth Käsemann blieb wie viele andere ungesühnt.(19) Heute hat Argentinien immer noch mit den Folgen der Wirtschaftskrise von 2001 zu kämpfen. Die Staatsverschuldung des süd­amerikanischen Landes belief sich auf ca. 4,6 Mrd. Euro; die Bundesrepublik Deutschland ist mit einem Anteil von 28% Argentiniens größter Gläubiger. Im Zuge der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte und auf dem Hintergrund von zunehmenden antisemitischen Ausschreitungen, an denen nachweislich auch Polizisten beteiligt waren, emigrierten viele argentinische Juden deutscher Herkunft nach Israel. Diejenigen, die im Land der Haziendas und Polospieler geblieben sind, setzen den öffentlichen Aufarbeitungsprozess der Vergangenheit fort - was nicht allein auf internationalen Druck zurückzuführen ist. Seine Wurzeln liegen auch im Aufklärungs- und Gerechtigkeitsverlangen einer neuen, freien und kritischen Generation von Jüdinnen und Juden in Argentinien. Diese Generation hat gerade erst damit begonnen, die verwehten Spuren einer fast verschwundenen Minderheit zu sichern. Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 7/9 Anmerkungen: 1 Erste Anregungen zum Thema verdanke ich Cristina Müller-Blasquez, Kirchliche Hilfe für Jüdische MitbürgerInnen? Eine Fallstudie am Beispiel Argentinien unter besonderer Berücksichtigung der Zeit ab 1930, Heidelberg 1994 (M.A.). 2 Ein informativer Überblick zur Geschichte der Militärdiktatur in Argentinien und zur gegenwärtigen politischen Situation findet sich auf www.argentina-online.de. 3 Zwischen 1850 und 1934 verließen ca. fünf Millionen Menschen von Hamburg aus ihre Heimat in Richtung Neue Welt. Unter denen, die in den 20er Jahren aus Deutschland auswanderten, befanden sich auch die Großtante und der Großonkel des Verfassers, Marie und William Brandis. 4 Vgl. Fritz Pohle, Musiker-Emigration in Latein­amerika. Ein vorläufiger Überblick, in: Musik im Exil. Folge des Nazismus für die internationale Musikkultur, hg. von Hanns-Werner Heister/Claudia Maurer Zenck/Peter Petersen, Frankfurt/M. 1993, 338-353, und Wolfgang Kießling, Exil in Lateinamerika. Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 - 1945, Frankfurt/M. 1981. 5 Bei Peter Finkelgruen findet sich der Abdruck einer Karte, auf der der Landweg über den fernen Osten - von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland als letzte Möglichkeit erachtet, nach der Besetzung Frankreichs in die USA und nach Südamerika zu gelangen - als kombinierter Land- und Seeweg nachzeichnet wird, vgl. Peter Finkelgruen, Haus Deutschland oder die Geschichte eines ungesühnten Mordes, Berlin 1992, 141. Zu den Problemen, die ein solcher Umweg mit sich brachte, vgl. Patrick von zur Mühlen, Fluchtziel Lateinamerika. Die deutsche Emigration 1933 - 1945, Bonn 1988, bes. 54; Wolfgang Benz (Hg.), Das Exil der kleinen Leute, München 1994, 325-345; Anne Saint Saveur-Henne (Hg.), Zweimal verjagt. Die deutschsprachige Emigration und der Fluchtweg Frankreich-Lateinamerika, Berlin 1998; Karl Kohut/Patrick von zur Mühlen (Hg.), Alternative Lateinamerika. Das deutsche Exil in der Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1994 sowie Achim Schrader/Karl-Heinrich Rengstorf (Hg.), Europäische Juden in Lateinamerika, St. Ingberg 1989. 