Leseprobe - Kaden Verlag

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Leseprobe - Kaden Verlag
Deutsche Gesellschaft für
Chirurgie 1933–1945
Die Präsidenten
von
Michael Sachs (Frankfurt/Main);
Heinz-Peter Schmiedebach, Rebecca Schwoch (Hamburg)
Herausgeber
im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie:
Hans-Ulrich Steinau und Hartwig Bauer
Kaden Verlag
Heidelberg
XXVII
Inhalt
Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
1933: Gleichschaltung und Ausschaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX
Prof. Dr. med. Wilhelm Konrad Röpke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
Prof. Dr. med. Martin Kirschner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Michael Sachs
Prof. Dr. med. Richard Hugo Georg Magnus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
Exkurs
Karl Franz Friedrich Brandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Paul Ludwig Ernst Rostock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Geh. Med. Rat Prof. Dr. med. Erich A. M. Lexer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
Prof. Dr. med. Rudolf Stich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Michael Sachs
Prof. Dr. med. Nicolai Gustav Hermann Woldemar Guleke . . . . . . . . . . . . 119
Michael Sachs
Prof. Dr. med. Otto Carl Wilhelm Nordmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
Prof. Dr. med. Hans von Haberer Kremshohenstein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
XXVIII
Prof. Dr. med. Georg Arthur Läwen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Michael Sachs
Prof. Dr. med. Albert Bernhard Fromme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Michael Sachs
Prof. Dr. med. August Friedrich Leopold Borchard . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Michael Sachs
Verfolgte und Vertriebene unter den Mitgliedern
der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Rebecca Schwoch
Unsere verfolgten, vertriebenen und vermissten Mitglieder. . . . . . . . . 219
Anhang
Die Reden der Präsidenten (1933–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
131
Prof. Dr. med. Otto Carl Wilhelm Nordmann
(1876–1946)
Geboren am 14. September 1876 in Bad Harzburg
Gestorben am 26. Mai 1946 in Holzminden
1939 Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“
1940 bis 1946 Schriftführer der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“
O
tto Carl Wilhelm Nordmann wurde am 14.
September 1876¹ in Bad Harzburg als Sohn des
Tischlermeisters und Möbelfabrikanten Hermann
Nordmann (1844–1901) sowie der Marie Nordmann,
geb. Engelke (1848–1933) geboren. Im Jahre 1909
heiratete Otto Nordmann Elisabeth Molsen (geb. 8.
Oktober 1884 in Flensburg, gest. 18. September 1962
in Braunschweig).² Das Ehepaar bekam drei
Töchter: Annemarie, Ursula und Ingeborg.³
Zunächst hat Nordmann ein Studium der
Volkswirtschaft begonnen,⁴ wechselte aber schon
nach dem ersten Semester, also ab dem Sommersemester 1895, zum Medizinstudium, das er in
Freiburg/Breisgau, Göttingen und Berlin absolvierte. „Im S.-S. 1900“, so schrieb er im Lebenslauf sei-
¹ Nordmann selbst hat in seinem ersten Fragebogen zum
Entnazifizierungsverfahren vom 27. April 1945 als Geburtsjahr
1878 handschriftlich notiert und im zweiten Fragebogen zum
Entnazifizierungsverfahren vom 30. August 1945 das Jahr 1876,
welches laut Geburtenregister korrekt ist. Dass ihm dieser
Fehler unterlief, lag sicher daran, dass er zu diesem Zeitpunkt
schon sehr krank und der zerstörerische Zweite Weltkrieg gerade erst überstanden war. Vgl. Nds LA/HStAH: Entnazifizierungsakte, o. Bl.; StAW: Geburtenregister des Standesamts
Neustadt Harzburg; BArch: Reichsarztregister.
² Vgl. LAB: B Rep. 080, Nr. 2082, Bl. 36 (Schreiben vom
24.9.1962 betr. Todesmitteilung von Elisabeth Nordmann).
³ Vgl. Reichshandbuch 1931; Degener 1935.
⁴ Vgl. Ehrhardt 1998, S. 77.
Otto Nordmann in seinem Breuer-Stuhl.
Wir danken Herrn Prof. Dr. med. J. Christoph Reidemeister
aus Essen, dem ältesten Enkel von Otto Nordmann, für die
Überlassung der Bilder.
