Die Lebenssituation muslimischer Jugendlicher in Deutschland –

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Die Lebenssituation muslimischer Jugendlicher in Deutschland –
Die Lebenssituation muslimischer Jugendlicher in Deutschland
(Vortrag im Rahmen der Fachtagung „Muslimische Mädchen und muslimische Jungs im
Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne – Wie geht die Jugendhilfe damit um?“)
Viktoria Spaiser
Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung
Universität Bielefeld
Mit meinem Vortrag möchte ich einen Einstieg in die Thematik bieten, denn es ist notwendig
einen Blick auf die Situation von muslimischen Jugendlichen zu richten und Grundprobleme
zu benennen, mit denen die Jugendlichen konfrontiert sind, bevor wir darüber diskutieren
können, wie die Jugendhilfe damit umgeht. Um die Komplexität des Konzepts Lebenssituation greifbar zu machen, werde ich die Lebenssituation der Jugendlichen vor dem Hintergrund
der Sozialen Integrations- / Desintegrationstheorie wie sie am Institut für interdisziplinäre
Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld vertreten wird, beschreiben. Lassen Sie mich
gleich dazu anmerken, dass die Theorie nicht speziell auf Menschen mit Migrationshintergrund fokussiert. Die Theorie geht vielmehr davon aus, dass sich Integrations- und Desintegrationsprozesse auf alle Teile der Gesellschaft beziehen, deutsche Jugendliche können ebenso
gesellschaftlich desintegriert sein, wie Jugendliche mit Migrationshintergrund. Ich werde außerdem den theoretischen Ansatz um eine weitere Ebene ergänzen, nämlich um die Ebene der
Kultur, auf der Fragen der Identität und Werteorientierungen aufgeworfen werden.
In meinem Vortrag beziehe ich mich insbesondere auf die Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „Soziale Beziehungen und Konfliktpotentiale im Kontext verweigerter Teilhabe und
Anerkennung bei Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund“, das seit November
2008 noch bis Ende dieses Jahres unter der Leitung von apl. Prof. Dr. Jürgen Mansel läuft und
in dem ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt bin. Die Studie setzte sich aus einer
qualitativen Phase, in der wir Interviews und Gruppendiskussionen mit muslimischen Jugendlichen führten und einer quantitativen Studie, bei der wir Jugendliche in 10. und 11. Klassen
aller Schultypen (einschl. Berufsschulen) in Berlin, Köln, Frankfurt am Main und Bielefeld
befragt haben, zusammen. In diesen Befragungen waren Schüler und Schülerinnen sowohl mit
als auch ohne Migrationshintergrund vertreten, so dass sich vergleichende statistische Aussagen machen lassen.
Mein Vortrag wird sich entsprechend dieser Tabelle gliedern:
Bezugskontext
Integrationsanforderung f.
Jugendliche
Sozialstrukturelle
Ebene
Schule, Arbeitsmarkt,
Konsummarkt
Institutionelle
Ebene
Kulturelle Ebene Personale
Ebene
Gesellschaft, Öffentlichkeit, Politik,
Verbände
Soziale Identität,
Zugehörigkeit,
Werte & Normen
Schulabschluss,
Einstieg ins
Studien- oder
Berufsleben,
Möglichkeit am
Konsummarkt
zu partizipieren
Beteiligung an gesellschaftlichen
Debatten und politischen Entscheidungsprozessen,
Vertretung & kooperative Durchset-
Entwicklung einer sozialen Identität,
Zugehörigkeitsempfinden,
Entwicklung eines eigenen Wer-
Familie,
Peers,
Wichtige Bezugspersonen
Soziale und
emotionale Einbettung in Familie und in
einen Freundeskreis,
Möglichkeit
1
zung eigener Interessen
Probleme
Benachteiligung
& Diskriminierung in Schule
& auf dem Arbeitsmarkt,
Armut & Verwehrung der
Partizipation am
Konsummarkt
In der Gesellschaft
& Politik werden
(muslimische) Jugendliche nicht als
Akteure mit Interessen wahrgenommen sondern
als ein Problem,
Politische Marginalisierung
Grundkonflikte
Verwehrte Anerkennung als
nützliches Mitglied einer Leistungsgesellscha
ft
Verwehrte Anerkennung als politischer Akteur, Verwehrte Anerkennung politischer
Interessen und öffentlicher Meinung,
Problemzuschreibung
te & Normenkanons,
Möglichkeit eigene Kultur auszuleben
Hybrididentitäten,
multiple Zugehörigkeitsbezüge,
multiple Werte& Normensysteme,
Konflikte zwischen multiplen
Referenzen, Unverständnis im
Umfeld für multiple Bezüge
Verwehrte Anerkennung der multiplen Identitätsund Wertebezüge,
verwehrte Wertschätzung der
Herkunftskultur
sich auch an
andere vertrauensvolle Bezugspersonen
zu wenden
Generell sind
auf dieser Ebene die wenigsten Probleme
identifizierbar,
gleichwohl
massive Probleme in Einzelfällen
Im Allgemeinen
gelungene sozio-emotionale
Einbettung, in
Einzelfällen
massive Konflikte und verwehrte Unterstützung im
Nahumfeld
D.h. ich werde zunächst auf die einzelnen Ebenen eingehen, also auf die sozio-strukturelle,
auf die institutionelle (kommunikativ-partizipative), auf die kulturelle und auf die personale
(sozio-emotionale) Ebene, und hier die Integrationsanforderungen und die Probleme, mit denen Jugendliche auf dieser Ebenen konfrontiert sind, benennen. Anschließend werde ich zusammenfassend die Grundkonflikte aufzeigen, die auf den jeweiligen Ebenen entstehen und
zum Schluss möchte ich noch ein paar Ideen formulieren, wie die Jugendhilfe mit diesen
Grundkonflikten umgehen könnte. Mir ist es wichtig, in meinem Vortrag möglichst oft die
Jugendlichen selbst zu Wort kommen zu lassen, denn die Jugendlichen kennen ihre Probleme
am besten. Daher werde ich recht häufig Zitate aus Interviews und Gruppendiskussionen anführen, die wir im Rahmen des Forschungsprojekts mit muslimischen Jugendlichen geführt
haben.
Sozial-strukturelle Ebene
Gemäß der Desintegrationstheorie nach Heitmeyer / Anhut (2000) stellt sich auf der sozialstrukturellen Ebene das Problem wie für alle Mitglieder der Gesellschaft gleiche Zugänge zu
Bildungsabschlüssen, Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkten sichergestellt werden können. Wie zufrieden sind außerdem subjektiv die Menschen mit ihrer beruflichen und sozialen
Position? Daraus leitet sich wiederum die Frage ab, die uns im Rahmen dieser Tagung interessiert: wie integriert sind muslimische Jugendliche auf der sozial-strukturellen Ebene und
wie integrativ begegnet ihnen die Gesellschaft auf dieser Ebene?
2
Über die Benachteiligung von Migranten im deutschen Bildungssystem wurde bereits viel
geforscht und publiziert. Bis heute schließt nur etwa ein Zehntel der Migrantenjugendlichen
die Schulkarriere mit Hochschulreife ab, bei den deutschen Jugendlichen liegt der Anteil bei
etwa einem Drittel (vgl. Baumert et al. 2000). Zwar verbessert sich die Situation allmählich,
trotzdem ist die Bildungssituation von Migrantenjugendlichen bis heute meist prekär. Dabei
liegt die Ursache nicht allein in Sprachdefiziten. Neben Faktoren wie Einstellungen zu Bildung in der Familie, bzw. dem Bildungshintergrund der Eltern, spielen auch die Erfahrungen,
die Jugendliche mit Migrationshintergrund in dem Bildungssystem machen, eine wichtige
Rolle und diese Erfahrungen sind nicht selten geprägt von Benachteiligung und Diskriminierung. Dies beginnt bereits in der Grundschule. So werden Migrantenjugendliche deutlich häufiger in Sonderschulen geschickt und bekommen auf der anderen Seite deutlich seltener eine
Gymnasialempfehlung nach der 4. Grundschulklasse (vgl. Gomolla/Radtke 2002).
Im Rahmen unserer Studie haben wir die Jugendlichen nach der Häufigkeit bestimmter Diskriminierungserfahrungen gefragt. In der Abbildung 1. sind die Verteilungen in der Gruppe
der deutschen, türkischen und arabischen Jugendlichen zu sehen. Die Zahl gibt die durchschnittliche Häufigkeit der gemachten Erfahrung in den letzten 12 Monaten an.
Abb.1: Diskriminierung in der Schule.1
Deutsche
5
Türken
4
Araber
3
2
1
0
Benotung Misstrauen Aufzeigen
ignor.
Unfaire
Bestraf.
Abraten
weiterf.
Schule
Deutlich sichtbar ist, dass Jugendliche mit muslimischem Migrationshintergrund häufiger in
der Schule diskriminierende Erfahrungen machen als deutsche Jugendliche, wobei arabische
Jugendliche wiederum etwas häufiger diskriminiert werden als türkische Jugendliche. Lediglich bei der letzten Form von Diskriminierung, bei der es darum geht, wie häufig den Jugendlichen die Empfehlung gemacht wurde, besser eine Berufsausbildung nach der 10. Klasse zu
machen, anstatt einen weiterführenden Schulabschluss anzustreben, werden türkische Jugendliche häufiger diskriminiert als arabische. Beide Gruppen machen aber diese Erfahrung mehr
als doppelt so häufig, wie deutsche Jugendliche.
Auch in unseren Interviews und Gruppendiskussionen klagten die Jugendlichen oft über teilweise massive Formen von Diskriminierung. So berichtete uns z.B. ein türkisches Mädchen
aus Bielefeld:
„Es war in der 10. Klasse in der Phase, als es um die Abschlusszeugnisse ging. Da strengt
sich halt jeder an. Dann war das so, dass wir zu einem Termin ein Programm hatten, an
1
Alle Diagramme basieren auf Mittelwerten für die jeweilige Gruppe (Deutsche, Türken, Araber). Die Mittelwerte haben unterschiedliche Werte je nach Antwortskalen. Wurde z.B. die Häufigkeit von einer bestimmten
Erfahrung abgefragt, wie bei Diskriminierung in Schule, gibt der Mittelwert die durchschnittliche Anzahl entsprechender Erfahrungen in der jeweiligen Gruppe an. Wurde die Zustimmung oder Ablehnung einer bestimmten Aussage abgefragt (z.B. Abbildung 2), so wurde die höchste Zustimmung mit einer 3 kodiert, die einfache
Zustimmung mit 2, eher eine Ablehnung mit 1 und eine vollständige Ablehnung mit 0. Der Mittelwert ist also
der mittlere Wert, der sich aus diesen Zahlen ergibt. Tendiert eine Gruppe eher zur Zustimmung einer Aussage,
so hat sie insgesamt einen höheren Mittelwert.
