Gemanagte Vielfalt? Beiträge einer kritischen

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Gemanagte Vielfalt? Beiträge einer kritischen
Petra Neuhold / Paul Scheibelhofer
Gemanagte Vielfalt?
Beiträge einer kritischen Migrationsforschung zu Diskussionen
um Multikulturalismus, Diversität und Integration
P rolog
Vor wenigen Monaten hielt der in Deutschland arbeitende Rassismusforscher Mark Terkessidis einen gut besuchten Vortrag in Wien, in dem er sich
kritisch mit den diskriminierenden Implikationen aktueller Integrationsdiskurse auseinandersetzte und schließlich Diversitätspolitiken als geeignete antirassistische Alternative vorschlug.1 Während wir Terkessidis’ Kritik am Integrationsdiskurs teilen, erscheint uns das Alternativangebot
problematisch. Dieses Unbehangen führte uns zu den Überlegungen des
folgenden Papers.
E inleitu ng
Die Idee der Nation als kulturell homogene Gemeinschaft ist in Europa aus
der Mode gekommen. Liberale TheoretikerInnen und PolitikerInnen
erkennen heute durchwegs die Präsenz von MigrantInnen an und ziehen
ihre Schlüsse daraus. In diesem Zusammenhang gewinnen Konzepte und
Begriffe wie Diversity Management, Multikulturalismus und kulturelle
Vielfalt zunehmend an Bedeutung, wenn es um Fragen des Zusammenhalts
pluralistischer, nationaler Gesellschaften geht. Diese Entwicklungen im
Kampf gegen Diskriminierung und Ausschluss von Migrant_innen weisen
neben unbestreitbar positiven Zügen auch wesentliche theoretische Schwächen auf.
Im ersten Teil unseres Beitrags problematisieren wir die vorherrschende
Verwendung des Diversitätsbegriffes und ziehen Analogien zum multikulturellen Politikverständnis in Kanada, um darauf aufbauend unsere Vorstellung von Multikulturalismus als gesellschaftliches Verhältnis zu verdeutlichen. Vor diesem Hintergrund besprechen wir im zweiten Teil
Verschiebungen aktueller Integrationsdiskurse in Österreich sowie das problematische Zusammenspiel zwischen Politik und Integrationsforschung.
Dadurch soll ersichtlich werden, dass eine Migrationsforschung, die sich
nicht mit dem soziohistorischen Kontext auseinandersetzt, in dem Konstruktionen des Anderen eingebettet sind, und damit der „Kulturalisierung
1
„Integration – Ein Wundermittel auf dem Prüfstand“, Lecture und Diskussion,
05.03.2009, Semperdepot Wien.
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des Sozialen“ Vorschub leistet, letztendlich an der Reproduktion von Vorstellungen über MigrantInnen als Bedrohung für nationale Gemeinschaften teilhat. Diese kritische Reflexion bildet den Ausgangspunkt für
den letzten Teil unseres Beitrages, in dem für einen konzeptuellen und forschungsstrategischen Perspektivenwechsel plädiert wird. Dabei sollen
alternative wissenschaftliche Zugänge mit emanzipatorischem Potential
ausgelotet werden.
Multikulturalismus
als gesellschaftliches
Verhältnis
Diversity und Multikulturalismus sind zu populären Schlagwörtern avanciert: als hipper Aufhänger für den Verkauf von Zeitschriften, als kosmopolitische Imagepolitur für Unternehmen oder gar ganzer Städte und Nationen. Kurz: Diversität bzw. Multikulturalität gewinnt als neoliberale
Wettbewerbsstrategie zunehmend auch in Europa und Österreich an
Bedeutung. Dass Anti-Rassismus dabei nicht (notwendigerweise) die
Antriebsfeder bildet, zeigten etwa Online-Anzeigen von Microsoft, die in
den Medien für Empörung sorgten. Das ursprüngliche Werbebild zeigte
einen asiatischen und einen schwarzen Mann sowie eine weiße Frau im
„Chefsessel“, die gemeinsam lächelnd bei einer Firmenbesprechung sitzen.
