Handout - Presse

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Handout - Presse
Sexualisierte Gewalt als aktuelles Thema
– Pressegespräch des AK „Gegen sexuellen Missbrauch“ am 04.05.2016 –
Sexuelle Gewalt rückt in den letzten Monaten mit großem Druck durch die Medien in die
Öffentlichkeit. Insbesondere die Vorkommnisse an Silvester haben in vielfältiger Weise dazu
geführt, dass Politiker jeder Coloeur sich deutlich für die notwendige Wahrung von Grenzen, für
den Willen von Frauen und für die klare Strafverfolgung einsetzen. Auch das mutmaßliche
Verschwinden und Missbrauchen eines russischen Mädchens hat Wellen bis ins Ausland
geschlagen und auch die breite Öffentlichkeit empörte sich.
Folgt man manchen Medienberichten und Äußerungen von Politikern, könnte man zu dem
Schluss kommen, sexuelle Gewalt gegen Mädchen/Jugendliche und Frauen sei ein Problem,
das durch die im Zuge der Flüchtlingswelle nach Deutschland kommenden muslimischen
Männer über uns hereingebrochen sei. Wir möchten die Übergriffe in Köln nicht negieren und
natürlich gibt es auch Gewalt gegen Frauen durch ausländische Männer. Es gibt sie aber eben
auch von deutschen und christlichen Männern, lange genug von Kirche und Politik geduldet
bzw. ignoriert.
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass deutsche Männer sich selbstverständlich respektvoll
gegenüber dem anderen Geschlecht verhalten und natürlich Verantwortung für ihr Verhalten und
insbesondere für ihr Sexualleben übernehmen. Dagegen sprechen allerdings deutlich die Zahlen
und Erfahrungen der zuständigen Fachberatungsstellen.
Deshalb ist die Aktualität des Themas eine gute Gelegenheit, um grundsätzlich über
Gleichberechtigung und Gewaltfreiheit zu sprechen. Neben der Frage, welche gesellschaftliche
Grundhaltung verbreitet sein muss, dass immer noch Männer glauben, sie könnten auf Körper
von Frauen auch ohne deren Einverständnis „zugreifen“, geht es um die Einstellung, wie mit
derartigen Übergriffen umzugehen ist, bzw. ob es geeignete Präventionsmöglichkeiten gibt.
Im Arbeitskreis „Gegen sexuellen Missbrauch“ beschäftigen sich viele Fachstellen mit diesen
Themen. Diesem Arbeitskreis gehören Netzwerkpartnerinnen und -partner folgender
Institutionen an:
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Beratungsstelle
für
Kinder,
Jugendliche und Eltern/Jugendamt
Polizeidirektion
Hessisches Netzwerk gegen Gewalt
Schulen
diakonisches Werk Odenwald
Vitus Kinder und Jugendpsychiatrie
Kreisgesundheitsamt
Rechtsanwältinnen
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AWO
staatliches Schulamt für den Kreis
Bergstraße und den Odenwaldkreis
Beratungsstellen für Frauen in
Krisenund
Konfliktsituationen/Frauenhaus
Frühberatungsstelle
sowie die Gleichstellungsbeauftragte
des Odenwaldkreises.
Durch das effektiv vernetzte, gemeinsame Arbeiten im Arbeitskreis ist es möglich, Fachpersonal,
Eltern, Kinder und Jugendliche sowie die Öffentlichkeit nachhaltig zu beraten, Hilfestellungen zu
geben und präventiv zu wirken.
Petra Karg
Gleichstellungsbeauftragte des Odenwaldkreises
Michelstädter Straße 12
64711 Erbach
Zahlen zum Thema sexueller Missbrauch
(Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2015):
Hessen:
Im Jahr 2015 wurden in Hessen insgesamt 403.188 Straftaten erfasst. Darunter waren auch
insgesamt 3.220 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Somit nahmen die erfassten
Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt 0,8 Prozent aller erfassten
Gesamtstraftaten ein. Die Aufklärungsquote lag im Bereich der Sexualstraftaten bei 81,2 %.
