Statement der Vorsitzenden

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Statement der Vorsitzenden
Pressekonferenz
Reform der Eingliederungshilfe
Regierungsentwurf Bundesteilhabegesetz
Übergabe der Resolution an Ministerpräsidenten
Dienstag, 6. September 2016, 12.00 Uhr
Maximilianeum, Landtagsgaststätte, Bayernzimmer
Statement
Sperrfrist: 13.00 Uhr
Landtagspräsidentin Barbara Stamm
Vorsitzende des Lebenshilfe-Landesverbandes Bayern
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Anrede,
Ich will es gleich deutlich sagen:
Mit dem geplanten Bundesteilhabegesetz stehen wir vor einem großen Umbruch in der
Eingliederungshilfe. Und dieser Umbruch würde aus heutiger Sicht vor allem die
Lebenssituation von Menschen mit geistiger Behinderung verschlechtern.
Deshalb müssen wir als Lebenshilfe in Bayern und in ganz Deutschland immer wieder
deutlich machen: Das Bundesteilhabegesetz darf so, wie es jetzt im Regierungsentwurf
geplant ist, nicht beschlossen werden.
Es geht schließlich um die Zukunft von über 860.000 Menschen mit Behinderungen in
Deutschland, die derzeit Eingliederungshilfe erhalten. Die größte Gruppe davon,
nämlich 500.000, sind Menschen mit einer geistigen Behinderung.
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Lebenshilfe Bayern: Pressekonferenz BTHG, Statement Barbara Stamm, 06.09.16
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Wie Sie wissen, vertritt die Lebenshilfe insbesondere die Interessen von Menschen mit
geistiger Behinderung, von Menschen, die schwerst und mehrfach behindert sind und
einen hohen Hilfebedarf haben, von Menschen, die meist ein Leben lang auf die Hilfe
ihrer Familien, ihrer Freunde, auf die Hilfe von Einrichtungen und Diensten, auf die Hilfe
unserer Gesellschaft angewiesen sind.
Die Lebenshilfe ist ein Eltern- und Selbsthilfeverband.
Ihnen gegenüber sitzen heute Mitglieder unseres Vorstandes, die als Eltern, als Mütter
und Väter, große Sorge um die Zukunft ihrer erwachsenen Kinder mit Behinderung
haben.
Ihnen gegenüber sitzen heute auch Menschen mit Behinderungen selbst, Mitglieder
unseres Landesausschusses Selbstvertreterinnen und Selbstvertreter, die – wie wir alle
– noch nicht genau abschätzen können, was mit diesem neuen Gesetz auf sie
zukommen wird.
Wir als Eltern- und Selbsthilfeverband haben immer gefordert, dass eine Reform der
Eingliederungshilfe die Situation von Menschen mit Behinderungen und deren Familien
deutlich verbessern muss. Nur dann ist eine Reform ja überhaupt sinnvoll!
Was wir heute aber schon wissen, ist:
Das, was uns jetzt als „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von
Menschen mit Behinderungen“ vorgelegt wurde, ist in seinem aktuellen
Regierungsentwurf alles andere als eine Verbesserung.
Deshalb müssen wir als Lebenshilfe in Bayern und in ganz Deutschland auch im
bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren unseren Protest weiterhin lautstark erheben.
Bundesweit wurde dafür eigens die Lebenshilfe-Kampagne und Online-Petition
„TeilhabeStattAusgrenzung“ gestartet.
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Wir als Lebenshilfe Bayern fordern darüber hinaus in einer Resolution zur Reform der
Eingliederungshilfe, den nun vorliegenden Regierungsentwurf zum
Bundesteilhabgesetz unbedingt in wesentlichen Punkten zu verbessern.
Ich will Ihnen einige Kritikpunkte näher erläutern:
1.
Die Messlatte, um künftig überhaupt Eingliederungshilfe zu erhalten, ist viel zu hoch
angesetzt! Es droht, dass Menschen mit leichteren Beeinträchtigungen oder mit
Beeinträchtigungen in weniger als fünf von neun Lebensbereichen einfach aus dem
Hilfesystem herausfallen oder dass die Hilfe nur nach Ermessen gewährt wird.
Deshalb fordern wir:
Hilfe für alle, die Hilfe nötig haben! Der Personenkreis der leistungsberechtigten
Menschen mit Behinderungen darf nicht eingeschränkt werden. Auch Menschen mit
leichteren Beeinträchtigungen oder Beeinträchtigungen in weniger als fünf
Lebensbereichen müssen weiterhin die Hilfe erhalten, die ihnen eine gleichberechtigte
und selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Und das als
Rechtsanspruch und nicht nur als Ermessensleistung.
