Das Lebesgue-Integral - Universität Würzburg
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Das Lebesgue-Integral - Universität Würzburg
Kapitel 20 Das Lebesgue–Integral 20.1 Das Lebesgue–Integral für primitive Funktionen 20.2 Das Lebesgue–Integral für nichtnegative messbare Funktionen 20.3 Das Lebesgue–Integral für beliebige messbare Funktionen 20.4 Weitere Eigenschaften des Lebesgue–Integrals 20.1 Das Lebesgue–Integral für primitive Funktionen Wir beginnen zunächst mit der Definition einer charakteristischen Funktion. Definition 20.1 Die charakteristische Funktion χA : Rn → R einer (nicht notwendig messbaren) Menge A ⊆ Rn ist definiert durch 1, falls t ∈ A, χA (t) := 0, falls t ∈ / A. Die charakteristische Funktion χA : Rn −→ R nimmt also nur auf der Menge A den Wert 1 an und ist ansonsten die Nullfunktion. Sie hat die nachstehende Eigenschaft. Lemma 20.2 ( Charakterisierung messbarer charakteristischer Funktionen ) Die charakteristische Funktion χA einer Menge A ⊆ Rn ist genau dann messbar, wenn A eine messbare Menge ist. Beweis: Da die leere Menge und der gesamte Raum Rn stets messbar sind sowie die Messbarkeit von A äquivalent zur Messbarkeit von Ac ist, folgt aus dem Lemma 19.25 χA messbar ⇐⇒ t ∈ Rn | χA (t) ≤ c messbar für alle c ∈ R ⇐⇒ ∅, Ac und Rn messbar ⇐⇒ A messbar (in der zweiten Äquivalenz unterscheide man die Fälle c ∈ (−∞, 0), c ∈ [0, 1) und c ∈ [1, ∞)), also gerade die Behauptung. 2 175 176 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Wir kommen nun zu dem für diesen Abschnitt zentralen Begriff einer primitiven Funktion. Definition 20.3 Eine Abbildung s : Rn → R heißt eine primitive Funktion (einfache Funktion, Elementarfunktion oder auch nichtnegative Treppenfunktion), wenn es endlich viele paarweise disjunkte messbare Mengen A1 , . . . , Ar ⊆ Rn und Skalare α1 , . . . , αr ≥ 0 gibt mit r X s(t) = αi χAi (t) ∀ t ∈ Rn . (20.1) i=1 Wir ergänzen die obige Definition zunächst durch einige Bemerkungen. Bemerkung 20.4 (a) Die vorausgesetzte Messbarkeit aller Ai in der Definition 20.3 impliziert aufgrund des Lemmas 20.2 die Messbarkeit der charakteristischen Funktionen χAi . Also ist jede primitive Funktion als (nichtnegative) Linearkombination von messbaren Funktionen nach Satz 19.27 ebenfalls messbar. (b) Die Darstellung einer primitiven Funktion ist natürlich nicht eindeutig. Zerlegt man z.B. eine der gegebenen Mengen Ai in zwei messbare Teilmengen Ai1 und Ai2 , so gilt χAi (t) = χAi1 (t) + χAi2 (t) für alle t ∈ Rn . (c) Die Voraussetzung, dass alle Ai disjunkt sind, ist keine große Einschränkung. Ist beispielsweise Ai ∩ Aj 6= ∅ für gewisse Indizes i 6= j, so lässt sich die Menge Ai ∪ Aj disjunkt zerlegen in die drei messbaren Mengen Ai \ Aj , Aj \ Ai und Ai ∩ Aj . Es gilt dann αi χAi (t) + αj χAj (t) = αi χAi \Aj (t) + αj χAj \Ai (t) + (αi + αj )χAi ∩Aj (t) für alle t ∈ Rn . (d) Jede Abbildung s : Rn → R, die nur endlich viele (verschiedene) nichtnegative Werte annimmt, etwa α1 , . . . , αr , besitzt eine Darstellung der Form (20.1). Zu diesem Zweck braucht man lediglich die disjunkten Mengen Ai := s−1 ({αi }) für i = 1, . . . , r zu definieren, die allerdings im Allgemeinen nicht messbar sind. Umgekehrt ist klar, dass jede Funktion der Gestalt (20.1) (und damit jede primitive Funktion) auch nur endlich viele verschiedene nichtnegative Werte annimmt. 