Phasenspezifische Konfliktthemen - Buch

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Phasenspezifische Konfliktthemen - Buch
Aus der Praxis
Phasenspezifische Konfliktthemen
eines transsexuellen Entwicklungsweges
Annette Güldenring
Zusammenfassung Sechs aufeinanderfolgende Konfliktphasen eines trans−
sexuellen Entwicklungsweges werden voneinander abgegrenzt und in einer
Psychodynamik beschrieben. Dieses Wissen gibt eine Grundlage, um transse−
xuelle Lebenswege besser zu verstehen und danach eine phasenbegleitende
Psychotherapie zu führen mit dem Ziel, dem Patienten zu einer souveränen und
authentischen Lebensform in seinem transsexuellen Sein zu verhelfen, völlig
unabhängig davon, ob körperlich−geschlechtsangleichende Therapien ge−
wünscht werden oder nicht.
Schlüsselwörter
" Transidentität
l
" Geschlechtsidentitätsstörungen
l
" transsexuelle Entwicklungen
l
" transsexuelle Konflikte
l
" phasenbegleitende Psychotherapie
l
" transsexuelle Authentizität
l
» Dem transsexuellen Mythos wohnt
etwas Zauberhaftes,
etwas Phantastisches inne, eine
geheimnisvolle Stimmung,
eine Sehnsucht nach etwas in ihm
Verborgenen,
das die Menschen schon immer wie
magisch angezogen
und fasziniert oder zutiefst
geängstigt hat. «
Vorbemerkung
Korrespondenzadresse
" Annette Güldenring
l
Westküstenkliniken Brunsbüttel
und Heide gGmbH, Klinik für
Psychiatrie / Psychotherapie und
Psychosomatik
Esmarchstraße 50
25746 Heide
agueldenring@wkk−hei.de
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10. Jahrgang
In diesem Beitrag möchte ich zur Psycho−
therapie in der Behandlung transsexuel−
ler Menschen einige Anregungen geben.
Um ¹Verwirrungen“ zu vermeiden, äuße−
re ich zunächst, dass ich als biologischer
Junge geboren wurde und im mittleren
Erwachsenenalter nach langer Auseinan−
dersetzung mit der Vielfalt des Ge−
schlechtlichen mein Geschlecht gewech−
selt habe. Seit Jahren lebe ich nun als
Frau und fühle mich sehr wohl.
Mein Phasenmodell und die daraus fol−
genden Erkenntnisse sind nicht durch
wissenschaftliche Studien untermauert,
sondern das Ergebnis meiner persönli−
chen Lebensart mit der transsexuellen
Thematik über fast fünf Jahrzehnte und
meiner therapeutischen Arbeit mit Trans−
menschen. Des Weiteren war ich 30 Jahre
genderpolitisch aktiv, ich habe sehr viele
transsexuelle Bekannte und mir naheste−
hende Freunde, mit denen ich intensive
und vertraute Gesprächsmomente erlebt
habe. All diese Erfahrungen haben zu
dem beigetragen, was ich heute schreibe.
Mein Phasenmodell habe ich in Work−
shops vor Transmännern und Transfrauen
vorgestellt und diskutiert. In meinem
Text bündeln sich also Meinungen und
Erfahrungen einer größeren Anzahl
transsexueller Menschen.
Viele Kollegen und Kolleginnen wagen
sich an eine psychotherapeutische Arbeit
mit transsexuellen Menschen nicht he−
ran. Eine Unsicherheit, eine Angst vor
dem Transsexuellen wird in unserem
Fach offen ausgesprochen. Das psycho−
medizinische Wissen zur Phänomenolo−
gie des Transsexualismus ist spärlich,
eher widersprüchlich und verwirrend als
für den therapeutischen Alltag hilfreich.
Forschungsarbeit wird von nur wenigen
Arbeitsgruppen geleistet, fundierte Wei−
terbildung zur Therapie des Transsexua−
lismus findet in den Curricula der thera−
peutischen Ausbildungen ± wenn über−
haupt ± nur randständig statt. Nur weni−
ge Kollegen und Kolleginnen verfügen
über systematische Erfahrung in der Ar−
beit mit transsexuellen Patienten, die sie
im Austausch weitergeben könnten. Die
literarischen Beiträge sind entweder
hoch spezialisiert verfasst oder zeigen
eine Tendenz zur überintellektualisierten
Darstellung ohne realitätsbezogene Rele−
vanz, täuschen somit über die Orientie−
rungslosigkeit in der Behandlung transse−
xueller Menschen hinweg, anstatt diese
anzusprechen und therapeutisch zu nut−
zen. Meine Schrift hofft, das Thema zu
entängstigen und Kolleginnen und Kolle−
gen neugierig zu machen, therapeutisch
mit Transpatienten zu arbeiten.
Sexuelle Identitäten
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Phasenspezifische Konfliktthemen eines transsexuellen Entwicklungsweges
Rätsel Gegenübertragung
Es ist nicht die Absicht dieses Artikels,
vertiefend auf die Gegenübertragungs−
probleme in der psychotherapeutischen
Behandlung mit Transmenschen einzuge−
hen. Zahlreiche Dokumente in der psy−
chomedizinischen Literatur bemühen
sich, das Problem der Gegenübertragung
darzustellen und zu diskutieren, darauf
möchte ich verweisen. Nur zu einem
Aspekt, zu dem Phänomen der ¹Verwir−
rung“, möchte ich kurz Stellung nehmen.
Dazu ein Zitat:
Reinhard Herold (2004) beschreibt in sei−
nem Beitrag eine intensive Auseinander−
setzung mit seiner Gegenübertragung in
einem Behandlungsfall eines transsexuel−
len Patienten:
» ¹Jetzt begann ich eine sich steigernde
Verwirrung [Hervorhebungen durch die
Autorin] und Irritation zu spüren. Alles
wurde mir wieder unsicher, zerrann mir
zwischen den Fingern. [¼] Am Abend be−
suchte ich ein kasuistisches Seminar und
traf auf der Treppe mit dessen Leiter, einem
erfahrenen Psychoanalytiker, zusammen.