Für den Absatzmarkt in Polen wurde die Online-Anzeige adaptiert, in dem
der Kopf des schwarzen Mannes durch einen weißen ersetzt wurde. Das
Unternehmen gibt sich demnach nur so divers, wie es für das Unternehmen
ökonomisch erfolgversprechend und rentabel erscheint. Dieses Beispiel verdeutlicht nicht nur einen zugrunde liegenden Rassismus, sondern auch,
dass „Diversität“ zur Ware wird, deren Einsatz flexibel und selektiv ist.
Ähnlich verhält es sich mit den neuerdings populär gewordenen multikulturellen Städteleitbildern, die von so genannten Expert_innen als strategischer Wettbewerbsvorteil entwickelt und implementiert werden. Diversity
Management und Multikulturalismuskonzepte werden dabei wie der Kauf
eines teuren Paars Sportschuhe verstanden, für das man sich nach monatelangen Überlegungen entscheidet, um danach effizienter laufen zu können.
Drei wesentliche mit einander verwobene Punkte wollten wir mit diesen
kurzen Ausführungen ansprechen: (1.) Die vorherrschenden Diversitätsoder Multikulturalismuskonzepte sind nicht anti-rassistisch. (2.) Diversität
wird zunehmend depolitisiert und kommodifiziert um als ökonomischer
Wettbewerbsvorteil eingesetzt werden zu können. Und (3.) diese Kommodifizierung setzt voraus, dass Diversität oder Multikulturalismus als ein
„Ding an sich“ verstanden werden. Am Beispiel des kanadischen Multikulturalismus möchten wir kurz die Problematik einer verdinglichten Auffassung von Multikulturalismus illustrieren, um unser Verständnis von Multikulturalismus als gesellschaftliches Verhältnis besser verdeutlichen zu
können.
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In Österreich erlebt der kanadische Multikulturalismus einen regelrechten Hype. Der kanadische Multikulturalismus wird dabei abgetrennt
von seinen sozialen Entstehungsbedingungen begriffen, wodurch sein stets
umkämpfter Charakter sowie die Ursachen für seine Etablierung aus dem
Blick geraten.
Die Institutionalisierung des kanadischen Multikulturalismus erfolgte
nicht aufgrund einer wohlwollenden anti-rassistischen Regierung, sondern
infolge sozialer Kämpfe und ökonomischer Krisen. Die frankokanadischen
Autonomiebewegungen, die Aufstände der indigenen Bevölkerung sowie
anti-rassistische Kämpfe der Immigrant_innen und die wirtschaftliche
Krise der 70er Jahre drohten Kanada zu spalten. Bannerji streicht heraus,
dass die Etablierung des kanadischen Multikulturalismus mitunter als eine
Antwort auf den anti-rassistischen und soziopolitischen Widerstand zu verstehen ist, wenn sie meint: „We demanded some genuine reforms, some
changes – some among us even demanded the end of racist capitalism – and
instead we got ,multiculturalism‘“ (Bannerji 2000: 89) Der kanadische Multikulturalismus diente folglich als eine Art neuer Zement, der das Fortbestehen der kanadischen Nation sichern sollte. Mit der Etablierung des Multikulturalismus wurde die Vorstellung, dass kulturelle Differenzen das
Problem gesellschaftlicher Spannungen sind, staatlich institutionalisiert
und damit der Blick auf strukturellen Rassismus und die Zunahme sozialer
Ungleichheiten infolge neoliberaler Restrukturierungsmaßnahmen verstellt. Hier zeigt sich die spezifische Rolle des offiziellen kanadischen Multikulturalismus als Instrument der Befriedung anti-rassistischer und sozialer Kämpfe und damit seine ideologische und politische Funktion.