3
dem alle Schüler teilnehmen konnten, die in die Oberstufe gehen wollten. Es ging um den
Q-Vermerk. Ich war auch dabei. Vom ganzen Jahrgang waren wir insgesamt zwei Türken.
Auf einmal wurde ich dann unterbrochen. Dann hat der Lehrer mich und meine türkische
Freundin hinaus gebeten und hat gemeint »wollt ihr nicht eine Ausbildung machen? Meint
ihr, ihr schafft das?« und so. Ich stand erst einmal unter Schock. Wie? »Überlegen Sie sich
doch, vielleicht eine Ausbildung zu machen. Oberstufe ist ja vielleicht nichts für Sie«, meinte er. Das fand ich wirklich blöd, dass genau wir beide als Ausländer aus der Klasse herausgeholt wurden und mit dem Vorurteil »Ihr schafft das nicht!« konfrontiert wurden.“
Solche Diskriminierungen erschweren es den Jugendlichen, ihre Schulkarriere erfolgreich zu
absolvieren und erzeugen viel Frustration und Wut. Einige Jugendliche vermögen damit sehr
produktiv umzugehen und sehen Diskriminierung als Ansporn, noch mehr zu leisten, um zu
beweisen, dass auch sie in der Lage sind genauso gute oder sogar bessere Leistungen zu erbringen wie ihre deutschen Mitschüler. In der Regel entstammen diese Jugendliche Familien,
in denen Bildung einen zentralen Wert genießt und in denen die Eltern oft selbst hohe Bildungsabschlüsse haben und in der Lage sind, ihre Kindern in hohem Maße zu unterstützen
und zu motivieren. Andere Jugendliche wiederum werden von solchen Erfahrungen demotiviert und frustriert, sie verlieren den Glauben an ihre Fähigkeiten, insbesondere dann, wenn
auch die Eltern ihnen in der Schule nicht helfen können, weil diese z.B. selbst nur geringe
Bildungsabschlüsse erlangt haben. In solchen Situationen entstehen Gefühle von Wut, Frust
und Aggression. Dies zeigt sich z.B. an einem Interviewabschnitt mit einem türkischen Jungen, ebenfalls aus Bielefeld:
„Einmal konnte ich etwas auf der Tafel nicht lesen. Ich fragte, was dort steht. Da hat die
Lehrerin gesagt: »Musst du warten, bis Kreise trocken!« Das hat sie extra in einem so ausländischen Akzent gesprochen. Ich denke, das geht auch nicht aber was soll ich da tun.“
Interviewer: „Wie hast du dich gefühlt, als sie das gesagt hat?“
„Ich war verzweifelt und wusste nicht, was ich machen soll. Richtig Hassgefühle, so (…)“.
Diskriminierung erfahren viele Jugendliche auch bei der Suche nach einem Praktikum, einer
Ausbildungsstelle- oder einer Arbeitsstelle. 17,8 % der befragten muslimischen Jugendlichen
haben es schon mindestens einmal in ihrem Leben erlebt, dass sie kein Praktikums- / Ausbildungs- oder Arbeitsplatz bekommen haben, weil sie offensichtlich (z.B. aufgrund des Tragens
eines Kopftuches oder aufgrund des Namens) muslimisch sind. Dass solche Erfahrungen mit
steigendem Alter der Jugendlichen zunehmen, zeigt sich z.B. darin, dass unter den Berufsschülern sogar 20,7 % diese Erfahrung mindestens einmal in ihrem Leben gemacht haben.
In unseren Interviews und Gruppendiskussionen mit älteren Jugendlichen ab 18 Jahren wurden massive Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt ebenfalls sehr häufig thematisiert. Insbesondere junge Frauen mit Kopftuch stehen nicht selten vor einem Dilemma, Berufsleben
oder Kopftuch, da es eine eklatante Diskriminierung von Musliminnen mit Kopftuch auf dem
Arbeitsmarkt gibt.
Eine junge Muslima aus Frankfurt meinte z.B.:
„Ich denke, dass wenn man ein Kopftuch trägt, seine Möglichkeiten eingrenzt. Also schulisch kannst Du noch ganz gut mitmachen, aber es ist leider so, und es ist schade, dass,
wenn wir vom Arbeitgeber ausgehen, dass sie wirklich kaum Kopftuchträgerinnen einstellen. Das ist wirklich leider so.“
Und eine junge Libanesin aus Neukölln musste die Erfahrung machen, dass selbst Arbeitgeber, die selbst einen Migrationshintergrund haben, keine Musliminnen mit Kopftuch einstellen:
4
„Das war ein libanesisches Reisebüro. Also, da hat meine Cousine gearbeitet, und ich hatte halt den Kontakt gehabt und wollte dort Praktikum machen. Ja, und na ja, was soll ich
sagen, wenn sogar ausländische Firmen, die nehmen keine mit Kopftuch an. Ja, ich war
selber erstaunt. Auch türkische Firmen, die nehmen keine mit Kopftuch als Auszubildende.“
Doch auch männliche Jugendliche werden auf dem Arbeitsmarkt aufgrund ihrer Herkunft
benachteiligt:
„Zum Beispiel im Beruf, wenn man sich irgendwo bewirbt, denken die, der ist Ausländern,
wir brauchen keine Ausländer. Ja, das war beim Intersport, da habe ich mich um ein Praktikum beworben, und die meinten direkt, ich habe einen flüstern gehört: »Der ist Ausländern, den wollen wir nicht.« Die haben gelästert: »wir wollen Deutsche.«“
Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen mag es nicht verwundern, dass muslimische Jugendliche pessimistischer in ihre Zukunft blicken als etwa deutsche Jugendliche, obwohl die
gegenwärtige Jugend insgesamt offenbar wenig optimistisch ist.
Abb. 2. Zukunftsängste und –unsicherheiten
Deutsche
Türken
2
1,5
Araber
1
0,5
0
Angst nicht
gewünscht. Beruf
Unsicherheit
Schulabschl.
Angst Armut
Angst
Arbeitslosigk.
Jugendliche selbst bewerten solche Diskriminierungserfahrungen unterschiedlich, je nach
eigener Betroffenheit. Jene, die selbst die Erfahrungen nicht gemacht haben, glauben manchmal, dass solche Diskriminierungsvorwürfe nur Entschuldigungen für eigenes Versagen sind.
„Ich denke, die Leute, die dann halt sagen »ich habe hier keine Chance, ich kann hier
nichts werden« (…), ich denke, dass sind die, die sich dann auch ein bisschen abklinken
von der Gesellschaft, die dann das machen, was sie einfach wollen.“
Viele männlichen Jugendlichen vermuten außerdem, dass der schlechte Ruf von jungen Männern mit Migrationshintergrund für das Misstrauen und die Ablehnung auch auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich ist.
„Es gibt halt Leute, die machen schlechte Erfahrungen mit Ausländern, und dann kann ich
die auch gut verstehen, wenn sie sagen, »so einen möchte ich in meinem Betrieb nicht haben, es besteht immer noch die Gefahr, dass er zu irgendwelchen Aggressionen neigt«.“
Jugendliche die selbst massiv von Diskriminierung betroffen sind, bewerten dagegen solche
Ereignisse als eine extreme Herausforderung, trotz solcher Verletzungen keinen Hass in sich
aufkeimen zu lassen und nicht mit Aggression und Abwendung von der Gesellschaft zu reagieren.
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„Es hat in mir aber zum Glück kein Hass entwickelt. Das (Erkenntnis, dass die Deutschen
Angst haben, Anm. d. Verf.) war einfach so etwas wie ein Erleuchtung. Ah, deswegen waren die Leute so und so in dem Moment. Und, hätte ich das vielleicht ein paar Jahre später
erst erfahren so, ich weiß ja nicht, viele Leute sind sechsundzwanzig, die drehen dann ja
auch noch am Rad. Und bringen dann, hier machen irgendwelche Massenmorde“.
Diese Befunde machen deutlich, dass zahlreiche muslimische Jugendliche auf der sozialstrukturellen Ebene Integrationsprobleme haben, die ihre Ursache u.a. in der mangelnden Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft haben. Vielen Jugendlichen gelingt es nicht, einen
guten Schulabschluss zu erlangen oder eine Arbeitsstelle zu finden, auch weil sie in diesen
Bereichen massiv diskriminiert werden.
Ein Jugendlicher arabischer Abstammung aus Köln meinte z.B.:
„Einer der Gründe, warum viele, viele Jugendliche sich nicht, sage ich mal, integrieren
wollen, so wie die Deutschen gerne hätten. Weil sie ja erstens nicht akzeptiert werden. Sie
werden nicht akzeptiert und nicht respektiert. Und da, da sie wegen ihrer Herkunft und ihrer Religion, alles das zusammen, nicht akzeptiert und respektiert werden, werden sie also.
Also sie grenzen sich ab und werden dann sozusagen, werden dann, was die Deutschen
dann nennen Asoziale.“
Zusätzlich zu den Diskriminierungen, mit denen muslimische Jugendliche konfrontiert sind,
ergibt sich eine Benachteiligung für die Jugendlichen aufgrund der durchschnittlich geringeren Soziallage in muslimischen Familien und aufgrund des durchschnittlich niedrigeren Bildungshintergrunds der Eltern.
Abb. 3: Soziallage und Bildungshintergrund der Eltern
60
50
Deutsche
40
Türken
30
Araber
20
10
0
Soziallage
14
12
10
8
6
4
2
0
Bildungshin. Vater Bildungshin.