Spontan fragte ich ihn, ob er wüsste, wel−
che Institution Gutachten für eine ge−
schlechtsumwandelnde Operation von
transsexuellen Patienten stellen würde.
,Auf so was lässt man sich als Analytiker
erst gar nicht ein‘, beschied er mich lä−
chelnd und ging weiter. [¼] Jetzt wollte
ich verstehen, was da mit mir und auch
mit anderen passierte, wenn es um Trans−
sexualität ging. [¼] Mein Gefühl der Be−
schämung, das in ein Nicht−mehr−denken−
Können, also einen akuten Verwirrtheits−
zustand mündete, war Ausdruck des plötz−
lichen Verlustes dieser Sicherheitsposition,
die identitätsstiftend wirkt.“ (Herold 2004,
S. 329 f.) «
Durch die Literatur zieht sich wie ein ro−
ter Faden, dass allein die Nähe des trans−
sexuellen Themas bei ¹normidentischen“
Menschen das Gefühl der ¹Verwirrung
und Panik“ auslösen muss. Nach dem Stu−
dium zahlreicher Beiträge schleicht sich
das Gefühl ein, das sich in dem Bemühen
der jeweiligen Autoren, theoretische Er−
klärungsmodelle zum Transsexualismus
zu formulieren, der verschlüsselte Ver−
such ausdrückt, sich aus ihrer eigenen
Verwirrung zu retten. Es sei erlaubt zu
vermuten, dass an diesem Symptom der
Verwirrung viele therapeutische Bemü−
hungen zu scheitern scheinen. Die Wucht
der Verwirrung muss für nichttranssexu−
elle Menschen enorm sein und sie in die
Flucht schlagen.
Sexuelle Identitäten
Vorsichtig kann also gedacht werden,
dass Verwirrung durch den transsexuel−
len Menschen im zwischenmenschlichen
Raum ein zentrales Symptom ist, an dem
die Beziehung gelingen kann oder in vie−
len Fällen leider scheitern muss. In dieser
Dynamik liegt gleichzeitig das Dilemma
für den Transmenschen, weil er damit re−
gelhaft die Möglichkeiten einer Bezie−
hungsaufnahme vernichtet. Viele Trans−
menschen sind symptomatisch in ihrem
Modus, den anderen zu verwirren, gefan−
gen, gelangen von einem Scheitern der
Beziehung in die nächste, wie in einer
Spirale.
Die Handhabe mit der Verwirrung, die in
manchen Kontakten mit Transmenschen
extrem sein kann, ist also eine Herausfor−
derung an die Therapeutin oder den The−
rapeuten. Von der ¹Gefahr“ der Verwir−
rung zu wissen, ist das Erste, sie zu erken−
nen das Zweite. In ihrer Würdigung und
Milderung liegt eine therapeutische
Chance, um dem Patienten den Zugang
in die Beziehung überhaupt möglich zu
machen.
Zur Begriffsklärung
Im Folgenden beschreibt der Fokus das
zentrale, phasenspezifische, innerpsy−
chische Thema des transsexuellen Seins.
Dieses Thema führt zu einem typischen
Konfliktthema in der jeweiligen Entwick−
lungsepisode. Aus dieser Not gestalten
sich individuelle Lösungsversuche, die
sich in der jeweiligen Symptomvielfalt
ausdrücken. In den Auswirkungen habe
ich grob für die jeweiligen Phasen darge−
stellt, welche psychischen Problemfelder
daraus reaktiv entstehen können.
Mit diesem Modell wird von mir hier
erstmalig eine Dynamik beschrieben, in
der die psychische transsexuelle Not im
Raum des zwischenmenschlichen Bezie−
hungsgefüges besser verstanden werden
kann als dies in den üblich deskriptiven
Arbeiten der Fall ist.
In diesem Modell liegt das Hauptaugen−
merk auf der Kommunikationsebene
(körperlich, verbal, atmosphärisch, etc.)
mit ihrer Umwelt und den Auswirkungen
auf die transsexuelle Seele, letztlich der
Raum, in dem sich die Psychotherapie po−
sitioniert und ihre therapeutischen Mög−
lichkeiten und Grenzen hat. Ich hoffe, so−
mit eine differenziertere Verständnis−
grundlage für die psychotherapeutische
Arbeit mit transsexuellen Menschen zu
bieten, vielleicht eine Leitlinie für den be−
gleitenden Therapeuten und die Thera−
peutin, um im Dickicht der transsexuel−
len ¹Verwirrung“ einen Überblick behal−
ten zu können.
In die innerpsychische Dynamik der je−
weiligen Phasen fließen modulierend
zahlreiche andere psychische Wirkme−
chanismen, zu nennen sind Charakteristi−
ka der Persönlichkeitsstruktur, der Ich−
Stabilität, neurotische Konfliktthemen
etc. mit hinein. Transsexualität sollte nie
als Phänomen für sich alleine gesehen
werden. Eine ¹typisch transsexuelle Per−
sönlichkeit“ gibt es nach meiner Erfah−
rung nicht. Ich möchte in der psychothe−
rapeutischen Arbeit mit Transmenschen
empfehlen, zu üben, die nicht transsexu−
ellen, meist reaktiven von den rein trans−
sexuellen Problemfeldern trennen zu ler−
nen. Das ist oft sehr schwer, weil diese in
der Regel miteinander verflochten sind,
sich ¹verwirrt“ darstellen und eine diffe−
renzierte Wahrnehmung für den Ungeüb−
ten nicht so leicht gelingt. Für Transmen−
schen ist es nicht selten schon entlastend,
wenn reaktive Symptome von der Trans−
sexualität befreit werden und mit einfa−
chen Interventionen gemildert werden
können.