132
ner Dissertation, „unterzog ich mich dem medicinischen Staatsexamen, das ich am 4. VII. bestand.“⁵
Anschließend absolvierte er seinen Militärpflichtdienst als einjährig-freiwilliger Arzt in Oldenburg. Im
Jahre 1901 erhielt Nordmann die Approbation, ein
Jahr später erfolgte die Promotion über die phagocytäre Rolle der Riesenzellen, beides in Göttingen.⁶
Von 1901 bis 1902 arbeitete er als Volontärassistent am Pathologischen Institut in Göttingen
bei Prof. Johannes Orth (1847–1923). 1902 ging
Nordmann zu Prof. Werner Körte (1853–1937) nach
Berlin, um sich am Städtischen Krankenhaus Am
Urban im Stadtteil Kreuzberg chirurgisch zu betätigen. Im Jahre 1906 begann er als Oberarzt des
Leiters und Ärztlichen Direktors, Prof. Walther
Kausch (1867–1928), am Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Berlin-Schöneberg und wurde mit
Wirkung vom 1. April 1909 zum städtischen höheren Beamten ernannt; bereits zwei Jahre später
wurde Nordmann Chefarzt der dortigen II.
Chirurgischen Abteilung, eine Funktion, die er bis
1933 ausübte. Mit dem Tode Kauschs wurden beide
chirurgischen Abteilungen unter Nordmanns Leitung zusammengelegt.⁷ 1908 unternahm Nordmann
eine Studienreise in die USA.⁸ 1918 wurde ihm der
Professorentitel verliehen.⁹
In Degeners „Wer ist’s?“ wurde Nordmann als
Sammler alter Möbel, von Silber und Porzellan
beschrieben; zu dessen Lieblingsbeschäftigung
gehörte die Jagd.¹⁰ Bei letzterer begleitete ihn mitunter sein Freund und späterer Bundespräsident
Theodor Heuss (1884–1963), der dann „den Hund
an der Leine führen“ durfte und damit die alleinige
Entscheidungsbefugnis für den Einsatz des Jagdhundes hatte. Heuss meinte – so Dr. Axel Fleischmann, der Nachfolger Nordmanns in Holzminden
–, „es habe sich nicht um eine echte Jagdleidenschaft
gehandelt, sondern um ein hygienisches Training
durch Umstellung auf Naturbeobachtung“, dass
Nordmann sich selbst verordnet habe.¹¹
Während des Ersten Weltkrieges war Nordmann in einem Feld- und Kriegslazarett als Chirurg
tätig.
Während seiner Studentenzeit hatte Otto Nordmann als Burschenschafter Anschluss an die liberale Bewegung des Pfarrers Friedrich Naumann
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
(1860–1919) gefunden.¹² 1918 trat Nordmann nicht
nur der linksliberalen und bürgerlichen Deutschen
Demokratischen Partei (DDP) bei, sondern engagierte sich auch für eine demokratische Politik, was
ihn bis in das Berliner Stadtparlament führte. Ab
1919 war er dort demokratischer Stadtverordneter.¹³
Theodor Heuss hatte Nordmann im Berliner Bezirksparlament kennengelernt.¹⁴ Als sich Nordmann
in der Partei durch Machenschaften kompromittiert
fühlte, die seinen guten Ruf hätten gefährden können, so Fleischmann, hat er sich 1926 nicht ein zweites Mal wählen lassen, trat sogar aus der Partei
aus.¹⁵ Was genau sich dahinter verbirgt, konnte
nicht eruiert werden. Seine Einstellung zur
Weimarer Demokratie hat sich aber offensichtlich
verändert, denn im Jahre 1933 hat er in seiner Rede
auf Werner Körtes 80. Geburtstag gewisse Vorbehalte gegenüber den Verhältnissen der Weimarer
Republik und der Parteienwirtschaft anklingen lassen und dabei auch sehr die fehlenden Möglichkeiten der Einflussnahme der erfahrenen Chirurgen
⁵ Lebenslauf in: Nordmann 1901, o. S.
⁶ Vgl. Deutsches Chirurgen-Verzeichnis 1938.
⁷ Vgl. LAB: B Rep. 080, Nr. 2082, Bl. 1 (Schreiben vom
Senator für Gesundheitswesen an den Senator für Inneres vom
19. September 1951) und Bl. 2–3 (Schreiben von Elisabeth
Nordmann an den Bezirksbürgermeister von BerlinSchöneberg vom 16. Mai 1951).