Mutter
Die durchschnittlich geringere Soziallage in den Familien muslimischer Jugendlicher kann
bedeuten, dass Jugendliche in geringerem Maße an Konsummärkten partizipieren können als
etwa deutsche Jugendliche. Jugendliche Statussymbole wie beispielsweise ein i-Pod, die den
Jugendlichen auch dazu dienen können, Anerkennung zu erhalten, sind für zahlreiche Jugendliche aus muslimischen Familien nicht erschwinglich. Weiterhin kann eine geringere Sozial6
lage bedeuten, dass Jugendliche z.B. nicht die gleiche technische Ausstattung mit Computer
und Internet haben, wie deutsche Jugendliche. Dies erschwert es ihnen wichtige Kompetenzen
in diesem Bereich zu erwerben. Jugendliche mit eingeschränktem Internetzugang sind außerdem auch benachteiligt bei der Bewältigung von Hausarbeiten gegenüber Jugendlichen, die
besser ausgestattet sind. In die Soziallage, wie wir sie gemessen haben, fließen verschiedene
Faktoren ein u.a. auch der Bildungshintergrund der Eltern. Auch hier wird deutlich, dass die
Jugendlichen aufgrund der durchschnittlich niedrigeren Bildungsabschlüsse der Eltern benachteiligt sind, denn die Eltern können den Jugendlichen z.B. bei der Bewältigung von
Hausaufgaben ab einer gewissen Stufe nicht mehr helfen. Dies ist insbesondere dann der Fall,
wenn die Eltern die deutsche Sprache nur schlecht beherrschen. Wie bereits angemerkt, können Jugendliche, deren Eltern einen höheren Bildungshintergrund haben, meist besser mit
Diskriminierungen umgehen und aus solchen Erfahrungen einen Ansporn mehr zu leisten,
entwickeln.
Am prekärsten ist jedoch die Situation für Jugendliche ohne geregelten Aufenthaltsstatus, ihre
Perspektiven, ihre Möglichkeiten, ihre Rechte sind so enorm begrenzt, ihre Lage oft so aussichtslos, dass sie gar keine andere Option haben, als in die Kriminalität abzurutschen. In Berlin-Neukölln haben wir einen jungen Libanesen kennengelernt, der gerne ein normales Leben
führen möchte, doch welche Chancen hat er:
„Ich habe eine Duldung (…). Durch die Duldung ist es z.B. mit der Arbeit schwierig. Arbeiten darf ich nicht, ich habe keine Arbeitsgenehmigung. (…). Ich darf auch nicht Berlin
verlassen. (…) Zum Beispiel »kein Mensch ist illegal«. Wir sind illegal für die hier. Die sagen: »geht zurück in deine Heimat«. Ich sage: Was für eine Heimat? Ich bin in Berlin geboren. Ich kenne den Libanon nicht.“
Interviewer: „Du bist rechtlos hier?“
„Ja natürlich! Das einzige Recht, das ich hier habe, ist das Strafrecht.“
Interviewer: „Denkst du, dass du irgendwann wieder auf eine kriminelle Schiene rutscht,
wenn dir alles zugemauert wird…“
„Ganz ehrlich? Ich warte ganz ehrlich. Ich mag es richtig gerne, hier mit den Kindern zu
arbeiten (engagiert sich ehrenamtlich in einem Zentrum für Migrantenkinder, Anm. d.
Verf.). Aber ganz ehrlich, ich warte noch bis zur nächsten Gerichtsverhandlung. Wenn ich
da keine Aufenthaltsgenehmigung bekomme, dann lasse ich hier die Arbeit, dann fange ich
wieder an. (…) Ich will mein eigenes Geld verdienen, ich will verreisen, ich will aus Berlin
raus. Ich will arbeiten können, ich will einen Laden aufmachen können, aber das kann ich
nicht. Wenn die es mir nicht erlauben, dann mache ich, was ich will.“
Institutionelle oder partizipativ- kommunikative Ebene
Auf der institutionellen bzw. partizipativ-kommunikativen Ebene geht es um die Sicherstellung des Ausgleichs unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen. Dies erfordert die Einhaltung elementarer demokratischer Prinzipien, die die moralische Gleichwertigkeit des (politischen) Gegners gewährleisten und die von den Beteiligten als fair und gerecht bewertet werden können. Die Aushandlung und konkrete Ausgestaltung dieser Prinzipien bedingt jedoch
ebenfalls entsprechende Teilnahmechancen und -bereitschaften der Akteure.
Auch auf der partizipativ-kommunikativen Ebene fühlen sich muslimische Jugendliche und
insbesondere Jugendliche mit arabischem Hintergrund benachteiligt. Interessanterweise aber
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sind es auch die arabischen Jugendliche, die sich am wenigsten machtlos fühlen und die glauben, mit Engagement etwas bewirken zu können, während deutsche Jugendliche, die sich am
wenigsten politische benachteiligt fühlen, zugleich diejenigen sind, die politisches Engagement eher für sinnlos erachten und sich damit eher machtlos fühlen.
Abb. 4: Politische Diskriminierung2 und das Gefühl der Machtlosigkeit3
1,80
1,75
1,70
1,65
1,60
1,55
1,50
1,45
1,40
Deutsche
Türken
Araber
Polit.
Diskriminierung
Machtlosigkeit
Dieses Einhergehen von Gefühlen der politischen Marginalisierung einerseits mit der individuellen politischen Selbstwirksamkeit andererseits kann unterschiedliche Konsequenzen haben. Wenn die Jugendlichen eine Umgebung oder eine politische Gruppe finden, in der sie
konstruktiv daran arbeiten können, an ihrer politischen Marginalisierung etwas zu verändern,
kann das zu einer stärkeren politischen Integration der Jugendlichen führen und im Endeffekt
auch zu der Anerkennung ihrer politischen Interessen. Doch finden Jugendliche keine konstruktive Art und Weise sich politisch zu engagieren, um an ihrer Situation etwas zu verändern, haben aber zugleich den Anspruch, etwas zu bewirken bzw. politisch wahrgenommen zu
werden, kann das in politisch-rebellischem und in Einzelfällen vielleicht sogar in destruktivem Verhalten münden.
Jugendliche rebellieren nicht zuletzt in Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, dass ihre
Sichtweise nicht erwünscht ist und von vornherein als unberechtigt ausgeklammert ist, dass
sie am Diskurs und an der Aushandlung des Politischen gar nicht teilnehmen dürfen. Doch
einige Jugendliche wollen sich nicht in diese Marginalisierung fügen und wenn sie keine konstruktive Möglichkeit haben, dieser Marginalisierung zu entgehen, zugleich aber an sich selbst
den Anspruch stellen, ihre politische Meinung selbstbewusst in jedem Fall zu vertreten, kann
dies zu Konfrontationen führen. Ein Beispiel für eine solche Situation schildert uns ein etwa
13-jähriger Junge aus Neukölln:
„Einmal in der Grundschule, da hatten wir Sport. Das war am 11. September. Es klingelte
zu 12 Uhr. Meine Lehrerin meinte: »Seht alle auf, wir werden jetzt eine Schweigeminute
machen, für den 11. September.« Ich habe das verweigert. Ich wollte nicht. Sie meinte:
»Steh auf!« Ich bin nicht aufgestanden, sondern habe ruhig weitergesessen. Ich habe einfach in die Schweigeminute reingeredet. Die Lehrerin hat mich dann rausgeschmissen, ich
sollte draußen warten. Danach bin ich wieder reingekommen. Sie frage mich noch mal,
2
Politische Diskriminierung wurde über zwei Items (Fragen) erfragt: 1) In der Politik werden Entscheidungen
getroffen, die Leuten wie mir schaden und anderen nutzen. 2) Andere Leute werden durch politische Entscheidungen besser behandelt, als Menschen wie ich. Die Jugendlichen sollten angeben, wie sehr sie diesen Aussagen
zustimmen oder nicht, dabei konnten sie zwischen vier Antwortkategorien wählen: „stimme völlig zu“, „stimme
eher zu“, „stimme eher nicht zu“, „stimme überhaupt nicht zu“. Je größer die Zustimmung zu den Aussagen,
desto höher der Wert, d.h. desto stärker wird politische Diskriminierung erfahren.
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Machtlosigkeit wurde wie politische Diskriminierung auf der Basis von zwei Items erhoben: 1) Leute, wie ich
haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut. 2) Ich halte es für sinnlos, mich politisch zu engagieren. Auch hier sollten Jugendliche angeben wie, stark sie diesen Aussagen zustimmen oder nicht. Ein hoher
Wert bedeutet hier, ein stärkeres Gefühl von Machtlosigkeit.
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warum ich nicht auf gestanden sei. Ich sagte ihr, dass jeden Tag Kinder in arabischen Ländern getötet werden. Und woanders auch, aber da wird keine Schweigeminute gemacht.
Warum sollen wir jetzt für Amerika eine Schweigeminute machen. Dann schrie sie sofort:
»Geh raus!« Ich fragte: »Haben Sie keine Antwort?« Da meinte sie einfach »Raus!« und
ich musste wieder rausgehen, weil sie keine Antwort hatte.“
Interviewer: „Wie hast du dich da gefühlt?“
„Einerseits habe ich mich stolz gefühlt, dass ich der Einzige war, der sich getraut hat, dass
zu tun. Es waren auch andere Araber, Moslems, Türken dabei, zwei, drei, die sind alle aufgestanden. Ich bin nicht aufgestanden.“
Interviewer: „Warum haben deine Freunde es dir nicht gleich getan?“
„Die haben nicht den Mut gehabt. Das sind alles Weicheier, Milchbubis.“
Betreuer: „Aber die sind noch in der Schule, während du seit vier Monaten auf der Straße
bist.“
Solches Verhalten der Jugendlichen wird meist einseitig problematisiert, im Sinne mangelnden Respekts vor Lehrkräften und als Hinweise auf undemokratische politische Einstellungen
bei muslimischen Jugendlichen. Doch problematisch ist eine solche Situation auch aus anderer Perspektive: die Lehrerin verweigert dem Kind, seine Ansichten zu dem Thema äußern zu
dürfen, sie verweigert ihm die politische Diskussion über seine Einstellungen und sie verweigert ihm die politische Entscheidung sich gegen die Mehrheitsmeinung stellen zu dürfen. Alles das ist höchst undemokratisch und verwehrt den Jugendlichen die Anerkennung als
gleichberechtigte politische Akteure. Gewiss müsste man sich in dieser Situation auch noch
andere Fragen stellen, z.B. wie stark das Kind in seinem familialen und sozialen Umfeld politisch polarisiert wurde, denn in diesem Alter (der Jugendliche war damals in der Grundschule)
haben die Kinder meist noch keine eigenständige politische Meinung. Die Ablehnung der
Solidarität mit den Opfern des Terroranschlags vom 11. September muss das Grundschulkind
aus dem sozialen Umfeld, vermutlich aus der Familie, übernommen haben.
