Leseprobe - Online
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Michael Rossié: Frei sprechen in Radio, Fernsehen und vor Publikum. Ein Training für Moderatoren und Redner, 3., aktualisierte Auflage, Econ Verlag, Berlin 2009. Einführung Moderatoren sprechen frei. Gute Redner sprechen frei. Denn jemand, der vorliest, egal ob vom Blatt oder von einem Monitor, ist kein Moderator oder Redner, sondern ein Sprecher. Wenn in diesem Buch also von einem Moderator oder einem Redner gesprochen wird, dann meine ich jemanden, der frei spricht. Damit unterscheidet sich meine Terminologie ein wenig vom allgemeinen Sprachgebrauch. Denn alle, die sich mit der Materie auskennen, wissen, dass die wenigsten, die in der Öffentlichkeit reden, wirklich frei sprechen. Frei bedeutet hier nicht, dass man die Hände frei hat, oder dass man das Recht hat, zu sagen, was man will. Frei sprechen, wie ich es verstehe, bedeutet, dass man das, was man sagt, jedes Mal neu erfindet. Auswendig gelernt ist nicht frei gesprochen. Benutze ich die Stichwortkarte in meiner Hand dazu, mir die tagelang geprobten Sätze in Erinnerung zu rufen, fiele das für mich unter Lesen, aber nicht unter freies Sprechen. Den Begriff Moderator habe ich weit gefasst. Der Gastgeber einer Spielshow, der Redakteur, der Beiträge seiner Sendung ansagt, die Beauty, die nach Stichwortkarten ein Studioprogramm organisiert, der Pausenclown zwischen zwei Musiktiteln, ja sogar der gepflegte Herr, der mit wilden Bewegungen erklärt, wie man seine Hautcreme selber mischt, sie alle werden im täglichen Sprachgebrauch als Moderatoren bezeichnet. Sie stehen häufiger als dass sie sitzen, und sie haben kein ausgearbeitetes Manuskript vor sich. Und all das, was für einen Moderator gilt, gilt für jeden Redner, der vor der Gruppe frei spricht. Der Gastgeber einer Talkshow muss also ganz ähnliche Fähigkeiten erlernen wie ein guter Lehrer oder ein Sprecher, der die Pressekonferenz eines Unternehmens eröffnet. Wie werde ich ein Moderator? Sie können sich zunächst einmal etwas antrainieren. Sie können Ihren Händen beibringen, nur bestimmte Bewegungen zu machen, Sie können Ihrem Mund nur eine bestimmte Art von Satz erlauben, Sie erlernen eine Mikrofonhaltung, und Sie gehen vor jedem Satz den ganzen Katalog von Ge- und Verboten durch, von »Schau immer in die Kamera« bis zu den »ähs«. Das Ergebnis können wir uns täglich im Fernsehen anschauen. Zum großen Teil sehen wir auf sich selbst konzentrierte Darsteller von Moderatoren, die versuchen so zu tun, als seien sie echt. Die ganze Konzentration verwenden sie darauf, nur ja nichts falsch zu machen. Wir haben uns inzwischen so daran gewöhnt, dass uns gar nicht mehr auffällt, wie unnatürlich sie sprechen. In den meisten Rhetorikkursen lernen Sie alle diese Regeln. Nur weil Sie vor der Gruppe steif dastehen, bekommen Sie beigebracht, wie Sie Ihre Hände bewegen sollen. Das ist genauso, wie wenn sich herausstellt, dass Sie beim Anblick von Löwen in freier Wildbahn immer erschrocken stehen bleiben und man Ihnen jetzt tagelang beibringt, wie man wegläuft. Wenn der Löwe dann wirklich kommt, sind Sie noch viel langsamer, weil Sie immer darüber nachdenken müssen, welchen Fuß Sie jetzt als nächsten nehmen. Keinem Menschen muss man Handbewegungen beibringen. Wenn wir privat anregend und charmant erzählen, dann müssen wir nur lernen, das vor Gruppe, Mikrofon und Kamera ebenso zu tun, aber das Erzählen selbst müssen wir nicht lernen. Das können wir. Jeder von uns produziert im Durchschnitt über 50 Buchseiten am Tag. Wir reden also jeden Monat drei dicke Romane zusammen. Wir planen nicht vorher, was wir sagen werden, wir denken nicht minutenlang nach, ehe wir antworten, obwohl wir uns nicht vorbereitet haben. Wir sprechen frei. Es würde also genügen, ganz privat zu sein. Und wenn Sie privat mit Ihren Erzählungen alle anderen langweilen, dann haben Sie andere Stärken, die Sie zum Beruf machen können. Sie müssen ja dann nicht unbedingt Moderator werden. Sie wollen sich lieber vorbereiten und dann so viel trainieren, dass man die