SS-Führern besetzt wurde. Bei der Gründung des Lagers wurde

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SS-Führern besetzt wurde. Bei der Gründung des Lagers wurde
SS-Führern besetzt wurde. Bei der Gründung des Lagers wurde Hans Hüttig am 31. März 1941 zum
Lagerkommandanten ernannt. Als er im Januar 1942 nach Norwegen versetzt wurde, trat Egon Zill
am 24. April 1942 seine Nachfolge an. Zill blieb nur kurze Zeit in Natzweiler und wurde Anfang
Oktober 1942 in das KZ Flossenbürg in der Oberpfalz versetzt. An seine Stelle trat Josef Kramer,
der bereits im April 1941 nach Natzweiler gekommen war und offiziell am 4. Oktober 1942 den
Posten des Lagerkommandanten übernahm. Von allen fünf Kommandanten blieb er die längste
Zeit in Natzweiler. Erst im Mai 1944 wurde Kramer zum Lagerkommandant von AuschwitzBirkenau bestimmt. Dort war er maßgeblich an der Ermordung von etwa 350.000 ungarischen
Juden beteiligt. Kramers Nachfolger wurde Fritz Hartjenstein. Er begann am 12. Mai 1944 seinen
Dienst in Natzweiler. Am 23. Januar 1945 wurde er aus disziplinarischen Gründen zu kämpfenden
Einheiten der SS versetzt. An seine Stelle trat Heinrich Schwarz, der letzte Kommandant des
Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof.
GESCHICHTE
20
Angesichts des Vormarsches der alliierten Truppen beschloss die SS im September 1944 die
Auflösung des Hauptlagers. In drei Etappen wurden ab dem 2. September insgesamt 5.517 Häftlinge
mit Zügen in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Mehr als ein Drittel von ihnen waren
Kranke. Am 22. November verließen die letzten 20 SS-Männer und 16 Häftlinge das Hauptlager,
das am folgenden Tag von Soldaten der 6. US-Armee erreicht wurde. Während das Hauptlager
fortan nicht mehr existiert, bestanden zahlreiche Außenlager weiter – neue Außenlager wurden
sogar gegründet. Mehr als 18.000 Häftlinge mussten dort unter unmenschlichen Bedingungen bis
zum Kriegsende Zwangsarbeit leisten. Vom Gasthof „Zum Karpfen“ im badischen Guttenbach
aus wurde die Organisation dieses Lagerkomplexes geleitet. Dorthin hatte der Kommandant Mitte
November 1944 die Lagerverwaltung verlegt. Ab Januar 1945 besaß die Kommandantur schließlich
keinen festen Sitz mehr. Trotzdem zeichnete sie verantwortlich für den Tod von Tausenden von
Häftlingen, die angesichts der schnell vorrückenden Alliierten aus den Außenlagern auf so genannten
Todesmärschen in Richtung Dachau getrieben wurden. Viele von ihnen starben unterwegs an
Entkräftung oder wurden von den SS-Bewachern erschossen.
Sinti und Roma im KZ Natzweiler-Struthof30
30
Die nachfolgend genannten
Zahlenangaben beruhen, sofern
nicht anders angegeben, auf einer
Namensliste der Sinti- und RomaHäftlinge, die der Historiker Robert
Steegmann für diese Publikation zur
Verfügung stellte.
Mindestens 501 Sinti und Roma wurden in das Konzentrationslager Natzweiler und seine
Außenlager deportiert. Diese Zahl ließ sich anhand erhaltener Nummernbücher und Dokumente
der Lagerverwaltung ermitteln. Berücksichtigt werden konnten dabei jedoch nur die Häftlinge, die
von der SS in die Kategorie „Zigeuner“ eingruppiert wurden. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde
eine unbekannte Anzahl weiterer Sinti und Roma anderen Häftlingskategorien zugeordnet. Ihre
Namen konnten nicht mehr ermittelt werden. Auch über die individuellen Erfahrungen der Sinti
und Roma im KZ Natzweiler lassen sich nur vereinzelte Aussagen treffen. Nach dem Kriegsende
wurde den Überlebenden nicht nur bis in die 1980er Jahre hinein die politische und juristische
Anerkennung des von den Nationalsozialisten rassisch begründeten Völkermords verwehrt. Auch
eine wissenschaftliche Aufarbeitung der historischen Zusammenhänge und eine Dokumentation
der individuellen Verfolgungsschicksale blieben aus. Die entstandenen Forschungsdefizite zur
Situation der Sinti und Roma im KZ Natzweiler konnten trotz intensiver Bemühungen nicht mehr
kompensiert werden. Fast alle Augenzeugen sind inzwischen verstorben, und nur wenige haben
schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Hingegen überliefert sind Informationen und Aussagen zum
Ablauf der pseudowissenschaftlichen Experimente an Sinti und Roma. Dies ist allerdings weniger
den Historikern als vornehmlich der deutschen Justiz zu verdanken, die gegen beteiligte Ärzte und
Wissenschaftler ermittelte, Materialien sammelte und Zeugenaussagen von Überlebenden festhielt.
