Phasenspezifische Konfliktthemen - Buch
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Phasenspezifische Konfliktthemen - Buch
Aus der Praxis Phasenspezifische Konfliktthemen eines transsexuellen Entwicklungsweges Annette Güldenring Zusammenfassung Sechs aufeinanderfolgende Konfliktphasen eines trans− sexuellen Entwicklungsweges werden voneinander abgegrenzt und in einer Psychodynamik beschrieben. Dieses Wissen gibt eine Grundlage, um transse− xuelle Lebenswege besser zu verstehen und danach eine phasenbegleitende Psychotherapie zu führen mit dem Ziel, dem Patienten zu einer souveränen und authentischen Lebensform in seinem transsexuellen Sein zu verhelfen, völlig unabhängig davon, ob körperlich−geschlechtsangleichende Therapien ge− wünscht werden oder nicht. Schlüsselwörter " Transidentität l " Geschlechtsidentitätsstörungen l " transsexuelle Entwicklungen l " transsexuelle Konflikte l " phasenbegleitende Psychotherapie l " transsexuelle Authentizität l » Dem transsexuellen Mythos wohnt etwas Zauberhaftes, etwas Phantastisches inne, eine geheimnisvolle Stimmung, eine Sehnsucht nach etwas in ihm Verborgenen, das die Menschen schon immer wie magisch angezogen und fasziniert oder zutiefst geängstigt hat. « Vorbemerkung Korrespondenzadresse " Annette Güldenring l Westküstenkliniken Brunsbüttel und Heide gGmbH, Klinik für Psychiatrie / Psychotherapie und Psychosomatik Esmarchstraße 50 25746 Heide agueldenring@wkk−hei.de PID 1/2009 l 10. Jahrgang In diesem Beitrag möchte ich zur Psycho− therapie in der Behandlung transsexuel− ler Menschen einige Anregungen geben. Um ¹Verwirrungen“ zu vermeiden, äuße− re ich zunächst, dass ich als biologischer Junge geboren wurde und im mittleren Erwachsenenalter nach langer Auseinan− dersetzung mit der Vielfalt des Ge− schlechtlichen mein Geschlecht gewech− selt habe. Seit Jahren lebe ich nun als Frau und fühle mich sehr wohl. Mein Phasenmodell und die daraus fol− genden Erkenntnisse sind nicht durch wissenschaftliche Studien untermauert, sondern das Ergebnis meiner persönli− chen Lebensart mit der transsexuellen Thematik über fast fünf Jahrzehnte und meiner therapeutischen Arbeit mit Trans− menschen. Des Weiteren war ich 30 Jahre genderpolitisch aktiv, ich habe sehr viele transsexuelle Bekannte und mir naheste− hende Freunde, mit denen ich intensive und vertraute Gesprächsmomente erlebt habe. All diese Erfahrungen haben zu dem beigetragen, was ich heute schreibe. Mein Phasenmodell habe ich in Work− shops vor Transmännern und Transfrauen vorgestellt und diskutiert. In meinem Text bündeln sich also Meinungen und Erfahrungen einer größeren Anzahl transsexueller Menschen. Viele Kollegen und Kolleginnen wagen sich an eine psychotherapeutische Arbeit mit transsexuellen Menschen nicht he− ran. Eine Unsicherheit, eine Angst vor dem Transsexuellen wird in unserem Fach offen ausgesprochen. Das psycho− medizinische Wissen zur Phänomenolo− gie des Transsexualismus ist spärlich, eher widersprüchlich und verwirrend als für den therapeutischen Alltag hilfreich. Forschungsarbeit wird von nur wenigen Arbeitsgruppen geleistet, fundierte Wei− terbildung zur Therapie des Transsexua− lismus findet in den Curricula der thera− peutischen Ausbildungen ± wenn über− haupt ± nur randständig statt. Nur weni− ge Kollegen und Kolleginnen verfügen über systematische Erfahrung in der Ar− beit mit transsexuellen Patienten, die sie im Austausch weitergeben könnten. Die literarischen Beiträge sind entweder hoch spezialisiert verfasst oder zeigen eine Tendenz zur überintellektualisierten Darstellung ohne realitätsbezogene Rele− vanz, täuschen somit über die Orientie− rungslosigkeit in der Behandlung transse− xueller Menschen hinweg, anstatt diese anzusprechen und therapeutisch zu nut− zen. Meine Schrift hofft, das Thema zu entängstigen und Kolleginnen und Kolle− gen neugierig zu machen, therapeutisch mit Transpatienten zu arbeiten. Sexuelle Identitäten 25 26 Phasenspezifische Konfliktthemen eines transsexuellen Entwicklungsweges Rätsel Gegenübertragung Es ist nicht die Absicht dieses Artikels, vertiefend auf die Gegenübertragungs− probleme in der psychotherapeutischen Behandlung mit Transmenschen einzuge− hen. Zahlreiche Dokumente in der psy− chomedizinischen Literatur bemühen sich, das Problem der Gegenübertragung darzustellen und zu diskutieren, darauf möchte ich verweisen. Nur zu einem Aspekt, zu dem Phänomen der ¹Verwir− rung“, möchte ich kurz Stellung nehmen. Dazu ein Zitat: Reinhard Herold (2004) beschreibt in sei− nem Beitrag eine intensive Auseinander− setzung mit seiner Gegenübertragung in einem Behandlungsfall eines transsexuel− len Patienten: » ¹Jetzt begann ich eine sich steigernde Verwirrung [Hervorhebungen durch die Autorin] und Irritation zu spüren. Alles wurde mir wieder unsicher, zerrann mir zwischen den Fingern. [¼] Am