Am Schauplatz der Desintegration Von Eberhard

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Am Schauplatz der Desintegration Von Eberhard
Am Schauplatz der Desintegration
Von Eberhard Rathgeb
Ich fuhr nach Berlin, fuhr in die Diaspora und bekam dort mein erstes echtes Integrationsproblem. Ich habe mir in Berlin einen Film
angesehen. Nicht auf der Berlinale, sondern im Abseits, am Rand, dort, wo sich gegenwärtig etwas bewegt, wo sich etwas verschiebt. Dort
wurde es mir auch etwas unheimlich zumute. Denn für einige Stunden geriet ich mitten in Berlin in die Fremde und schaute in eine Zukunft,
in der ich nicht mehr vorkomme - und wenn, dann im besten Falle als ein Integrationsproblem.
Ich war in Berlin, aber auch in der Türkei - nicht nur deswegen, weil ich hier viele Türken traf. In Berlin-Neukölln leben sehr viele Türken,
und deutsche Familien, die sich das leisten können, ziehen in andere Stadtteile, wenn ihre Kinder in die Schule gehen sollen. Das wußte ich.
Aber was ich nicht wußte: daß ich mitten in Berlin ein echtes Integrationsproblem kriegen würde.
Ich ging ins Karli-Kino in Neukölln. Das Kino liegt in einem dieser elenden riesigen nahezu luftlosen gläsernen Einkaufszentren an einer
langen Straße, an der Geschäfte sich entlangziehen. In dem Kino lief eine ganze Reihe von Filmen, die ich alle nicht kenne und die ich auch
alle nicht kennenlernen möchte, weil schon die Plakate das Dümmste erwarten lassen. Die Leute amüsieren sich gerne auf die billigste Art,
sie schauen ja auch stundenlang Fernsehen und knallen sich ihr Hirn mit dumpfen Lauten und Rhythmen zu. Auch da habe ich eine Art
Integrationsproblem, aber eines, das nichts mit Freiheitsbeschränkungen, sondern nur mit Freiheitsfolgen zu tun hat.
In dem Kino in Neukölln, wie auch in anderen Kinos in deutschen Städten, läuft zur Zeit der Film „Tal der Wölfe”. Das ist ein türkischer
Film über das Treiben der Amerikaner im Irak. Es ist, sagen wir es rundheraus: ein antiamerikanischer, antichristlicher, es ist ein türkischnationalistischer und promuslimischer Streifen - denn ihn Film zu nennen wäre angesichts der miesen cineastischen Qualitäten maßlos
übertrieben.
Ich bin in die Abendvorstellung gegangen - der Film läuft mehrmals am Tag -, und zwar mit einem mulmigen Gefühl, weil ich das
Gewaltkino hasse. Ach was, hatte der türkische Taxifahrer gesagt und gelacht, der Film sei nicht brutal. Dein Wort, meine Hoffnung, sagte
ich mir. Dann saß ich in einem riesigen Saal, in den mehrere hundert Zuschauer reingehen, und der Saal war proppenvoll. Schon an der
Kasse hatte ich unter lauter Türken gestanden, und nun saß ich unter lauter Türken, und zwar, das war das Erstaunliche: unter jungen
Männern und jungen Frauen, alten Männern und alten Frauen, unter Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern. So kam ich in Berlin unter
die türkischen Familien.
Der Film ist in Deutschland von achtzehn Jahren an freigegeben. Ohne diese Altersbeschränkung würde sich hier wahrscheinlich die ganze
Familie einfinden, wie in der Türkei, wo diese Altersbeschränkung - schon das ist ungeheuerlich - nicht gilt. Vater, Mutter, Kind: Entweder,
dachte ich mir, geht die ganze Familie ins Kino, weil es was zu lachen gibt, worüber Jung und Alt gemeinsam lachen können, oder weil es
hier etwas zu lernen gibt, was Jung und Alt gemeinsam lernen sollen. Es gab etwas zu lernen. Ein Türke hatte mir am Nachmittag erzählt,
daß seine Frau gerade im Kino sei und sich den Film ansehe; er selbst werde am Abend in die Vorstellung gehen, sein Sohn habe den Film
schon gesehen - der Film sei gut und richtig. Der Film lief mit deutschen Untertiteln.