Die folgenden Angaben stützen sich demnach auf vereinzelte Aussagen, die Nummernbücher des KZ
Natzweiler und eine Zusammenstellung von Häftlingsnamen, die dem Dokumentationszentrum
freundlicherweise vom französischen Historiker Robert Steegmann zur Verfügung gestellt wurden.
GESCHICHTE
21
Die ersten zehn Sinti- und Roma-Häftlinge trafen am 26. Oktober 1941 mit einem Transport von
150 Häftlingen aus dem Konzentrationslager Buchenwald in Natzweiler-Struthof ein. Sie waren
die ersten aus rassischen Gründen inhaftierten Insassen im Lager.31 Wie aus der nachfolgenden
Übersicht hervor geht, wurden Sinti und Roma im Rahmen von mindestens 17 Transporten
eingeliefert. Die Transporte nach der Auflösung des Hauptlagers im November 1944 erfolgten
unmittelbar in die Außenlager.
Transporte mit Sinti und Roma
Ankunft
26.10.1941
14.03.1942
20.08.1942
15.12.1942
12.11.1943
08. bis 14.12.1943
21.03.1944
21.04.1944
27.04.1944
20.05.1944
01.10.1944
09.11.1944
nach dem 24.11.1944
nach dem 19.12.1944
20.01.1945
21. bis 28.01.45
nach dem 22.01.1945
von
nach
Buchenwald
Buchenwald
Dachau
Buchenwald
Auschwitz
Auschwitz
Dachau
Dachau
Groß-Rosen
Metz-Queuleu
Sachsenhausen (?)
Stutthof
Dachau
Buchenwald
Dachau
Dachau
Buchenwald
Natzweiler
Natzweiler
Natzweiler
Natzweiler
Natzweiler
Natzweiler
Neckarelz
Leonberg
Neckargerach
Natzweiler
Natzweiler
Neckarelz
Schömberg/Schörzingen/Dautmergen
Dautmergen
Leonberg
Leonberg
Dautmergen
Anzahl
10
5
1
2
100
89
1
6
2
1
1
1
231
6
13
4
1
Unter den Eingelieferten befanden sich Sinti und Roma mit deutscher, französischer, lettischer,
österreichischer, polnischer, rumänischer, russischer, ungarischer und tschechischer Nationalität.
Ungarische und deutsche Häftlinge bildeten die beiden größten nationalen Gruppen.
31
Steegmann, Struthof 2005, S. 46.
Nachweislich waren Sinti und Roma in den folgenden 15 Außenlagern inhaftiert: Bisingen (2),
Cochem (3), Dautmergen (134), Frommern (2), Iffezheim (1), Kochendorf (2), Leonberg32 (27),
Neckarelz33 (76), Neckargerach (14), Obernai (2), Schömberg (185), Schörzingen (2), Sainte-Marieaux-Mines (3), Vaihingen/Enz (1), Zell-Harmersbach (2)34.
GESCHICHTE
22
Von 501 Sinti- und Roma-Häftlingen starben mindestens 133 an Krankheiten, Entbehrungen
oder wurden Opfer der pseudowissenschaftlichen Experimente: 75 starben in den Außenlagern
Schömberg/Schörzingen, 40 im Hauptlager Natzweiler, 11 in Dautmergen, 6 in Leonberg und
1 Häftling im Außenlager Vaihingen.
Todesfälle unter den Sinti- und Roma-Häftlingen
1941:
1942:
1943:
1944:
1945:
Gesamt:
5Namen von Sinti- und RomaHäftlingen im Nummernbuch
des Konzentrationslagers.