Die Phasen machen deutlich, dass eine
psychotherapeutische Arbeit an verschie−
denen Punkten ansetzen kann:
" Erarbeitung und Formulierung des
aktuellen Fokus, um eine Klärung der
phasenaktuellen individuellen Posi−
tion, Wege daraus und damit Selbst−
souveränität in der transsexuellen
Identität zu fördern
" Klärung und Bewältigung der damit
assoziierten Konflikte und Erlebensir−
ritationen unter Berücksichtigung der
psychischen Ressourcen und Ich−Stär−
ken
" Hinführen zu einer authentischen Le−
bensform des transsexuellen Wun−
sches.
Die Phasen sind aus der Sicht des MzF−
Transsexualismus beschrieben.
Erste Phase: Innere Wahr−
nehmung des transsexuellen
Erlebens
Fokus: Indem ich ein Mädchen bin, ob−
wohl ich ein Junge bin, bin ich anders.
Konfliktthema: Indem ich so bin wie
ich bin, indem ich anders bin, gehöre
ich nicht auf diese Welt, bin ich ir−
gendwo allein.
Lösungsversuch: So tue ich alles, um
einsam zu sein. Nur in meiner Einsam−
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Aus der Praxis
keit und meinen Fantasien kann ich
Mädchen sein, obwohl ich ein Junge
bin.
Auswirkungen: Gefahr der Isolierung
und Vereinsamung, authentisches Er−
leben nur in einem narzisstischen Zir−
kel.
Die erste bedeutungsvolle Phase ist die
der inneren Wahrnehmung des transse−
xuellen Erlebens. Es ist die Geburtsstre−
cke der transsexuellen Identität, die sich
zu fast jedem Zeitpunkt der Entwicklung
manifestieren kann, in der frühen Kind−
heit, während der Pubertät oder in späten
Phasen des Erwachsenenalters. Warum
das so ist und wovon das abhängen mag,
kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beant−
wortet werden.
Diese Phase ist immer von längerer Zeit−
dauer, in der der transsexuelle Mensch in
einem schleichenden inneren Prozess
nach seinen existenziellen Fragen sucht,
sich austariert und schließlich für sich er−
arbeitet, dass das eigene Empfinden sich
von dem der anderen unterscheidet, in−
dem es als transsexuell erlebt wird.
Kindheit
Berichte von Menschen, bei denen dieses
Empfinden bereits im frühen Kindesalter
aufgelebt sein soll, beweisen, dass damit
zunächst keine psychisch belastende
Konfliktsituation verbunden ist. Die
Transkinder erproben ihre transsexuellen
Gefühle individuell auf verschiedenen
Bühnen und Erlebnisfeldern, erleben und
gestalten sie durchaus vergnüglich und
integriert im Spiel, sozusagen als Ich−syn−
ton anteilig. Es scheint so zu sein, dass
transsexuelle Kinder ihrem Phänomen of−
fen und wertfrei gegenüberstehen, es ist
für sie in dieser Phase in der Regel kein
seelisches Problem. Ich wage zu behaup−
ten, dass der transsexuelle Urzustand kei−
ne psychische Belastung bedeutet und
wahrscheinlich keinen Krankheitswert
hat.
Transsexuelle Kinder machen sich früh
mit ihrem eigenen Empfinden vertraut
und ihre Identität entwickelt sich als eine,
in der das Transsexuelle immer präsent
ist, fest zum Bestandteil der Persönlich−
keit dazu gehört und alle zukünftigen
Entwicklungsphasen begleitet und beein−
flusst. Nicht selten wird in dieser Phase
schon beschlossen, irgendwann später
das Geschlecht zu wechseln. So antworte−
te ein achtjähriger transsexueller, biologi−
scher Junge auf die Frage, was er später
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einmal werden möchte, ohne zu Zögern:
¹Frau!“
Pubertät
In einer größeren Anzahl zeigt sich das
Empfinden, transsexuell zu sein, erstma−
lig während der Pubertät. In dieser kriti−
schen Phase der psychosexuellen Ent−
wicklung ist das Aufspüren der Transse−
xualität mit einer großen Irritation ver−
bunden, es wird als ein massives inneres
Problem erlebt. Die meisten Jugendlichen
kämpfen vehement dagegen an, sind aber
trotz größter Anstrengungen nicht in der
Lage, ihre Transsexualität zu unterdrü−
cken. Es fällt ihnen darüber hinaus
schwer, sich mitzuteilen, weil sie selber
kaum verstehen und formulieren können,
was mit ihnen ist. Der Begriff Transsexua−
lität ist ihnen zu diesem Zeitpunkt in der
Regel noch nicht präsent. Die transsexu−
elle Identität wird als eine unaussprech−
bare, große Last empfangen, ist uner−
wünscht. Gefühle wie ¹irgendetwas
stimmt nicht mit mir“, ¹ich bin nicht nor−
mal“ oder ähnliche begleiten diese Stre−
cke der inneren Wahrnehmung. Dieser
Punkt markiert den Beginn von Einsam−
keit und Isolation, der unterschiedlich
lange bis lebenslänglich zu einer schreck−
lichen Inkludenz führen kann.
Jugendliche begreifen im Gegensatz zum
kleinen Kind sehr deutlich und schnell,
dass sie etwas in sich tragen, mit dem die
Umwelt Schwierigkeiten haben wird. In
dieser Entwicklungsphase führt eine Flut
von Ängsten und Projektionen zur inne−
ren Ablehnung des eigenen Seins, die
sich mit der Zeit mehr und mehr verfes−
tigt. Die eigene Körperlichkeit wird zum
Problem, dann irgendwann bekämpft ±
das Kernsymptom des transsexuellen
Schicksals hat wahrscheinlich in diesen
zermürbenden Konflikten seine Wurzeln.
Mit der Zeit spitzt sich ein massiver in−
nerseelischer Konflikt zu, in dem abge−
lehnt und bekämpft wird, was in sich sel−
ber erlebt wird. Die Kampfesbühne, die
sich nach gesundem Menschenverstand
eigentlich außen abspielen sollte, ist zu
einer innerpsychischen geworden. Diesen
Kampf muss ein transsexueller Mensch ±
unabhängig davon, ob er den Weg der Ge−
schlechtsangleichung geht oder nicht ±
irgendwann aufnehmen, daran wachsen,
um zu einer eigenen Identität zu finden.