Unter den 3.220 erfassten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung waren hessenweit
insgesamt 798 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern erfasst. Im Vergleich zum Vorjahr
ergibt sich hier eine Steigerung um 25 Fälle (3,2 Prozent). Die Aufklärungsquote lag hier bei
87,0 %.
Odenwaldkreis:
Im Bereich der Polizeidirektion Odenwald wurden im Jahr 2015 insgesamt 2.502 Straftaten
erfasst. Darunter waren 37 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, deren
Aufklärungsquote lag bei 89,2 %. Unter den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
waren auch 12 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern erfasst. Hier betrug die
Aufklärungsquote 83,3 %.
Anmerkung:
Beim Vergleich und der Bewertung der vorgenannten statistischen Zahlen gibt es allerdings
verschiedene Gesichtspunkte zu beachten.
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Die
Polizeiliche
Kriminalstatistik
(PKS)
erfasst
nur
bekannt
gewordene
Straftaten/Tatverdächtige (begründeter Verdacht reicht hier aus). Daraus resultiert eine
Abweichung zw. der PKS zur Verurteilungsstatistik der Gerichte, deren Zahlen hier nicht
vorliegen.
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Hellfeld/Dunkelfeld. Die Anzahl der nicht angezeigten Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung (Dunkelfeld) dürften in der Realität höher liegen, als sie in der PKS
(Hellfeld) abgebildet sind.
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Ferner ist zu beachten, dass ein Täter in einem Jahr auch mehrere Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung begangen haben kann. Dies könnte im Umkehrschluss
bedeuten, dass z. B. die im Zuständigkeitsbereich der PD Odenwald erfassten Fälle von
sexuellem Missbrauch von Kindern (12 Fälle) nicht zwangsläufig von der gleichen Anzahl
unterschiedlicher Täter begangen worden sein müssen.
-
Die PKS unterscheidet bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung bzw. bei Fällen
von sexuellem Missbrauch von Kindern auch unterschiedliche Straftatbestände, was sich
juristisch auch im Strafrahmen ausdrückt.
Harald Schmelzer
L-K 10
Polizeidirektion Odenwald
Regionale Kriminalinspektion
Neue Lustgartenstraße 7
64711 Erbach
Erfahrungen aus der Beratungsstelle
Die Anmeldungen wegen sexuellem Missbrauch von Kindern sind in der Beratungsstelle
fortwährend hoch. Die Täter sind meist Männer aus dem sozialen Nahbereich der Kinder und
Jugendlichen, also Väter, Stiefväter, Onkels, Lehrer, Pfarrer, Babysitter, Freunde der Familie –
i.d.R. also deutsche Männer mit christlichem Hintergrund. Im Jahr 2015 war die Beratungsstelle
in 15 Fällen mit dem Thema Sexueller Missbrauch beschäftigt. In diesem Jahr sind es bisher 18
Fälle. In keinem Fall waren es Übergriffe durch fremde Männer auf der Straße, in der Regel aber
Männer aus dem sozialen Umfeld, manchmal auch über Chatrooms.
Warnungen vor dem Fremdtäter, dem „bösen Mann auf der Straße“, schützen Kinder deshalb
nicht vor den realen Gefahren des Lebens, sondern verschleiern den Blick auf die Realität.
Kinder begegnen dann Fremden mit Ablehnung und Angst während sie sich in ihrem sozialen
Nahfeld sicher fühlen.
Grundsätzlich ist Vertrauen in Erwachsene der Familie und des Bekanntenkreises natürlich
etwas, was wünschenswert und notwendig für ein gesundes Aufwachsen ist.
Gleichwohl können Kinder und Jugendliche nur dann sinnvoll bzw. möglichst frühzeitig vor
sexuellem Missbrauch geschützt werden, wenn sie von klein auf etwas über Grenzen und
Grenzüberschreitungen wissen und auch erfahren, dass man Grenzen auch gegenüber nahen
Menschen setzen darf. Dazu braucht es Erwachsene, die ein Bewusstsein darüber haben, was
es tatsächlich an Bedrohungssituationen gibt und nicht ihren Blick vor der Realität verschließen
und alles Böse auf den vermeintlich anderen, den Fremden projizieren.