Der Annahme, dass die Version des offiziellen kanadische Multikulturalismus – mit entsprechenden Adaptionen – auf österreichische Verhältnisse zu übertragen ist, liegt demnach ein von seinen Inhalten entleertes,
ahistorisches Multikulturalismusverständnis zugrunde und ist nicht nur
naiv sondern auch problematisch.
Multikulturalismus als gesellschaftliches Verhältnis zu begreifen, meint,
seine gesellschaftliche Produktion in den Widersprüchen der kapitalistischen, imperialistischen und (hetero)sexistischen Gesellschaftsstruktur
zu verankern. Aus dieser historisch-materialistischen Perspektive steht die
Analyse der spezifischen Rolle des Multikulturalismus in Bezug auf konkrete gesellschaftliche Praktiken und soziale Prozesse im Vordergrund.
Damit meinen wir, Multikulturalismus nur in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit (Post)Kolonialismus, (Hetero)Sexismus, den
kapitalistischen Herrschafts- und Eigentumsverhältnissen sowie den
Widerständen, die es gegen diese miteinander verwobenen Unterdrückungssysteme gegeben hat und gibt, verstehen zu können.
So muss generell auch das Aufkommen der „multikulturellen Frage“ in
der liberalen Theorie seit Ende der 70er Jahre in Verbindung mit der Entkolonialisierung, den sozialen und politischen Kämpfen von MigrantInnen
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im Norden sowie den sich veränderten neokolonialen und ökonomischen
Machtverhältnissen verstanden werden. Balibar betont, dass mit der
Umkehrung der Migrationsbewegungen in Richtung globaler Metropolen,
sich die Frage der Regierbarkeit und Verwaltung bzw. des Managements
der Migrant_innen auch dort stellte (Balibar 1992: 28). In der Art und
Weise wie Migrant_innen heute regiert und verwaltet werden, hallt jenes
Herrschaftswissen entlang der Hierarchien von „Rasse“ , Klasse und
Geschlecht nach, welches bereits das koloniale Projekt legitimierte und das
Europäische „Selbst“ gegenüber dem kolonialen „Anderen“ konstituierte
(McClintock 1995, Goldberg 1993). So sind auch Theorien von arrivierten
Vertreter_innen wie Will Kymlicka (1995) und Charles Taylor (1993) aber
auch von differenzierteren Theoretiker_innen wie Anne Phillips (2007),
von einem fundamentalen methodologischen Nationalismus geleitet, in
dem Gesellschaft als nationale Containergemeinschaft imaginiert wird,
und der Nationalstaat – naturalisiert und reifiziert – zur unumstößlichen
Prämisse für Zivilität und Fortschritt gesetzt wird (Chatterjee 1993).
I ntegrationsdiskurs
Forschu ng –
Verhältnis
u nd
ein problematisches
Während in der Österreichischen Diskussion allerorts vor Multi-KultiTräumereien gewarnt wird, stellt „das kanadische System“ für viele eine
Referenz für ein moderne Migrations- und Integrationspolitik dar und so
zeigt sich hier eine nicht ganz unwidersprüchliche Situation: Der Sermon
vom „missglückten Multikulturalismus“, der mit seinem Laissez-faire zum
Gedeihen von Parallelgesellschaften geführt haben soll und getragen sei
von Multikultiträumer_innen in Politik und Wissenschaft ertönt von allen
Seiten und Parteien. Dabei ist dieses Lamento offensichtlich schon so ein
Gemeinplatz, dass es ganz ohne reale Referenz auskommt. Auf der Suche
nach echten Multikultiträumer_innen wird man jedenfalls heute weder
Rechts noch Links fündig – falls es diese jemals gab, so sind sie heute
offensichtlich alle schweißgebadet aus ihrem Albtraum erwacht. Trotz des
weitverbreiteten MultiKulti-Lamentos zeigt sich aber, dass Imaginationen
ethnisch homogener Gemeinschaften heute nicht mehr salonfähig sind.