Denn erst über diese Wendung des Kon−
fliktes an die Adresse der Umwelt kann
der transsexuelle Mensch aus seiner
Selbstbekämpfung herauskommen.
Der Jugendliche begrüßt also im Unter−
schied zum transsexuellen Kind seine Ge−
schlechtsvarianz in sich nicht, empfindet
diese als fremd und nicht zu sich gehörig.
So ist die Geburt der Transsexualität beim
Jugendlichen Ich−dyston gefärbt, wird
nicht spielerisch angenommen und ist
mit sehr heftigen Konflikten und inneren
Dramen verbunden.
Ängste und Unsicherheiten führen zu
Selbstausgrenzungen und zu narzissti−
schen Rettungsmechanismen, um das in−
nere Dilemma zu kompensieren. Transse−
xualität hat Auswirkungen auf alles, was
für andere Jugendliche ¹normal“ ist. So−
zialer Umgang, Sport, Schule bis hin zur
Sexualität, in allem nimmt sich der trans−
sexuelle Jugendliche als außenstehend
wahr und ruft sich selber auf, sich so zu
verstellen, das ihm niemand seine ach so
peinliche Seite anmerken wird. Es wird
das Gefühl genährt, dass in dieser Welt ir−
gendwie nichts zusammenpasst. Folge
sind nicht selten ± um sich in diese Ge−
sellschaft mit Gewalt hineinzukomponie−
ren ± contratranssexuelle Verhaltenswei−
sen, die zum Verlust der Authentizität
führen. Das Bewusstsein über die eigene
Transsexualität bleibt von contratransse−
xuellen Versuchen jedoch in jeder Hin−
sicht unbeeindruckt und lebendig.
Verheerend sind also nicht der transsexu−
elle Zustand für sich, sondern die viel−
schichtigen Folgen, die sich in inneren
und einsamen Konflikten im Abgleich
mit der Umwelt niederschlagen. Sie kön−
nen zu Deformierungen der Persönlich−
keit und Ich−Instabilität führen, die
manchmal nicht mehr korrigierbar sind.
Es entsteht spätestens zu diesem Zeit−
punkt ein Nährboden für die Entwicklung
zahlreicher psychogener Leidensformen.
Meistens münden die transsexuellen Kin−
der, die zunächst unbeschwert mit ihrer
Transsexualität umgehen konnten, eben−
falls in eine solche konflikthafte Phase.
Der Beginn der Pubertät leitet eine kri−
senhafte Zeit ein, weil nun die kognitiven
Leistungen gereift sind, um das transse−
xuelle Empfinden aus kritischer Sicht zu
bewerten und zu entwerten. Mit der Rei−
fung des Logos kann also zum Problem
werden, was für das unvoreingenomme−
ne Kind noch selbstverständlich war.
Erwachsenenalter
Es ist eher selten, aber es gibt transsexu−
elle Menschen, die erst im Erwachsenen−
alter entdecken, dass sie transsexuell
empfinden. Eine Transfrau bemerkte erst
mit Ende 30 diese Entwicklung, ist dann
aber sehr schnell und zielsicher den Weg
bis zur Operation gegangen.
Sexuelle Identitäten
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Phasenspezifische Konfliktthemen eines transsexuellen Entwicklungsweges
Solche Menschen werfen natürlich sehr
viele Fragen in die Forschungsdiskussion.
Ist geschlechtliches Empfinden tatsäch−
lich ein dauerhaftes Empfinden? Oder
zeigen uns diese Menschen, dass das ge−
schlechtliche Empfinden im Laufe des Le−
bens wechseln kann? Wovon mag das ab−
hängen? Welche Voraussetzungen, even−
tuell welche Ereignisse können eine sol−
che Entwicklung bahnen? Und wenn es
so ist, brauchen wir dann eine Pathologie,
um es zu fassen?
Zweite Phase: Innere Aus−
einandersetzung mit der
Möglichkeit des Öffnens
nach außen
Fokus: Indem ich schweige, dass ich
ein Mädchen bin, obwohl ich ein Junge
bin, teile ich mich dem Leben nicht
mit.
Konfliktthema: Wenn ich sagen würde,
wie ich bin, gehe ich unter. Um nicht
unterzugehen, muss ich anders wer−
den als ich bin.
Lösungsversuch: Ich tue alles, um mich
zu schützen. Ich darf nicht wie ein
Mädchen wirken, weil ich ein Junge
bin.
Auswirkungen: Rückzug der Persön−
lichkeit aus Sozietät, Grundlagen für
Depression / Angst / Sucht / Suizidalität
etc.
Ich kann nicht erklären, wovon es ab−
hängt, dass ein transsexueller Mensch in
diese zweite Phase findet. Ich denke, es
hat mit individueller Reife und mit per−
sönlichen Erfahrungen zu tun, die eine
konstruktive Auseinandersetzung mit
dem Thema ermöglichen. Der subjektive
Leidensdruck spielt eine bedeutende Rol−
le, wie ein Motor, der in die Suche nach ir−
gendwelchen Lösungen treibt.
Dennoch müssen wir davon ausgehen,
dass es Betroffene gibt, die über Jahr−
zehnte oder sogar nie die erste Phase
überwinden werden. Die Transsexualität
bleibt so für diese Menschen immer ein
tiefes Geheimnis. Welche Konsequenzen
ein Entwicklungsstillstand in bestimm−
ten Phasen mit sich bringt, darüber kann
nur spekuliert werden, Berichte darüber
kann es logischerweise nicht geben. Es
kommt vor, dass wir im klinischen Alltag
bei Menschen in extremen Krisensitua−
tion (Suizidalität, schwere Depressionen,
präpsychotische Zustände) dahinter ein
transsexuelles Dilemma diagnostizieren.