Doch, gerade dann wenn Jugendliche oder Kinder in bestimmter Weise politisch geprägt sein
sollten, ist es wichtig mit ihnen in einen fairen Dialog einzusteigen, ihre politische Meinung,
so sehr sie der Mehrheitsmeinung entgegensteht, anzuhören, diese Meinung zu respektieren,
aber diese Meinung auch kritisch zu diskutieren, ebenfalls wie die Mehrheitsmeinung dann
kritisch diskutiert werden sollte. Das wäre aktive Demokratiepraxis und würde eine Anerkennung der politischen Meinung und Interessen von Jugendlichen mit muslimischem Migrationshintergrund bedeuten, die die Jugendlichen berechtigerweise fordern.
Erstaunlicherweise aber resignieren viele muslimische Jugendliche in dieser Situation nicht,
sondern sie versuchen sich trotz dessen politisch und sozial zu engagieren, sei es um ihre eigene Situation zu verbessern, sei es um die Lage andere Menschen zu verbessern.
Wie das Diagramm unten ganz deutlich zeigt, sind muslimische Jugendliche nach Eigenangaben politisch und gesellschaftlich viel engagierter als deutsche Jugendliche, ob insgesamt betrachtet oder ob bezogen auf einzelne Themen.
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Abb. 5: Politisches und gesellschaftliches Engagement
Deutsche
2
Türken
1,5
Araber
1
0,5
0
Polit.
Engagement
für Dialog
f. Migranten
f. bessere
Bildung
Offenbar ist vielen muslimischen Jugendlichen bewusst, dass sie in Deutschland die Möglichkeit haben aktiv zu werden, um etwas zu verändern. In einer Gruppendiskussion mit männlichen, türkischen Jugendlichen in Köln meinten zwei Jugendliche:
Erhan4: „Es ist relevant, also überhaupt Wissen, man muss wissen, was im Staat abgeht,
was für Rechte man hat, oder ob man betroffen ist von einem bestimmten Ereignis. Ich
persönlich habe gute Beziehungen zur Politik, ich mag Politik sehr und versuche auch,
mich in der Politik zu betätigen.“
Kemal: „Ich wollte noch kurz was zu Erhans politischer Einstellung sagen. Also meiner
Meinung nach ist es sehr wichtig, dass man sich seiner politischen Mündigkeit hier in
Deutschland bewusst ist. Er sagt, er könnte sich vorstellen, irgendwie in der Politik aktiv
zu werden. Ich denke, mit seinem Hintergrund könnte er auf jeden Fall dazu etwas Positives beitragen, wenn er aktiv wird. Man muss darauf hin arbeiten, dass man versucht,
gemeinsame Werte zu finden und die als Grundlage zu nehmen, um darauf eine Struktur
zu bringen, wo man friedlich miteinander leben kann. Deswegen ist es, denk ich, sehr
wichtig, politisch aktiv zu sein.“
Dies scheint eine große Chance zu sein, denn die Jugendlichen wollen sich an politischen
Prozessen beteiligen und, wenn man dieses Interesse an Partizipation aufgreift und fördert,
könnten möglicherweise zahlreiche Probleme besser angegangen werden.
Doch nicht alle Jugendlichen sind so zuversichtlich und konstruktiv. Einige Jugendliche resignieren und fühlen sich ohnmächtig und unfähig, irgendetwas an der Lage ändern zu können, sie werden zynisch und wenden sich von gesellschaftlicher Verantwortung ab.
Karim: „Die Menschen haben sich vielleicht geändert, aber das System wird sich niemals ändern, auch wenn da ein langbärtiger sitzen würde als Präsident von Amerika.“
Arhan: „Selbes System, andere Verpackung.“
Interviewer: „Was ist denn das System? Der Kapitalismus, oder was meint Ihr mit dem
System?“
Karim: „Der Kapitalismus. Ganz genau. Die Reichen werden immer reicher und die Armen bleiben da, wo sie sind.“
Arhan: „Oder noch tiefer.“
Karim: „Oder werden noch ärmer.“
Interviewer: „Würdet ihr euch selbst als links einschätzen?“
4
Alle hier angeführten Namen sind fiktiv.
10
Karim: „Nein, wir sind was drüber. Wir sind Outlaws, wir haben keine Gesetze. Wie Sie
sehen: Wir haben hier auch keine Gesetze, wir haben nirgendwo Gesetze. Wir halten uns
auch nicht an Gesetze. Nur wenn es sein muss. Oder? Wenn im System dies oder das geändert worden ist, spielt das für uns keine Rolle, ist doch.“
Andere Jugendliche finden keine produktive Kanalisierung für ihre politische Energie und
wenden sich Gruppierungen zu, die den Jugendlichen zwar die Möglichkeit geben, ihre durch
Diskriminierung und erfahrene Missachtung gekränkte soziale Identität (basierend auf Ethnie,
Nation oder Religion) aufzuwerten, aber die teilweise wenig geeignet sind, die Jugendlichen
politisch in Deutschland zu integrieren. Zudem ordnen sich die Jugendlichen häufig informell
bestimmten Gruppierungen zu, ohne in die Strukturen eingebunden zu sein, die eine gewisse
soziale Kontrolle über die Jugendlichen ausüben könnten.
In Frankfurt z.B. sind wir auf eine Gruppe türkischer Jugendlicher gestoßen, die sich alle der
türkischen, ultranationalistischen Bewegung „Graue Wölfe“, unter dem Banner der türkischen
Partei MHP, zugehörig fühlten.
Orhan: „Graue Wölfe, das hörst sich jetzt ein bisschen radikal an, das sich einfach die
Nazis in der Türkei. Die wollen, dass die Kurden einfach aus dem Land gehen, weil die
Kurden auch schlimme Sachen machen, die bringen kleine Kinder um, PKK-Angehörige.
Das machen die Ausländer hier nicht. Okay, es gibt manche Fälle, da sollte man die
gleich ins Land abschieben. Das fände ich vollkommen in Ordnung, aber was die Nazis
hier machen, einfach unschuldige Leute angreifen, das ist übel. Das machen die Grauen
Wölfe in der Türkei nicht.“
Achmed: „Wenn man halt extrem stolz auf sein Land ist, also bei uns ist das so, wenn Du
so ziemlich alles für dein Land geben würdest, bist du halt ein Grauer Wolf, ob hier oder
dort. Es gab auch viele Demonstrationen auf denen wir waren, so Sachen, ich weiß nicht,
ob von hier aus oder vor dort aus. Das ist kein großer Unterschied.“
Die Demonstrationen auf die sich hier ein Jugendlicher bezieht, haben nichts mit der Lage
der Jugendlichen in Deutschland zu tun, sondern sie beziehen sich im Falle der Grauen Wölfe meist auf Konflikthandlungen zwischen Türken und Kurden in der Türkei.
Achmed: „Ich meine, dass die PKK gegen unser Land ist, deswegen versammelt man sich
da, dass man zeigt, dass man eigentlich gegen den Krieg ist, aber dass man sein Land
verteidigen würde. Dass man zu seinem Land steht. Deswegen fährt man da hin, da sind
ganz viele Leute, dann rennt man irgendwo durch die Stadt, dann kommt man wieder zurück.“
Die Demonstrationen dienen den Jugendliche also eher der Identitätsbestätigung und der kollektiven Selbstvergewisserung, es sind möglicherweise auch Ersatzhandlungen, da die Jugendlichen nicht wissen, wie sie ihre eigene Situation in Deutschland, mit der sie unzufrieden
sind, politisch in die Öffentlichkeit bringen können. Die Demonstrationen geben ihnen aber
ein Gefühl von Selbstwirksamkeit.
Die Verbindung zwischen Nationalismus und Diskriminierungserfahrungen wird von den
Jugendlichen auch selbst gezogen:
„Das wird sogar noch eher gestärkt, wenn man auf solche Komplikationen stößt, wie
Diskriminierung, das irgendetwas vorfällt zwischen Deutschen und Dir, dass Du dann
erst recht denkst, ich bin jetzt Türke, stolzer Türke.“
11
Insgesamt werden muslimische Jugendliche in der Mehrheitsgesellschaft jedoch eher als politisches Problem, denn als politische Akteure gesehen.
Interviewer: „Also du meinst, dass insgesamt in der Bevölkerung eine andere Meinung
vorherrscht und das man sich dann nicht traut, etwas zu sagen?“
„Ja man wird zwar hier nicht gefoltert, aber man wird nicht ernst genommen.“
Interviewer: Wer wird nicht ernst genommen?
„Wenn man dagegen protestiert, dass man da falsch ist, dass Islam nicht Terror ist (…).“
Kulturelle Ebene
Auf der kulturellen Ebene ist einerseits die Gewährung von Freiräumen für die Praxis der
eigenen Kultur und Entwicklung von sozialer Identität und Wertesystemen erforderlich, anderseits ist eine Anbindung an gesellschaftliche normative Anforderungen notwendig, um
Sinnkrisen, Orientierungslosigkeit, eine Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls oder Wertediffusion und Identitätskrisen zu vermeiden.
Jugendliche mit Migrationshintergrund weisen häufig sehr komplexe Identitätsmuster auf,
man spricht dann häufig von multiplen, oder Hybrid-Identitäten. Es wird eine ganz eigene
soziale Identität konstruiert, die sowohl Elemente aus der Herkunftskultur als auch aus
Deutschland enthält und neu miteinander verknüpft. Ebenso verhält es sich mit der Zugehörigkeit. Die meisten muslimischen Jugendlichen fühlen sich mit Deutschland und mit ihrem
Herkunftsland verbunden, gleichwohl es auch Jugendliche gibt, die kein Zugehörigkeitsgefühl
zu Deutschland entwickeln können. Nur eine kleine Minderheit identifiziert sich ausschließlich mit Deutschland.