⁸ In einer späteren biographischen Skizze aus dem Jahre 1951
hieß es: „Eine längere Reise führte ihn in die großen Kliniken
Amerikas.“ Vgl. LAB: B Rep. 080, Nr. 2082, Bl. 1 (Schreiben
vom Senator für Gesundheitswesen an den Senator für Inneres
vom 19. September 1951).
⁹ Vgl. Leithäuser 1996.
¹⁰ Vgl. Degener 1935.
¹¹ Fleischmann 1983, S. 69.
¹² Vgl. Fleischmann 1983.
¹³ Vgl. Nds LA/HStAH: Nds 171 Hildesheim Nr. 37492, o. Bl.
(Fragebogen Entnazifizierungsverfahren).
¹⁴ Vgl. Leithäuser 1996. Der DDP gehörte beispielsweise auch
der Ordinarius für Orthopädie Georg Hohmann (1880–1970)
an, der als Nationalliberaler aus dem geistigen Umfeld
Naumanns und Heuss’ sowie als ehemaliger freidemokratischer
Abgeordneter im bayerischen Landtag stets Distanz zum
Nationalsozialismus hielt. Vgl. Voswinckel 2002.
¹⁵ Vgl. Fleischmann 1983.
Prof. Dr. med. Otto Carl Wilhelm Nordmann (1876–1946)
auf die Gesundheitspolitik bedauert. Körte habe
beispielsweise als Mitglied der Gesundheitsdeputation der Stadt Berlin keine sachlichen Gesichtspunkte zur Geltung bringen können. „Uferlose
Reden von verantwortungslosen Mitgliedern“ der
Behörde seien zum Fenster hinaus gehalten worden.
Typisch für die damaligen Verhältnisse sei auch
gewesen, dass man Körte nicht den geringsten
Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers eingeräumt habe: „Die Parteien verhökerten die Stellen,
die frei wurden, untereinander. Das Parteibuch, das
zuweilen nur zum Schein erworben und als
Aushängeschild benutzt wurde, entschied.“¹⁶ Diese
Aussagen ermangeln nicht einer gewissen Resignation, gehörte Nordmann doch einst zu den linksliberalen Denkern der Weimarer Republik.
Nordmann und der
Nationalsozialismus
Wie bereits erwähnt, war Otto Nordmann von 1909
bis 1933 chirurgischer Chefarzt am Berliner
Auguste-Viktoria-Krankenhaus. Offensichtlich
„freiwillig unter dem Druck der Verhältnisse“, wie
es in einem Schreiben aus dem Jahre 1951 zu lesen
ist, war er als beamteter Arzt aus dem städtischen
Dienst ausgeschieden.¹⁷ Wie Nordmanns Ehefrau
Elisabeth später geschrieben hat, sei Nordmann „als
leidenschaftlicher Gegner des Nationalsozialismus
bekannt“ gewesen; verschiedene nationalsozialistische Assistenten hätten ihm derartige Schwierigkeiten bereitet, dass er es vorgezogen habe, „sein
¹⁶ Nordmann Körte 1933, S. 774
¹⁷ Vgl. LAB: B Rep. 080, Nr. 2082, Bl. 6 (Schreiben vom
Senator für Inneres vom 26. Oktober 1952 betr. Antrag auf
Bewilligung eines Ehrenwitwengeldes für Elisabeth Nordmann).
¹⁸ Vgl. LAB: B Rep. 080, Nr. 2082, Bl. 2–3 (Schreiben von
Elisabeth Nordmann an den Bezirksbürgermeister von BerlinSchöneberg vom 16. Mai 1951).
¹⁹ Vgl. Guleke 1955, S. 23; Fleischmann 1983, S. 68.
²⁰ Kleine Mitteilungen 1933, S. 994.
²¹ Fleischmann 1983, S. 68. Vgl. Nds LA/HStAH: Zeitungsartikel vom 21.3.1958.
²² Nissen 1973, S. 118.
133
ihm liebgewordenes Tätigkeitsfeld aufzugeben“.