Migrationsrealitäten werden heute allgemein anerkannt und so wird heute
– oft mit selbstkritischem Verweis auf frühere Versäumnisse – eine umso
entschlossenere Gestaltung der Migration gefordert.
In diesem Kontext erfährt die Figur des Migranten/der Migrantin eine
Verschiebung: Im Gegensatz zum ignoranten „Gastarbeiterdiskurs“ werden Migrant_innen nun Potentiale zugesprochen – und zwar sowohl positive, verwertbare, wie auch negative, bedrohliche. Dies führt zu einer
Diversity Management-Politik, die zwischen Anerkennung von Differenz
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und Integrationsimperativ oszilliert und von restriktiver Einwanderungspolitik flankiert wird.
So machte es dann auch durchaus Sinn, als der damalige Innenminister
Platter – bekannt für seine Härte in Fragen von Zuwanderung und Asyl –
sich letztes Jahr im Rahmen der Promotionstour für seine Ideen einer
neuen Integrationspolitik mit migrantischen Stars wie Arabella Kiesbauer
ablichten ließ und sich im Interview für den Wert kultureller Diversität
aussprach.
So genannte kulturelle „Eigenarten“ der Migrant_innen werden in dieser Diversitätspolitik bis zu einem gewissen Grad akzeptiert, bzw. unterstützt. In Veranstaltungen wie dem „MIA Award“ werden etwa jährlich
Frauen, die – trotz ihres Migrationshintergrundes – Anerkennungswürdiges geleistet haben, medienwirksam geehrt. Auf den Zynismus dieser
Auszeichnung hat etwa Araba Evelyn Johnston-Arthur hingewiesen und
damit die Ablehnung ihrer MIA-Nominierung begründet.
Denn, parallel zur anerkennenden Ehrung erfolgreicher Migrant_innen
samt ihrer „akzeptablen“ Differenz, bleibt die Gesetzgebung rassistisch
und geraten breite Bevölkerungsschichten „mit Migrationshintergrund“ in
den Verdacht eine Gefahr für nationalen Wohlstand und soziale Kohäsion
zu werden, wenn sie nicht gefördert und vor allem nicht gefordert werden.
Das Chiffre der Integration erhält in dieser Situation einen zentralen
Stellenwert. Als Grundvokabel von aktuellen Migrationsdebatten ermöglicht es, unterschiedlichste Maßnahmen und Programme als neue Migrationspolitik zu legitimieren. Dabei wird Integration in dieser Diskussion
nicht im Sinne einer Kritik an institutionellen Rassismen und der Herstellung von Partizipationsmöglichkeit (im Sinne sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Rechte) verstanden. Hegemonial ist viel eher ein
Verständnis von Integration, das diese – basierend auf einem Defizitansatz
und im Rahmen eines umfassenden Problemdiskurses – als Sonderleistung
der Migrant_innen sieht; eine Leistung, die von ihnen eingefordert werden
kann, und muss (Hess/Moser 2009: 12).
Im Sinne dieser Logik kann unterschiedlichen Migrant_innengruppen
dann auch Integrationsfähigkeit und –willigkeit zu- oder abgesprochen
werden – Eigenschaften und Gesinnungen, die nicht selten mit Hilfe wissenschaftlicher Mittel erhoben werden. (Andere Gruppen wiederum, die
erst gar nicht unter das Integrationspostulat gelangen – etwa Flüchtlinge
oder Papierlose – bleiben dabei komplett ausgegrenzt (Lanz 2009: 105).)