Abb. 6: Zugehörigkeit bei türkischen und arabischen Jugendlichen (in Prozent)
60
Türken
50
Araber
40
30
20
10
0
Herkunftsland
Herkunftsland &
Deutschland
Deutschland
Die komplexen sozialen Identitätsmuster wurden auch in den Interviews und Gruppendiskussionen kommuniziert.
„Ja also hier (Deutschland, Anm. d. Verf.) ist auf jeden Fall meine Heimat und so. Und
ich fühle mich aber auch trotzdem irgendwo noch marokkanisch. Weil, natürlich noch die
marokkanische Kultur und die ganzen Traditionen natürlich auch irgendwo in mir sind.
Und die lebe ich dann halt auch gerne aus. (…). Und ich finde halt meine Tradition beziehungsweise meine Kultur sehr schön. Also meine marokkanische Tradition. Aber ich lebe
halt auch sehr gerne das Deutsche aus. Also es ist halt so von beidem ein bisschen, denke
ich mal.“
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Komplexe Identitäts- und Zugehörigkeitsmuster bergen viel Konfliktpotential, einerseits entstehen dadurch Konflikte mit Angehörigen der Herkunftskultur, anderseits aber auch mit Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die häufig ein klares Bekenntnis zu Deutschland fordern, ohne die Jugendliche jedoch selbst als Deutsche wahrzunehmen. Die besonderen komplexen Identitätsmuster der Jugendlichen werden häufig nicht verstanden und akzeptiert, weder von Angehörigen des Herkunftslandes noch von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft.
Denn multiple Bezüge sind für Menschen, die gewohnt sind in dualen Kategorien von „Wir“
und „Sie“ zu denken, schwierig nachzuvollziehen. Das geringe Verständnis für und die verwehrte Anerkennung von multiplen Identitäts- und Wertebezügen in der Mehrheitsgesellschaft macht auch dieser Interviewausschnitt deutlich:
„Es ist immer so ein Problem mit der Integration. Es ist halt nicht genau definiert was Integration ist. (…). Andere verstehen unter Integration dass wir komplett, das wir komplett
sage ich mal, Deutsche werden. Zum Beispiel wenn eine Frau jetzt mit Kopftuch ist, soll die
ihr Kopftuch ausziehen. Wenn ein Mann mit Bart ist, soll er seinen Bart rasieren. Wenn einer, was weiß ich, nicht trinkt, soll er trinken. (…). Und ich sehe das nicht ein. (…) Ich
kann Deutsch, keine Ahnung, sehe nicht fremd aus. Wie ein Alien oder wie ein Terrorist
oder wie auch immer. Ich respektiere die deutschen Gesetze. Ich achte auf deutsche Gesetze. Ich respektiere die Menschen. Ich respektiere alles. Ich sehe mich selber als Deutscher.
Was erwarten die denn noch von mir? Ich werde so weit gehen, dass ich mich anpasse und
integriere. Aber mehr auch nicht. Ich werde jetzt nicht irgendwie mein Privatleben oder
mein Glauben irgendwie für irgendjemanden ändern.“
Doch auch in den Herkunftsländern treffen die Jugendlichen auf Unverständnis für ihre komplexen Identitäts- und Wertemuster:
„Ja, aber ich könnte jetzt nicht in der Türkei leben das geht nicht. Da denken die Leute
wieder anders. Hier denken die Türken, so wie ich, da denken die ganz anders. Wenn ich
da bin, werde ich ausgeschlossen, »ach Du, Du kommst aus Europa«, uns so alles. Hier ist
es wieder anders, »ach du bist ein Türke«, aber hier fühle ich mich wohl.“
Aber auch bei Angehörigen aus den Herkunftsländern die in Deutschland leben, treffen die
Jugendlichen nicht zwangsläufig auf Anerkennung ihrer pluralen Identifikationen. So werden
Jugendliche, die in den Augen der Angehörigen aus dem Herkunftsland sich zu sehr in
Deutschland angepasst haben, spöttisch als „eingedeutscht“ bezeichnet:
„…, dass die Leute dann als Beleidigung zu mir gesagt haben, du bist voll der Deutsche.
Das ist eine Beleidigung.“
Einige muslimische Jugendliche fühlen sich aber offenbar auch stark gehemmt ihre kulturellen Bedürfnisse auszuleben, die in Deutschland als fremd gelten könnten. Insbesondere im
Ausleben ihrer Religiosität fühlen sich einige Jugendliche eingeengt und beschränkt von der
deutschen Gesellschaft. Sie sehen keine Möglichkeit, diese Aspekte ihrer Identität mit der
„deutschen“ Identität zu vereinbaren, sie finden zu keiner Balance oder Einheit und flüchten
sich manchmal in die Sehnsucht, Deutschland zu verlassen, ohne sicher sein zu können, in
einem anderen Land Heimat finden zu können.
Ibrahim: „Ich weiß nicht, Deutschland tut mir nicht gut, finde ich.“
(…)
13
Interviewer: „Was genau tut dir nicht gut? Kannst du hier nicht so leben wie du möchtest?“
Ibrahim: „Nein, das Leben kann man hier nicht leben, niemals.“
Alysha: „Nein, man kann nicht, wenn man zum Beispiel seine Religion…“
Ibrahim: „Entweder wird man diskriminiert…“
Tarek: „Hey, keiner zwingt euch in Deutschland zu bleiben.“
Interviewer: „Wir haben ja hier Religionsfreiheit. Normalerweise hättet ihr eigentlich die
Möglichkeit eure Religion frei auszuleben.“
Alysha: „Eigentlich…“
Interviewer: „Aber letztendlich ist es nicht so?“
Alysha: „Nein, nicht wirklich.“
In der Tat stoßen muslimische Jugendliche häufig insbesondere aufgrund ihrer Religiosität auf
Intoleranz, denn unabhängig davon, dass sie einer anderen Religion angehören als die Mehrheitsgesellschaft, hat die Religion für zahlreiche muslimische Jugendliche eine zentrale Bedeutung, während die Bedeutung der Religion in der deutschen Mehrheitsgesellschaft vergleichsweise gering ist.
Abb. 9: Religiosität5 und strenge Religionsauslegung6
5
4
Deutsche
3
Türken
2
Araber
1
0
Religiosität
Strenge
Religionsauslegung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Anforderung an die Jugendlichen, die unterschiedlichen Wertebezüge ständig in Balance zu halten, eine enorme Herausforderung darstellt, die einige Jugendliche völlig überfordert, insbesondere wenn sie bei der Bewältigung
dieser Herausforderung allein gelassen werden. In einem solchen Fall können die Jugendlichen leicht in ein Ungleichgewicht geraten und daraus resultierend verzerrte Prioritäten setzen
oder von anderen übernehmen, die dann häufig weder mit der deutschen noch mit der Herkunftskultur viel zu tun haben.
Interviewer: „Du bezeichnest die Deutschen als Weicheier? Warum?“
5
Religiosität setzt sich aus vier Items zusammen: 1) subjektive Bedeutung religiöser Zugehörigkeit, 2) Häufigkeit Besuch von Gotteshäusern (Moscheen, Kirchen, usw.), 3) Häufigkeit von Gebet, 4) Selbsteinschätzung
Religiosität.
6
Strenge Religionsauslegung setzt sich aus zwei Items zusammen: 1) Beurteilung ob jemand gläubig ist, danach
ob er / sie genau die Vorschriften der heiligen Schriften befolgt, 2) Bewertung von Religionsmodernisierern als
Zerstörer der Religion.
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Murat: „Eigentlich ist es so. Wir Ausländer brauchen mehr Stress und so.“
Kemal: „Die haben keinen Mut!“
Murat: „Wenn z.B. die ältere oder die jüngere Schwester entjungfert wird, sagen die
»ach, egal, kann passieren«. Bei uns Ausländern wäre es so: Wenn die Schwester entjungfert wird, berührt das die Ehre. Dann muss man den abknallen oder irgendwie etwas
machen.“
(Gespräch über juristische Konsequenzen, Gefängnisstrafe, Anm. d. Verf.)
Interviewer: „Du würdest so etwas in Kauf nehmen?“
Murat: „Ja, wenn es um meine Schwester geht, ja. Ich schwöre.“
Interviewer: „Und wenn Deine Schwester es freiwillig macht?“
Murat: „Ja, ich würde beide umbringen.“
Interviewer: „Beide umbringen, so stark ist das Ehrgefühl?“
Murat: „Ja klar, keiner fasst meine Schwester an!“
Kemal: „Also, ich würde das, also das wäre gar nicht meins.“
Murat: „Ach, du bist doch wie ein Deutscher erzogen!“
Die Verzerrung, wie in dem Interviewbeispiel, bei dem Murat im Übermaß, kompromisslos
und entkontextualisiert das Konzept der Ehre heraufbeschwört, kann dadurch verstärkt werden, dass während die Kultur der Mehrheitsgesellschaft in bestimmter Hinsicht nicht verstanden wird und fremd bleibt, die Herkunftskultur den Jugendlichen zugleich nur noch in Teilen
bekannt ist. Dadurch wird bestimmten Elementen der Herkunftskultur möglicherweise übermäßig viel Bedeutung zugesprochen, während andere Elemente völlig in den Hintergrund
geraten. Vor diesem Hintergrund wäre es wichtig, dass die Jugendlichen die Chance bekommen, beide Kulturen eingehend und in ihrer Gesamtheit kennenzulernen, im Idealfall im
Rahmen eines respektvollen, interkulturellen Dialogs.
Doch was bedeutet eine Verunsicherung bzgl. der eigenen Identität und Werte?
Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen einer starken Identitätsverunsicherung
und einem hohen Aggressionspotential, z.B. aufgrund von Blicken. In mehreren Interviews
haben uns Jugendliche insbesondere aus Frankfurt berichtet, wie sie allein aufgrund von Blicken, also dass sie jemand ansieht, gewalttätig wurden. Mit Blicken versuchen wir Menschen
einzuschätzen, sie für uns einzuordnen, möglicherweise verunsichert das gerade jene Jugendlichen, die sich selbst schwer damit tun, sich einzuordnen, die selbst nicht wissen wer sie sind.
Von einer jungen Frankfurterin hörten wir z.B. Folgendes:
„Da hat mich die eine die ganze Zeit angeglotzt. Ich glaube, die kannte mich sogar. Die
wusste, dass mein Vater Araber ist, die kam nicht damit zurecht, dass ich jetzt so bin.
(…) Ich dachte, ich lasse mir das nicht gefallen, ich lasse mich doch nicht angucken,
dann bin ich erstmal zu ihr hin. Sie meinte: »Du hast einen arabischen Vater, warum
macht du so etwas?« Ich sagte: »Du bist auch nicht besser, du bist auch am saufen, außerdem wo ist denn dein Kopftuch?« Da war die halt ruhig und hinterher sind wir aneinander geraten und ich habe wieder mal rot gesehen und habe zugehauen. (…) Ich habe
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mir eine Bierflasche geschnappt und wollte sie damit noch schlagen, aber der Türsteher
kam, hat mich festgehalten (…).“
In einer Gruppendiskussion mit türkischen männlichen Jugendlichen aus Frankfurt wurde uns
ebenfalls von Gewalt aufgrund von Blicken berichtet:
Rashid: „Aber bei dem Fall, bei Ausländern, diesen Samstag war ich in der X-Bar, ich
war auch in einer Gruppe, ich kannte zwar keinen, aber ein Freund hatte mich eingeladen, der hatte seine Freundin und andere Freunde noch dabei, da war auch noch ein
anderer Junge dabei, den ich nicht kenne, der saß gerade neben mir, plötzlich kam jemand von hinten an, hat dem eine Kopfnuss gegeben. Die sind aufgestanden, Rangelei,
dies, das, nur wegen Blickkontakt, weil der den einfach so angeguckt hat, dann hat er
seine Freunde gerufen und es ist ausgeartet, ich habe zwar versucht zu schlichten, auseinander zu halten. Das passiert halt nur wegen Blicken, auch wenn Du in der Disco
bist, es gibt manche Leute, das sind zwar nicht alle Ausländern, aber…“
Tarkan: „Die fühlen sich dann bedroht…“
Ein Zusammenhang erscheint zumindest plausibel, müsste aber wissenschaftlich eingehender
untersucht werden, um bestätigt zu werden.
Personale oder sozio-emotionale Ebene
Auf der personalen Ebene schließlich geht es um die Herstellung emotionaler Beziehungen
zwischen Personen zum Zwecke von Sinnstiftung, Selbstverwirklichung sowie Unterstützung
und emotionalen Rückhalt. Auf dieser Ebene stellten wir im Rahmen unseres Projektes für
den Großteil muslimischer Jugendliche die geringsten Desintegrationsgefahren fest. Der
Großteil der muslimischen Jugendlichen, ebenso wie der deutschen Jugendlichen, sind in ihr
soziales Umfeld gut eingebettet und bekommen hier auch ausreichend Unterstützung und
Rückhalt. Die untere Grafik soll dies anhand von vier Faktoren verdeutlichen: 1) Wohlbefinden in der Familie,7 2) Konflikt in der Familie, also wie häufig kommt es in der Familie zu
Konflikten aufgrund bestimmter Streitpunkte,8 3) Einbettung in den Freundeskreis, d.h. haben
die Jugendlichen Freunde, denen sie vertrauen und die sie unterstützen,9 und schließlich die 4)
emotionale Anerkennung, d.h. haben die Jugendlichen allgemein Menschen in ihrem Umfeld,
bei denen sie sich geborgen fühlen und die den Jugendlichen Anerkennung vermitteln.10
7
Die Jugendlichen wurden gefragt ob sie sich in der Familie wohl fühlen, ob sie zufrieden sind, ob sie sich in der
Familie akzeptiert fühlen und ob sie genug Liebe und Zuneigung in der Familie bekommen. Aus diesen vier
Fragen wurde der Summenindex „Wohlbefinden in der Familie“ gebildet.
8
Gefragt wurde wie häufig (mind. 1x in der Woche, mind. 1x im Monat, seltener oder nie) die Jugendlichen
Streit mit ihren Eltern wegen a) Leistungen in der Schule, b) Freunden / Freundinnen, c) weil sie abends ausgehen möchten und d) wegen Kleinigkeit haben. Aus den Häufigkeitsangaben zu diesen vier Streitthemen wurde
der Summenindex „Konflikt in der Familie“ gebildet.
9
Die Jugendlichen wurden im Rahmen der Befragung gebeten anzugeben, wie sehr sie drei Aussagen zustimmen oder diese ablehnen: a) „Mit Freunden / Freundinnen kann ich über alles sprechen.“, b) „Auf meine Freunde
/ Freundinnen kann ich mich verlassen.“, c) „Bei Problemen helfen wir uns immer gegenseitig“. Daraus wurde
der Summenindex „Einbettung in Freundeskreis“ gebildet.
10
Die Jugendlichen wurden gefragt, ob es a) Menschen gibt, bei denen sie sich geborgen fühlen und b) ob sie
Menschen kennen, die ihnen zeigen, dass sie zu ihnen gehören. Aus der Zustimmung bzw. Ablehnung zu diesen
Statements wurde der Summenindex „Emotionale Anerkennung“ gebildet.
16
Abb. 10: Integration auf sozio-emotionaler Ebene
3
2,5
Deutsche
2
1,5
Türken
1
Araber
0,5
0
Wohlbefinden
in Familie
Konflikte in
Familie
Einbettung in
Emotionale
Freundeskreis Anerkennung
Die Grafik macht deutlich, dass die Unterschiede auf der personalen Ebene zwischen den
Deutschen und den muslimischen Jugendlichen extrem gering sind. Trotzdem sind die Unterschiede z.B. bei emotionaler Anerkennung signifikant, also statistisch bedeutsam. Ist also
doch nicht alles in Ordnung, wie es auf dem ersten Blick erscheint? Denn offensichtlich gibt
es doch mehr muslimische als deutsche Jugendliche, die sich in ihrem sozialen Umfeld emotional nicht anerkannt fühlen. D.h. ein geringer Teil von muslimischen Jugendlichen (ca. 1015 %) sind auch auf der sozio-emotionalen Ebene desintegriert und sind mit massiven Konflikten in der Familie konfrontiert, die leider gelegentlich auch mit Gewalt einhergehen können. Wir haben einige Interviews mit weiblichen und männlichen muslimischen Jugendlichen
geführt, die uns die familialen Probleme einiger muslimischer Jugendliche deutlich vor Augen
geführt haben.
Junge muslimische Frauen geraten z.B. gelegentlich in Konflikte mit der Familie, insbesondere mit den Vätern, wenn sie Freiheiten für ihren Lebenswandel einfordern, die traditionell in
der Herkunftskultur für Frauen aber auch teilweise für Männer nicht vorgesehen waren.
„Ja. also mein Vater war halt ein bisschen verklemmt. Nach der Schule musste ich
nach Hause, wenn ich irgendwo rausgegangen bin in die Stadt, musste ich schon um
sechs Uhr zu Hause sein, obwohl ich schon 17, fast 18 war. Ich durfte nicht ins Kino,
ich durfte nicht in die Disco, ich durfte nirgendwo hin, ja, keine Jungen, obwohl ich so
viele Kumpel hatte, die nur Freunde waren. Das hat mich angekotzt, irgendwann habe
ich meinem Vater richtig die Meinung gesagt, ich habe ihm auch gesagt, dass ich einen deutschen Freund habe, was meinem Vater gar nicht gefallen hat, weswegen er
mich auch körperlich angegriffen hat. Er hat mich geschlagen. Ich hatte dann meinen
eigenen Vater anzeigen müssen bei der Polizei, und ab dem Zeitpunkt bin ich dann
von zu Hause ausgezogen.“
Doch nicht nur junge Frauen geraten in Konflikte, wenn sie für sich die Freiheiten der Mehrheitsgesellschaft entdecken. Auch männliche Jugendliche berichteten uns von familialen Konflikten in diesem Zusammenhang.
„Nein ich habe da auch Probleme mit meinen Eltern (wegen einer christlichen
Freundin, Anm. d. Verf.). Deswegen ziehe ich da jetzt auch aus.“
Interviewer: „Kennen deine Eltern deine Freundin?“
„Meine Eltern? Ja, die wissen, dass ich mit ihr zusammen bin. Hab mein Maul aufgerissen. Dass ich mit einer Kroatin zusammen bin. (…)“
Interviewer: „Also deine Freundin hat sich jetzt noch nicht mit deinen Eltern unterhalten?“
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„Nein. Meine Eltern halten mich jetzt für einen unreinen Menschen. Ich habe Körperkontakt mit einer Christin. Leider“
Interviewer: „Aber ist es nicht so im Islam, dass ein muslimischer Mann eine christliche Frau heiraten darf?“
„Nein, nein, nein. Das darf man überhaupt nicht.“
Außerdem werden Jugendliche gelegentlich Zeugen der Gewalt ihrer Väter gegenüber ihren
Müttern, die die Jugendlichen nachhaltig und zutiefst verstören. Männlichen Jugendlichen
wird dabei offenbar sogar manchmal von einigen Vätern direkt vermittelt, sie müssen sich mit
Gewalt behaupten.
„Und zwar hat mich mein Vater versucht so zu erziehen »nimm Dir, was Du willst,
schlag«, so in die Richtung. Meine Mutter (bricht ab). Ich habe ein ganz gutes Beispiel, die sind einkaufen gewesen, hat mir meine Mutter erzählt, und er hat Spielzeugwaffen in den Wagen getan, und meine Mutter hat alles rausgepackt und Schreibzeug
reingetan. Ich meine, was Du für ein Kind kaufst, so wird es halt. Dann hat er ihr eine
geklatscht, dass sie sich dreimal um die eigene Achse gedreht hat, so war halt mein
Vater. Er wollte immer »mein Sohn, Du musst« und so weiter, und so bin ich dann halt
in diese Richtung.“
Interviewer: Wurdest du viel mit Gewalt konfrontiert innerhalb der Familie, auch Dir
gegenüber, deiner Mama gegenüber?
