Amering: Menschenrechtsperspektive in der Psychiatrie
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Amering: Menschenrechtsperspektive in der Psychiatrie
Menschenrechtsperspektive in der Psychiatrie Univ.Prof. Dr. Michaela Amering Medical University of Vienna Department of Psychiatry and Psychotherapy [email protected] Menschenrechte für ALLE Menschen Wiewohl sämtliche Menschenrechtskonventionen – sowohl auf Ebene der Vereinten Nationen, aber auch der europäischen Union und des Europarates – selbstverständlich auch Menschen mit Behinderungen erfassen, da es um den Schutz aller Menschen und deren Rechten geht, sind Menschen mit Behinderungen vielfach unerwähnt geblieben (Schulze, 2011). Menschenrechte für ALLE Menschen Die mangelnde Erwähnung des Diskriminierungsgrundes ‚Behinderung‘ bzw. ‚Beeinträchtigung‘ in den zentralen Menschenrechtsverträgen hatte eine Nichtbehandlung und damit Nichtbeachtung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen nach sich gezogen (Quinn & Degener, 2002). Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010-2020: Erneuertes Engagement für ein barrierefreies Europa Laut UN-BRK zählen zu den Menschen mit Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. European Disability Strategy 2010-2020, 2010 Beispiellose Zustimmung weltweit (147 Länder) EU – 28 Länder ratifiziert + EU Allgemeines Ziel dieser Strategie ist es, Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ihre vollen Rechte wahrzunehmen und uneingeschränkt an der Gesellschaft und der europäischen Wirtschaft teilzuhaben, vor allem im Rahmen des Binnenmarkts. Um dieses Ziel zu erreichen und eine wirksame Durchführung der UN-BRK in der ganzen EU zu gewährleisten, bedarf es einer kohärenten Vorgehensweise. European Disability Strategy 2010-2020, 2010 Behinderung in Europa In der EU hat jede sechste Person eine leichte bis schwere Behinderung. Das sind etwa 80 Millionen Menschen, die wegen umwelt- und einstellungsbedingter Barrieren häufig an einer vollen Teilhabe an der Gesellschaft und Wirtschaft gehindert werden. Für Menschen mit Behinderungen liegt die Armutsquote 70 % über dem Durchschnitt, was teilweise durch ihren eingeschränkten Zugang zur Arbeitswelt bedingt ist. Mehr als ein Drittel der über 75-Jährigen haben Behinderungen, die sie in gewissem Maße beeinträchtigen, und über 20 % sind erheblich beeinträchtigt. Diese Prozentsätze dürften weiter ansteigen, da die Bevölkerung in der EU immer älter wird. European Disability Strategy 2010-2020, 2010 Nichts über uns ohne uns! The European Disability Forum ‘is an independent NGO that represents the interests of 80 million Europeans with disabilities. EDF is the only European platform run by persons with disabilities and their families. We are the front runner for disability rights. We are the voice of persons with disabilities in Europe.‘ www.edf-feph.org European Network of (Ex-) Users and Survivors of Psychiatry (ENUSP) ENUSP is the grassroots, independent representative organisation of mental health service users and survivors of psychiatry at a European level. ENUSP’s members are regional, national and local organisations and individuals across 39 countries. ENUSP is a consultant to the European Commission, the European Union Fundamental Rights Agency, and WHO-Europe. ENUSP is a member of European Disability Forum (EDF) and European Patients’ Forum (EPF) and part of the World Network of Users and Survivors of Psychiatry (WNUSP). Through WNUSP, ENUSP members were active in the drafting and negotiation of the UN CRPD. www.internationaldisabilityalliance.org Europe and Mental Health Psychische Störungen Machen 20% der Erkrankunsglast in Europa aus. www.euro.who.int, 2014 Innerhalb der EU sind psychische Störungen in 25% aller