32
Die im Vergleich zu den ersten beiden Jahren der Lagerexistenz angestiegenen Opferzahlen der
Jahre 1943 und 1944 sind vor allem auf die Todesfälle bei pseudowissenschaftlichen Experimenten
zurückzuführen. Nachdem Ende 1944/Anfang 1945 der Anteil der Sinti und Roma an der
Häftlingsgesellschaft nach der Überstellung von über 200 Sinti und Roma aus dem KZ Dachau in
verschiedene Außenlager angestiegen war, führten die unmenschlichen Lebensbedingungen und
die rücksichtlose Ausbeutung der Häftlingsarbeitskraft zu einem weiteren Anstieg der Opferzahl im
Jahr 1945. Insgesamt starben von 1941 bis 1945 rund 26,5% (mehr als ein Viertel) der eingelieferten
Sinti und Roma. Der Anteil der registrierten Opfer (120) an den insgesamt registrierten Toten
(7.66135) betrug 1,6%. Ein hoher und überproportionaler Anteil, wenn man berücksichtigt, dass die
registrierten Sinti- und Roma-Häftlinge (378) nur 0,8 Prozent der registrierten Gesamthäftlinge
(44.599 36) ausmachten.
Siehe dazu auch Baur/Wörner, 2001.
33
Siehe dazu auch Fischer/Huth, 2002.
34
Am 15. Juni 1944 wurde ein
Kommando von sechs Häftlingen für
einige Tage zu Bombenräumarbeiten
nach Zell-Harmersbach bei
Offenburg geschickt. Vgl. Steegmann,
Struthof 2005, S. 251.
35
1
3
29
24
76
133
Steegmann, Struthof 2005, S. 195.
36
Ebenda, S. 142.
37
Siehe dazu auch Klee, 1997, S. 347ff.
38
Czech, 1989, S. 648.
Sinti und Roma als Versuchsopfer37
Die Durchführung pseudowissenschaftlicher Experimente im KZ Natzweiler-Struthof erfolgte
bewusst an Häftlingen, die nach der NS-Rassenideologie als „rassisch minderwertig“
angesehen wurden: Sinti und Roma, Juden sowie Angehörige slawischer Völker. Die ersten
größeren Einlieferungen von Sinti und Roma in das KZ Natzweiler standen in unmittelbarem
Zusammenhang mit den Fleckfieberversuchen des Bakteriologen Prof. Dr. Eugen Haagen. Er hatte
im Konzentrationslager Auschwitz 100 Häftlinge als „Versuchskaninchen“ angefordert, um einen
neuen Impfstoff zu testen. Vermutlich am 9. November 1943 verließ der Transport Auschwitz.38 Die
Jugendlichen und Männer mit deutscher, polnischer, tschechischer und ungarischer Nationalität
waren im Alter zwischen 11 und 64 Jahren und befanden sich in einem derart schlechten
gesundheitlichen Zustand, dass bereits 18 von ihnen während des Transports starben. Der ehemalige
Häftling Udo Dietmar erinnert sich:
GESCHICHTE
23
„Ich war an diesem Tage gerade in der Nähe des Lagertores beschäftigt und hörte das Brummen
der bergauf fahrenden Transportautos. Bald sah man schon die Umrisse der Wagen aus dem Nebel
hervortauchen. Sie fuhren vor das Tor, es wurde geöffnet, und sie rollten ins Lager hinein, um unten in
der Nähe des Krematoriums zu halten. Das war etwas ganz Außergewöhnliches, denn üblicherweise
hielten die Wagen stets vor dem Lagertor, worauf die Neuankömmlinge ausstiegen, sich aufstellten und
ins Lager hineinmarschierten. [...] Drei Autos voller Häftlinge in Zebrakleidung, Zigeuner. Einige lagen
oder saßen auf dem Boden, hohlwangig, fiebernd und vor Schwäche nicht mehr in der Lage, sich zu
erheben, die anderen waren vor Hunger so schlapp, dass sie kaum noch kriechen konnten. Zwischen
ihnen lagen einige Tote, die auf der Fahrt vom Bahnhof bis zum Lager hinauf gestorben waren. Das
Bild im zweiten Wagen war das gleiche. Das dritte Auto war halb gefüllt mit Toten, die aufeinander
geschichtet dalagen. Ein Beweis dafür, dass sie schon am Bahnhof tot ins Auto gepackt wurden.“39
Die noch lebenden 82 Häftlinge wurden am 12. November 1943 offiziell in Natzweiler registriert.