„Ja, sehr stark meiner Mama und auch mir gegenüber. Ich habe gesehen, wie mein
Vater sie halb tot geschlagen hat. Ich kenne eigentlich meine Mutter nur so, in diesem
Bild blutüberströmt.“
Interviewer: „Warst du dann auch aggressiv?“
Adil: „Selbstverständlich, ja. Ich wurde ja so erzogen. Ich durfte auch keine Schwäche
zeigen anderen gegenüber. Das habe ich einmal gemacht, da bin ich weinend nach
Hause, weil mich ein Junge umgestoßen hat. Er hat mich geschubst und ich bin halt
sehr sensibel. Da habe ich geweint, mein Vater hat mir klar zu verstehen gegeben, was
er mit mir macht, wenn ich noch einmal so nach Hause komme. (Interviewer: Und was
hat er gesagt?) Dass er mich umbringen will. Mir die Beine brechen will. Halt so das
klassische.“
Zur Gewalt in Familie kommt es offenbar auch, wenn Jugendliche in ihrem Verhalten auffällig werden und die Eltern aus Verzweiflung versuchen, mit Schlägen ihre Kinder zur Vernunft
zu bringen, um sie von weiteren Vergehen abzuhalten:
Akil: „Die Polizei hat mich schon einmal nach Hause gefahren, weil ich randaliert
habe“.
Interviewer: „Hast du hinterher von deinen Eltern Ärger bekommen?“
18
Atif: „Hausarrest“
Akil: „Schläge, Keller“
Doch solche Disziplinierungsversuche scheitern zumeist, sind sogar kontraproduktiv, denn sie
vergrößern nur das Frustrationspotential der Jugendlichen.
D.h. es gibt ein kleinen Teil von muslimischen Jugendlichen, die sozio-emotional desintegriert sind, woraus ernsthafte Probleme, wie z.B. Jugendgewalt, entstehen können. Zugleich
muss aber auch angemerkt werden, dass sozio-emotionale Integration nicht zwangsläufig positiv für die Jugendlichen ist. Probleme und Konflikte können auch aufgrund einer zu starken
sozio-emotionalen Integration entstehen. Denn eine Integration auf personaler Ebene kann es
auch in einem kriminellen Milieu gegeben. Jugendliche können sich durchaus sozioemotional in einem Freundeskreis integriert fühlen, doch die Einbettung in den Freundeskreis
bedeutet dann auch die Einbettung in deviante oder kriminelle Kreise. Insbesondere wenn auf
anderen Ebenen eine Desintegration festzustellen ist, ist die personale Ebene häufig die einzige Ebene, auf der die Jugendlichen eine Integration finden, selbst wenn dies ein kriminelles
Milieu ist, das die Desintegration auf den anderen Ebenen nur weiter verstärkt. Denn abweichendes oder kriminelles Verhalten wird dann zu einer Notwendigkeit, um zumindest auf sozio-emotionaler Ebene noch Anerkennung zu erlangen:
„Ja, das war auch das Problem, dass ich falsche Freunde erwischt habe, wir durften in der
Pause nicht raus, sind dann über die Mauern geklettert, haben geklaut im Rewe, das war
diese Einstellung. Oder wir haben uns nach der Schule geschlagen.“
Oder ein Beispiel aus einer Gruppendiskussion:
Interviewer: „Wie äußert sich das z.B.? Wie zeigt Ihr Solidarität?“
Hamid: „ Zum Beispiel, ich knalle jemanden ab, nur so als Beispiel und die sind mit mir
hier, so Freunde und die Polizei hätte sie gefragt und die wären dabei, die würden mich
nicht verraten.“
Interviewer: „Also die würden dich unterstützten, egal was du machst? Die würden immer
zu dir halten?“
Hamid:„Genau“.
Doch auch die Familie kann ein schädliches soziales Umfeld darstellen:
„Aber ich finde auch – jetzt nicht nur auf Dich bezogen – auch auf andere, zum Beispiel
auf mich. Wenn man größere Brüder hat, dann lernt man auch von denen etwas. Heutzutage bauen die Leute mehr Scheiße und schlagen sich und so und kommen dann mit gebrochener Nase oder so nach Hause. Wenn du das siehst, dann denkst du »das ist ja voll
cool, wenn man sich schlägt«. Dann lernt man das.“
Oder eine Geschichte, die uns von einer jugendlichen Ehrenamtlichen in einer Berliner Moschee erzählt wurde:
Interviewer: „Aber die Eltern wollen doch bestimmt nicht, dass ihre Kinder kriminell werden, also die versuchen doch sicher, dass…“
„Einige schon, also hier. Ich bin ja ehrenamtlich hier in der Gemeinde beschäftigt
und da sind mir schon einige über den Weg gelaufen, die doch schon also, »Du bist
19
ein Mann, wenn Du einen Laden überfällst«, und auch unter anderen war ein Junge
da, der, der hatte sehr gute Noten in der Schule, und der wollte echt anders sein, und
der Vater war halt derjenige, der meinte »nein, du bist nur ein Mann, wenn du dies
und dies und dies machst«, und der wurde halt von zu Hause echt fertig gemacht,
weil der halt anders sein wollte.“
Sowohl die Fälle sozio-emotionaler Desintegration als auch die Fälle sozio-emotionaler Integration in schädliche soziale Kontexte sind in jedem Fall nur Einzelfälle, die sich außerdem
genau so auch bei anderen soziokulturellen Gruppen (Deutschen, Aussiedlern, usw.) zutragen.
Aber was damit verdeutlich wird, ist, dass nicht nur eine sozio-emotionale Desintegration,
sondern auch eine personale Integration in falsche Kreise für Betroffene fatale Folgen haben
kann.
Grundkonflikte
Ich habe versucht die Bedürfnisse, Anforderungen und Probleme auf den vier Ebenen: soziostrukturelle, institutionelle, kulturelle und personelle zu beschreiben. Aus den beschriebenen
Integrations-Anforderungen und Integrations-Problemen lassen sich nun vier Grundkonflikte
herauskristallisieren:
1) Zum einen entstehen Konflikte aufgrund sozio-struktureller Benachteiligungen. Das
Gefühl, in der Schule als nicht ausreichend begabt wahrgenommen und auf dem Arbeitsmarkt ständig abgewiesen zu werden, erzeugt viel Frustration, zumal in einer
Leistungsgesellschaft. Anerkennung, die in diesen Bereichen verwehrt wird, versuchen die Jugendlichen auf eine andere Art und Weise zu erlangen. Eine Möglichkeit
wäre, Anerkennung über den Besitz von jugendspezifischen Statussymbolen zu gewinnen, doch auch dies ist zahlreichen Jugendlichen aufgrund ihrer sozioökonomischen Lage nicht möglich. Insbesondere einige männliche Jugendliche versuchen sich
dann Respekt zumindest über besonders hartes und rebellisches (im Sinne „ich lass
mir nichts von anderen sagen“) Auftreten zu verschaffen.
2) Zweitens haben die Konflikte häufig ihre Ursache in dem Gefühl der Machtlosigkeit,
das zahlreiche Jugendliche verspüren. Sie haben das Gefühl, dass sie als gesellschaftliche Akteure nicht akzeptiert werden und dass ihre Interessen, ihre Stimme und ihre
Meinung in der Öffentlichkeit nicht anerkannt werden. Stattdessen sehen sie sich nur
mit meist negativen Zuschreibungen in der Öffentlichkeit und in den Medien konfrontiert und sie haben das Gefühl, nichts dagegen tun zu können. Sie wissen, dass sie
oftmals in der Gesellschaft nur als Problem wahrgenommen werden und dass ihnen
diese Wahrnehmung zusätzliche Hindernisse in den Weg stellt, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Einige Jugendliche scheinen sich gegen das Ohnmachtsgefühl
aufzulehnen und versuchen sich politisch zu engagieren, andere sehen politisches Engagement als sinnlos an und glauben, an ihrer Situation nichts ändern zu können und
auch dies erzeugt viel Frust. Das Gefühl der Selbstwirksamkeit, das sie auf dieser
Ebene einbüßen, versuchen dann vor allem einige männliche Jugendliche in anderen
Bereichen z.B. durch aggressives Auftreten, zu erlangen.
3) Drittens entstehen Konflikte aufgrund der multiplen Identitäts- und Wertebezüge, in
denen sich die Jugendlichen bewegen. Wie bereits angemerkt, wird diese Pluralität in
20
den Bezügen häufig weder von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, noch von
Angehörigen der Herkunftskultur akzeptiert oder auch nur verstanden. Stattdessen
werden von den Jugendlichen klare Bekenntnisse zu dem Einen oder Anderen gefordert und insbesondere von der Mehrheitsgesellschaft reduzierende Zuschreibungen
vorgenommen. In einem solchen Umfeld ist es den Jugendlichen nicht möglich ihre
komplexen Identitäts- und Wertemuster auszuprobieren und weiterzuentwickeln, sowie Konflikte zwischen diesen diversen Bezugssystemen zu lösen und damit die verschiedenen Bezugssysteme individuell in Einklang zu bringen. Das verunsichert die
Jugendlichen in ihrem Selbstverständnis und in ihrer Werteorientierung massiv. Diese
Verunsicherung wiederum erlaubt es einigen Jugendlichen nicht das eigene Verhalten
sowie das Verhalten anderer klar zu bewerten. Sie wissen nicht mehr wer sie sind und
was für sie und für die Gesellschaft, bzw. in dem Kontext, in dem sie sich aufhalten,
richtig oder falsch ist.