neuen Fälle von Behinderung die Ursache. EFILWC, 2003 Ein Triumph der SelbstvertreterInnen Die Erarbeitung der Konvention war von einer historischen Beteiligung der Zivilgesellschaft, insbesondere auch SelbstvertreterInnen mit psychosozialen Beeinträchtigungen geprägt (Sabatello, 2013). Der Weltverband der Betroffenen sieht den Verhandlungsprozess der Konvention als einen Triumph für alle Betroffenen weltweit. Es ist in der Tat sehr bedeutungsvoll, dass es den SelbstvertreterInnen gelungen ist, in der anwaltschaftlichen Arbeit der Zivilgesellschaft anerkannt zu werden; das gibt berechtigte Hoffnung für ein Ende von gesellschaftlicher Exklusion von Menschen mit psychiatrischen Gesundheitsproblemen. UN-CRPD ‚Nichts über uns ohne uns!‘ Partizipation von SelbstvertreterInnen während des Verhandlungsprozesses Teilhabe bzw. Partizipation ist ein Grundprinzip (Artikel 3 Konvention) Mitgliedsstaaten müssen in allen Belangen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, diese einbeziehen (Artikel 4 Abs 3 Konvention) so auch in die Überwachung der Konvention (Artikel 33 Abs 2 Konvention) Europäische Deklarationen, Strategien und Projekte, die Einbeziehung der NutzerInnen fordern UN CRPD, 2010 European Union Strategy for Disability 2010-2020 European Agency for Fundamental Rights (FRA) project on the fundamental rights of Persons with intellectual disabilities and persons with mental health problems, 2009 European Parliament Resolution on Mental Health, 2009 WHO Europe and European Commission funded project on service user and carer empowerment (2009-2011) The Mental Health Declaration/Action Plan for Europe, 2005 The mental health strategy for Europe: why service user leadership in is indispensable. Callard, Rose (2012) The European Mental Health Action Plan, 2013 www.euro.who.int research UN-Konvention für die Rechte von Personen mit Behinderungen (BRK) soziales Modell Aus dem sozialen Model von Behinderung wird deutlich, dass die multidisziplinäre Feststellung des Unterstützungs- bzw. Assistenzbedarfs in den Mittelpunkt der Erwägungen rückt. ‚Welche Form von Assistenz kann jemanden wie am besten in seiner Selbstbestimmung unterstützen?‘ wird zur zentralen Fragestellung. Diese Assistenz muss gemeindenah sein und kann auch in Form von Persönlicher Assistenz erfolgen, die natürlich auch Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen zur Verfügung gestellt werden soll. MonitoringAusschuss.at Beispiel Arbeit Die UN-Konvention geht von einem sozialen Modell von Behinderung aus, wonach Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht. Demnach haben Menschen mit Behinderungen ein Recht auf alle jene Unterstützungsleistungen, die ihnen die volle wirksame und gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft ermöglichen. Damit ist die Feststellung der Arbeitsfähigkeit nicht mit den Bestimmungen der UN-Konvention vereinbar und wäre durch eine Feststellung des Unterstützungsbedarfs zu ersetzen. Unterstützung – CRPD Beispiele Artikel 5 - Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung Artikel 6 - Frauen mit Behinderungen Artikel 7 - Kinder mit Behinderungen Artikel 12 - Gleiche Anerkennung vor dem Recht Artikel 13 - Zugang zur Justiz Artikel 19 - Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft Artikel 20 - Persönliche Mobilität Artikel 23 - Achtung der Wohnung und der Familie INDEPENDENT BUT NOT ALONE A GLOBAL REPORT ON THE RIGHT TO DECIDE Inclusion International 2014 The experience of Australian parents with psychosis (N=1825; Campbell et al, 2012) Over half of all women and a quarter of men are parents. In contrast with general decline this proportion rising. 