Vorbereitung nicht bemerkt? Sie wollen so tun, als ob Sie die Sätze gerade erfinden, die Sie schon vor Tagen bis ins Detail ausformuliert haben? Glauben Sie, das merkt man nicht? In meinen Augen merkt man sofort, dass da jemand nicht natürlich ist. Andererseits haben Sie Recht: Es ist keine natürliche Situation. Da steht jemand in einem hochmodernen Fernseh-studio, sitzt in einem High-Tech-Radiostudio oder steht vor 400 Studenten und soll so tun, als würde er sich ganz privat unterhalten. Das kann so einfach nicht klappen. Die Konsequenz, die die meisten Moderatoren daraus ziehen: Sie trainieren noch intensiver, damit der Zuschauer an ihre Echtheit glaubt. Eine Echtheit, die nie vorhanden ist. Und sie müssen regelmäßig trainieren, denn sonst vergessen sie ja alles wieder. Moderieren als antrainierte Fähigkeit wie Hochseilartistik oder Jonglieren? Das kann nur kurzfristig eine Lösung sein Beim Schauspieler klappt das doch auch, denken Sie sich. Der spielt doch auch glaubhaft. Ja, das stimmt. Aber da gibt es einen alles entscheidenden Unterschied: Bei einem Schauspieler weiß ich, dass er lügt. Ich gehe ins Theater, ins Kino und sehe fern, in dem Wissen belogen zu werden. Und wenn ich einen Schauspieler glänzend finde und ihn wegen seiner Leistung bewundere, dann bewundere ich ihn für die Qualität seiner Lüge. Beim Bäcker gelingt ihm das nicht, es ist ja keine Theatersituation. Auch der beste Schauspieler tut sich schwer, seinem Lebenspartner etwas vorzumachen. Und wenn es doch mal gelingt, dann mit Einverständnis des anderen. Jemand, der von seinem Partner mal betrogen worden ist, wird sich hinterher sehr oft eingestehen müssen, dass er es gewusst hat. Er hat gemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber er wollte es nicht wissen. Gut zu lügen ist außerordentlich schwer. Die Kommunikation mit dem Zuschauer oder Hörer ist einseitig. Und doch ist für mich auch eine Moderation und vor allem eine Rede ein Dialog. Bei einem Kommunikationsprozess kommen in der Regel drei Komponenten zusammen, die alle drei unter Umständen auch noch missverständlich sind: ▪ Wortaussage (die verbale Aussage) ▪ Ton, bzw. Subtext (die paraverbale Aussage) ▪ Körpersprache (die nonverbale Aussage) Drei ganz unterschiedliche Transportmittel liefern also ständig Botschaften. Und die können Sie in vier verschiedene Gruppen einteilen. ▪ Es sind Pakete mit Neuigkeiten für den Kopf dabei (die Sachinformationen) ▪ Es ist viel Werbematerial dabei, in dem Ihnen gesagt wird, was Sie tun und lassen sollten (Appelle, möglicherweise auch noch versteckte) ▪ Es gibt Schmäh- und Grußpostkarten, die Sie ärgern sollen oder Ihnen etwas Gutes tun wollen (Beziehungsaspekt) ▪ Es sind lange Briefe dabei, in denen die Absender Ihnen Geschichten aus ihrem Leben erzählen (die Selbstoffenbarung). Diese Botschaften kommen nicht etwa säuberlich getrennt, sondern jede Sendung, die bei Ihnen ankommt, hat auch ein bisschen was von den anderen dreien. Das ist oft sehr schwer auseinander zu halten. Auch Sie selbst beladen jeden Tag mehrere Postfahrzeuge, um Ihre ungezählten Sendungen an den Mann oder die Frau zu bringen. Mehr zu diesen vier Seiten jeder Botschaft, dem sogenannten Nachrichtenquadrat, können Sie in den wunderbaren Büchern von Friedemann Schulz von Thun1 nachlesen. Deswegen ist Lügen so schwer. Wenn ich mit Körper, Ton und Wort immer drei Dinge gleichzeitig sage, und jede Botschaft auch noch vier Aspekte haben kann, sende ich mit einem Satz im schlimmsten Fall zwölf verschiedene Botschaften, die sich möglicherweise auch noch widersprechen. Wenn Sie wirklich perfekt lügen wollten, müssten Sie dies alles einüben und trainieren. Authentizität ist also die Übereinstimmung von dem, was Sie fühlen, mit dem, was Sie von Ihren Gefühlen bewusst mitbekommen, und dem, was Sie davon mitteilen. Das heißt nicht, dass Sie alles sagen müssen. Sie denken sowieso ungefähr das Vierfache von dem, was Sie sagen, aber das, was Sie sagen, sollten Sie auch denken. Anders ausgedrückt: Sie sind dann authentisch, wenn die Botschaften der zwölf