Ibo aus Giresun

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Ibo aus Giresun
Ibo aus Giresun
Wie ein Eilzug kommen wir auf der flachen Straße ohne größere Anstrengung nach Giresun. Wir erinnern uns, dass uns Murat vor ein paar
Tagen die Telefonnummer seines Freundes Ibo aufgeschrieben und
eine Nächtigungsmöglichkeit in Aussicht gestellt hatte.
Gleich bei der Ortstafel rufe ich die Nummer an. Der für uns noch
völlig Unbekannte erklärt uns, dass er bei einer Fußgängerüberführung
an der Küstenstraße auf uns warten würde. Wir sind skeptisch. In
Giresun leben 90 000 Menschen. Werden wir Ibo tatsächlich treffen?
Tatsächlich steht nach fast zehn Kilometern und zahlreichen Fußgängerüberführungen ein schlanker Mann, Mitte 40, am Straßenrand
und winkt uns zu. Wir halten an und haben auf Anhieb das Gefühl, als
würden wir einen alten Bekannten treffen. Mit flotten Schritten begleitet uns Ibo zu seinem Wohnblock in einer dicht bebauten Siedlung auf
einer Anhöhe.
Im Erdgeschoß des benachbarten Wohnblocks befindet sich das
Fahrradgeschäft seines Schwagers, wo wir unser Tandem gesichert
abstellen können.
„Kommt zu mir in die Wohnung, da könnt ihr duschen und nachher
gehen wir zusammen essen“, zeigt sich Ibo freigiebig.
Unser Gastgeber ist allein in seiner großen, stilvoll eingerichteten
Wohnung. Normalerweise lebt er mit seiner Familie in Deutschland.
Als Frühpensionist hat er genug Zeit und ist schon vorausgereist. Seine
Familie soll in den Ferien nachkommen.
„Allein ist es langweilig“, erzählt uns Ibo, „ich freue mich, wenn ich
euch bei mir beherbergen kann.“
Um seine Gastfreundschaft nicht übermäßig zu beanspruchen, blasen
wir unsere Unterlagen auf und richten unser Nachtlager auf dem
Wohnzimmerteppich ein.
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„Ich kann nicht einmal meine Waschmaschine bedienen“, berichtet
uns Ibo von seinem mäßigen Geschick als Hausmann, „bevor ich meine Socken zur Wäsche gebe, kaufe ich lieber neue.“
Zum Abendessen führt uns Ibo in sein Stammlokal. Es ist interessant,
sich mit ihm zu unterhalten. Wir erfahren seine Lebensgeschichte, die
in ähnlicher Form die Geschichte vieler türkischer Gastarbeiter sein
könnte:
Als Ibo sieben Jahre alt war, nahmen ihn seine Eltern mit nach
Deutschland. Es ging alles sehr schnell, er konnte sich nicht einmal
von seinen Freunden verabschieden. In Deutschland erwartete Ibo eine
graue Stadt, in der die Menschen seine Sprache nicht verstanden. Vorbei war die Zeit, als er zusammen mit seinen Freunden am Fluss spielen und im Meer baden konnte.
Von seinen neuen Schulkollegen wurde er wegen seiner schlechten
Noten ausgelacht. Der Gastarbeiterjunge hätte gerne bessere Noten
gehabt, aber anfangs verstand er auch die Sprache der Lehrer nicht.
Seine Eltern hatten kaum Zeit für ihn. Sie mussten viel arbeiten, um
sich die kleine, feuchte Wohnung in der neuen Heimat leisten zu können.
Sie wollten Ibo und seinen Geschwistern ein besseres Leben bieten
und auch Geld in die alte Heimat schicken. Ibo war traurig und weinte.
Eines Tages wurde er krank und seine Nieren versagten. Fünfzehn
Jahre lang war er Dialysepatient. Mittlerweile hat er in Deutschland
schon die zweite Spenderniere erhalten.
Trotz aller Widrigkeiten hat Ibo seinen Lebensmut nicht verloren.
Seine Familie gibt ihm Halt und macht ihn stolz. Seine Tochter steht
kurz vor dem Abitur und wurde von ihren Mitschülern zur Klassenund Schulsprecherin gewählt. Auch der jüngere Sohn geht seinen Weg
und besucht ebenfalls eine Mittelschule.
Heute muss Ibo täglich fünfzehn verschiedene Medikamente nehmen. Er ist nicht mehr arbeitsfähig, die Nebenwirkungen machen ihm
schwer zu schaffen. Er leidet an Konzentrationsschwierigkeiten, an
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