Das führt im Gegenteil eher dazu, dass Kinder schweigen über das, was wirklich passiert.
Was es braucht sind offene, informierte Eltern, die ihren Kindern Rüstzeug für das wirkliche
Leben geben.
Darin möchten sie die Beratungsstelle unterstützen und mit der Veranstaltung am 14.06.2016
einen weiteren Beitrag dazu leisten.
In Form eines Cafés mit verschiedenen “Runden Tischen“ können sie mit verschiedenen
Fachkräften und Bürgern ins Gespräch kommen. Eltern, Multiplikatoren und die interessierte
Öffentlichkeit sind dazu herzlich eingeladen.
Heike Beringer
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Kreisausschuss Odenwaldkreis
Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und
Eltern
Relystraße 20
64720 Michelstadt
Beobachtungen: Jugendliche in der Schule
Die Statistiken sind eindeutig: In jeder Klasse sitzt mindestens ein Kind, das bereits Opfer
sexueller Gewalt geworden ist – in den meisten Fällen im familiären Umfeld!
Viele Täter sind jedoch nicht nur unter Erwachsenen, sondern auch unter Mitschülern zu
suchen!
Doch nicht nur im öffentlichen Raum, auch im Internet spielt die sexualisierte Gewalt eine immer
größere Rolle. Im Zeitalter der virtuellen Welt, in der Internet, Handy und Digitalkameras zum
alltäglichen Leben dazugehören und einen immer größer werdenden Stellenwert einnehmen,
treten Themen wie Cybermobbing, Sexting, Cyber-Grooming und auch Internetpornografie
immer mehr in den Fokus der Gesellschaft.
Diese digitalen Technologien bieten Jugendlichen einen breit gefächerten sexuellen Erfahrungsund Abenteuerspielplatz, der neben einer vereinfachten Kommunikationsmöglichkeit auch viele
Gefahren mit sich bringt. Die vorherrschende Anonymität und die fehlenden Kontroll- und
Sanktionsmechanismen bieten Straftätern/Straftäterinnen vielfältige neue Tatgelegenheiten.
Zunehmend kommt es zudem zur Verletzung der Privatsphäre, dem Missbrauch von
persönlichen Daten, virtuellen Hetzjagden und zum Mobbing unter Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen. Cybermobbing nimmt gerade unter Kindern und Jugendlichen in der Schule
immer mehr zu.
Aus diesem Grund ist es wichtig Angebote für Kinder und Jugendliche zum Umgang mit neuen
Medien vor dem Hintergrund möglichen Erlebens sexueller Gewalthandlungen an Schulen zu
schaffen.
Schulen brauchen Schutzkonzepte, um zu sensibilisieren und aufzuklären!
Stefanie Warias
Vertrauenslehrerin
Beauftragte für sexuellen Missbrauch
am Gymnasium Michelstadt
Wo beginnt sexualisierte Gewalt und wie können wir dem sexualpädagogisch
begegnen?
Ca. 1/4 aller Mädchen halten sich für zu dick, viele, auch schon 11-Jährige, machen Diäten. 38%/
28% fühlen sich nur „teils/ eils“ bzw. nicht wohl in ihrem Körper. (BZgA Studie Jugendsexualität
2010)
20% der Mädchen/ jungen Frauen zwischen 14 und 25 J. haben sexuelle Gewalterfahrungen
(Studie BZgA Jugendsexualität 2015, n=2500 Jugendliche) (50% konnten den Übergriff
abwehren, die anderen wurden genötigt zu: 32% Petting, Küssen, 26% GV, 10% andere sex.
Handlungen).
Eine Studie der Hochschule Fulda 2014 ergab, dass erschreckend viele Jugendliche in ihrer
ersten Liebesbeziehung Gewalterfahrungen machen.
Welches Frauen- und Männerbild, welches Selbstverständnis liegt dieser Entwicklung
zugrunde? An welchen Werten und Vorbildern orientieren sich Jungen und Mädchen auf ihrem
Weg zu einer eigenen sexuellen Identität?