Abend be− suchte ich ein kasuistisches Seminar und traf auf der Treppe mit dessen Leiter, einem erfahrenen Psychoanalytiker, zusammen. Spontan fragte ich ihn, ob er wüsste, wel− che Institution Gutachten für eine ge− schlechtsumwandelnde Operation von transsexuellen Patienten stellen würde. ,Auf so was lässt man sich als Analytiker erst gar nicht ein‘, beschied er mich lä− chelnd und ging weiter. [¼] Jetzt wollte ich verstehen, was da mit mir und auch mit anderen passierte, wenn es um Trans− sexualität ging. [¼] Mein Gefühl der Be− schämung, das in ein Nicht−mehr−denken− Können, also einen akuten Verwirrtheits− zustand mündete, war Ausdruck des plötz− lichen Verlustes dieser Sicherheitsposition, die identitätsstiftend wirkt.“ (Herold 2004, S. 329 f.) « Durch die Literatur zieht sich wie ein ro− ter Faden, dass allein die Nähe des trans− sexuellen Themas bei ¹normidentischen“ Menschen das Gefühl der ¹Verwirrung und Panik“ auslösen muss. Nach dem Stu− dium zahlreicher Beiträge schleicht sich das Gefühl ein, das sich in dem Bemühen der jeweiligen Autoren, theoretische Er− klärungsmodelle zum Transsexualismus zu formulieren, der verschlüsselte Ver− such ausdrückt, sich aus ihrer eigenen Verwirrung zu retten. Es sei erlaubt zu vermuten, dass an diesem Symptom der Verwirrung viele therapeutische Bemü− hungen zu scheitern scheinen. Die Wucht der Verwirrung muss für nichttranssexu− elle Menschen enorm sein und sie in die Flucht schlagen. Sexuelle Identitäten Vorsichtig kann also gedacht werden, dass Verwirrung durch den transsexuel− len Menschen im zwischenmenschlichen Raum ein zentrales Symptom ist, an dem die Beziehung gelingen kann oder in vie− len Fällen leider scheitern muss. In dieser Dynamik liegt gleichzeitig das Dilemma für den Transmenschen, weil er damit re− gelhaft die Möglichkeiten einer Bezie− hungsaufnahme vernichtet. Viele Trans− menschen sind symptomatisch in ihrem Modus, den anderen zu verwirren, gefan− gen, gelangen von einem Scheitern der Beziehung in die nächste, wie in einer Spirale. Die Handhabe mit der Verwirrung, die in manchen Kontakten mit Transmenschen extrem sein kann, ist also eine Herausfor− derung an die Therapeutin oder den The− rapeuten. Von der ¹Gefahr“ der Verwir− rung zu wissen, ist das Erste, sie zu erken− nen das Zweite. In ihrer Würdigung und Milderung liegt eine therapeutische Chance, um dem Patienten den Zugang in die Beziehung überhaupt möglich zu machen. Zur Begriffsklärung Im Folgenden beschreibt der Fokus das zentrale, phasenspezifische, innerpsy− chische Thema des transsexuellen Seins. Dieses Thema führt zu einem typischen Konfliktthema in der jeweiligen Entwick− lungsepisode. Aus dieser Not gestalten sich individuelle Lösungsversuche, die sich in der jeweiligen Symptomvielfalt ausdrücken. In den Auswirkungen habe ich grob für die jeweiligen Phasen darge− stellt, welche psychischen Problemfelder daraus reaktiv entstehen können. Mit diesem Modell wird von mir hier erstmalig eine Dynamik beschrieben, in der die psychische transsexuelle Not im Raum des zwischenmenschlichen Bezie− hungsgefüges besser verstanden werden kann als dies in den üblich deskriptiven Arbeiten der Fall ist. In diesem Modell liegt das Hauptaugen− merk auf der Kommunikationsebene (körperlich, verbal, atmosphärisch, etc.) mit ihrer Umwelt und den Auswirkungen auf die transsexuelle Seele, letztlich der Raum, in dem sich die Psychotherapie po− sitioniert und ihre therapeutischen Mög− lichkeiten und Grenzen hat. Ich hoffe, so− mit eine differenziertere Verständnis− grundlage für die psychotherapeutische Arbeit mit transsexuellen Menschen zu bieten, vielleicht eine Leitlinie für den be− gleitenden Therapeuten und die Thera− peutin, um im Dickicht der transsexuel− len ¹Verwirrung“ einen Überblick behal− ten zu können. In die innerpsychische Dynamik der je− weiligen Phasen fließen modulierend zahlreiche andere psychische Wirkme− chanismen, zu nennen sind Charakteristi− ka der Persönlichkeitsstruktur, der Ich− Stabilität, neurotische Konfliktthemen etc. mit hinein. Transsexualität sollte nie als Phänomen für sich alleine gesehen werden. Eine ¹typisch transsexuelle Per− sönlichkeit“ gibt es nach meiner Erfah− rung nicht. Ich möchte in der psychothe− rapeutischen Arbeit mit Transmenschen empfehlen, zu üben, die nicht transsexu− ellen, meist reaktiven von den rein trans− sexuellen Problemfeldern trennen zu ler− nen. Das ist oft sehr schwer, weil diese in der Regel miteinander verflochten sind, sich ¹verwirrt“ darstellen und eine diffe− renzierte Wahrnehmung für den Ungeüb− ten nicht so leicht gelingt. Für Transmen− schen ist es nicht selten schon entlastend, wenn reaktive Symptome von der Trans− sexualität befreit werden und mit einfa− chen Interventionen gemildert werden können. Die Phasen machen deutlich, dass eine psychotherapeutische