Sexuelle Identitäten
So sollte bei jeder unklaren psychogenen
Symptombildung
differenzialdiagnos−
tisch daran gedacht werden, dass eine
transsexuelle Dynamik dahinter im Ver−
borgenen die Ursache sein kann.
In dieser zweiten Phase taucht unter dem
anhaltenden Leidensdruck, den Sympto−
men der Ablehnung des eigenen Körpers,
dem ständigen Ankämpfen gegen die
eigenen Gefühle eine neue innere
schwierige Frage auf. Sie hat ein gesundes
Ziel, nämlich die Suche nach Lösungs−
möglichkeiten, allerdings weiterhin in
Einsamkeit und Inkludenz. Der quälende
Wunsch, sich mitzuteilen, wird zum zen−
tralen und wichtigsten Thema, verzehrt
endlos Energie, findet aber lange keine
Gelegenheit, da der transsexuelle Mensch
sich Ansprechpartner sozusagen selber
verbietet.
Diese Phase ist hochgradig anstrengend
und kräftezehrend, weil nichts im inne−
ren Erleben so passt, wie es in einer ¹Nor−
malität“ zu sein scheint. Transmenschen
wirken unsicher in sich, wissen nicht, wo
ihr Platz ist, eine Unbeschwertheit des
Seelischen geht verloren.
Immer kommt es zu Selbstrettungsme−
chanismen, die nach konflikttheoreti−
schem Verständnis zu neurotischen
Symptomen führen können. Symptome,
in denen Transsexuelle sich zwanghaft
verstellen und verformen, um ins Gefüge
einer vorgesetzten Zweigeschlechtlich−
keit zu passen. Das wird zu einer Tortur.
Bei einer unbekannten Anzahl transsexu−
eller Menschen dauert dieses Leiden le−
benslänglich.
Folgende Verläufe sind möglich:
" Es kommt zu Anpassungsmechanis−
men mit dem Preis, den Ausdruck des
tief Individuellen aufzugeben und sich
gesellschaftsgerecht zu formen. Ein
qualvolles Abwägen und Pendeln zwi−
schen Erhalten der Authentizität und
So−Sein−Müssen, wie es die anderen
fordern.
" Je nach Individuum wächst darunter
das innerpsychische Ungleichgewicht,
die Konflikte werden immer unüber−
schaubarer.
" Meist werden im Laufe der Jahre im−
mer mehr und größere Kompromisse
notwendig, die Betroffenen geben sich
und ihr Begehren resigniert auf, bis die
hochgradige Unsicherheit der Identi−
tät tatsächlich ist. An diesem Punkt
kommen die ersten in Kontakt mit
Ärzten und Ärztinnen. Diese werden
mit einem diffusen Bild konfrontiert
und sprechen von ¹Störungen der
Identität“.
So ist die ursprünglich transsexuelle
Variante zu einer Identität geworden,
die nach außen hin als Identitätsstö−
rung mit unterschiedlichsten Symp−
tomen imponiert.
Von nun an gibt es verschiedene Entwick−
lungswege:
" Das transsexuelle Erleben bleibt wei−
ter im Heimlichen mit Folgen für die
gesamte Lebensführung. Die Gefühle
werden mit Macht verdeckt gehalten
in einer anstrengenden und sich dau−
erhaft selbst verleugnenden, vom Wil−
len getragenen Verstellung. In einer
unbekannten Anzahl Betroffener
bleibt dieser Zustand der Transsexua−
lität lebenslänglich ein tiefes Geheim−
nis mit möglicherweise einem un−
glücklichen oder sogar leidvollen Le−
ben. Im Laufe entwickeln sich nicht
selten eine Depression, eine Sucht,
eine Angsterkrankung, andere Formen
der Ich−Instabilität, etc. Dadurch wird
die psychische Gesamtsituation im−
mer dramatischer und unüberschau−
barer, möglicherweise gerät das
Transsexuelle dahinter sogar in Ver−
drängung. Was resultiert sind schwer
psychisch angeschlagene Menschen,
denen nur noch schwer therapeutisch
zu helfen ist.
" Das innere Dilemma kann in einer
Verzweiflungstat, einem Suizid oder
Suizidversuch oder auch furchtbaren
Selbstverletzungen enden. Genaue
Zahlen darüber gibt es nicht.
" Der dritte Weg und der gesündeste
Weg ist es, sich dem transsexuellen
Empfinden und dem Drängen nach
individuellem Ausdruck zu stellen ±
Ergebnis eines meist langen und an−
strengenden innerpsychischen Aus−
einandersetzungsprozesses, den der
transsexuelle Mensch bis zu diesem
Punkt immer in sich selber geleistet
hat. Es ist die gesündeste Variante,
das Suchen nach Lösungswegen zu
beginnen und sich dafür einzusetzen.
An diesem Punkt ist auf jeden Fall
eine innere Vorstellung darüber ge−
wachsen, wie der Betroffene sich im
Wunschgeschlecht vorstellt.
" Andere, individuell−alternative Wege
sind ebenfalls möglich.
"
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Aus der Praxis
Dritte Phase: Offenbarung des
transsexuellen Erlebens nach
außen
Fokus: Indem ich allen zeige, dass ich
ein Mädchen bin, obwohl ich ein Junge
bin, möchte ich endlich überall dazu−
gehören.
Konfliktthema: Indem ich so bin, wie
ich bin, verwirre ich die ganze Welt.
So bin ich eine Rebellin.
Lösungsversuch: Wenn ich den Blick
für die Reaktionen anderer verliere,
bleibt mir erspart, zu sehen, wie ich
verwirre.
Auswirkungen: Ausuferung von inter−
personellen Konflikten und Missver−
ständnissen, Trennungen, Verluste,
Isolation.
Ich möchte jetzt die eben erarbeitete drit−
te Möglichkeit betrachten, also einen
transsexuellen Menschen, der sich ent−
schieden hat, sein inneres Drängen ernst
zu nehmen und nach Lösungen zu su−
chen. An diesem Punkt, der schnell oder
erst Jahrzehnte später nach Phase 2 ein−
treten kann, beginnt die dritte Phase.