Elisabeth Nordmann weiter: „Da es ihm unmöglich
war, sich den Methoden des Dritten Reiches zu
beugen und die Schwierigkeiten zunahmen, sah er
sich schliesslich gezwungen, seine Stellung aufzugeben, obgleich dieses einen Verlust seiner wohlverdienten Pensionsansprüche bedeutete. […] Mein
Mann übernahm dann die Leitung des MartinLuther-Krankenhauses Berlin-Grunewald“.¹⁸ Gemeint war vielmehr, dass Otto Nordmann in diesem
vom „Verein zur Errichtung evangelischer Krankenhäuser“ erbauten Krankenhaus, das erst 1931 seinen
Betrieb aufgenommen hatte und mit seinen 400
Betten zu den Großkrankenhäusern zählte, die
Leitung der Chirurgischen Abteilung übernahm,
wobei er dort auch eine Privatstation unterhielt.¹⁹
Es verwundert nicht, dass die Münchener
Medizinische Wochenschrift nur zu berichten wusste,
dass Nordmann zum Leiter der chirurgischen
Abteilung des Martin-Luther-Krankenhauses „gewählt“ worden sei.²⁰
Nordmanns feindliche oder negative Einstellung
zum Nationalsozialismus lässt sich auch in anderen
Quellen wiederfinden: Von Anfang an habe er dem
NS-Regime verachtend gegenüber gestanden, so
Axel Fleischmann, der ab Dezember 1945 das Holzmindener Krankenhaus leitete.²¹ Diese Verachtung
war offensichtlich allen bekannt, die mit Nordmann
verkehrten. Der jüdische Kollege Rudolf Nissen
(1896–1981), der 1933 in die Türkei emigrierte, später
weiter in die USA, erinnerte sich beispielsweise:
„Der nächste Sekretär, O. Nordmann, der nach
Borchards Tod ihm folgte, war ein Mann erprobter
und hartnäckiger demokratischer Gesinnung, der
bei dem ‚Umbruch‘ von 1933 seine Stellung als
Chefarzt eines großen städtischen Krankenhauses
aufgab und in ein konfessionelles Hospital übersiedelte, um nichts mit den nazistischen Beamten der
Stadt zu tun zu haben, also eine Art ‚innerer
Emigration‘, die, wenn man Nordmanns Haltung
vor und nach den Jahren 1933 kennt, den Namen
wirklich verdient. Wie die Regierung sich mit der
Wahl Nordmanns abfinden konnte, ist ein Rätsel.
Er hat nicht einmal in offiziellen Briefen aus seiner
Ablehnung der braunen Pest einen Hehl gemacht.“²² Auch Matthias Seeliger betonte 2008,
134
dass Nordmann nicht gewillt war, „sich von den
Nationalsozialisten vereinnahmen zu lassen“. Und
weiter: „Nordmanns ablehnende Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus – mit der er sich von
seinen Kollegen am Holzmindener Krankenhaus
durchaus unterschied – war offenbar auch hier nicht
unbemerkt geblieben, denn nach dem Einmarsch
der alliierten Truppen gehörte er zu jenem Kreis
‚nicht belasteter‘ Personen, die im Auftrage der
Militärverwaltung mit dem Aufbau demokratischer
Strukturen in der Stadt beginnen sollten. Allerdings
war ihm kein langes Wirken mehr beschieden, denn
er starb bereits im Mai 1946 an Lungenkrebs.“²³ Der
leitende Chirurg am Städt. Hospital Berlin-BuchWest und spätere „Krankenbehandler“ an der Poliklinik der Jüdischen Gemeinde Berlin am
Alexanderplatz, Prof. Siegfried Ostrowski (1887–
1977), schrieb in seinem „Augenzeugenbericht“ aus
dem Jahre 1963, „hilfreich“ sei Otto Nordmann, ein
alter Demokrat, geblieben, der seine Stellung als leitender Chirurg am Städt. Krankenhaus BerlinSchöneberg aufgegeben hatte und Chefchirurg am
Martin-Luther-Krankenhaus wurde, „weil – wenigstens anfangs – dort die Nazidoktrinen noch nicht
Eingang gefunden hatten“.²⁴ Und nicht zuletzt war
es der Berliner außerordentliche Professor für
Chirurgie Paul Rosenstein (1875–1964), der, als Jude
verfolgt, im Jahre 1938 über Amsterdam, New York
nach Rio de Janeiro flüchtete, und in seinen
Memoiren Nordmanns „alte demokratische Schule“
hervorhob und ihn damit positiv konnotierte.²⁵
Trotz aller Verachtung des NS-Regimes oder
der NS-Ideologie wurde Otto Nordmann im Jahre
1938 zum Präsidenten des Chirurgenkongresses in
Berlin für das Jahr 1939 gewählt. Sein Vorgänger,
Prof. Nicolai Guleke (1878–1958), lobte Nordmanns
„hervorragend klaren, knappen und eindrucksvollen
Hauptvortrag“ auf dem Kongress von 1938 über
„Neuere Anschauungen über die akute Pankreasnekrose und ihre Behandlung“.²⁶ Nordmann war
„nahezu einstimmig“²⁷ zum Präsidenten der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“ ernannt worden;
von 1934 bis 1940 war er deren Kassenführer, von
1940 bis 1946 deren Schriftführer.