Es geht in dem Film zuerst um die türkische Ehre und dann um die völkerverbindende Allmacht der muslimischen Religion. Die beiden,
Ehre und Religion, lassen sich nicht trennen. Die Helden sind ein junger türkischer Geheimagent und ein alter weiser Scheich, der den
muslimischen Stämmen und Völkern predigt: nicht vor dem Feind aus dem Westen zu resignieren, sondern sich in der kämpferischer Geduld
eines echten Muslims zu üben. Die Amerikaner sind degeneriert, ihr Christentum nur der höhere Wahn für einen Kreuzzug gegen die
traditionalen muslimischen Gesellschaften. Die Muslime werden, so der Scheich, siegen, wenn sie sich in Eintracht üben und am
alleinseligmachenden Glauben festhalten.
Das also sprach der Scheich, und seine Wort kamen wie aus uralten Zeiten und fielen mitten hin in die Zuschauerreihen in Berlin-Neukölln
und fallen in die Zuschauerreihen in anderen deutschen Städten, fielen den Hunderten von Türken zu, die hier saßen und draußen zu hören
bekommen, daß sie sich integrieren sollen.
Was der Scheich sagte, das war eine Botschaft für die Gegenwart und für die Zukunft der Muslime, war eine Botschaft über ein
konsequentes Leben in der Diaspora - und es war klar, daß diese Diaspora ebenfalls in Berlin-Neukölln liegen kann, egal was
Migrationsforscher und Integrationstheoretiker sagen. Echte Integration konnte es nach dieser Botschaft nicht geben, sondern nur ein
Aushalten in der Fremde und ein Festhalten am Eigenen, bis der Frieden mit Allah über die ganze Welt kommt.
Jetzt bekam plötzlich ich meine ersten echten Integrationsprobleme unter den Türken in Berlin. Ich hielt mich an der Vorstellung fest, daß
ich ja nur in einem Kinosaal in Neukölln saß, gleichsam in einer Gesellschaft sehr kurzer Dauer. Doch mußte ich, während der Scheich seine
Worte in die Welt schickte, daran denken, welche Integrationsprobleme ich und all die viel Jüngeren in Berlin (und nicht nur in Berlin) in
einigen Jahrzehnten bekommen würden, und zwar nicht mehr nur in einem Kinosaal in Neukölln, sondern schon weit draußen vor dem Kino
in der Wirklichkeit. Im Februar 2006 lernte ich mitten in Berlin mein Minderheitengefühl kennen.
Wie „Spiegel-Online” berichtete, standen in Berlin-Wedding nach der Vorstellung des Films junge Türken auf und skandierten „Allah ist
groß”. So weit ist es an diesem Abend in Neukölln nicht gekommen, aber das ist auch nicht nötig gewesen.
Text: F.A.Z., 16.02.2006, Nr. 40 / Seite 37
Perfide Unterhaltung: Was im „Tal der Wölfe” geschieht
Von Richard Kämmerlings
Der Film beginnt wie eine Militärposse: Ein amerikanisches Kommando stürmt einen türkischen Vorposten im Nordirak - die
schwerbewaffneten Soldaten halten sich in grotesker Weise gegenseitig in Schach, und der türkische Kommandant erbittet telefonisch von
seinem Vorgesetzten die Erlaubnis, gegen die feindliche Übermacht kämpfen und seine Truppe opfern zu dürfen - um damit die Ehre der
türkischen Armee und überhaupt der ganzen Nation zu retten. Für westliche Betrachter mag es etwas Lächerliches haben, wie der Offizier
um sein Recht auf Heldentod fleht.
Doch niemand des fast ausschließlich jungen türkischen Publikums im gut gefüllten Saal des Frankfurter Turmkinos lacht, nicht an dieser
Stelle. Der Vorspann beruht auf einer realen Begebenheit kurz nach dem Sieg über Saddam Hussein: Türkische Soldaten wurden, Säcke über
den Kopf gestülpt, von den Amerikanern abgeführt - eine Demütigung, die sich offenbar tief ins kollektive Gedächtnis der Türken eingeprägt
hat.
„Tal der Wölfe” erzählt vordergründig die Geschichte einer Blutrache. Der Spitzenagent Polat Alemdar reist mit seinem Team in den
Nordirak, um diese nationale Schmach zu sühnen und dem verantwortlichen amerikanischen Kommandanten Sam (sic!) William Marshall
Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Doch ihr erster Plan schlägt fehl, und die Männer (und die Zuschauer) müssen sich mit komplexen
politischen Verhältnissen vertraut machen, in der die amerikanischen Besatzer mit brutalster Gewalt die Kurden, Araber und Turkmenen
gegeneinander ausspielen: Unschuldige Zivilisten werden als Terroristen verschleppt - mit unmißverständlichen Anspielungen auf die
Deportationen und „Selektionen” der Nazis -, gefoltert und als lebende Organspender mißbraucht; mit Hilfe kurdischer Kollaborateure
werden ethnische Säuberungen vorgenommen, um die Ölvorkommen in westliche Hand zu bringen.