Medienwirksam vorgeführt wurde das etwa im Fall der Studie „Perspektiven und Herausforderungen in der Integration muslimischer MitbürgerInnen in Österreich“, 2006 durchgeführt durch den deutschen Richter
und M.A. der Islamkunde Mathias Rohe – in Auftrag gegeben vom Innenministerium und der österreichischen Sicherheitsakademie. Die Studie, die
schon vor ihrer Fertigstellung mediales und politisches Aufsehen erregte
und bald nur mehr als „die Moslemstudie“ firmierte, bestand aus Umfrage-
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daten sowie anscheinend allgemeingültigen Weisheiten, die keiner näheren
Quellenangabe bedurften An Orientalismen mangelt es in der Studie dann
auch nicht, wenn da etwa von einem Zusammentreffen von „zwei sehr
gegensätzlicher Kommunikationskulturen“ gesprochen wird. Konkret:
„Orientalische Kommunikation ist indirekt, meidet offene sachliche
Kritik und wirkt auf Europäer, die sich an drastisch direkte Konfrontation gewöhnt haben, unaufrichtig.“ (S. 22)
Wie so oft gehen solche kulturalistischen Rassismen auch in diesem Fall
mit einer widersprüchlichen, gleichzeitigen Auf- und Abwertung des Anderen einher:
„Zudem zeichnen sich Menschen orientalischer Prägung, auch wenn
sie wenig gebildet sind, häufig durch eine offene Herzlichkeit aus,
solange die vertrauten Formen (insbesondere Geschlechterverhältnisse) gewahrt bleiben.“ (ebd.)
In eine Pressekonferenz ließ die damalige Innenministerin Liese Prokop
dann interessanter Weise verlautbaren, dass die Studie ergab, dass 45% der
MuslimInnen in Österreich integrationsunwillig seien. Diese, so die Innenministerin, hätten hier – also in Österreich – „nichts zu suchen“. Diese
Situation wäre vergleichbar mit einer „tickenden Zeitbombe“. Die angegebenen 45%, so musste die Innenministerin später zugeben, finden sich in
der Studie nicht – doch ist die gesamte Studie so angelegt, dass die Interpretation durch die Innenministerin nicht überrascht.
Wie in diesem Beispiel bereits ersichtlich, baut diese Integrationsdebatte auf Ideen klar trennbarer Kulturen auf, wobei bestimmten – der
Nation fremden – Kulturen ein inhärentes Gefahrenpotential zugesprochen
wird – heute steht bekanntlich das Amalgam „muslimische Kultur und
Tradition“ im Fadenkreuz des Interesses. Dominante Integrationsforschung greift den national-kulturellen Gefahrentopos auf und evaluiert in
Meinungsumfragen das Ausmaß der Bedrohung. Ein neu gegründetes
Kremser Universitätsinstitut wurde in diesem Sinne gleich „Institut für
Migration, Integration und Sicherheit“ benannt.
Der dominante Diskurs ist dabei vergeschlechtlicht und basiert auf der
Figur des „gefährlichen Moslems“ – Gefahr geht von ihm dabei in zweierlei
Richtungen aus: sowohl, im gerade angesprochenen Sinne, nach außen –
gegen „uns“, „die Gesellschaft“, etc. Sie wirkt aber auch nach innen – in
Form patriarchaler Dominanz der Männer über „ihre“ Frauen und Kinder
(Razack 2004).
Quer über Parteiengrenzen und ideologische Gräben hinweg wird heute
das Patriarchat in Einwanderer_innenkulturen angeklagt (Erdem 2009).