Ohne ein entsprechendes Benehmen oder eine
gewisse verbale Anpassung an die nationalsozialisti-
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
sche Zeit konnte auch die Eröffnungsansprache der
63. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie nicht vonstatten gehen. So begrüßte Nordmann
neben den zahlreich erschienen Kollegen auch „die
Vertreter von Staat und Partei, der Ministerien, der
Wehrmacht und Dienststellen“. Neben dem Gedenken der Toten nannte Nordmann nun auch den
gestorbenen „Reichsärzteführer“ Gerhard Wagner
(1888–1939), der ein alter Mitkämpfer „unseres
Führers und Reichskanzlers“ gewesen sei und in
dessen Auftrag er die deutsche Ärzteschaft im
nationalsozialistischen Sinne ausgerichtet und aufgebaut habe. Mit Begeisterung würden sich auch die
deutschen Chirurgen „für den weiteren Aufbau des
Dritten Reiches zur Verfügung“ stellen, so Nordmann weiter. Zum ersten Male tage die Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im
„Großdeutschen Reich“, das „unser tatkräftiger
Führer mit friedlichen Mitteln in atemberaubender
Schnelligkeit geschaffen“ habe. „Unser aller
Wunsch ist, daß die gesamte Außenwelt erkennt,
daß damit schweres historisches Unrecht, das
Deutschland angetan wurde, wieder gut gemacht
ist. Möge zum Segen der ganzen Welt die
Hoffnung des Führers Wahrheit werden, daß nun
ein langer Friede anbricht und damit unser
Vaterland ungestörte Ruhe zum inneren Ausbau des
großen Deutschen Reiches findet. Alle unsere
Wünsche für unser deutsches Heimatland und seinen Führer und Reichskanzler Adolf Hitler fassen
wir auch bei Beginn unserer heutigen Tagung
zusammen in einem dreifachen Sieg Heil. Unser
Führer: Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil!“²⁸ Die hier
formulierte Hoffnung auf einen langen Frieden hat
laut Axel Fleischmann Nordmann selbst, sozusagen
ohne amtliche Genehmigung, hinzugefügt, was auf
die damaligen Machthaber vier Monate vor Kriegs-
²³ Seeliger 2008, S. 72.
²⁴ Ostrowski 1963, S. 337.
²⁵ Rosenstein 1954, S. 306.
²⁶ Vgl. Guleke: Abschlussbericht 1938, o. S.
²⁷ Vgl. Guleke: Abschlussbericht 1938, o. S.
²⁸ Eröffnungsansprache des Vorsitzenden 1939, S. 3, 13.
Prof. Dr. med. Otto Carl Wilhelm Nordmann (1876–1946)
Otto Nordmann 1937 bei der Arbeit mit seinen Mitarbeitern im Operationssaal des Martin-Luther-Krankenhauses Berlin.
ausbruch wie ein Sakrileg gewirkt haben müsse.²⁹ In
der Tat hat Nordmann hier und da verbale Zugeständnisse gemacht. Ob die chirurgischen
Kollegen untereinander darüber gesprochen haben,
bleibt ein Geheimnis. Als Widerstand kann diese
Ansprache nicht bezeichnet werden, dann hätte
Nordmann diese Führungsposition gar nicht erst
annehmen können oder dürfen; ein gewiefter Akt
war die Ansprache aber allemal.
Retrospektiv führte Nordmann in seinem
Abschlussbericht³⁰ die – bis auf die eine Ausnahme
des Jahres 1933 – immer wieder beklagte „Überfüllung der Tagesordnung“ im Langenbeck-Virchow²⁹ Vgl. Fleischmann 1983, S. 69.
³⁰ Gemeint sind damit die Abschlussberichte der scheidenden
Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, die
handschriftlich in „rote Bücher“ eingetragen wurden, welche
dann an den nachfolgenden Präsidenten übergeben wurden und
so von einem Präsidenten zum nächsten übergegangen sind.