Arbeit an verschie− denen Punkten ansetzen kann: " Erarbeitung und Formulierung des aktuellen Fokus, um eine Klärung der phasenaktuellen individuellen Posi− tion, Wege daraus und damit Selbst− souveränität in der transsexuellen Identität zu fördern " Klärung und Bewältigung der damit assoziierten Konflikte und Erlebensir− ritationen unter Berücksichtigung der psychischen Ressourcen und Ich−Stär− ken " Hinführen zu einer authentischen Le− bensform des transsexuellen Wun− sches. Die Phasen sind aus der Sicht des MzF− Transsexualismus beschrieben. Erste Phase: Innere Wahr− nehmung des transsexuellen Erlebens Fokus: Indem ich ein Mädchen bin, ob− wohl ich ein Junge bin, bin ich anders. Konfliktthema: Indem ich so bin wie ich bin, indem ich anders bin, gehöre ich nicht auf diese Welt, bin ich ir− gendwo allein. Lösungsversuch: So tue ich alles, um einsam zu sein. Nur in meiner Einsam− PID 1/2009 l 10. Jahrgang Aus der Praxis keit und meinen Fantasien kann ich Mädchen sein, obwohl ich ein Junge bin. Auswirkungen: Gefahr der Isolierung und Vereinsamung, authentisches Er− leben nur in einem narzisstischen Zir− kel. Die erste bedeutungsvolle Phase ist die der inneren Wahrnehmung des transse− xuellen Erlebens. Es ist die Geburtsstre− cke der transsexuellen Identität, die sich zu fast jedem Zeitpunkt der Entwicklung manifestieren kann, in der frühen Kind− heit, während der Pubertät oder in späten Phasen des Erwachsenenalters. Warum das so ist und wovon das abhängen mag, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht beant− wortet werden. Diese Phase ist immer von längerer Zeit− dauer, in der der transsexuelle Mensch in einem schleichenden inneren Prozess nach seinen existenziellen Fragen sucht, sich austariert und schließlich für sich er− arbeitet, dass das eigene Empfinden sich von dem der anderen unterscheidet, in− dem es als transsexuell erlebt wird. Kindheit Berichte von Menschen, bei denen dieses Empfinden bereits im frühen Kindesalter aufgelebt sein soll, beweisen, dass damit zunächst keine psychisch belastende Konfliktsituation verbunden ist. Die Transkinder erproben ihre transsexuellen Gefühle individuell auf verschiedenen Bühnen und Erlebnisfeldern, erleben und gestalten sie durchaus vergnüglich und integriert im Spiel, sozusagen als Ich−syn− ton anteilig. Es scheint so zu sein, dass transsexuelle Kinder ihrem Phänomen of− fen und wertfrei gegenüberstehen, es ist für sie in dieser Phase in der Regel kein seelisches Problem. Ich wage zu behaup− ten, dass der transsexuelle Urzustand kei− ne psychische Belastung bedeutet und wahrscheinlich keinen Krankheitswert hat. Transsexuelle Kinder machen sich früh mit ihrem eigenen Empfinden vertraut und ihre Identität entwickelt sich als eine, in der das Transsexuelle immer präsent ist, fest zum Bestandteil der Persönlich− keit dazu gehört und alle zukünftigen Entwicklungsphasen begleitet und beein− flusst. Nicht selten wird in dieser Phase schon beschlossen, irgendwann später das Geschlecht zu wechseln. So antworte− te ein achtjähriger transsexueller, biologi− scher Junge auf die Frage, was er später PID 1/2009 l 10. Jahrgang einmal werden möchte, ohne zu Zögern: ¹Frau!“ Pubertät In einer größeren Anzahl zeigt sich das Empfinden, transsexuell zu sein, erstma− lig während der Pubertät. In dieser kriti− schen Phase der psychosexuellen Ent− wicklung ist das Aufspüren der Transse− xualität mit einer großen Irritation ver− bunden, es wird als ein massives inneres Problem erlebt. Die meisten Jugendlichen kämpfen vehement dagegen an, sind aber trotz größter Anstrengungen nicht in der Lage, ihre Transsexualität zu unterdrü− cken. Es fällt ihnen darüber hinaus schwer, sich mitzuteilen, weil sie selber kaum verstehen und formulieren können, was mit ihnen ist. Der Begriff Transsexua− lität ist ihnen zu diesem Zeitpunkt in der Regel noch nicht präsent. Die transsexu− elle Identität wird als eine unaussprech− bare, große Last empfangen, ist uner− wünscht. Gefühle wie ¹irgendetwas stimmt nicht mit mir“, ¹ich bin nicht nor− mal“ oder ähnliche begleiten diese Stre− cke der inneren Wahrnehmung. Dieser Punkt markiert den Beginn von Einsam− keit und Isolation, der unterschiedlich lange bis lebenslänglich zu einer schreck− lichen Inkludenz führen kann. Jugendliche begreifen im Gegensatz zum kleinen Kind sehr deutlich und schnell, dass sie etwas in sich tragen, mit dem die Umwelt Schwierigkeiten haben wird. In dieser Entwicklungsphase führt eine Flut von Ängsten und Projektionen zur inne− ren Ablehnung des eigenen Seins, die sich mit der Zeit mehr und mehr verfes− tigt. Die eigene Körperlichkeit wird zum Problem, dann irgendwann bekämpft ± das Kernsymptom des transsexuellen Schicksals hat wahrscheinlich in diesen zermürbenden Konflikten seine Wurzeln. Mit der Zeit spitzt sich ein massiver in− nerseelischer