2.
Pflege und Eingliederungshilfe werden gegeneinander ausgespielt! Hier wirkt sich auch
noch ein anderes, aktuelles Gesetzesvorhaben negativ aus, das sogenannte
Pflegestärkungsgesetz III.
Durch den geplanten Vorrang der Pflege im häuslichen Bereich droht, dass
pflegebedürftige Menschen keine Eingliederungshilfen mehr erhalten, die ihnen letztlich
erst die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Und es droht, dass Menschen mit
hohem Pflegebedarf künftig nicht mehr ambulant betreut wohnen können, sondern in
ein Wohnheim oder gar in ein Pflegeheim umziehen müssen.
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Deshalb fordern wir:
Leistungen aus der Pflegeversicherung dürfen keinen Vorrang vor Leistungen der
Eingliederungshilfe haben. Das Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft muss ein Leben
lang gelten. Menschen mit Behinderungen dürfen nicht in Pflegeheime abgeschoben
werden. Es darf nicht heißen: Teilhabe oder Pflege. Es muss immer heißen: Teilhabe
und Pflege!
3.
Der Zwang, Leistungen gemeinsam zu nutzen, schränkt das Wunsch- und Wahlrecht
ein! Es droht, dass Menschen mit Behinderungen nicht mehr selbst bestimmen können,
was sie wann und mit wem in ihrer Freizeit machen.
Deshalb fordern wir:
Wenn Leistungen gemeinsam beansprucht werden sollen, müssen die davon
betroffenen Menschen dem zustimmen. Nur so können Menschen mit Behinderungen
ein selbstbestimmtes Leben führen.
4.
Menschen mit geistiger Behinderung haben meist nichts davon, dass die Freigrenzen
für Einkommen und Vermögen bei Teilhabeleistungen erhöht werden sollen! Denn viele
sind auf Grundsicherung angewiesen und können deshalb weiterhin nichts ansparen.
Deshalb fordern wir:
Auch Menschen mit geistiger Behinderung müssen ein Recht auf ein Sparbuch haben.
Der Vermögensfreibetrag von derzeit 2.600 Euro für Menschen, die Grundsicherung
beziehen, muss erhöht werden.
Insgesamt fordern wir als Lebenshilfe in Bayern, dass die finanziellen
Rahmenbedingungen auch künftig so ausgestaltet werden, dass sich die heutigen
Standards in der Eingliederungshilfe und damit die notwendigen und bewährten
Angebote für Menschen mit Behinderungen nicht verschlechtern.
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Das gilt sowohl für die Leistungsberechtigten, also für die Menschen mit
Behinderungen, als auch für die Leistungserbringer, also für die Träger von
Einrichtungen und Diensten.
Es ist schließlich niemanden damit geholfen, wenn bei einem Umbruch, wie er mit
diesem Gesetzesvorhaben bevorsteht, bewährte Strukturen einfach eingerissen
werden, schlechter oder gar kein Ersatz geschaffen wird und ausgerechnet die
Menschen, um die es geht, am Ende zu den Verlierern einer Reform gehören.
Das kann niemand wollen!
Heute Vormittag haben wir deshalb in der Staatskanzlei unsere Resolution persönlich
an den Ministerpräsidenten Horst Seehofer und an Sozialministerin Emilia Müller
übergeben. Das Bundesteilhabegesetz wird in gut zweieinhalb Wochen, am
23. September, im nun bevorstehenden Gesetzgebungsverfahren erstmals im
Bundesrat beraten, auch ist am 22. und 23. September die erste Lesung im Bundestag
angesetzt. Wir hoffen sehr, dass sich die Bayerische Staatsregierung und auch die
Bundestagsabgeordneten aus Bayern der berechtigten Anliegen der Menschen mit
Behinderungen und ihrer Familien annehmen werden.
In jedem Fall kämpfen wir weiter!
Wir, die Lebenshilfe in Bayern und auch bundesweit, werden weiterhin auf allen
politischen Ebenen für die Interessen der Menschen mit Behinderungen und deren
Familien eintreten. Im Sinne der Inklusion muss es uns als Lebenshilfe und auch uns
als Gesamtgesellschaft unbedingt gelingen, dass das geplante Bundesteilhabegesetz
wirklich ein „Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen
mit Behinderungen“ wird. Denn eine Reform ist nur dann sinnvoll, und ich kann es gar
nicht oft genug betonen, wenn sie den davon betroffenen Menschen und deren Familien
auch eine Verbesserung bringt!
Es gilt das gesprochene Wort!
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