3 Die in der Definition 20.3 geforderte Messbarkeit der Mengen Ai spielt in der Darstellung (20.1) zunächst keine Rolle. Die Messbarkeit der Ai wird erst in der folgenden Definition wichtig, in welcher wir für die Klasse der primitiven Funktionen das Lebesgue–Integral einführen. Zu diesem Zweck ergänzen wir für den Rest dieses Skriptes das Rechnen mit den Werten ±∞ um die Regel 0 · ±∞ := 0, (20.2) während Ausdrücke der Gestalt ∞ − ∞“ weiterhin nicht definiert sind. ” Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.1. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR PRIMITIVE FUNKTIONEN Definition 20.5 Sei s(t) = r X 177 ∀ t ∈ Rn αi χAi (t) i=1 eine primitive Funktion, also Ai ⊆ Rn messbar und disjunkt sowie αi ≥ 0 für alle i = 1, . . . , r. Für eine messbare Menge A ⊆ Rn heißt dann Z s(t)dt := A r X αi λ(A ∩ Ai ) (20.3) i=1 das Lebesgue–Integral von s über A. Zu dieser Definition seien ebenfalls wieder einige Bemerkungen hinzugefügt. Bemerkung 20.6 (a) Die in (20.3) auftretenden Durchschnitte A ∩ Ai sind messbare Mengen aufgrund der in Definition 20.5 vorausgesetzten Messbarkeit von A und Ai . Damit existieren die Ausdrücke λ(A ∩ Ai ), also ist die Summe auf der rechten Seite von (20.3) zumindest definiert. (b) Die Mengen Ai können unbeschränkt sein; dabei kann auch λ(Ai ) = + ∞ auftreten. In diesem Fall ist das Integral von s auf A automatisch gleich +∞, sofern αi > 0 für den entsprechenden Koeffizienten gilt. Für αi = 0 hingegen ist αi λ(Ai ) = 0 gemäß der neu eingeführten Konvention (20.2) für das Rechnen mit ∞. Dies ist natürlich sinnvoll, denn ist s die Nullfunktion auf einer großen Menge, so soll dies durch die obige Definition auch richtig wiedergegeben werden. (c) Die Definition (20.3) verdeutlicht, warum wir bei primitiven Funktionen nur nichtnegative Skalare zugelassen haben, da anderenfalls nicht definierte Ausdrücke der Gestalt ∞ − ∞“ auftreten könnten. ” (d) Der Ausdruck (20.3) vereinfacht sich zu Z A s(t)dt := r X αi λ(Ai ) i=1 sofern die Mengen Ai allesamt in A enthalten sind. (e) Ausdrücklich sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, dass das Lebesgue– Integral einer primitiven Funktion nichtnegativ ist und durchaus den Wert + ∞ annehmen kann. 3 Da eine primitive Funktion durchaus mehrere Darstellungen haben kann, vergleiche hierzu die Bemerkung 20.4 (b), die Definition (20.3) jedoch von der speziellen Darstellung der primitiven Funktion abhängt, ist zurzeit nicht klar, ob das Lebesgue–Integral durch den Ausdruck (20.3) überhaupt wohldefiniert ist. Das folgende Resultat klärt diesen Sachverhalt. Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 178 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Lemma 20.7 ( Wohldefiniertheit des Lebesgue–Integrals für primitive Funktionen ) Sei s eine primitive Funktion mit den beiden Darstellungen r X s(t) = αi χAi (t) und s(t) = i=1 m X βj χBj (t) j=1 für gewisse paarweise disjunkte und messbare Mengen Ai ⊆ Rn bzw. Bj ⊆ Rn sowie gewisse Zahlen αi , βj ≥ 0. Dann ist r X αi λ(A ∩ Ai ) = m X βj λ(A ∩ Bj ) j=1 i=1 für alle messbaren Mengen A ⊆ Rn und somit das Integral von s über A wohldefiniert. Beweis: Sei A ⊆ Rn eine beliebige messbare Menge. In diesem gesamten Beweis gehen wir davon aus, dass Ai ⊆ A für alle i = 1, . . . , r und Bj ⊆ A für