Die Amerikaner erscheinen fast ausnahmslos als zynisch-sadistische Killer, denen ein Menschenleben keinen Pfifferling wert ist, die
buchstäblich mit Kanonen auf Spatzen schießen und die unschuldige Zivilbevölkerung massakrieren. In einer Schlüsselszene richten sie ein
Blutbad unter einer arabischen Hochzeitsgesellschaft an und setzen damit selbst die Haßspirale der Selbstmordattentate in Gang.
Der Regisseur Serdar Akar hat seine Stereotypisierung mit der Frage verteidigt, warum man denn keinen antiamerikanischen Film drehen
dürfe. In der Tat, wie sich der Zeichner einer Mohammed-Karikatur mit Bombe im Turban auf die grausame Wirklichkeit des gewalttätigen
Islamismus berufen kann, so findet diese filmische Karikatur „des Amerikaners” ihren Anlaß in Abu Ghraib - das im Film, ins Infernalische
vergrößert, vorkommt. Ein Scherge Sams heißt nicht zufällig Dante.
Und natürlich gehört das absolute Böse zum Trivialschema des Actionfilms: Die Nazi-Chargen aus Hollywood, die Asiaten in Weltkriegsoder Vietnam-Filmen, die Russen bei „Rambo” oder auch die Indianer sind ein genretypisches Personal, deren Tod der Zuschauer meist
ebensowenig bedauert wie hier die Erschießung der tumben G.I.s. Doch hinter der Fassade eines spannenden, mit aufwendigen special
effects ausgestatteten Ballerfilms verbirgt sich viel mehr: „Tal der Wölfe” will als Statement zum clash of civilisations verstanden werden.
Die Amerikaner sind nämlich selbst nur pars pro toto für ein umfassendes westlich-zionistisches Weltherrschaftsstreben: Die den
Einheimischen lebend entnommenen Organe gehen, wie eine skandalöse Einstellung zeigt, nach London, New York und Tel Aviv. Und der
Oberbösewicht Sam befindet sich auf einem regelrechten Kreuzzug. Beim Gebet - ein Kruzifix ist dabei in Nahaufnahme zu sehen - gelobt er
seinem Gott, nicht eher zu ruhen, bis er das Zweistromland von Ungläubigen gereinigt hat - mindestens diese Szene trägt eindeutig den
Charakter einer Denunziation des Christentums als solches. Eine als lebende Schutzschilder verwendete arabische Kinderschar läßt er Gipfel des Zynismus - „Freude, schöner Götterfunken” singen, während ein Spezialist schweißgebadet die Bombe entschärft.
Man darf den Film mit seiner offenkundigen antiwestlichen und antisemitischen Hetze aber auch nicht unterschätzen. Seine Perfidie besteht
gerade darin, daß er als Unterhaltungsfilm funktioniert und für ein breites und ideologisch ganz unverdächtiges Publikum attraktiv ist. So
gibt es zwischen den realistischen und mitunter schockierenden Gewaltszenen immer wieder als Ventil komische Einlagen (ein Mitglied des
Agententeams ist eine Art Klassenclown und einem türkischen Publikum offenbar als Witzbold vertraut).
Die ideelle Gegenfigur zu dem christlich-satanischen Sam ist aber ein angesehener Scheich, der Selbstmordattentate vehement als Sünde
verurteilt, ebenso Entführungen westlicher Geiseln und - fast wie eine Art irakischer Gandhi - für passiven Widerstand aus der Kraft des
wahren Glaubens eintritt. Die Überwindung der Gegensätze zwischen den muslimischen Völkern - interessanterweise auch zwischen Türken
und Kurden - ist so die tiefere Botschaft des Films. Denn der gemeinsame Feind ist klar: der Westen.
In einer langen, merkwürdig zusammenhanglosen Szene ist der weise Scheich bei einem Sufi-Ritual zu sehen. Der Großvater des
Hauptdarstellers Necati Sasmaz (in der Türkei ein Star) und des Produzenten Raci Sasmaz, zweier Brüder, war ein einflußreicher Scheich des
Sufi-Ordens der Kadiri, der den Film angeblich auch mitfinanziert haben soll. Wenn am Ende der Held den Schurken erdolcht, vollzieht so
ein Türke stellvertretend die Rache für die muslimische Welt - und schließt damit die Kette von der Wiederherstellung türkischer Ehre über
den religiös motivierten Widerstand gegen die westliche Besatzungsarmee bis zum Heiligen Krieg. Im Kino gibt es dazu heftigen
Szenenapplaus.
Text: F.A.Z., 16.02.2006, Nr. 40 / Seite 37