4) Auf der sozio-emotionale Ebene scheint es auf den ersten Blick für die Mehrheit der
muslimischen Jugendlichen keine großen Grundkonflikte zu geben, die meisten sind
gut eingebettet in Familie und Freundeskreis. Doch der Blick auf Einzelfälle zeigt,
dass auch auf dieser Ebene zumindest für einen Teil der Jugendliche massive Konflikte entstehen können, sei es durch verwehrte emotionale Anerkennung als eigenständige Individuen mit selbstständigen Lebensentwürfen durch die Familie, sei es durch
Gewalt in familiären Kontexten, die die Jugendlichen zutiefst verstören kann und die
einige Jugendliche als Verhaltensmuster dann erlernen, sei es durch Integration in eine
schädliche soziale Umgebung (Freundeskreis oder Familie), wo die Jugendlichen insbesondere Anerkennung für abweichendes Verhalten bekommen. Häufig ist es die
einzige Anerkennung, denn auf anderen Ebenen bleibt ihnen Wertschätzung verwehrt.
Was den muslimischen Jugendlichen also häufig fehlt ist die Anerkennung, die Wertschätzung, ein Dialog, bei dem sie auf Augenhöhe ihre Sichtweise darstellen können.
„Der Dialog, den Dialog führen, genau! Und wir wollen, auch wenn du keinen Dialog
führen willst, ist auch egal. Hauptsache, du respektierst uns als Menschen und Punkt.
Wir wollen nur Respekt, respektiert werden.“
Es fehlt Ihnen aber auch häufig die Orientierung und es fehlen die richtigen Vorbilder und
Ansprechpersonen.
„Das ist ja das Problem, die haben ja keine Leute, oder irgendwelche Perspektiven,
oder Personen, die das schon durchgemacht haben. Es gibt schon welche, aber die
zeigen sich jetzt nicht, die sprechen nicht darüber, und ich würde sagen, genau das ist
das, was diese Leute brauchen. Wenn ich zum Beispiel jemanden gesehen habe, der es
durch die ganze Kriminalitätsrate durchgemacht hat, oder irgendwelche Schlägereien
durchgemacht hat, der jetzt dreißig oder vierzig Jahre zurück blickt und denen erzählt,
»macht das lieber nicht«, oder »ich habe das und das Problem« ich war fünf oder
sechs Jahre im Gefängnis oder so etwas, das würde die auch ein bisschen abschrecken
davor, weil die sehen das, mein großer Bruder hat einen dicken BMW, hat Markenklamotten, das war's, wieso mache ich das auch nicht. Ich schließe nach der neunten
Klasse die Schule ab und werde so wie mein Bruder. Ich sehe da keine Probleme, aber
wenn die jemanden sehen würden, der mit vierzig oder dreißig vielleicht eine Familie
gründen möchte, und die Chancen dafür nicht hat, weil er dafür nicht gearbeitet hat,
ich glaube, so welche Personen brauchen die Leute, um denen das zu zeigen.“
21
Wie geht die Jugendhilfe damit um?
Es gibt mehrere Potentiale und Ressourcen, an denen die pädagogische Arbeit ansetzen könnte. Bei Jugendlichen, die sehr gut in ein gesundes familiales Nahumfeld eingebettet sind, ist
eine stärkere Zusammenarbeit der PädagogInnen in Jugendeinrichtungen mit den Eltern
fruchtbar. Davon abgesehen, denke ich, dass eine Kooperation z.B. mit lokalen Moscheevereinen dazu beitragen könnte besonders problematischen Jugendlichen zu helfen. Denn Jugendliche, mit denen wir geredet haben und die sich von ihrer kriminellen Vergangenheit verabschiedet haben, taten dies häufig nachdem sie für sich die Religion entdeckt haben. D.h. in
diesen Fällen war die Religion eine starke Ressource, die der „Resozialisation“ der Jugendlichen sehr dienlich war.
Interviewer: „Du hast deiner früheren Karriere den Rücken gekehrt und versuchst jetzt
ein Leben ohne Streit zu führen? Was hat dich dazu gebracht, deinen Weg zu verändern?“
„Also es ist einfach gekommen, dass ich mir selbst die Augen geöffnet habe. Ich habe
gemerkt, dass ich in einen falschen Weg geraten bin. Und habe auch zu meiner Religion
zurückgefunden.“
Eine Kooperation von Jugendeinrichtungen mit Familie und religiösen Gemeinschaften könnte einen zusammenhängenden Raum für die Entwicklung der Jugendlichen erschaffen. In solchen Kooperationen könnten für die Jugendlichen z.B. auch Workshops angeboten werden,
die ihnen dabei helfen mit Diskriminierung und mit Frustration kompetent umzugehen und
die ihr Selbstbewusstsein stärken. Außerdem würden solche Kooperationen einen Dialog in
Gang setzen, an dem sich die Jugendlichen beteiligen können, um ihre eigene besondere Identität und Wertehaltungen zu entwickeln.
Insgesamt brauchen Jugendliche, die in problematischen Stadtteilen aufwachsen konkrete
Räume, Orte, an denen sie der Aggression der Straße entzogen werden.
„Das Jugendzentrum ist auch eine Gelegenheit. Wenn wir zum Beispiel draußen überall
sind, auf der Straße, dann kommt auf einmal ein Typ und macht Stress, dann muss jemand draufschlagen. Dann kann man nicht reden. In XXX (Name Stadtviertel) kann
man nicht reden. Deswegen ist das Jugendzentrum eine Gelegenheit, wo man, ohne sich
zu streiten, Spiele spielen kann, Playstation, Billard, Kicker, man kann seine Zeit hier
verbringen. Es ist auch gut, ich bin seit zwölf Jahren jetzt hier, ich war auch nie mehr in
meinem Leben in eine Schlägerei verwickelt, außer in der Grundschule , die mich geärgert haben. Mich akzeptieren auch die Menschen jetzt so wie ich bin.“
Zum Anderen sollte das Bedürfnis der Jugendlichen aktiv zu werden, sich zu engagieren und
auf sich in positiver Weise aufmerksam zu machen, aufgegriffen und gefördert werden, z.B.
in dem mit Jugendlichen öffentlichkeitswirksame Kampagnen durchgeführt werden.
„Und Ende der elften Klasse, genau, da kam ich in die zwölfte Klasse, wo ich wieder
gewählt wurde als Stufensprecher. Da war ich immer noch ein bisschen aktiv. Dann habe ich versucht, auch in der Schülerzeitung mitzumachen, ich habe versucht, viele Sachen zu machen. Das war mein Bedürfnis, ich wollte immer ganz viele praktische Sachen machen, um die Dinge zu sehen. Und dann habe ich in der zwölften Klasse, da gab
es ein Projekt, eine Fernsehsendung, die motiviert dazu, zu Projekten die in bestimmten
Ländern gemacht wurden, in England und so weiter. Da habe ich gedacht »das ist eine
gute Idee, ich mache jetzt auch eine gute Sache«. Dann habe ich angefangen, Jugendliche zu sammeln, habe im Internet in ein paar Foren geschrieben, es gibt ja viele Internetforen. Da gab es marokkanische Foren, da habe ich gesagt, »Ey Leute, lasst uns was
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Gutes tun, wir machen jetzt zusammen ein Projekt«. Und dann habe ich mit ein paar
Leuten zusammen, also ich war nicht der Einzige, aber die Idee kam von mir, eine Obdachlosenküche gemacht, von Muslimen. Das war extra von Muslimen, in Bonn in der
Innenstadt. (…) Das war immer so ein Grundgedanke, dass ich gesagt habe, wenn der
Islam so schön ist, aus den Büchern und was weiß ich, dann muss man ihn ja leben,
dann muss man ihn verwirklichen Es reicht nicht nur zu reden und zu sagen »mach Gutes«. Und dann wollte ich einen Vorschlag machen, was wir machen können, und meistens ist es ja so, dass eine Gruppe gar keine Idee hat, was man machen soll. Dann haben wir uns zwei Mal hier in Bonn versammelt, dann ging ich in Bonn an einem Obdachlosen vorbei. Dann dachte ich mir, wenn man anfängt, fängt man doch mit den
Ärmsten an. Und die Idee war nicht nur, Essen zu verteilen. Es sollte gutes Essen sein,
gekochtes Essen, so marokkanisch oder arabisch, es war verschieden meistens, und es
sollte vor allem mit ihnen geredet werden. Das war so, also noch nicht mal reden, einfach nett zu denen sein. (…) Wir haben das bestimmt, wie viel Mal haben wir das gemacht, bestimmt elf Mal, also wir haben es schon sehr oft gemacht in dem Jahr, sonntags. Und dann haben auch andere Jugendliche aus anderen Städten das aufgenommen,
haben das auch gemacht. (…) Das war ein sehr großes Erlebnis für mich, ich habe da
sehr viele kennen gelernt.“
Doch langfristig ist es insbesondere wichtig, den Jugendlichen wirkliche Perspektiven zu geben, Chancen, sich zu entwickeln. Das bedeutet zu allererst: Bildungsförderung, damit den
Jugendlichen eine Perspektive auf selbstbestimmte Lebensgestaltung und Weiterentwicklung
eröffnet wird. Die Jugendlichen brauchen Unterstützung, insbesondere dann, wenn die Eltern
ihnen schulisch wenig helfen können. Es müsste z.B. mehr kostenlosen Nachhilfeunterricht
für benachteiligte Jugendliche geben und mehr Beratungsstellen für Jugendliche, nicht nur
beim Arbeitsamt, sondern auch in pädagogischen Einrichtungen. Es muss außerdem eine Debatte mit Lehrern eröffnet werden über Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund an Schulen. Das Problem muss stärker ins öffentliche Bewusstsein treten, zumal viele Lehrer vermutlich unwillentlich diskriminieren und sich der Problematik einfach zu wenig
bewusst sind. Schließlich muss es auch Ansprechpersonen für Diskriminierung an Schulen
und anderen pädagogischen Einrichtungen geben, die dann den Jugendlichen zur Seite stehen.
Das sind nur einige Ideen, die ich als Soziologin formulieren kann, Pädagogen können sicherlich bessere Lösungskonzepte erarbeiten. Patentrezepte kann es gleichwohl nicht geben, denn
es ist stets wichtig, den spezifischen Kontext zu beachten. Wir müssen jedoch immer wieder
gemeinsam als WissenschaftlerInnen und PädagogInnen / SozialarbeiterInnen nach Lösungen
suchen und eines nicht aus den Augen verlieren: Was Jugendliche vor allem brauchen, ist
Anerkennung und Wertschätzung.
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