6 Die Einwanderung aus Österreich und der Schweiz muss an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Verwiesen sei auf die einschlägige Literatur, vgl. z.B. Herbert Brettl, Auswanderungsziel "Boni Eures, Argentinien". Die Auswanderung nach Argentinien mit der spezifischen Untersuchung der burgenländischen Auswanderung von 1921 - 1938, Wien 1997 und Brigitta Boveland, Exile and Identity. Narratives of Austrian Jewish Refugees from Nazi Austria, New York 1998. 7 Ein berühmtes Beispiel für die verwandtschaftliche Hilfe bei der Emigration ist Golo Mann, der die gesamte Flucht seiner Familie aus Nazi-Deutschland organisierte, vgl. Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland, Frankfurt/M. 1991, 92002, 537ff. 8 Zum Büro Grüber vgl. Hartmut Ludwig, Die Opfer unter dem Rad verbinden. Vor- und Entstehungsgeschichte, Arbeit und Mitarbeiter des Büro Grüber, Berlin 1988 (Diss.). Zum Joint vgl. den kritischen Beitrag von Yfaat Weiss, Zweierlei Maß. Die Emigration deutscher und polnischer Juden nach 1933, in: Jüdischer Almanach 1998, Frankfurt/M. 1997, 100-112, bes. 103f. Zu den Hilfsvereinen, vgl. Kirsten Moneke, Emigration deutscher Juden nach Argentinien (1933 - 45). Zur Rolle der jüdischen Hilfsvereine, St. Ingbert 1993. 9 Vgl. Lea Rosh/Eberhard Jäckel, "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland". Deportation und Ermordung der Juden. Kollaboration und Verweigerung in Europa, München 1992, 15. 10 Vgl. Thomas Keneally, Schindlers Liste, München 1983, (2)1994, 338f, und Emilie Schindler, In Schindlers Schatten. Emilie Schindler erzählt ihre Geschichte, Köln (3)1997, bes. 133ff. 11 Vgl. Carlota Jakisch, El Nazismo y los Refugiados Alemanes en la Argentinia 1933 - 45, Buenos Aires 1989. 12 Vgl. weiterführend Sebastian Schoepp, Das argentinische Tageblatt 1933 - 1945: eine "bürgerliche Kampfzeitung" als Forum der antinationalsozialistischen Emigration, München 1991; Hendrik Groth, Das argentinische Tageblatt. Sprachrohr der demokratischen Deutschen und der deutsch-jüdischen Emigration, Hamburg 1996; Georg Ismar, Der Pressekrieg. Argentinisches Tageblatt und Deutsche La Plata Zeitung 1933 - 1945, Berlin 2006, http://www.tageblatt.com.ar/archivo/2005/10/Pressestreit.pdf und www.tageblatt.com.ar. 13 Vgl. Alfredo José Schwarcz, Trotz allem ... Die deutschsprachigen Juden in Argentinien, Wien-Köln-Weimar 1995. Dass jüdische Gemeinden auch aussterben können, wurde kürzlich aus Libyen berichtet: "Nach dem Tod der 80jährigen Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 8/9 Smeralda Magnagi Chaneis ist mit Libyen eine der ältesten jüdischen Gemeinden der Welt ausgestorben. Wie die israelische Tageszeitung "Jedijot Achronot" berichtete, starb die letzte in Libyen lebende Jüdin" (Südkurier vom 9.2.2002). 14 Josef Mengele aus Günzburg lebte von 1958 - 60 in Vincente Lopez, einem Vorort von Buenos Aires. Er praktizierte dort als Arzt und nahm u.a. Schwangerschaftsabbrüche vor. Aus Furcht vor Kidnapping verließ er 1962 Argentinien. Sein Sohn, Rolf Mengele (Jg. 1944), der von dem Aufenthaltsort seines Vaters, der ihm bis dato nur als "Onkel Fritz" bekannt gewesen war, Kenntnis hatte, besuchte ihn 1977 in Sao Paolo. Rolf Mengele lebt heute als Anwalt unter dem Namen seiner Frau in München. Sein Vater starb als überzeugter Nationalsozialist beim Schwimmen im Meer an einem Schlaganfall. 