Der transsexuelle Mensch geht nun auf
eine Welt zu, in der er in der Regel nicht
willkommen ist. Sein Auftreten ist ein
Problemfall, wird als nicht natürlich
empfunden, es löst bei anderen Ängste
und Verwirrungen aus. Es sind ständig Er−
klärungen notwendig, um die Existenz zu
rechtfertigen. Dem transsexuellen Leben
fehlt wahrscheinlich lebenslänglich eine
Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Also
eine endlose Kette von zwischenmensch−
lichen Problemen, Situationen des Unver−
ständnisses bis hin zu Diskriminierungen.
Von dem transsexuellen Menschen wird
ständig gefordert, sich für das, was er
empfindet, zu begründen. Man wird so−
zusagen dauernd ¹verhört“, mit Fragen
überschüttet, erntet Reaktionen der Ver−
blüffung, Erschütterung etc.
Aus dem zunächst innerpsychischen
Stress der vorigen Phasen wird nun ein
äußerer Stress mit der Umwelt, ein Kon−
flikt auf allen Bühnen der zwischen−
menschlichen Beziehung. Der transsexu−
elle Weg fordert nicht selten einschnei−
dende Veränderungen in Familie, Freun−
deskreis, Beruf und sozialer Stellung.
Das, was im normalen Leben Stabilität
und Halt bedeutet, muss ein Mensch im
transsexuellen Entfaltungsprozess fast
völlig vermissen.
Dieser Punkt markiert erneut die Gefahr
von gefährlichen Krisen. Sie können sich
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bei denen entwickeln, die der Massivität
dieses Stressors nicht gewachsen sind
mit Symptombildern wie Depressionen,
suizidalen Krisen etc.
Es bleiben also nur die auf ihrem Weg sta−
bil, die über eine gute Ich−Stärke und
Konfliktlösungsmechanismen verfügen.
Dies ist eine Art Auslesesystem, in dem
nur die stärksten durchkommen.
Vierte Phase: Juristischer,
medizinischer und psycho−
logischer Prozess
Fokus: Indem ich erkläre, wer und was
ich bin, bekomme ich, was ich brau−
che.
Konfliktthema: Ich muss schnell zei−
gen, wie ich bin, damit ich sofort be−
komme, was mir hilft. Dann wird alles
gut.
Lösungsversuch: Ich stürze mich blind−
lings in die Hände meiner Retter.
Auswirkungen: Euphorie, Planlosigkeit
und Hetze, leichte Kränkbarkeit, Ge−
fahr des kopflosen Handelns, Überfor−
derungssituationen.
Nehmen wir also den transsexuellen
¹Kraftbolzen“ an, der sich die nächste
Phase erklommen hat. Er tritt ein in Kon−
takt mit Ärzten, Psychologen und unse−
rem Rechtssystem, die in dieser Zeit in
seinen Beziehungen eine große Rolle
spielen.
Erneut gilt es, sich vor Medizin, Psycholo−
gie und dem Rechtssystem zu erklären
und zu rechtfertigen. Eine Art nicht enden
wollende Prüfungssituation, die auch
heute nicht selten auf die Spitze getrie−
ben wird. Verständliche Unsicherheiten
im eigenen Empfinden werden hier durch
unnötiges Explorieren eher noch ge−
schürt. Parallel leben Transsexuelle in
dieser Zeit unter der ständigen Angst,
von den Instanzen, die ihnen helfen sol−
len, ¹abgelehnt zu werden“. Das wird als
Bedrohung der Existenz erlebt.
Es ist leider immer noch so, das viele Ärz−
tinnen und Ärzte und Juristen und Juris−
tinnen oft eine misstrauische bis ängstli−
che Haltung gegenüber Transsexuellen
haben. Sie verstecken ihre Unsicherheiten
hinter ihrem Auftrag, prüfen oder begut−
achten zu müssen.
Testungen, Untersuchungen, Anhörun−
gen, Gutachterverfahren etc. vermitteln
fast das Gefühl, eine Art Verbrecher zu
sein. Es kommt zu einem unverhältnis−
mäßigen Aufwand dem so harmlosen
transsexuellen Begehren gegenüber, der
z. B. im Falle der Vornamensänderung zu
einem gerichtlichen Verfahren mit Bei−
bringung zweier, unabhängiger Gutach−
ten und dem Einschalten eines Vertreters
des öffentlichen Interesses geht.
Nicht selten resultieren aus falsch geführ−
ten Behandlungen mit hoch gesetzten
Ansprüchen negative Entwicklungen.
Das schürt bei den Betroffenen das Ge−
fühl der Aussichtslosigkeit und Hoff−
nungslosigkeit. Die Reaktionen sind Pa−
nik, Agieren, Hetze nach unseriösen Hilfs−
angeboten in zum Teil chaotischen Hand−
lungsabläufen, die auch zu gefährlichen
vorschnellen Aktionen führen können.
Fünfte Phase: Körperliche
Angleichung ± Hormone und
Operation
Fokus: Wenn ich werde, wie ich fühle,
wird alles gut, dann bin ich der glück−
lichste Mensch der Welt.
Konfliktthema: Indem ich Schmerzen
und Eingriffe in meinen Körper aus−
halte, komme ich ans Ziel.
Lösungsversuch: Indem ich mir sicher
bin, dass es hilft, ist es eine Notwen−
digkeit.
Auswirkungen: Körperliche Ausnah−
mezustände, Schmerz− und Krank−
heitsphasen, gesundheitliche Irritatio−
nen durch medizinische Eingriffe.
Wer es bisher geschafft hat, dem stehen
jetzt die medizinischen Behandlungen of−
fen.
War bis zum jetzigen Zeitpunkt die Psy−
che gefordert, so muss jetzt der Körper
Strecken mit Strapazen überstehen.