Konflikt zu, in dem abge− lehnt und bekämpft wird, was in sich sel− ber erlebt wird. Die Kampfesbühne, die sich nach gesundem Menschenverstand eigentlich außen abspielen sollte, ist zu einer innerpsychischen geworden. Diesen Kampf muss ein transsexueller Mensch ± unabhängig davon, ob er den Weg der Ge− schlechtsangleichung geht oder nicht ± irgendwann aufnehmen, daran wachsen, um zu einer eigenen Identität zu finden. Denn erst über diese Wendung des Kon− fliktes an die Adresse der Umwelt kann der transsexuelle Mensch aus seiner Selbstbekämpfung herauskommen. Der Jugendliche begrüßt also im Unter− schied zum transsexuellen Kind seine Ge− schlechtsvarianz in sich nicht, empfindet diese als fremd und nicht zu sich gehörig. So ist die Geburt der Transsexualität beim Jugendlichen Ich−dyston gefärbt, wird nicht spielerisch angenommen und ist mit sehr heftigen Konflikten und inneren Dramen verbunden. Ängste und Unsicherheiten führen zu Selbstausgrenzungen und zu narzissti− schen Rettungsmechanismen, um das in− nere Dilemma zu kompensieren. Transse− xualität hat Auswirkungen auf alles, was für andere Jugendliche ¹normal“ ist. So− zialer Umgang, Sport, Schule bis hin zur Sexualität, in allem nimmt sich der trans− sexuelle Jugendliche als außenstehend wahr und ruft sich selber auf, sich so zu verstellen, das ihm niemand seine ach so peinliche Seite anmerken wird. Es wird das Gefühl genährt, dass in dieser Welt ir− gendwie nichts zusammenpasst. Folge sind nicht selten ± um sich in diese Ge− sellschaft mit Gewalt hineinzukomponie− ren ± contratranssexuelle Verhaltenswei− sen, die zum Verlust der Authentizität führen. Das Bewusstsein über die eigene Transsexualität bleibt von contratransse− xuellen Versuchen jedoch in jeder Hin− sicht unbeeindruckt und lebendig. Verheerend sind also nicht der transsexu− elle Zustand für sich, sondern die viel− schichtigen Folgen, die sich in inneren und einsamen Konflikten im Abgleich mit der Umwelt niederschlagen. Sie kön− nen zu Deformierungen der Persönlich− keit und Ich−Instabilität führen, die manchmal nicht mehr korrigierbar sind. Es entsteht spätestens zu diesem Zeit− punkt ein Nährboden für die Entwicklung zahlreicher psychogener Leidensformen. Meistens münden die transsexuellen Kin− der, die zunächst unbeschwert mit ihrer Transsexualität umgehen konnten, eben− falls in eine solche konflikthafte Phase. Der Beginn der Pubertät leitet eine kri− senhafte Zeit ein, weil nun die kognitiven Leistungen gereift sind, um das transse− xuelle Empfinden aus kritischer Sicht zu bewerten und zu entwerten. Mit der Rei− fung des Logos kann also zum Problem werden, was für das unvoreingenomme− ne Kind noch selbstverständlich war. Erwachsenenalter Es ist eher selten, aber es gibt transsexu− elle Menschen, die erst im Erwachsenen− alter entdecken, dass sie transsexuell empfinden. Eine Transfrau bemerkte erst mit Ende 30 diese Entwicklung, ist dann aber sehr schnell und zielsicher den Weg bis zur Operation gegangen. Sexuelle Identitäten 27 28 Phasenspezifische Konfliktthemen eines transsexuellen Entwicklungsweges Solche Menschen werfen natürlich sehr viele Fragen in die Forschungsdiskussion. Ist geschlechtliches Empfinden tatsäch− lich ein dauerhaftes Empfinden? Oder zeigen uns diese Menschen, dass das ge− schlechtliche Empfinden im Laufe des Le− bens wechseln kann? Wovon mag das ab− hängen? Welche Voraussetzungen, even− tuell welche Ereignisse können eine sol− che Entwicklung bahnen? Und wenn es so ist, brauchen wir dann eine Pathologie, um es zu fassen? Zweite Phase: Innere Aus− einandersetzung mit der Möglichkeit des Öffnens nach außen Fokus: Indem ich schweige, dass ich ein Mädchen bin, obwohl ich ein Junge bin, teile ich mich dem Leben nicht mit. Konfliktthema: Wenn ich sagen würde, wie ich bin, gehe ich unter. Um nicht unterzugehen, muss ich anders wer− den als ich bin. Lösungsversuch: Ich tue alles, um mich zu schützen. Ich darf nicht wie ein Mädchen wirken, weil ich ein Junge bin. Auswirkungen: Rückzug der Persön− lichkeit aus Sozietät, Grundlagen für Depression / Angst / Sucht / Suizidalität etc. Ich kann nicht erklären, wovon es ab− hängt, dass ein transsexueller Mensch in diese zweite Phase findet. Ich denke, es hat mit individueller Reife und mit per− sönlichen Erfahrungen zu tun, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglichen. Der subjektive Leidensdruck spielt eine bedeutende Rol− le, wie ein Motor, der in die Suche nach ir− gendwelchen Lösungen treibt. Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass es Betroffene gibt, die über Jahr− zehnte oder sogar nie die erste Phase überwinden werden. Die Transsexualität bleibt so für diese Menschen immer ein tiefes Geheimnis. Welche Konsequenzen ein Entwicklungsstillstand in bestimm− ten Phasen mit sich bringt, darüber kann nur spekuliert werden, Berichte darüber kann es logischerweise nicht geben. Es kommt vor, dass wir im klinischen Alltag bei Menschen in extremen Krisensitua− tion (Suizidalität, schwere Depressionen, präpsychotische Zustände) dahinter ein transsexuelles Dilemma diagnostizieren. Sexuelle Identitäten So sollte bei jeder unklaren psychogenen Symptombildung differenzialdiagnos− tisch daran gedacht werden, dass eine transsexuelle Dynamik dahinter im Ver− borgenen die Ursache sein kann. In dieser zweiten Phase taucht unter dem anhaltenden Leidensdruck, den Sympto− men der Ablehnung des eigenen Körpers, dem ständigen Ankämpfen gegen die eigenen Gefühle eine neue innere schwierige Frage auf. Sie hat ein gesundes Ziel, nämlich die Suche nach Lösungs− möglichkeiten, allerdings weiterhin in Einsamkeit und Inkludenz. Der quälende Wunsch, sich mitzuteilen, wird zum zen− tralen und wichtigsten Thema, verzehrt endlos Energie, findet aber lange keine Gelegenheit, da der transsexuelle Mensch sich Ansprechpartner sozusagen selber verbietet. Diese Phase ist hochgradig anstrengend und kräftezehrend, weil nichts im inne− ren Erleben so passt, wie es in einer ¹Nor− malität“ zu sein scheint. Transmenschen wirken unsicher in sich, wissen nicht, wo ihr Platz ist, eine Unbeschwertheit des Seelischen geht verloren. Immer kommt es zu Selbstrettungsme− chanismen, die nach konflikttheoreti− schem Verständnis zu neurotischen Symptomen führen können. Symptome, in denen Transsexuelle sich zwanghaft verstellen und verformen, um ins Gefüge einer vorgesetzten Zweigeschlechtlich− keit zu passen. Das wird zu einer Tortur. Bei einer unbekannten Anzahl transsexu− eller Menschen dauert dieses Leiden le− benslänglich. Folgende Verläufe sind möglich: " Es kommt zu Anpassungsmechanis− men mit dem Preis, den Ausdruck des tief Individuellen aufzugeben und sich gesellschaftsgerecht zu formen. Ein qualvolles Abwägen und Pendeln zwi− schen Erhalten der Authentizität und So−Sein−Müssen, wie es die anderen fordern. " Je nach Individuum wächst darunter das innerpsychische Ungleichgewicht, die Konflikte werden immer unüber− schaubarer. " Meist werden im Laufe der Jahre im− mer mehr und größere Kompromisse notwendig, die Betroffenen geben sich und ihr Begehren resigniert auf, bis die hochgradige Unsicherheit der Identi− tät tatsächlich ist. An diesem Punkt kommen die ersten in Kontakt mit Ärzten und Ärztinnen. Diese werden mit einem diffusen Bild konfrontiert und sprechen von ¹Störungen der Identität“. So ist die ursprünglich transsexuelle Variante zu einer Identität geworden, die nach außen hin als Identitätsstö− rung mit unterschiedlichsten Symp− tomen imponiert. Von nun an gibt es verschiedene Entwick− lungswege: " Das transsexuelle Erleben bleibt wei− ter im Heimlichen mit Folgen für die gesamte Lebensführung. Die Gefühle werden mit Macht verdeckt gehalten in einer anstrengenden und sich dau− erhaft selbst verleugnenden, vom Wil− len getragenen Verstellung. In einer unbekannten Anzahl Betroffener bleibt dieser Zustand der Transsexua− lität lebenslänglich ein tiefes Geheim− nis mit möglicherweise einem un− glücklichen oder sogar leidvollen Le− ben. Im Laufe entwickeln sich nicht selten eine Depression, eine Sucht, eine Angsterkrankung, andere Formen der Ich−Instabilität, etc. Dadurch wird die psychische Gesamtsituation im− mer dramatischer und unüberschau− barer, möglicherweise gerät das Transsexuelle dahinter sogar in Ver− drängung. Was resultiert sind schwer psychisch angeschlagene Menschen, denen nur noch schwer therapeutisch zu helfen ist. " Das innere Dilemma kann in einer Verzweiflungstat, einem Suizid oder Suizidversuch oder auch furchtbaren Selbstverletzungen enden. Genaue Zahlen darüber gibt es nicht. " Der dritte Weg und der gesündeste Weg ist es, sich dem transsexuellen Empfinden und dem Drängen nach individuellem Ausdruck zu stellen ± Ergebnis eines meist langen und an− strengenden innerpsychischen Aus− einandersetzungsprozesses, den der transsexuelle Mensch bis zu diesem Punkt immer in sich selber geleistet hat. Es ist die gesündeste Variante, das Suchen nach Lösungswegen zu beginnen und sich dafür einzusetzen. An diesem Punkt ist auf jeden Fall eine innere Vorstellung darüber ge− wachsen, wie der Betroffene sich im Wunschgeschlecht vorstellt. " Andere, individuell−alternative Wege sind ebenfalls möglich. " PID 1/2009 l 10. Jahrgang Aus der Praxis Dritte Phase: Offenbarung des transsexuellen Erlebens nach außen Fokus: Indem ich allen zeige, dass ich ein Mädchen bin, obwohl ich ein Junge bin, möchte ich endlich überall dazu− gehören. Konfliktthema: Indem ich so bin, wie ich bin, verwirre ich die ganze Welt. So bin ich eine Rebellin. Lösungsversuch: Wenn ich den Blick für die Reaktionen anderer verliere, bleibt mir erspart, zu sehen, wie ich verwirre. Auswirkungen: Ausuferung von inter− personellen