Germanys Next Top Model, Prinzessin Lillifee, Barbie Dream House, Schminksalons für
Kleinkinder, Bratz- und Monster-High-Puppen als magersüchtige Sexmodels in den
Kinderzimmern, mörderische Diäten und Schönheitsoperationen, Poledance-Kurse im
Fitnessstudio, Glamour-modelling und Softpornografie im Internet und auf dem Handy, überall
und unübersehbar sexistische Werbung, …
Das Bild weiblicher Sexualität wird mehr denn je von der
Sexindustrie und den ästhetischen Maßstäben der Softpornografie
bestimmt – angeblich freiwillig und selber gewollt vermarkten sich
Mädchen und junge Frauen und messen sich und ihre Beliebtheit
an der Bewertung als Sexualobjekte durch Männer. Es handelt sich hierbei aber nicht wie oft
behauptet um Erfolge der Emanzipation und Gleichberechtigung im umfassenden Sinn, sondern
um die Reduktion von Frauen auf Erotik, sexuelle Anziehungskraft und Verfügbarkeit. Der
Hintergrund, warum sich Mädchen und Frauen einseitig über Körperlichkeit definieren, ist oft
eher Verzweiflung oder Mangel an Alternativen – verkauft wird es als „gestiegenes weibliches
Selbstbewusstsein.“
Das entsprechende „Vermarktungsprogramm“ für Jungen findet sich ebenfalls in den
Spielwarenläden und Heldenfiguren der Medien und transportiert ein überwiegend ebenso
undifferenziertes und fragwürdiges Männerbild (erfolgreich, draufgängerisch, stark, …).
Was heißt das für die (sexual-) pädagogische Praxis?
Die vorrangige Entwicklungsaufgabe in der Pubertät und darüber hinaus ist es, eine eigene
sexuelle Identität zu entwickeln. Herauszufinden, „wer bin ich als Junge/Mädchen, was ist mir
wichtig, was mag ich und was nicht, was mache ich, wenn ich merke, dass ich mich in den
verfügbaren Rollenvorbildern und „Schubladen“ nicht wiederfinde?“
Aufgabe von Sexueller Bildung und Sexualpädagogik ist es, Jugendlichen als authentische
Erwachsene zur ernsthaften Auseinandersetzung in diesem Prozess zur Verfügung zu stehen,
gängige Normen und Rollenbilder in Frage zu stellen und Nachdenken über die eigene
Wertefindung anzuregen.
Auch Kompetenz im Umgang mit den eigenen Gefühlen ist ein wesentlicher Aspekt
sexualpädagogischer Arbeit. Die Fähigkeit, eigene Gefühle wahr- und v.a. ernst zu nehmen, auf
die innere Stimme zu hören, ist oft überdeckt von der Vorstellung dessen, was man für „richtig“
hält, was scheinbar nur sein darf und wird oft von Erwachsenen (die es ebenfalls nicht gelernt
haben) nicht vermittelt. Es ist eine Lebensaufgabe, Selbst-Bewusstsein zu entwickeln, zu
spüren, wenn einem etwas nicht gut tut, ein Gefühl für die eigenen Grenzen zu finden und den
Mut zu haben, sich „unbeliebt“ zu machen und etwas nicht zu tun, „nein!“ zu sagen, obwohl es
die Anderen von einem erwarten, obwohl sie einem dafür Anerkennung und Zugehörigkeit
versprechen bzw. im anderen Fall Ausgrenzung und Ablehnung droht.
Hier gilt es, Kinder und Jugendliche zu stärken, zu ermutigen und für Situationen von Gruppenoder innerem Erwartungsdruck zu sensibilisieren.
Auch geht es darum, die jungen Menschen als Ganzes wahrzunehmen und einseitigen
Profilierungen und Bewertungen über äußerliche körperliche Attribute die Vielschichtigkeit der
gesamten Persönlichkeit und des inneren Körperempfindens entgegenzustellen sowie einen
wertschätzenden Umgang mit sich selbst und untereinander zu üben.
Anja Scheibel
Dipl. Sozialpädagogin, Sexualpädagogin (isp,
gsp)
Schwangerenund
Schwangerschaftskonfliktberatung
Sexualpädagogik

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