Diese „migrantische männliche Herrschaft“ wird dabei als losgelöst von
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gesellschaftlichen, institutionellen Verhältnissen beschrieben. Über das
Bild einer fremden Männlichkeit, die in der (im österreichischen Kontext:
Anatolischen) „dörflichen Herkunftswelt“ der Migranten (oder ihrer Väter,
wenn es um die 2. Generation geht) verankert ist, können etwa Formen
häuslicher Gewalt unter MigrantInnen als fremdes, „importiertes“ Problem benannt werden. In diesem Sinne forderte die aktuelle Innenministerin Fekter dann auch die Einführung eigener Strafgesetze für sog. „Kulturdelikte“ – womit sie, in Anschluss an internationale Diskussionen über
„Harmful traditions“ solche Delikte meinte, die in Österreich zwar verboten seien, die MigrantInnen jedoch aufgrund ihrer Kultur vielleicht als
legitim erachteten – wie etwa Zwangsverheiratungen. Einzelne migrantische Sprecherinnen, wie etwa Necla Kelek, deren Positionen in den kulturalistischen Tenor passen, werden in diesem Zusammenhang gerne als
authentische Stimmen aufgenommen, während andere Aktivistinnen und
Theoretikerinnen, die im Rahmen ihrer feministisch-antirassistischen
Arbeit auch Kritik an Institutionen wie dem Fremdenrecht üben, Rassismus der Polizei anprangern oder einen erleichterten Zugang von Migrantinnen zu Frauenhäuser fordern, hingegen bei Weitem nicht die selbe Aufmerksamkeit erlangen.
Im Rahmen des dominanten Multi-Kulti-Lamentos wird argumentiert,
dass ein zu lascher Umgang mit Einwanderungskulturen den rückständigen Traditionen zu viel Raum gibt, um sich zu entfalten. Als Reaktion
werden dann einerseits „Interkulturelle bzw. -religiöse Dialoge“ und Integrationsgipfel mit VertreterInnen anerkannter Gruppen installiert und
andererseits ein „hartes Durchgreifen“ gegenüber diesen Traditionen gefordert. Autoren wie Henrik Broder werden dann auch nicht müde vor einer
übermäßigen Toleranz der europäischen „Sitzpinkler“ gegenüber muslimischen EinwandererInnen zu warnen.
Um nicht in den Sog dieses repressiven Diskurses über das Patriarchat
in Einwandererkulturen zu geraten, erscheint uns eine Kritik, wie sie antirassistische Feministinnen wie Bannerji und Narayan entwickelten, an dieser Stelle wichtig: Sie argumentieren, dass im Rahmen dominanter kulturalistischer Politik, Fragen sozialer Ungleichheit dethematisiert werden und
die Rede von Kultur und Tradition zu einem der wenigen Möglichkeiten
für MigrantInnen wird, politisches Agency zu erlangen. So unterstützt
diese Politik die Bildung von homogenisierten Communities, die sich entlang ethnischer Grenzen identifizieren und sich gegen ein kulturell
gesetztes Außen abgrenzen. Die Sprecher dieser Communities, oftmals
Männer, werden dann damit beauftragt mit staatlichen Institutionen in
Dialog zu treten. Indem das magere Angebot ein wenig Macht zu etablieren angenommen wird, verhalten sich die Communities dann so, wie es
vom Staat erwartet wird.
Bannerji argumentiert dabei, dass das multikulturelle Angebot, sich
über kulturelle und identitäre Positionen politisch einzubringen vor allem
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für konservative, maskulinistische Männer interessant ist und sie sich
dadurch auch in der Community starke Positionen sichern.
Damit öffnet sich auch der Blick für einen Prozess, den Uma Narayan
(2000: 1085) „selective labelling“ nannte:
“whereby those with social power conveniently designate certain
changes in values and practices as consonant with cultural preservation and others as cultural loss and betrayal. Selective labelling allows
changes approved by socially dominant groups to appear consonant
with the preservation of essential values or core practices of a culture,
while depicting changes that challenge the status quo as threats to that
culture.“
Die dominante Sicht auf Kultur und Tradition von MigrantInnen tendiert
dazu, diese selektiven Definitionen dessen, was als zentrale Aspekte der
eigenen Kultur zu sehen sind und dessen Infragestellung somit als Illoyalität aufgefasst werden kann, zu übernehmen, anstatt die existierenden
Differenzen und Aushandlungsprozesse in Communities zu beachten,
bzw. MigrantInnen, die nicht in das Bild passen (etwa marxistische
Feministinnen) nicht als legitime SprecherInnen anzuerkennen.