Konflikten und Missver− ständnissen, Trennungen, Verluste, Isolation. Ich möchte jetzt die eben erarbeitete drit− te Möglichkeit betrachten, also einen transsexuellen Menschen, der sich ent− schieden hat, sein inneres Drängen ernst zu nehmen und nach Lösungen zu su− chen. An diesem Punkt, der schnell oder erst Jahrzehnte später nach Phase 2 ein− treten kann, beginnt die dritte Phase. Der transsexuelle Mensch geht nun auf eine Welt zu, in der er in der Regel nicht willkommen ist. Sein Auftreten ist ein Problemfall, wird als nicht natürlich empfunden, es löst bei anderen Ängste und Verwirrungen aus. Es sind ständig Er− klärungen notwendig, um die Existenz zu rechtfertigen. Dem transsexuellen Leben fehlt wahrscheinlich lebenslänglich eine Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Also eine endlose Kette von zwischenmensch− lichen Problemen, Situationen des Unver− ständnisses bis hin zu Diskriminierungen. Von dem transsexuellen Menschen wird ständig gefordert, sich für das, was er empfindet, zu begründen. Man wird so− zusagen dauernd ¹verhört“, mit Fragen überschüttet, erntet Reaktionen der Ver− blüffung, Erschütterung etc. Aus dem zunächst innerpsychischen Stress der vorigen Phasen wird nun ein äußerer Stress mit der Umwelt, ein Kon− flikt auf allen Bühnen der zwischen− menschlichen Beziehung. Der transsexu− elle Weg fordert nicht selten einschnei− dende Veränderungen in Familie, Freun− deskreis, Beruf und sozialer Stellung. Das, was im normalen Leben Stabilität und Halt bedeutet, muss ein Mensch im transsexuellen Entfaltungsprozess fast völlig vermissen. Dieser Punkt markiert erneut die Gefahr von gefährlichen Krisen. Sie können sich PID 1/2009 l 10. Jahrgang bei denen entwickeln, die der Massivität dieses Stressors nicht gewachsen sind mit Symptombildern wie Depressionen, suizidalen Krisen etc. Es bleiben also nur die auf ihrem Weg sta− bil, die über eine gute Ich−Stärke und Konfliktlösungsmechanismen verfügen. Dies ist eine Art Auslesesystem, in dem nur die stärksten durchkommen. Vierte Phase: Juristischer, medizinischer und psycho− logischer Prozess Fokus: Indem ich erkläre, wer und was ich bin, bekomme ich, was ich brau− che. Konfliktthema: Ich muss schnell zei− gen, wie ich bin, damit ich sofort be− komme, was mir hilft. Dann wird alles gut. Lösungsversuch: Ich stürze mich blind− lings in die Hände meiner Retter. Auswirkungen: Euphorie, Planlosigkeit und Hetze, leichte Kränkbarkeit, Ge− fahr des kopflosen Handelns, Überfor− derungssituationen. Nehmen wir also den transsexuellen ¹Kraftbolzen“ an, der sich die nächste Phase erklommen hat. Er tritt ein in Kon− takt mit Ärzten, Psychologen und unse− rem Rechtssystem, die in dieser Zeit in seinen Beziehungen eine große Rolle spielen. Erneut gilt es, sich vor Medizin, Psycholo− gie und dem Rechtssystem zu erklären und zu rechtfertigen. Eine Art nicht enden wollende Prüfungssituation, die auch heute nicht selten auf die Spitze getrie− ben wird. Verständliche Unsicherheiten im eigenen Empfinden werden hier durch unnötiges Explorieren eher noch ge− schürt. Parallel leben Transsexuelle in dieser Zeit unter der ständigen Angst, von den Instanzen, die ihnen helfen sol− len, ¹abgelehnt zu werden“. Das wird als Bedrohung der Existenz erlebt. Es ist leider immer noch so, das viele Ärz− tinnen und Ärzte und Juristen und Juris− tinnen oft eine misstrauische bis ängstli− che Haltung gegenüber Transsexuellen haben. Sie verstecken ihre Unsicherheiten hinter ihrem Auftrag, prüfen oder begut− achten zu müssen. Testungen, Untersuchungen, Anhörun− gen, Gutachterverfahren etc. vermitteln fast das Gefühl, eine Art Verbrecher zu sein. Es kommt zu einem unverhältnis− mäßigen Aufwand dem so harmlosen transsexuellen Begehren gegenüber, der z. B. im Falle der Vornamensänderung zu einem gerichtlichen Verfahren mit Bei− bringung zweier, unabhängiger Gutach− ten und dem Einschalten eines Vertreters des öffentlichen Interesses geht. Nicht selten resultieren aus falsch geführ− ten Behandlungen mit hoch gesetzten Ansprüchen negative Entwicklungen. Das schürt bei den Betroffenen das Ge− fühl der Aussichtslosigkeit und Hoff− nungslosigkeit. Die Reaktionen sind Pa− nik, Agieren, Hetze nach unseriösen Hilfs− angeboten in zum Teil chaotischen Hand− lungsabläufen, die auch zu gefährlichen vorschnellen Aktionen führen können. Fünfte Phase: Körperliche Angleichung ± Hormone und Operation Fokus: Wenn ich werde, wie ich fühle, wird alles gut, dann bin ich der glück− lichste Mensch der Welt. Konfliktthema: Indem ich Schmerzen und Eingriffe in meinen Körper aus− halte, komme ich ans Ziel. Lösungsversuch: Indem ich mir sicher bin, dass es hilft, ist es eine Notwen− digkeit. Auswirkungen: Körperliche Ausnah− mezustände, Schmerz− und Krank− heitsphasen, gesundheitliche Irritatio− nen durch medizinische Eingriffe. Wer es