15 In Buenos Aires wurde Eichmanns jüngster Sohn Ricardo (Jg. 1955), der seinen Namen nach der Geheimidentität seines Vaters erhielt, geboren. Prof. Dr. Ricardo Francisco Eichmann, Professor für Ur- und Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Ägyptologie, ist heute Erster Direktor der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts, vgl. weiterführend ZEIT 28/1995. 16 Juan Domingo Perón, von 1946 - 55 und 1973/74 Präsident Argentiniens, starb 1974. Evita Perón starb 1952 an Gebärmutterhalskrebs. Ihr Leichnam wurde auf Wunsch ihres Mannes einbalsamiert und in einem gläsernen Sarg im Kongressgebäude zur Schau gestellt. 1955 wurde die Leiche entführt, geschändet und nach zwei Jahren in Mailand unter falschem Namen bestattet. 14 Jahre später wurde sie exhumiert und ins faschistische Madrid überführt, wo zu der Zeit mit Hilfe von Spaniens Diktator Francisco Franco (1939 - 75) ihr Mann untergetaucht war. Nach dessen Tod wurde der Leichnam im Familiengrab auf dem Recoleta-Friedhof beigesetzt. 1987 wurden die Leiche Juan Peróns geschändet: dem ebenfalls einbalsamierten Leichnam schnitt man die Hände ab. 2006 wurden die sterblichen Überreste Peróns in ein eigens für ihn errichtetes Mausoleum überführt. Zur Person Evita Peróns, vgl. http://www.youtube.com/watch?v=ENeOYS-MSNw, http://www.youtube.com/watch?v=zyjJdoxUl6A&feature=related und http://www.youtube.com/watch?v=YqiHD6XJoWw&NR=1 17 Seitdem einige NS-Kriegsverbrecher ausfindig gemacht und vor ein deutsches Gericht gestellt worden sind - angefangen mit dem NS-Kriegsverbrecher Klaus Barbie (1913 - 91), dem sadistischen Gestapo-Chef von Lyon, der sich nach Bolivien abgesetzt hatte und zuletzt der NS-Kriegsverbrecher Josef Schwammberger (1912 - 2004), der in Argentinien untergetaucht war - , wurde auch in Deutschland der Aufarbeitungsprozess, der inhaltlich direkt nach 1945, aber formal erst Ende der 60er Jahre mit der Installation der "Zentralen Stelle der Länderjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen" in Ludwigsburg begonnen hatte, vor einigen Jahren wieder neu belebt. Auf der Liste der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher standen 2008 Aribert Heim, John Demianjuk, Sandor Kepiro, Milivoj Asner und Sören Kam. Momentan beschäftigt die deutsche Justiz John Demianjuk (Jg. 1920), der 1986 in Israel wegen Verbrechen im Vernichtungslager Treblinka zum Tode verurteilt worden war, 1993 aber freigesprochen wurde und in die USA zurückkehren konnte. Von dort aus wurde er im Mai 2009 unter großer Öffentlichkeit nach Deutschland ausgeliefert, wo ihm in München wegen Beihilfe zum Mord an 29.000 Menschen im Vernichtungslager Sobibór der Prozess gemacht wird. 18 Vgl. Uki Goni, Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Berlin-Hamburg 2006. Zur schnellen Information vgl. den Hintergrundsbericht des Stern, Nazis auf der Flucht, in: Stern 13/2005 (http://www.stern.de/politik/historie/index.html?id=538051&q=uki) 19 Vgl. Ulrike Schuler, Verschwunden in der argentinischen Diktatur, aber längst nicht vergessen, in: Das Parlament 17/2005 und http://www.menschenrechte.org/Koalition/PDF/Ausstellung-E_Kaesemann.pdf. Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771 Herausgeber: Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V Langgasse 54 67105 Schifferstadt Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts. Seite 9/9