Auch aus dem monatlichen Bericht des Lagerarztes Dr. Krieger geht der schlechte gesundheitliche
Zustand der Gefangenen hervor.40 Nach einer Untersuchung wurden die Männer von Prof. Haagen
als „Versuchskaninchen“ abgelehnt. Während von den Opfern keine Berichte und Aussagen
überliefert sind, blieben einige Dokumente der Täter und Wissenschaftler erhalten. So auch ein
Schreiben des Prof. Haagen vom 15.11.1943, in dem er sich über den schlechten gesundheitlichen
Zustand „des Materials“ beschwerte und neue Häftlinge für seine Versuche anforderte:
„Am 13.11.43 wurden die mir vom SS-Hauptamt zur Verfügung gestellten Häftlinge einer Besichtigung
auf ihre Eignung für die geplanten Fleckfieberschutzimpfungen unterworfen. Von den 100 Häftlingen,
welche in ihrem früheren Lager ausgewählt worden sind, sind auf dem Transport bereits 18 verstorben.
Nur 12 Häftlinge befinden sich in einem Zustand, der sie für die Versuche geeignet erscheinen lässt.
[...] Die übrigen Häftlinge scheiden infolge ihres Allgemeinzustandes überhaupt für den vorgesehenen
Zweck aus. [...] Mit dem vorliegenden Häftlingsmaterial können daher brauchbare Ergebnisse nicht
erwartet werden. [...] Es wird daher gebeten, mir 100 Häftlinge im Alter zwischen 20 und 40 Jahren zu
schicken, die gesund und körperlich so beschaffen sind, dass sie vergleichbares Material liefern.“41
Nachdem zehn weitere Häftlinge in Natzweiler gestorben waren, wurden die noch lebenden 72
Männer vor Weihnachten 1943 im Austausch gegen gesunde Häftlinge wieder nach Auschwitz
zurück geschickt.42
39
Dietmar, 1946, S. 53.
40
Steegmann, Struthof 2005, S. 54.
41
Schreiben von Prof. Haagen an Prof.
Hirt vom 15.11.1943 in: Mitscherlich,
1985, S. 123.
42
Das genaue Transportdatum ist nicht
mehr eindeutig zu bestimmen, da der
Transport in Auschwitz am 20.12.1943
als Zugang verzeichnet wurde, im
Nummernbuch des KZ Natzweiler
jedoch erst am 24.12.1943 als Abgang
dokumentiert ist.
Alterszusammensetzung der Transporte von Auschwitz nach Natzweiler
im November und Dezember 1943
24
GESCHICHTE
November
Alter
< 20
< 30
< 40
< 50
< 60
< 70
Anzahl
43
26
16
6
6
3
Dezember
Tote
5
4
9
3
5
2
Anzahl
9
61
19
-
Auf seinen Protest hin erhielt Haagen neue Versuchsopfer. Am 4. Dezember 1943 wurde eine Anzahl
von Sinti und Roma von Auschwitz-Birkenau in das Stammlager Auschwitz verlegt. Dort stellte die
SS einen Transport mit 89 Männern, die teilweise erst kurz zuvor aus der Wehrmacht entlassen und
nach Auschwitz gebracht worden waren, zusammen. Das genaue Transportdatum nach Natzweiler
lässt sich aufgrund unterschiedlicher Aussagen nicht mehr ermitteln. Nach einer, auch in mehreren
Häftlingsberichten geschilderten, unmenschlich langen Zugfahrt von etwa einer Woche wurden
die Männer vermutlich am 10. und 11. Dezember in Natzweiler registriert.43 Die Altersstruktur
der Männer war im Vergleich zum ersten Transport stark verändert: die meisten der Sinti und
Roma waren zwischen 20 und 29 Jahre alt. Der Sinto Karl Kreutz befand sich in diesem Transport
und beschrieb den Beginn der Fleckfieberversuche Ende Januar/Anfang Februar 1944 in einem
Bericht:44
43
Eine handschriftliche Notiz
im Nummernbuch 2 des KL
Natzweiler deutet auf dieses Datum
hin (Bundesarchiv, Außenstelle
Ludwigsburg, Sign. B 162/1026).