bisher geschafft hat, dem stehen jetzt die medizinischen Behandlungen of− fen. War bis zum jetzigen Zeitpunkt die Psy− che gefordert, so muss jetzt der Körper Strecken mit Strapazen überstehen. Seelisch kommt es an diesem Punkt zu− nächst ± nach der wahnsinnig hart er− kämpften Anerkennung, dass die Trans− menschen so fühlen dürfen wie sie fühlen ± und mit Beginn der Hormontherapie in der Regel erstmalig zu einer Beruhigung. Das erste Mal im Leben scheint eine Lö− sung verwirklichbar und greifbar. Die Strecke bis hierher war aber so schlimm, dass es lange schwerfällt, zu verinnerli− chen, wie das Leben ohne Rechtfertigung und Kämpfen sein kann. Was war das noch, innere Harmonie? Die Transsexuel− len haben unterschiedlich lange mit der Verarbeitung dieser vorangegangenen Er− lebnisse zu tun. Die Hormonbehandlung wird von fast al− len Transsexuellen als angenehm und hilfreich empfunden. Meist erleben sie Sexuelle Identitäten 29 30 Phasenspezifische Konfliktthemen eines transsexuellen Entwicklungsweges schon nach kurzer Zeit eine emotionale Beruhigung. Bei sicherer Führung ist das Risiko einer Hormonbehandlung gering. Die Operationen stellen schwere chirur− gische Eingriffe dar, die sehr entkräften und erneut zu einer langen Krankheits− phase führen können ± wiederum eine Stressstrecke, die unterschiedlich schwer verlaufen kann. Die Komplikationsrate ist aus meiner Er− fahrung nicht zu unterschätzen, es gibt vereinzelt sehr schwere Komplikationen. Die somatische Nachsorge ist in Deutsch− land für Transmenschen unzureichend. Rehabilitation ist in vielen Fällen gerecht− fertigt, findet fast nie statt. Die Ärzte der Nachsorge sind für diese Aufgabe kaum ausgebildet. Postoperative Nachsorgeangebote wie Krankengymnas− tik, Physiotherapie, Schmerztherapie etc. werden transsexuellen Menschen syste− matisch nicht angeboten. Das halte ich aus eigener Erfahrung für katastrophal. Sechste Phase: Heilungsphase, Realitätsklärung, Integration und Stabilisierung Fokus: Ich möchte so gerne vergessen, dass mein Leben transsexuell ist. Konfliktthema: Indem ich da bin, wo ich hin wollte, befinde ich mich in ei− ner neuen Fremdheit. Lösungsversuch: In dieser Fremde kann und will ich in mir finden, was ich im− mer schon gesucht habe. Auswirkungen: Verarbeitung des lan− gen transsexuellen Weges mit neuen Entwicklungsmöglichkeiten, Ausei− nandersetzung mit dem Neuen, Inte− gration in eine stabile gesellschaftli− che Position. Während des Abheilens und dem Wieder− erlangen der körperlichen Kräfte sieht die weitere Entwicklung wie folgt aus: Unter dem Heilungsprozess beginnen eine Auseinandersetzung mit und ein Entdecken der neuen Körperlichkeit. In dieser Zeit berichten die meisten Transse− xuellen davon, entlastet zu sein, sich glücklich zu fühlen. Nicht selten läuft nach wenigen Wochen postoperativ eine Krise ab mit Stim− mungsschwankungen etc. Es ist jetzt Raum und Ruhe vorhanden, um aus der Distanz den bis dahin erlebten Weg zu bewerten und für sich zu ordnen, von einer anderen körperlichen Position. Der eigene Lebensweg wird als etwas wahr− Sexuelle Identitäten genommen, was unfassbar erscheint. Vie− le fragen sich, wie sie das alles überleben konnten und dann kommt die bohrende Frage: ¹Warum ausgerechnet ich?“ Nach der ersten Erleichterung kommen alle an den Punkt, an dem sie die bisheri− gen in der Fantasie gelebten Vorstellun− gen der Wunschkörperlichkeit mit dem nun Erreichten vergleichen. Das ist in der Regel ein längerer Prozess, während dem es zu Glücksmomenten, aber auch kriti− schen Phasen kommen kann. Es ist eine unterschiedlich lange Zeit notwendig, um sich mit dem gefühlten Geschlecht nun auch auf der körperlichen Ebene ver− traut zu machen und sich damit in eine beruhigte Lebensweise zu integrieren. Jüngere haben es dabei vielleicht leichter. In viel langsameren Schritten als verbrei− tet kommt es zu einer innerseelischen Harmonisierung: Erlebnisfelder, die bis− lang fast verschlossen waren, wie Anneh− men der eigenen Körperlichkeit, Sexuali− tät, Nacktheit im zwischenmenschlichen Kontakt, können nun ohne transsexuellen Druck begegnet und erschlossen werden. Es ist aber zu bedenken, dass dies in einer viel zu späten Lebensphase vonstatten geht, denn normalerweise ist dieser Er− fahrungsprozess schon in Pubertät und jungem Erwachsenenalter abgeschlossen und bewältigt. In dieser Zeit tauchen im− mer wieder neue, bisher völlig unbekann− te Herausforderungen auf. Der alltägliche Umgang in dieser Welt formt sich also schleichend, in den meis− ten Fällen wird erst jetzt realisiert, dass die Außenseiterrolle zeitlebens weiterbe− stehen wird. Diese Erkenntnis muss ge− leistet werden, um eine selbstsichere Po− sition in einer ¹transsexuellen Identität“ zu finden. Ich halte therapeutische Hilfe in dieser Phase, in der sich ¹alles langsam setzen muss“, für