Für eine antirassistische, emanzipative Migrationsforschung ist darum
eine Verschiebung des Analysefokus von Differenz als ontologische Kategorie zur sozialen Produktion von Differenz nötig, sodass gefragt werden kann,
unter welchen sozio-historischen, ökonomischen und politischen Bedingungen bestimmte Differenzen zu einem Problem gemacht werden (Stolcke
1995) und welche institutionellen Bedingungen Ungleichheit reproduzieren.
In diesem Sinne muss auch der methodologische Nationalismus kritisiert werden, der der dominanten Aufspaltung in einerseits Integrationsforschung und anderseits Migrations- und Grenzregimeforschung zugrunde
liegt. Migrationsregime werden kaum in Zusammenhang mit dem Multikulturalismus diskutiert, obwohl beide nicht voneinander zu trennen sind.
Die „repressive Toleranz“ (Zizek 2001) im Inneren geht einher mit der
repressiven Selektion der Migrant_innen an den Grenzen, die in der liberalen Theorie zu einem großen Teil damit legitimiert wird, dass der Nationalstaat als angeblich einzig möglicher Verwirklichungsort politischer
Organisation dargestellt wird. Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme werden folglich nicht aus der Perspektive konkreter Lebensbedingungen entworfen, sondern aus Sicht der Aufrechterhaltung des (National)
Staates entwickelt. Nicht das gegenwärtige Gesellschaftssystem und die
Grenzen des nationalen Projekts – das täglich unter anderem durch Migration in Frage gestellt wird – wird problematisiert, sondern jene Menschen,
deren Status als „MigrantIn“ aufgrund bestehender Grenzen erst produziert wird, entrechtet und diskriminiert werden. Als ein Beispiel für selektives Managen von Zuwanderung und gleichzeitig auch für den selektiven
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Einsatz multikultureller Rhetorik möchten wir nochmals auf das vermeintliche Vorzeigeland Kanada verweisen. Das folgende Beispiel lässt durchaus
Analogien zur eingangs erwähnten Microsoftwerbung zu. Es geht um zwei
zeitlich von einander unabhängige Fälle, in denen es um die Einwanderung
von chinesischen Immigrant_innen nach Vancouver geht. Der erste Fall
bezieht sich auf Investoren aus Hong Kong, die Ende der 80er Jahre 216
Wohnhäusern in Vancouver gekauft haben. Der Kauf löste Demonstrationen aus, die eine Mischung aus rassistisch motivierten und sozialen Protesten, die sich gegen die zunehmende Privatisierung von Wohnhäusern
richteten, war. Mit dem Verweis auf den kanadischen Multikulturalismus
unterstütze die Regierung damals den Verkauf der Wohnungen und trat in
der Öffentlichkeit vermeintlich entschlossen gegen Rassismus auf. Der
zweite Fall bezieht sich auf das Jahr 1999. Mittellose chinesische
MigrantInnen erreichten in Booten die Küste von Vancouver und suchten
um Asyl an. Die kanadische Regierung veranlasste die sofortige Abschiebung der als „illegal“ bezeichneten Menschen. In diesem Fall empörte sich
die Regierung nicht über ihren eigenen Rassismus und auch Multikulturalismus war kein Thema (vgl. Mitchell 1993).
Vom Kopf
auf die
F üsse
In diesem Paper haben wir für die Überwindung essentialisierender Auffassungen von „Diversität“ oder „Multikulturalismus“ plädiert und betont,
dass Multikulturalismus erst durch soziale Kämpfe und spezifische historische wie polit-ökonomische Bedingungen entstanden ist. In diesem Sinn
schließt dieser Text auch weder mit einer Kritik am Multikulturalismus als
per se rassistisch – das würde nicht zuletzt dessen emanzipatorisches
Potenzial negieren – noch soll hier, in liberaler Wissenschaftstradition, die
Frage beantwortet werden, wie die ideale multikulturelle Gesellschaft auszusehen hat und herzustellen sei – der Macht/Wissen-Komplex, auf dem so
ein bevölkerungstechnischer Gestus aufbaut, ist unseres Erachtens entschieden zurückzuweisen.