Seelisch kommt es an diesem Punkt zu−
nächst ± nach der wahnsinnig hart er−
kämpften Anerkennung, dass die Trans−
menschen so fühlen dürfen wie sie fühlen
± und mit Beginn der Hormontherapie in
der Regel erstmalig zu einer Beruhigung.
Das erste Mal im Leben scheint eine Lö−
sung verwirklichbar und greifbar. Die
Strecke bis hierher war aber so schlimm,
dass es lange schwerfällt, zu verinnerli−
chen, wie das Leben ohne Rechtfertigung
und Kämpfen sein kann. Was war das
noch, innere Harmonie? Die Transsexuel−
len haben unterschiedlich lange mit der
Verarbeitung dieser vorangegangenen Er−
lebnisse zu tun.
Die Hormonbehandlung wird von fast al−
len Transsexuellen als angenehm und
hilfreich empfunden. Meist erleben sie
Sexuelle Identitäten
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Phasenspezifische Konfliktthemen eines transsexuellen Entwicklungsweges
schon nach kurzer Zeit eine emotionale
Beruhigung. Bei sicherer Führung ist das
Risiko einer Hormonbehandlung gering.
Die Operationen stellen schwere chirur−
gische Eingriffe dar, die sehr entkräften
und erneut zu einer langen Krankheits−
phase führen können ± wiederum eine
Stressstrecke, die unterschiedlich schwer
verlaufen kann.
Die Komplikationsrate ist aus meiner Er−
fahrung nicht zu unterschätzen, es gibt
vereinzelt sehr schwere Komplikationen.
Die somatische Nachsorge ist in Deutsch−
land für Transmenschen unzureichend.
Rehabilitation ist in vielen Fällen gerecht−
fertigt, findet fast nie statt.
Die Ärzte der Nachsorge sind für diese
Aufgabe kaum ausgebildet. Postoperative
Nachsorgeangebote wie Krankengymnas−
tik, Physiotherapie, Schmerztherapie etc.
werden transsexuellen Menschen syste−
matisch nicht angeboten. Das halte ich
aus eigener Erfahrung für katastrophal.
Sechste Phase: Heilungsphase,
Realitätsklärung, Integration
und Stabilisierung
Fokus: Ich möchte so gerne vergessen,
dass mein Leben transsexuell ist.
Konfliktthema: Indem ich da bin, wo
ich hin wollte, befinde ich mich in ei−
ner neuen Fremdheit.
Lösungsversuch: In dieser Fremde kann
und will ich in mir finden, was ich im−
mer schon gesucht habe.
Auswirkungen: Verarbeitung des lan−
gen transsexuellen Weges mit neuen
Entwicklungsmöglichkeiten,
Ausei−
nandersetzung mit dem Neuen, Inte−
gration in eine stabile gesellschaftli−
che Position.
Während des Abheilens und dem Wieder−
erlangen der körperlichen Kräfte sieht die
weitere Entwicklung wie folgt aus:
Unter dem Heilungsprozess beginnen
eine Auseinandersetzung mit und ein
Entdecken der neuen Körperlichkeit. In
dieser Zeit berichten die meisten Transse−
xuellen davon, entlastet zu sein, sich
glücklich zu fühlen.
Nicht selten läuft nach wenigen Wochen
postoperativ eine Krise ab mit Stim−
mungsschwankungen etc. Es ist jetzt
Raum und Ruhe vorhanden, um aus der
Distanz den bis dahin erlebten Weg zu
bewerten und für sich zu ordnen, von
einer anderen körperlichen Position. Der
eigene Lebensweg wird als etwas wahr−
Sexuelle Identitäten
genommen, was unfassbar erscheint. Vie−
le fragen sich, wie sie das alles überleben
konnten und dann kommt die bohrende
Frage: ¹Warum ausgerechnet ich?“
Nach der ersten Erleichterung kommen
alle an den Punkt, an dem sie die bisheri−
gen in der Fantasie gelebten Vorstellun−
gen der Wunschkörperlichkeit mit dem
nun Erreichten vergleichen. Das ist in der
Regel ein längerer Prozess, während dem
es zu Glücksmomenten, aber auch kriti−
schen Phasen kommen kann. Es ist eine
unterschiedlich lange Zeit notwendig,
um sich mit dem gefühlten Geschlecht
nun auch auf der körperlichen Ebene ver−
traut zu machen und sich damit in eine
beruhigte Lebensweise zu integrieren.
Jüngere haben es dabei vielleicht leichter.
In viel langsameren Schritten als verbrei−
tet kommt es zu einer innerseelischen
Harmonisierung: Erlebnisfelder, die bis−
lang fast verschlossen waren, wie Anneh−
men der eigenen Körperlichkeit, Sexuali−
tät, Nacktheit im zwischenmenschlichen
Kontakt, können nun ohne transsexuellen
Druck begegnet und erschlossen werden.
Es ist aber zu bedenken, dass dies in einer
viel zu späten Lebensphase vonstatten
geht, denn normalerweise ist dieser Er−
fahrungsprozess schon in Pubertät und
jungem Erwachsenenalter abgeschlossen
und bewältigt. In dieser Zeit tauchen im−
mer wieder neue, bisher völlig unbekann−
te Herausforderungen auf.
Der alltägliche Umgang in dieser Welt
formt sich also schleichend, in den meis−
ten Fällen wird erst jetzt realisiert, dass
die Außenseiterrolle zeitlebens weiterbe−
stehen wird. Diese Erkenntnis muss ge−
leistet werden, um eine selbstsichere Po−
sition in einer ¹transsexuellen Identität“
zu finden. Ich halte therapeutische Hilfe
in dieser Phase, in der sich ¹alles langsam
setzen muss“, für sehr wichtig.
Die Auseinandersetzung mit dem neuen
Geschlecht hat Gefühle der Erleichterung
etc. zur Folge. Der depressive Druck lässt
nach. Die emotionale Atemlosigkeit
kommt zu einer Beruhigung, viele Kon−
flikte schwächen sich ab. Vergessen wer−
den die durchgemachten Erfahrungen
nie.