sehr wichtig. Die Auseinandersetzung mit dem neuen Geschlecht hat Gefühle der Erleichterung etc. zur Folge. Der depressive Druck lässt nach. Die emotionale Atemlosigkeit kommt zu einer Beruhigung, viele Kon− flikte schwächen sich ab. Vergessen wer− den die durchgemachten Erfahrungen nie. Entlastend ist, dass die quälenden, fast egozentrischen Gedankenkreise um die Probleme des transsexuellen Zustandes langsam abnehmen. So können sich die Wahrnehmung und das Interesse wieder für neue Themen öffnen. Man hat wieder Zeit für anderes. Das ist die letzte heftige Herausforderung, die die Seele leisten muss. Der bisherige Lebensweg war eine Art Entwicklungsstillstand der Persön− lichkeit, der dadurch gezeichnet war, dass sich alles um das Thema der ¹Behin− derungen“, die durch den transsexuellen Zustand und die Fragen der Körperanglei− chung bedingt waren, drehte. Darauf wurde das ganze Tun und Handeln kon− zentriert. Nun hat die Psyche wieder Platz für die vielen Dinge des Lebens, die es noch neben der Transsexualität gibt. Es ist nicht so einfach, diesen Übergang zu meistern. Erst jetzt ist die Entwicklung an den Punkt einer sich gesund fühlenden Psy− che gekommen. Der Transmensch hat nun die Voraussetzungen, um sich wie je− der Mensch dem Leben mit seiner Vielfalt zu stellen, daraus Erfahrungen zu sam− meln und daran zu reifen, alt zu werden. Die Seele wird in vielen Fällen irgend− wann erkennen, dass die Heilung gar nicht in dem Operationsergebnis und dem neuem Körper liegt, sondern in den Möglichkeiten, die durch die OP angesto− ßen wurden. Gelingt dieser letzte Schritt nicht, zeigt sich die transsexuelle Unruhe oft auf neu− en Problemfeldern und anderen Bühnen. Nachspann In einer Fachzeitschrift für Psychothera− pie seien wenige Zeilen für persönliche Gefühle erlaubt. Die Arbeit an diesem Ar− tikel hat mich sehr bewegt. Manchmal streiften meine Gedanken ¹unkontrollier− bar“ über die Ereignisse meiner Geschich− te, sortierten und verstanden neu. Die Formulierung des Textes war eine wahre Herausforderung, eine Anstrengung, mei− ne Kenntnisse über ¹Verwirrungen der transsexuellen Lebendigkeit für Sie zu entwirren“, mit der Hoffnung, ein Verste− hen zu vertiefen. Oh ja, ich hoffe sehr, dass mir das gelungen ist. Ich möchte vielen Kollegen und Kollegin− nen danken, die mir auf meinem Weg ge− holfen haben, eine gesunde Sicht der Din− ge zu leisten. Besonderer Dank geht an die Menschen, die mir als Ärzte und Psy− chotherapeuten auf diesem Weg geholfen haben1. 1 Dr. med. Karin Renter (Psychotherapie ± Ham− burg), Dr. med. Wilhelm Preuss (Sexualmedizin ± Hamburg), Prof. Friedemann Pfäfflin (Sexual− medizin ± Ulm), Frau Cosima Vieth (Gynäkolo− gie ± Hamburg), PD Dr. med. Susanne Krege (Urologie ± Krefeld). PID 1/2009 l 10. Jahrgang Aus der Praxis Annette Güldenring geb. 1956, Fachärztin für Psychiatrie und Psy− chotherapie, Studium Biologie, Psychologie, Humanbiologie und Medizin an der Philipps− Universität Marburg, 1982±1983 Herausge− berin der EZKU ± Zeit− schrift von Transsexuel− len für alle Terraner, seit 2000 Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Psy− chotherapie und Psychosomatik der Westküs− tenkliniken Brunsbüttel und Heide gGmbH, dort Leiterin der Institutsambulanz. Seit 2006 Vorträge und Workshops zum Thema Trans− sexualismus, zuletzt 2008 im Rahmen des DGPPN−Kongresses. Interessenschwerpunkte: Sexualmedizin, Ge− schlechtsidentitätsfragen, Wahrnehmungs− schicksale im psychotherapeutischen Prozess, Antistigmaprojekte. PID 1/2009 l 10. Jahrgang Literatur 1 Body NO (Pseudonym von Karl Baer). Aus eines Mannes Mädchenjahren. Berlin: Rie− cke, 1907 2 Clement U, Senf W. Transsexualität. Stutt− gart: Schattauer, 1996 3 Devereux G. Angst und Methode in den Ver− haltenswissenschaften. Frankfurt: Suhr− kamp, 1984 4 EZKU ± Zeitschrift von Transsexuellen für alle Terraner. 1981±1984; I±XII 5 Freud S. Gesamtedition Fischer (Jenseits des Lustprinzips, GW 13, 1920). 1960 6 Herold R. Phantasie eines Geschlechtswech− sels. Zeitschrift für Sexualforschung 2004; 4: 323±358 7 Hirschauer S. Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Frankfurt: Suhrkamp Tb. Wissenschaft, 1993 8 Köbele A. Life ain’t easy for a boy named Sue. Diplomarbeit im Fach Reflexive Sozialpsy− chologie an der LMU München, 2007 9 Pfäfflin F. Anmerkungen zum Begriff der Ge− schlechtsidentität. Psychodynamische Psy− chotherapie 2003; 3: 141±153 10 Pfäfflin F, Junge A. Geschlechtsumwandlung. Stuttgart: Schattauer, 1992 11 Pohlen M, Bautz−Holzherr M. Eine andere Psychodynamik. Bern: Hans Huber, 2001 12 Rauchfleisch U. Transsexualität ± Transiden− tität. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006 13 Sigusch V, Meyenburg B, Reiche R. Transse− xualität. In: Sigusch V. Sexualität und Medi− zin. Hamburg: Kiepenheuer und Witsch, 1979 Sexuelle Identitäten 31