44
Bericht von Karl Kreutz vom
22. April 1964 (Archiv Gedenkstätte
Buchenwald, Sign. 31/21).
„Streng waren wir von allen anderen Lagerinsassen isoliert. Unsere Verpflegung bestand 6 Wochen lang
aus Kohlrüben und Kleinstbrotrationen. In der 7. Woche bekamen wir alle eine Spritze in die linke
Brustseite, 4 Tage später eine in die rechte Brustseite. Diese Spritzen erhielten wir im Sanitätsraum.
Schon einige Stunden nach der Einspritzung stellten wir eine starke Schwellung an der Einstichstelle
fest. Nach weiteren 10 Tagen wurde uns aus dem linken Arm Blut entnommen. Infolge unserer völligen
Entkräftung konnte das Blut nur mit größter Anstrengung entnommen werden. Nach der Blutentnahme
verstrichen einige Tage, ohne dass an uns eine weitere Behandlung vorgenommen wurde. Wir vergingen
alle in großer Angst.
Eines Tages, es mag 10.00 Uhr gewesen sein, mussten wir alle in ein Arztzimmer kommen. Wir wurden
von 2 Männern in weißen Arztkitteln zwar scheinheilig freundlich, aber mit eiskalten Augen in Empfang
genommen. Die Namen dieser so genannten Ärzte konnte ich nie erfahren. Ohne Worte wurde mein
linker Oberarm festgehalten und gitterähnlich aufgeritzt, bis er stark blutete. Diese Prozedur war sehr,
sehr schmerzhaft. Auf die starke Blutung wurde bei mir fast ein Teelöffel voll Typhus-Gift geschüttet
und verrieben. Dabei wurde der linke Oberarm so lange hochgehalten, bis sich das Gift mit meinem
Blut vermischt hatte. Dadurch war für mich und die anderen eine Auswaschung des Giftes unmöglich
gemacht worden.
Nach diesem satanischen Werk bei allen 40 Kameraden wussten wir endgültig, dass wir diesen Henkern
als Versuchskaninchen dienten. Schon nach sehr kurzer Zeit lagen wir alle in äußerst hohem Fieber. Es
muss mindestens 39–40 Grad bei jedem gewesen sein – es wurde uns nicht gemessen. Das Fieber hielt
sehr lange an. Später erfuhren wir, dass dieses Fieber mehr als 10 Tage ununterbrochen angehalten hatte.
Leb- und kraftlos fielen wir aus den Betten [...]. Keiner kümmerte sich um uns.“
GESCHICHTE
25
Auch der norwegische Häftlingsarzt Leift Poulson erinnerte sich an die Durchführung der Fleckfieberversuche Anfang 1944: „Sie [die Sinti und Roma] wurden in zwei Gruppen von 40 Personen
eingeteilt. Die erste wurde von Professor Haagen und seinen Assistenten geimpft. Nach einer gewissen
Zeit übertrug man beiden Gruppen den Typhus, der sich durch Hautausschlag äußert, um die Wirkung
der Impfung beurteilen zu können. Während dieses Versuchs waren die Zigeuner in zwei kleinen
Zimmern eingeschlossen, 40 in jedem, und praktisch ohne Kleidung oder Decken, dem Hunger und der
Kälte ausgesetzt. Sie erlitten fürchterliche Qualen, aber kein einziger starb. Bei einem von ihnen äußerte
sich eine bösartige Psychose.“45
Die genaue Opferzahl der Fleckfieberversuche lässt sich nicht mehr ermitteln. Beim Nürnberger
Ärzteprozess sagte der ehemalige niederländische Häftling Nales aus, dass es bei der Versuchsserie
von Prof. Haagen zu über 29 Todesfällen gekommen sei.46
Otto Bickenbach, der zweite Wissenschaftler, der Sinti und Roma für Experimente missbrauchte,
galt als Spezialist auf dem Gebiet der Forschung zu den Wirkungen von Kampfgasen. Während
seiner Tätigkeit als Oberarzt in Heidelberg führte er an Katzen und Affen Experimente mit
dem Gas Phosgen durch. Dabei stieß er im Jahr 1939 auf den Wirkstoff Urotropin als mögliches
5Eingang zur ehemaligen Gaskammer.