24% of women, 6 % of men living with children. Most parents living with psychosis function well. A significant proportion has impairments in parenting and general functioning that could have adverse consequences for both the parent and children. Need for interventions to optimise successful parenting outcomes. Custody loss (50% Schizophr, Seemann, 2012; 15% UMB-SMF, 2013) Supported Parenting (David, Styron, Davidson, 2011) Unterstützung – CRPD Beispiele Artikel 24 - Bildung Artikel 25 – Gesundheit Artikel 26 - Habilitation und Rehabilitation Artikel 27 - Arbeit und Beschäftigung Artikel 29 - Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben Artikel 30 - Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport Unterstützung zur Selbstbestimmung Unterstützung für selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde, zum Wohnen, Arbeiten, Familiengründung etc. Auch bei Entscheidungen: Unterstützte Entscheidung anstelle von stellvertretender Entscheidung CRPD – Beispiele für Veränderungen Sachwalterschaft/Guardianship/Betreuung • ‚The intrusiveness of guardianship law on the individual’s life means that implementation of Article 12 has been identified as a particular priority by the UN High Commissioner for Human Rights. Consistant with the social model of disability adopted in the CRPD, the focus is on provision of support, so that people with disabilities can make their own decisions.‘ Bartlett, 2012 • Supported decision making models (e.g. Canada, Sweden) • Pilotprojekt zur unterstützten Entscheidungsfindung in Österreich Bildung und Arbeit – Sonderschulen ‚reasonable accomodation‘ General Comment on Article 12 Committee on the Rights of Persons with Disabilities, May 2014 No substantial differences to Draft Comment I.3. On the basis of the initial reports of various States parties that it has reviewed so far, the Committee observes that there is a general misunderstanding of the exact scope of the obligations of States parties under article 12 of the Convention. Indeed, there has been a general failure to understand that the human rights-based model of disability implies a shift from the substitute decision-making paradigm to one that is based on supported decision making. General Comment on Article 12 Committee on the Rights of Persons with Disabilities, May 2014 No substantial differences to Draft Comment I.7. ….. Historically, persons with disabilities have been denied their right to legal capacity in many areas in a discriminatory manner under substitute decision-making regimes such as guardianship, conservatorship and mental health laws that permit forced treatment. These practices must be abolished in order to ensure that full legal capacity is restored to persons with disabilities on an equal basis with others. I.8. ….. Legal capacity has been prejudicially denied to many groups throughout history, including women (particularly upon marriage) and ethnic minorities. Artikel 12, General Comment und Konflikte Einspringen, helfen, für jemanden entscheiden ist ein hohes Gut (mit Risiko unerwünschter Effekte) Breite Diskussion nötig – in leichter Sprache! Beispiel Konzern von Marianne Schulze Beispiel Georg Psota Martin Zinkler und Jose M Koussemou Recht & Psychiatrie (2014) 32: 142 – 147 Menschenrechte in der Psychiatrie – Wege und Hindernisse zu einem umfassenden Gewaltverzicht ‚Es ist ungesund, nicht selbst zu entscheiden’ Andrea Feldkircher, Mensch Zuerst Vorarlberg, bei der der öffentlichen Sitzung des Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum Them Gesundheitsversorgung am 28.4.2013 ‚Abhängigkeit ist das Schicksal der Menschen. Nur das Ausmaß ist unterschiedlich, so wie die daraus erforderliche Assistenz und Begleitung.’ Nelli Riesen, Kadertagung des eigenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Schweiz, 2013 Monika Rauchberger von WIBS ‚Wir informieren beraten bestimmen selbst‘ zeigt in bemerkenswerter Weise, welche enorme Unterschiede es für sie persönlich und für das Leben vieler Menschen macht, ob und wie das Recht auf Selbstbestimmung verstanden und durch Unterstützung umgesetzt werden kann und findet, ‚das Sachwalter-Gesetz so wie es jetzt ist muss sich verändern. Denn jede und jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung! Und auf eigene Entscheidungen. Auch wenn mal ein Fehler passiert. Es braucht gute und richtige Unterstützung.’ Monika Rauchberger von WIBS ‚Wir informieren beraten bestimmen selbst‘ Wie Siegfried Glössl von der Selbstvertretung der Lebenshilfe, macht sie klar, dass ‚dass gute Unterstützung für jeden Menschen etwas anderes bedeutet. Es ist wichtig, dass jeder Mensch die Unterstützung bekommt die er oder sie braucht!’ Stefan Hagleitner, Omnibus ÖKSA-Tagung 2013 ‚Ausserdem – Kommunikation auf Augenhöhe ist notwendig, aber schwer. Stigmatisierung auch hier in der Diskussion offensichtlich. Bipolare Störung, paranoide Schizophrenie wurden als Sonderfälle genannt. Argumentiert wird über Extremfälle. Der Sachwalter teilt nicht den Alltag, ist nicht auf der Brücke um zu sagen ‚Spring nicht!’. Der Betroffene aber überlegt sich, was es bedeutet, um Zigaretten oder einen Pullover betteln gehen zu müssen. Psychiatrie hat Aufholbedarf. Psychiatrie hat Schwierigkeiten dazu zu lernen.‘ ‚New Diplomacy‘ Neue Formen der Interaktion und Verhandlunsstrategien haben sich im Entstehungsprozess der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen entwickelt. Sabatello & Schulze (2013) Zwei Aspekte werden hier hervorgehoben und in Beziehung zum Trialog gestellt. ‚New Diplomacy‘ Erstens: die Idee, dass ‘jeder und jede ein sehr persönliches Interesse am Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen hat’ und Behinderung als integraler Bestandteil des menschlichen Lebens erlebt wird. (Sabatello 2013). Die Prävalenzraten für Behinderungen im Laufe eines Menschenlebens machen deutlich, dass fast jeder und jeder irgendwann entweder selbst oder im Rahmen von Familien- und Freundeskreis Erfahrung mit Leben mit Behinderung machen wird. ‚New Diplomacy‘ Zweitens: Anerkennen der Tatsache, dass viele diplomatische Delegationen und Bürgerrechtsorganisationen ‘ganz einfach keine Erfahrung damit haben, die Interssen von Personen mit Behinderungen kennenzulernen, zu verstehen und sich dafür einzusetzen’ sowie die Bereitschaft von Organisationen und Personen mit gelebter Erfahrung zu lernen. Trotz grosser Schwierigkeiten in finanzieller und organisatorischer Hinsicht gelang durch deren grosses Engagement und die Bereitschaft vieler UN-Gremien die Inklusion von Personen mit Behinderungen in den Verhandlungsprozess. ‚New Diplomacy‘ Die daraus entstehenden ‘new diplomacy’-Strategien konnten die übliche abstrakte rechtliche Terminologie erweitern: ‘ihre Vorstellungskraft anzuregen, so als ob es ihnen selbst passieren würde’ (Grandia 2013), ‘aus erster Hand Zeugnis zu geben wie Diskriminierung erlebt wird und wirkt sowie aufzuzeigen, was anders sein soll’, ‘Mit Hunderten von Personen mit Behinderungen in den Gängen der UN, in den Verhandlungsräumen, verschiedenen Meetings und in den Kaffeepausen’ ……. … ‘wurde es unmöglich den Dialog zu verhindern.’ Sabatello 2013 Niemals wieder den Dialog zusammenbrechen zu lassen war auch das Ziel der ErfinderInnen des Trialogs und der Trialog-Bewegung. Wallcraft J, Amering M, Freidin J, Davar B, Froggatt D, Jafri H, Javed A, Katontoka S, Raja S, Rataemane S, Steffen S, Tyano S, Underhill C, Wahlberg H, Warner R, Herrman H Partnerships for better mental health worldwide: WPA recommendations on best practices in working with service users and family carers. World Psychiatry (2011) 10(3):229-36.