Diese Bücher sind nicht publiziert, konnten für diese in diesem
Buch versammelten Biographien aber dankenswerter Weise
ausgewertet werden.
³¹ Dieses Haus in der Luisenstr. 58/59 wird gemeinsam von der
Berliner Medizinischen Gesellschaft und der Deutschen
Gesellschaft für Chirurgie genutzt. Vgl. Peiper 2001.
³² Vgl. Nordmann: Abschlussbericht 1939, o. S.
³³ Vgl. Nordmann: Abschlussbericht 1939, o. S.
135
Haus³¹ an, zumal dadurch „häufig die freie
Aussprache zu kurz gekommen“ war, trotz der „vielen klugen Vorträge“, die allerdings kaum etwas
Neues gebracht hätten. „Aus allen diesen Gründen“
habe er viele der angemeldeten Vorträge „nach
Studium der Inhaltsangaben“ ausgesondert. In
jenem Jahr wurden 50 Vorträge gehalten.³²
Ein zweites, immer wiederkehrendes Thema
sprach Nordmann in seinem Abschlussbericht als
Vorsitzender der Gesellschaft an: Die drohende
Zersplitterung der Chirurgie bzw. die Verselbstständigung einzelner Fächer. So hat Nordmann
beklagt, dass die Auseinandersetzung mit den Röntgenologen auf dem 63. Kongress „nicht zu einem
befriedigenden Ende“ geführt habe, „weil sie sich an
einer Aussprache nicht beteiligen wollten“. Und
weiter: „Unser Congreß stand sicher in seiner überwältigenden Mehrheit auf dem Standpunkt, daß die
Röntgenologie eine Hilfswissenschaft der Klinik ist
und unlösbar mit dieser verbunden bleiben muß.“
Die Forderung der Röntgenologen nach einem
Central-Röntgen-Institut an Kliniken und Krankenhäusern sei abzulehnen. Jeder Assistenzarzt
müsse sich zwar in der Röntgenologie ausbilden lassen, aber: „Möge nur die verheerende Zersplitterung
in der Heilkunde durch Behörden, die ihre
Gefahren für die Kranken nicht begreifen können,
nicht noch weiter getrieben werden! Meist sind einzelne ehrgeizige Männer die treibenden Kräfte bei
diesen Sonderbestrebungen, z.B. auch bei den
Röntgenologen, Neurochirurgen, Urologen u.s.w.
Hoffentlich kommt noch einmal die Zeit, in der
sich alle ‚Unterfachgesellschaften‘ wieder in unserem Congreß zusammenfinden.“ Das ginge selbstverständlich nur durch Personalunion.³³
Als Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für
Chirurgie unterstützte Nordmann den Vorsitzenden der Gesellschaft der Jahre 1941 bis 1943, Prof.
Arthur Läwen (1876–1958), bei der Vorbereitung
eines Kongresses. Der jedoch konnte wegen der
Kriegsverhältnisse erst 1943 abgehalten werden.
„Reichsgesundheitsführer“ Leonardo Conti (1900–
1945) und der oberste Sanitätsoffizier der Wehrmacht, Heeressanitätsinspekteur Siegfried Handloser (1885–1954), waren es, so Läwen in seinem
Abschlussbericht, die die immer wieder schon weit
136
fortgeschrittenen Vorbereitungen zu unterbinden
wussten. Wie schon v. Haberer musste auch Läwen
feststellen: „Bei der großen Ausdehnung der
Kriegsschauplätze war die briefliche Verbindung
mit den im Felde stehenden Mitgliedern der
Gesellschaft sehr umständlich.“ Trotzdem gelang es
dem Vorsitzenden und dem Schriftführer, „eine
reichhaltige Tagesordnung in der üblichen Größe
für den Kongress 1941 aufzustellen, sie zu drucken
und in Berlin alle technischen Vorbereitungen für
den Kongress zu treffen, wobei unser 1. Schriftführer Nordmann seine bewährte Hilfe leistete“.
Läwen hatte „bereits die Fahrkarte in der Hand“,
als ihm Nordmann übermittelte, „dass der Kongress
nicht stattfinden dürfe“. Auch 1942 hielt das Vorbereitungskomitee eine Verschiebung des Kongresses für besser. Erst im Oktober 1943 konnte der
Kongress – dieses Mal allerdings in Dresden – unter
großer Beteiligung stattfinden. An einem der
Sitzungstage wurden der Vorsitzende Läwen, der
stellvertretende Vorsitzende von Haberer, der 1.