Kanäle, auf denen Sie senden, sich so wenig wie möglich widersprechen. Bei jemandem, der frei spricht, erwarten wir Wahrheit. Wir gehen nicht davon aus, dass wir etwas vorgespielt bekommen. Da steht doch nur ein Mensch, der uns ein paar interessante Geschichten erzählt, mit uns ein Spiel spielt oder uns etwas Spannendes erklärt. Warum sollte der lügen? Um sich selbst besser in Szene zu setzen? Solche Leute gehen uns privat eher auf die Nerven. Warum sollten wir sie im Fernsehen oder Radio einschalten wollen? Natürlich gibt es Tricks, den Zuschauer an der Nase herumzuführen. Sie können ablesen, anstatt frei zu sprechen. Sie können alles auswendig lernen, oder Sie haben einen Knopf im Ohr, durch den Ihnen alles vorgesagt wird. Ein guter Schauspieler könnte sich mit diesen Kniffen dem Ideal wenigstens nähern. Aber wollen Sie vier Jahre auf eine Schauspielschule gehen, um spielen zu lernen? Und noch einen fatalen Nachteil hat es, wenn Sie immer mit solchen Tricks arbeiten. Sie werden sich Ihrem Ziel, frei zu sprechen, nie nähern. Sie werden höheren Anforderungen wie Live-Sendungen oder Veranstaltungen mit Gästen nie gewachsen sein. Für Anfänger können das Hilfestellungen sein, zurecht zu kommen, aber nur, wenn sie sich anschließend auf den Weg machen zu lernen, wie sie vor Publikum frei sprechen. Wer diese Freiheit mal gespürt hat, der wird das nie mehr anders wollen. Das Moderieren macht weniger Arbeit, ungleich mehr Freude, und Ihr Publikum hört Ihnen viel lieber zu. Wenn Sie es können! Sie schnappen sich einfach das nächste Mikrofon und los geht es. Das kann wirklich großen Spaß machen. Theoretisch ist es ganz einfach. Ein Redner oder Moderator erzählt spannende Geschichten, stellt Neuigkeiten vor, macht ungewöhnliche Zusammenhänge klar, ist witzig und unterhält uns mit Spielen oder durch Gespräche mit interessanten Menschen, je nach Anlass oder Sendung. Und das alles ganz natürlich, selbstverständlich und souverän. Ein guter Freund kommt über die Medien zu uns zu Besuch oder steht auf dem Podium und ist genauso nett und sympathisch wie wirklicher Besuch. Denn wenn er das nicht ist, dann werfe ich ihn mit einem leichten Druck auf die Fernbedienung wieder raus oder verlasse die Veranstaltung. Seien Sie ganz privat! Mit diesem Satz könnte ja dieses Buch schon enden. Der Moderator, der das hinbekommt, ist am Ziel. Thomas Gottschalk, Günther Jauch, Kai Pflaume, Oliver Geissen, sie alle sind vor der Kamera möglichst privat. Sie denken laut, sie reden ein bisschen mehr als sie privat reden, aber sie geben sich ganz ungezwungen und sind immer sie selbst. Ich habe immer das Gefühl, dass sie für mich ganz persönlich reden. Sprechen wir so privat miteinander? Das ist die erste Frage, die wir uns bei der Bewertung eines Redners stellen sollten. Wenn der privat nicht so redet, sollte er das auch nicht vor Publikum tun. Trotzdem machen sehr viele Redner vor der Gruppe so vieles anders als im privaten Gespräch. Ich behaupte, dass sie diese Verschiedenheit zunächst mal nicht wollen. Sie wären gerne locker und privat, bekommen das aber nicht hin. Das heißt, dass in den meisten Fällen das Abweichen vom privaten Sprechen eine Notlösung und keine neue Ästhetik ist. Wie schwer es ist, vor einer Gruppe oder Kamera zu sprechen und sich frei zu bewegen, wissen alle, die es einmal versucht haben. Ich habe vor allen, die es überhaupt wagen, den allergrößten Respekt. Das soll uns aber nicht davon abhalten, nach Qualitätsmerkmalen zu suchen, bzw. die Richtung vorzugeben, in der man als Moderator an sich arbeiten kann. Dass mir die Nachbarin gratuliert oder meine Eltern stolz auf mich sind, nur weil ich im Fernsehen bin, kann nicht das einzige Ziel sein. Nehmen wir an, Sie seien nicht vorbelastet. Sie haben sich noch nicht stundenlang bei Vorträgen gelangweilt, nicht intensiv den coolen Sprecher auf Langeweile-TV studiert und auch noch kein Buch darüber gelesen, dass jede Moderation eine feste Struktur braucht. Sie sind ganz offen. Dann fangen wir ganz unbefangen bei der Vorbereitung Ihrer freien Rede an.