Unsere Analyse sollte viel eher zeigen, dass Multikulturalismus und
Diversität als konkrete soziale Verhältnisse zu denken sind, die unter
bestimmten Bedingungen herrschaftsstabilisierende Wirkung entfalten
konnten. So eine, von den angesprochenen postkolonialen Autorinnen entwickelte, Sicht ermöglicht es, „Multikulturalismus von oben“ als Herrschaftsstrategie zu erkennen.
Multikulturalismus von oben wird etwa in Kanada als Strategie eingesetzt, um einerseits nationalstaatliche Stabilität und andererseits um die
internationale Wettbewerbsfähigkeit Kanadas zu gewährleisten. Das Feiern von kultureller Vielfalt und deren Repression bilden dabei zwei Seiten
einer Medaille.
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Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen plädieren wir für einen
forschungsstrategischen Perspektivenwechsel, der das Konzeptdenken der
liberalen Multikulturalismusdiskussion mit Marx vom Kopf auf die Füße
stellt. Die Frage „Was macht eine multikulturelle Gesellschaft aus?“ ist
demnach nicht vom liberaldemokratischen Nationalstaat aus zu denken,
sondern von den Bedürfnissen und transnationalen Erfahrungswelten der
Migrant_innen, womit auch die sozialen Kämpfe und widerspenstigen
Praktiken der Migration sowie staatliche Politiken der Regulation in den
Blick geraten. Das führt einerseits zu einer Kritik an dem Verständnis von
Integration als notwendige Eingliederung der MigrantInnen in eine nationale „Containergemeinschaft“ – selbst dann, wenn diese als multikulturell
imaginiert wird.
Andererseits eröffnet dieser Zugang die Möglichkeit einen „Multikulturalismus von unten“ (Bannerji 2000) zu formulieren, der Sexismus, Kapitalismus, Postkolonialismus und die damit in Verbindung stehenden Konjunkturen des Rassismus transparent macht. So ein Verständnis kann
schließlich das emanzipative Potential einer “Culture of Dissent“
(Mohanty 2003) erörtern, die in (Alltags-)Erfahrungen begründet ist und
sich in politischen Identitäten und Praktiken ausdrückt, die sich der staatlich gemanagten Version des Mulitkulturalismus entgegenzusetzen vermögen und damit jene vorgegaukelte Harmonie unterbrechen kann, die in
Zusammenhang mit den vermeintlichen Lösungsansätzen “Diversity
Management“ und “Multikulturalismus“ propagiert wird. Da die Konstruktion von Differenz mit Macht- und Herrschaftsbeziehungen verflochten ist, reicht es nicht aus die bloße Anerkennung von vorab essentialisierten Differenzkategorien, die außerdem auf rassistischen Stereotypen und
kolonialen Bildern beruhen, zu fordern. Mit der Thematisierung der
gewaltvollen Herstellungsprozesse kultureller Differenzen und der Betonung des umkämpften Charakters von Kultur muss jedoch auch eine Politisierung gesellschaftlicher Verhältnisse einhergehen. Für eine kritische
Migrationsforschung bedeuten diese Einsichten, dass sie ihre eigenen
Methoden dekolonialiseren, entfaschisieren und kritisch hinterfragen,
Antirassismus auf ihre Agenda setzen und zu einem Analysewerkzeug kritischer Gesellschaftsforschung werden muss, das auch nicht davor zurückschreckt Teil einer sozialen Bewegung zu sein.
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