Entlastend ist, dass die quälenden, fast
egozentrischen Gedankenkreise um die
Probleme des transsexuellen Zustandes
langsam abnehmen. So können sich die
Wahrnehmung und das Interesse wieder
für neue Themen öffnen. Man hat wieder
Zeit für anderes. Das ist die letzte heftige
Herausforderung, die die Seele leisten
muss. Der bisherige Lebensweg war eine
Art Entwicklungsstillstand der Persön−
lichkeit, der dadurch gezeichnet war,
dass sich alles um das Thema der ¹Behin−
derungen“, die durch den transsexuellen
Zustand und die Fragen der Körperanglei−
chung bedingt waren, drehte. Darauf
wurde das ganze Tun und Handeln kon−
zentriert. Nun hat die Psyche wieder Platz
für die vielen Dinge des Lebens, die es
noch neben der Transsexualität gibt. Es
ist nicht so einfach, diesen Übergang zu
meistern.
Erst jetzt ist die Entwicklung an den
Punkt einer sich gesund fühlenden Psy−
che gekommen. Der Transmensch hat
nun die Voraussetzungen, um sich wie je−
der Mensch dem Leben mit seiner Vielfalt
zu stellen, daraus Erfahrungen zu sam−
meln und daran zu reifen, alt zu werden.
Die Seele wird in vielen Fällen irgend−
wann erkennen, dass die Heilung gar
nicht in dem Operationsergebnis und
dem neuem Körper liegt, sondern in den
Möglichkeiten, die durch die OP angesto−
ßen wurden.
Gelingt dieser letzte Schritt nicht, zeigt
sich die transsexuelle Unruhe oft auf neu−
en Problemfeldern und anderen Bühnen.
Nachspann
In einer Fachzeitschrift für Psychothera−
pie seien wenige Zeilen für persönliche
Gefühle erlaubt. Die Arbeit an diesem Ar−
tikel hat mich sehr bewegt. Manchmal
streiften meine Gedanken ¹unkontrollier−
bar“ über die Ereignisse meiner Geschich−
te, sortierten und verstanden neu. Die
Formulierung des Textes war eine wahre
Herausforderung, eine Anstrengung, mei−
ne Kenntnisse über ¹Verwirrungen der
transsexuellen Lebendigkeit für Sie zu
entwirren“, mit der Hoffnung, ein Verste−
hen zu vertiefen. Oh ja, ich hoffe sehr,
dass mir das gelungen ist.
Ich möchte vielen Kollegen und Kollegin−
nen danken, die mir auf meinem Weg ge−
holfen haben, eine gesunde Sicht der Din−
ge zu leisten. Besonderer Dank geht an
die Menschen, die mir als Ärzte und Psy−
chotherapeuten auf diesem Weg geholfen
haben1.
1
Dr. med. Karin Renter (Psychotherapie ± Ham−
burg), Dr. med. Wilhelm Preuss (Sexualmedizin
± Hamburg), Prof. Friedemann Pfäfflin (Sexual−
medizin ± Ulm), Frau Cosima Vieth (Gynäkolo−
gie ± Hamburg), PD Dr. med. Susanne Krege
(Urologie ± Krefeld).
PID
1/2009
l
10. Jahrgang
Aus der Praxis
Annette Güldenring
geb. 1956, Fachärztin
für Psychiatrie und Psy−
chotherapie, Studium
Biologie, Psychologie,
Humanbiologie und
Medizin an der Philipps−
Universität Marburg,
1982±1983 Herausge−
berin der EZKU ± Zeit−
schrift von Transsexuel−
len für alle Terraner, seit
2000 Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Psy−
chotherapie und Psychosomatik der Westküs−
tenkliniken Brunsbüttel und Heide gGmbH,
dort Leiterin der Institutsambulanz. Seit 2006
Vorträge und Workshops zum Thema Trans−
sexualismus, zuletzt 2008 im Rahmen des
DGPPN−Kongresses.
Interessenschwerpunkte: Sexualmedizin, Ge−
schlechtsidentitätsfragen, Wahrnehmungs−
schicksale im psychotherapeutischen Prozess,
Antistigmaprojekte.
PID
1/2009
l
10. Jahrgang
Literatur
1 Body NO (Pseudonym von Karl Baer). Aus
eines Mannes Mädchenjahren. Berlin: Rie−
cke, 1907
2 Clement U, Senf W. Transsexualität. Stutt−
gart: Schattauer, 1996
3 Devereux G. Angst und Methode in den Ver−
haltenswissenschaften. Frankfurt: Suhr−
kamp, 1984
4 EZKU ± Zeitschrift von Transsexuellen für
alle Terraner. 1981±1984; I±XII
5 Freud S. Gesamtedition Fischer (Jenseits des
Lustprinzips, GW 13, 1920). 1960
6 Herold R. Phantasie eines Geschlechtswech−
sels. Zeitschrift für Sexualforschung 2004;
4: 323±358
7 Hirschauer S. Die soziale Konstruktion der
Transsexualität. Frankfurt: Suhrkamp Tb.
Wissenschaft, 1993
8 Köbele A. Life ain’t easy for a boy named Sue.
Diplomarbeit im Fach Reflexive Sozialpsy−
chologie an der LMU München, 2007
9 Pfäfflin F. Anmerkungen zum Begriff der Ge−
schlechtsidentität. Psychodynamische Psy−
chotherapie 2003; 3: 141±153
10 Pfäfflin F, Junge A. Geschlechtsumwandlung.
Stuttgart: Schattauer, 1992
11 Pohlen M, Bautz−Holzherr M. Eine andere
Psychodynamik. Bern: Hans Huber, 2001
12 Rauchfleisch U. Transsexualität ± Transiden−
tität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht,
2006
13 Sigusch V, Meyenburg B, Reiche R. Transse−
xualität. In: Sigusch V. Sexualität und Medi−
zin. Hamburg: Kiepenheuer und Witsch,
1979
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