3Ehemaliges Nebengebäude des
Hotels Struthof, in dem die
Gaskammer eingebaut wurde.
45
Übersetzung der Aussage von
Leift Poulson am 13. April 1947
(Dokumentationsarchiv des
österreichischen Widerstandes,
Wien, Sign. 10003).
46
Mitscherlich, 1985, S. 124.
Schutzmittel. Trotz der Weiterleitung seiner Forschungsergebnisse an höhere militärische Stellen
bestand dort zunächst kein weiteres Interesse an seinen Arbeiten. Erst als die Befürchtung entstand,
die westlichen Alliierten könnten auch Phosgengas als Kampfstoff einsetzen, fiel die Entscheidung,
die Experimente an menschlichen Versuchspersonen durchzuführen. Otto Bickenbach war
zwischenzeitlich im November 1941 zum Professor an der neugegründeten Reichsuniversität
Straßburg berufen worden und fand sehr bald einen Ort für die Umsetzung seiner Experimente:
das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof.
GESCHICHTE
26

Foto
Raum
Raum zur
zurIsolierung
Isolierung
der
derVersuchsopfer
Versuchsopfer
im Krematorium
im
Krematorium
Im April oder Mai 1943 führte Otto Bickenbach eine erste von mindestens zwei Versuchsreihen mit
Phosgengas in der kurz davor fertig gestellten Gaskammer durch. Insgesamt 24 Häftlinge, darunter
auch Sinti und Roma, wurden dafür bestimmt. Die Häftlingsgruppe wurde in Versuchssequenzen
von 1 bis 10 aufgeteilt. Bickenbach rief alle Gefangenen vor dem Betreten der Gaskammer namentlich
auf. Anschließend wurden die Versuchsopfer mit dem Mittel Urotropin geschützt, entweder durch
mündliche Einnahme oder durch eine intravenöse Injektion. In der Gaskammer mussten die
dort eingesperrten Männer eine Ampulle mit dem Gas zertreten und sich anschließend im Kreis
bewegen, um eine starke Gaskonzentration an einer Stelle des Raums zu vermeiden. Der Versuch
wurde bei allen zehn Gruppen von je zwei bis vier Häftlingen auf die gleiche Weise wiederholt
und dauerte jeweils 20 Minuten. Zwei der Versuchsopfer starben am 7. und 25. Mai 1943. Als
offizielle Todesursachen wurden „Lungenentzündung“ und „Herz- und Körperschwäche“ in den
Todesurkunden genannt. August Hirt, der sich als „Meister“ aller medizinischen Experimente in
Natzweiler ansah, missgönnte Bickenbach die Resultate seiner Versuche und stritt die Korrektheit
der medizinischen Protokolle ab. Er verlangte eine Wiederholung der Versuche mit menschlichen
Versuchsopfern, die nicht durch Urotropin geschützt werden sollten. Bickenbach lehnte dieses
Experiment zunächst ab. Im Dezember 1943 führte Bickenbach vermutlich eine zweite Versuchsreihe
mit 20 Sinti- und Roma-Häftlingen und „Berufsverbrechern“ durch, über die jedoch keine weiteren
Informationen vorliegen.
Am 15. Juni und 8. August 1944 wurde die vermutlich dritte Versuchsreihe mit geschützten und
ungeschützten Versuchsopfern durchgeführt. Dieses Mal mit Sinti- und Roma-Häftlingen, die
aus dem Transport ausgewählt wurden, der im Dezember 1943 von Auschwitz nach Natzweiler
gekommen war, um die Experimente des Dr. Haagen „zu bedienen“. Am 15. Juni wurden 12
Gefangene zur Gaskammer gebracht, sechs wurden mit einer Dosis Urotropin geschützt. Am
8. August waren es vier, davon zwei geschützt.
Insgesamt starben vier der Versuchspersonen einen qualvollen Tod in Folge eines Lungenödems.