Schriftführer Nordmann sowie das Dresdener
Ausschussmitglied Prof. Albert Fromme (1881–
1966), vom Reichstatthalter Martin Mutschmann
(1879–1947) im Reichsstatthalterhaus und vom
Oberbürgermeister Dr. Hans Heinrich Nieland
(1900–1976), beide aktive Nationalsozialisten, im
Dresdener Neuen Rathaus empfangen.³⁴
Von Berlin nach Holzminden
Im Februar 1944, Nordmanns Wohnhaus in Berlin
war unbewohnbar und das Martin-Luther-Krankenhaus war durch die Kriegseinwirkungen unbenutzbar geworden, ist Nordmann als Chefarzt der
Chirurgischen Abteilung an das 1933 gegründete Ev.
Krankenhaus Holzminden gegangen.³⁵ Dieses
Krankenhaus war 1932/1933 ebenfalls mit Hilfe des
„Vereins zur Errichtung Evangelischer Krankenhäuser e.V.“ erbaut und am 19. März 1933 eingeweiht worden. Der Verein hatte zwei Jahre zuvor
durch den Architekten Ernst Kopp (1890–1955) das
Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin bauen lassen, der auch die Bauleitung für das 107-BettenHaus in der Kreisstadt Holzminden mit seinen
Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch
15 000 Einwohnern übernommen hatte.³⁶ Aus
einem Schriftwechsel zwischen dem Geschäftsführer des Vereins, Pfarrer Wilhelm Siegert (1893–
1949), und dem Holzmindener Bürgermeister Dr.
Albert Jeep im Februar und März 1944 geht hervor,
dass das Martin-Luther-Krankenhaus „bisher 11 mal
alle seine Fensterscheiben verloren“ hatte, Türen
verbogen und ein großer Teil der Innenwände eingestürzt oder davon bedroht waren, so dass
Nordmann bereit war, für die Dauer des Krieges
„das Krankenhaus in Holzminden als Chirurg“ zu
übernehmen. Für Siegert stand fest, dass Nordmann
„wohl der beste Chirurg“ sei, „den wir in Deutschland haben“.³⁷ Der Senator für Gesundheitswesen,
Dr. Walter Conrad (1892–1970), schrieb 1951 eine
andere Version des Wechsels von Berlin nach
Holzminden. Danach sei Nordmann „aus seinem
Schaffen in Berlin“ durch Kriegsereignisse und seinen Gesundheitszustand herausgerissen worden:
„Vorübergehend nach einer Rippenfellentzündung
zu Lungenkomplikationen neigend, zog er es vor,
für die Dauer des Krieges das Evang. Krankenhaus
in Holzminden zu übernehmen.“³⁸
Otto Nordmann war laut eigenhändig geschriebener Fragebögen zum Entnazifizierungsverfahren
vom 27. April 1945 sowie vom 30. August 1945 weder
Mitglied der NSDAP noch irgendeiner anderen
NS-Organisation.³⁹ Demnach war er nicht einmal
Mitglied der NS-Volkswohlfahrt oder des Deutschen Roten Kreuzes, was viele Zeitgenossen als
Legitimation dafür verstanden wissen wollten,
³⁴ Vgl. Läwen: Abschlussbericht 1941–1943, o. S.
³⁵ Vgl. Ehrhardt 1998, S. 78.
³⁶ Vgl. Nds LA/HStAH: Zeitungsartikel vom 16.10.1958;
http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Kopp.
³⁷ StadtAH: Schriftwechsel o. Sign. Zu Siegert vgl. Bookhagen
2002, S. 1067.
³⁸ LAB: B Rep. 080, Nr. 2082, Bl. 1–2 (Schreiben vom Senator
für Gesundheitswesen an Senator für Inneres vom 19.
September 1951).
³⁹ Nds LA/HStAH: Nds 171 Hildesheim Nr. 37492, o. Bl.
(Fragebogen Entnazifizierungsverfahren). Den ersten
Fragebogen hat Nordmann eigenhändig unterschrieben, aber
auch mit seinem Stempel versehen: Professor Nordmann,
Chirurg, Holzminden, Adolf-Hitler-Str. 21.

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