Zwei davon mit Schutz. Ihre Namen sind in den erhaltenen Dokumenten überliefert:
Zirko Rebstock, geb. 28. Mai 1907, gest. 16. Juni 1944, Nr. 6516
Andreas Hodosy, geb. 12. Februar 1911, gest. 16. Juni 1944, Nr. 6587
Adalbert Eckstein, geb. 2. Februar 1924, gest. 18. Juni 1944, Nr. 6545
Josef Reinhardt, geb. 27. August 1913, gest. 9. August 1944, Nr. 6564
In einem Bericht für den Generalbevollmächtigten des Führers für das Sanitäts- und Gesundheitswesen vom 11. August 1944 fasste Bickenbach die Ergebnisse seiner Versuche zusammen:47
GESCHICHTE
27
„Von vier Versuchspersonen wurde die eine oral, die zweite intravenös geschützt, die dritte erhielt eine
intravenöse Injektion nach der Vergiftung [...], die vierte blieb ohne jede Behandlung. Die vier Personen
kamen in die Kammer, in der eine Ampulle mit 2,7g Phosgen zertrümmert wurde. Die Versuchspersonen
blieben 25 Minuten in dieser Konzentration. Der Phosgengehalt wurde während der Einatmung dreimal
gemessen. [...] Der intravenös Geschützte blieb gesund und zeigte nicht die geringsten Beschwerden
oder Symptome, der oral Geschützte bekam ein leichtes Lungenödem, später eine Bronchopneumonie
und Pleuritis, die er überwand. Eine Kontrollperson überlebte ihr Lungenödem ebenfalls, die zweite
starb nach wenigen Stunden.“
Nach dem Ende der Versuche isolierte man die Gefangenen in Block 5 oder in der Krankenabteilung
im Krematoriumsgebäude unter strenger Überwachung durch Ärzte und SS. Die noch lebenden
Häftlinge wurden nach 15 Tagen in die Krankenbaracken des Lagers gebracht, wo sie von
Häftlingsärzten mit den bescheidenen zur Verfügung stehenden Mitteln medizinisch versorgt
werden konnten.
Otto Bickenbach wurde 1952 von einem französischen Militärgericht in Metz zu lebenslanger
Zwangsarbeit verurteilt. Das Urteil wurde am 14. Januar 1954 vom Militärgerichtshof in Paris in
eine 20-jährige Zwangsarbeit abgewandelt, doch schon 1955 wurde Bickenbach entlassen und nach
Deutschland abgeschoben. Er arbeitete zuletzt als Internist in Siegburg und starb 1971.48
Vom Konzentrationslager zur Gedenkstätte49


Film
Nach der Räumung im September 1944 wurden die leer stehenden Lagerbaracken noch etwa
zwei Wochen lang als Unterkunft für rund 3.000 Mitglieder der mit den Nationalsozialisten
kollaborierenden französischen Miliz bei ihrer Flucht ins Deutsche Reich benutzt. Als am
23. November 1944 die ersten amerikanischen Soldaten beim Struthof eintrafen, fanden sie das
leere Konzentrationslager vor. Einige ehemalige Häftlinge, die sich noch in der näheren Umgebung
aufhielten, kehrten ins Lager zurück und berichteten den Alliierten über die dort begangenen
Gräueltaten der SS.
Während erste Spuren der Verbrechen gesichert wurden, diente das vollständig und ohne
Beschädigungen erhaltene Lager zunächst als Internierungslager für Kollaborateure und
Kriegsgefangene. Im Frühjahr und Sommer 1945 wurden an den Orten, an denen die Asche der
Ermordeten verstreut worden war, erste provisorische Gedenkstätten errichtet. An der Klärgrube,
in die ebenfalls Asche geschüttet worden war, errichtete man ein großes Gedenkkreuz. Auf dem
Hinrichtungsplatz wurden der originale Galgen und verschiedene Arbeitsgeräte der Häftlinge
aufgestellt, Blumen wurden gepflanzt und erste Gedenktafeln angebracht. Provisorische Absperrungen sollten diese Orte schützen. Schon am 14. Oktober 1945 fand eine erste große
Film
KZ-Gedenkstätte
Natzweiler-Struthof: Gelände
des ehemaligen Häftlingslagers
47
Anklageschrift gegen Helmut Rühl
vom 29. Juni 1983, S. 16 (Sammlung des
Zentralrats Deutscher Sinti und Roma).
48
Steegmann, Struthof 2005, S. 403.
49
Die Ausführungen basieren auf: Das
KZ Natzweiler-Struthof nach dem
Abzug der Nazis, zusammengestellt
von Erny Gillen im Januar 1987
(Sammlung Andreas Pflock).

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