alle j = 1, . . . , m gilt. Dies lässt sich notfalls erreichen, indem man die Ai bzw. Bj überall durch die messbaren Mengen Ai ∩ A bzw. Bj ∩ A ersetzt. Wir definieren noch die beiden messbaren Mengen A0 := Rn \ r [ Ai und B0 := Rn \ i=1 m [ Bj j=1 mit den zugehörigen Skalaren α0 := 0 und β0 := 0. Dann gelten r X s(t) = αi χAi (t) und s(t) = m X βj χBj (t) j=0 i=0 sowie Rn = A0 ∪ A1 ∪ . . . ∪ Ar und Rn = B0 ∪ B1 ∪ . . . ∪ Bm , wobei diese Vereinigungen weiterhin disjunkt sind. Daher ist Ai = m [ (Ai ∩ Bj ) für alle i = 0, 1, . . . , r j=0 und Bj = r [ (Ai ∩ Bj ) für alle j = 0, 1, . . . , m, i=0 wobei es sich jeweils um disjunkte Vereinigungen handelt. Die endliche Additivität des Lebesgue–Maßes liefert deshalb λ(Ai ) = m X λ(Ai ∩ Bj ) für alle i = 0, 1, . . . , r j=0 Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.1. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR PRIMITIVE FUNKTIONEN und r X λ(Bj ) = 179 λ(Ai ∩ Bj ) für alle j = 0, 1, . . . , m. i=0 Durch Summation erhalten wir daher r X αi λ(Ai ) = i=0 und m X X αi λ(Ai ∩ Bj ) X βj λ(Ai ∩ Bj ). i,j βj λ(Bj ) = j=0 i,j Jeder Summand mit λ(Ai ∩ Bj ) = 0 trägt zu den obigen Summen nichts bei. Ist hingegen λ(Ai ∩ Bj ) > 0, so ist zwangsläufig Ai ∩ Bj 6= ∅. Wegen der Disjunktheit der Ai –Mengen auf der einen Seite sowie der Bj –Mengen auf der anderen Seite gilt dann bereits αi = βj in dem betrachteten Fall. Es folgt somit r X αi λ(Ai ) = i=0 m X βj λ(Bj ). j=0 Wegen α0 = 0 und β0 = 0 ergibt sich schließlich r X αi λ(Ai ) = i=1 m X βj λ(Bj ) j=1 und damit die gewünschte Behauptung. 2 Einige einfache Eigenschaften des Integrals von primitiven Funktionen sind in dem folgenden Resultat zusammengefasst. Lemma 20.8 ( Elementare Eigenschaften des Integrals primitiver Funktionen ) Seien A ⊆ Rn messbar und f, g : Rn → R primitive Funktionen. Dann gelten: (a) Es ist Z (b) Es ist Z A (c) Es ist Z A 1dx = λ(A). A αf (t)dt = α Z f (t) + g(t) dt = f (t)dt ∀ α ≥ 0. A Z A f (t)dt + Z g(t)dt. A Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 180 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL (d) Es ist Z f (t)dt ≤ A n Z g(t)dt, A sofern f (t) ≤ g(t) für alle t ∈ R gilt. Beweis: (a) Dies folgt sofort aus der Definition 20.5, denn wir haben die spezielle Darstellung 1 ≡ χA (t) für alle t ∈ A. (b) Sei f (t) = r X αi χAi (t) i=1 eine Darstellung der primitiven Funktion f mit disjunkten und messbaren Mengen Ai ⊆ Rn sowie Skalaren αi ≥ 0. Dann ist αf (t) = r X ααi χAi (t), i=1 insbesondere also αf ebenfalls eine primitive Funktion. Unter Verwendung von (20.3) folgt mit obigen Darstellungen außerdem Z Z r r X X (αf )(t)dt = ααiλ(A ∩ Ai ) = α αi λ(A ∩ Ai ) = α f (t)dt, A i=1 A i=1 also gerade die Behauptung. (c) Seien f (t) = r X αi χAi (t) und g(t) = i=1 m X βj χBj (t) j=1 Darstellungen der primitiven Funktionen f und g mit disjunkten und messbaren Mengen Ai ⊆ Rn bzw. Bj ⊆ Rn sowie Skalaren αi ≥ 0 bzw. βj ≥ 0. Definieren wir noch die beiden (messbaren) Hilfsmengen n A0 := R \ r [ Ai n und B0 := R \ i=1 m [ Bj j=1 mit den zugehörigen Skalaren α0 := 0 und β0 := 0, so gilt einerseits f (t) = r X αi χAi (t) und g(t) = i=0 m X βj χBj (t) j=0 und andererseits haben wir Ai = m [ (Ai ∩ Bj ) ∀ i = 0, 1, . . . , r und Bj = j=0 r [ (Ai ∩ Bj ) ∀ j = 0, 1, . . . , m, i=0 Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.1. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR PRIMITIVE FUNKTIONEN 181 man vergleiche hierzu die entsprechende Konstruktion im Beweis von Lemma 20.7. Da die Mengen Ai ∩ Bj paarweise disjunkt sind, gilt χAi (t) = m X χAi ∩Bj (t) ∀ i = 0, 1, . . . , r und χBj (t) = j=0 r X χAi ∩Bj (t) ∀ j = 0, 1, . . . , m. i=0 Also ist f (t) = X αi χAi ∩Bj (t) und g(t) = i,j X βj χAi ∩Bj (t) (20.4) i,j sowie (f + g)(t) = X (αi + βj )χAi ∩Bj (t), i,j wobei die Summationen jeweils über alle i = 0, 1, . . . , r und alle j = 0, 1, . . . , m laufen. Aus diesen Darstellungen ergibt sich einerseits, dass f + g wiederum eine primitive Funktion ist, und andererseits die Formel Z (f + g)(t)dt = X (αi + βj )λ A ∩ (Ai ∩ Bj ) = X X αi λ A ∩ (Ai ∩ Bj ) + βj λ A ∩ (Ai ∩ Bj ) A i,j i,j (20.4) = Z A f (t)dt + i,j Z g(t)dt A und somit die Behauptung. (d) Wie im Beweis des Teils (c), vergleiche hierzu (20.4), können wir disjunkte und messbare Teilmengen C1 , . . . , Ck ⊆ Rn sowie gewisse Skalare γi , δi ≥ 0 finden derart, dass f und g die Darstellungen k k X X f (t) = γi χCi (t) und g(t) = δi χCi (t) i=1 i=1 besitzen (dabei ist in der obigen Notation Cl = Ai ∩ Bj für jedes l mit geeigneten i und j). Aus der Voraussetzung f ≤ g folgt dann γi ≤ δi für alle i = 1, . . . , k und somit Z f (t)dt = A k X i=1 γi λ(A ∩ Ci ) ≤ k X δi λ(A ∩ Ci ) = i=1 Z g(t)dt, A womit auch die letzte Behauptung des Lemmas bewiesen wäre. Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 2 182 20.2 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Das Lebesgue–Integral für nichtnegative messbare Funktionen Wir wollen in diesem Abschnitt das zuvor eingeführte Integral einer primitiven Funktion auf die Klasse der nichtnegativen messbaren Funktionen erweitern. Zu diesem Zweck benötigen wir das nachstehende Resultat. Satz 20.9 Approximation durch primitive Funktionen Seien A ⊆ Rn messbar und f : A → R messbar mit f (t) ≥ 0 für alle t ∈ A. Dann existiert eine monoton steigende Folge primitiver Funktionen {sk } derart, dass sk → f punktweise auf A gilt. Beweis: Der Beweis ist konstruktiv, wenngleich die Notation zunächst etwas abschreckend wirkt und dem Leser dringend empfohlen wird, sich geeignete Skizzen zur Definition der gleich auftretenden Mengen und Treppenfunktionen anzufertigen, vergleiche hierzu auch die Abbildung 20.1. 2 k=2 l=5 f 1 E2 t a b = E2,5 n ≤ f (t) < = t ∈ A 5−1 22 5 22 A = [a, b] o Abbildung 20.1: Zur Konstruktion der Mengen Ek,l und Ek im Beweis des Satzes 20.9 Für jedes k = 1, 2, . . . und alle t ∈ A definieren wir eine Funktion sk durch l−1 , falls l−1 ≤ f (t) < 2lk , l = 1, 2, . . . , k2k , 2k 2k sk (t) := k, falls f (t) ≥ k. Offenbar handelt es sich bei den sk um primitive Funktionen, denn setzen wir l−1 l Ek,l := t ∈ A k ≤ f (t) < k ∀l = 1, . . . , k2k und 2 2 Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.2. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR NICHTNEGATIVE MESSBARE FUNKTIONEN Ek := t ∈ A f (t) ≥ k , 183 so sind die endlich vielen disjunkten Mengen Ek,l , Ek messbar, und es gilt die Darstellung k sk (t) := k2 X l−1 l=1 2k χEk,l (t) + kχEk (t) für alle t ∈ A, k = 1, 2, . . . . Ferner ist sk nichtnegativ mit sk ≤ sk+1 ≤ f für alle k ∈ N. Außerdem folgt aus der Definition der sk sofort 0 ≤ f (t) − sk (t) < sk (t) = k, 1 2k ∀k > f (t), falls f (t) < ∞, falls f (t) = ∞. Zusammen ergibt sich gerade limk→∞ sk (t) = f (t) für jedes t ∈ A. 2 Die im Beweis des Satzes 20.9 konstruierte Folge von primitiven Funktionen {sk } konvergiert übrigens sogar gleichmäßig gegen die Funktion f auf jeder Teilmenge B ⊆ A, auf der die Abbildung f beschränkt ist. Insbesondere ist {sk } daher auf der gesamten Menge A gleichmäßig konvergent gegen f , sofern es sich bei f um eine beschränkte Funktion auf A handelt. Diese Aussagen ergeben sich unmittelbar aus dem gerade geführten Beweis. Motiviert durch den Satz 20.9 führen wir noch die folgende Notation ein: Ist {sk } eine Folge von monoton steigenden Funktionen (dabei muss es sich nicht zwangsläufig um primitive Funktionen handeln), die auf einer Menge A punktweise gegen eine Grenzfunktion f konvergieren, so schreiben wir hierfür {sk } ↑ f auf A. Von dieser Schreibweise wird in diesem Abschnitt noch mehrfach Gebrauch gemacht werden. Seien nun A ⊆ Rn eine messbare Menge und f : A → R eine messbare Funktion mit f (t) ≥ 0 für alle t ∈ A. Aufgrund des Satzes 20.9 existiert dann eine monoton steigende Folge {sk } von primitiven Funktionen derart, dass sk → f punktweise auf A gilt. Für jede primitive Funktion sk haben wir im vorigen Abschnitt bereits das (Lebesgue–) Integral eingeführt. Daher erscheint es natürlich, durch Z Z sk (t)dt f (t)dt := lim A k→∞ A das Integral von f auf A zu definieren. In der Tat werden wir genau dies tun, müssen uns zuvor aber überlegen, dass diese Definition unabhängig von der speziell gewählten Folge von Treppenfunktionen {sk } ist. Als Vorbereitung hierfür beweisen wir das folgende Resultat. Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 184 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Lemma 20.10 Seien {uk } eine Folge monoton wachsender primitiver Funktionen und v eine weitere primitive Funktion mit v ≤ limk→∞ uk (punktweise). Dann gilt Z Z uk (t)dt v(t)dt ≤ lim k→∞ A A für jede messbare Menge A ⊆ Rn . P Beweis: Sei v = m i=1 αi χAi mit α1 , . . . , αm ≥ 0 und disjunkten, messbaren Teilmengen A1 , . . . , Am ⊆ Rn eine Darstellung von v. Gemäß Definition ist dann Z m X v(t)dt = αi λ(A ∩ Ai ). (20.5) A i=1 Für ein zunächst festes β > 1 und ein beliebiges k ∈ N definieren wir die Menge Bk := t ∈ A βuk (t) ≥ v(t) . Da die uk (folglich auch die Abbildungen βuk ) und v messbar sind, handelt es sich bei den Bk selbst um messbare Mengen, vergleiche hierzu das Lemma 19.26. Weil die Folge {uk } monoton wächst, gilt außerdem B1 ⊆ B2 ⊆ . . . ⊆ A und damit insbesondere ∞ [ (20.6) Bk ⊆ A. k=1 Tatsächlich gilt hierbei sogar die Gleichheit ∞ [ Bk = A, (20.7) k=1 ist nämlich t ∈ A beliebig gegeben, so gilt nach Voraussetzung v(t) ≤ limk→∞ uk (t) für dieses spezielle t, wobei wir ohne Einschränkung v(t) > 0 voraussetzen dürfen, denn anderenfalls ist sowieso t ∈ Bk für alle k ∈ N. Unter dieser Voraussetzung gilt wegen β > 1 dann aber v(t) ≤ βuk (t) für alle k ∈ N hinreichend groß und daher t ∈ Bk für alle diese k. Im Hinblick auf (20.6) und (20.7) haben wir also Bk ↑ A. Dies wiederum impliziert Ai ∩ Bk ↑ Ai ∩ A für alle i = 1, . . . , m. Die Stetigkeit von unten des Lebesgue–Maßes, vergleiche Lemma 19.4, liefert daher lim λ(Ai ∩ Bk ) = λ(Ai ∩ A) ∀ i = 1, . . . , m. k→∞ Ferner ist v(t)χBk (t) = m X i=1 αi χAi (t)χBk (t) = m X αi χAi ∩Bk (t) ∀ k ∈ N i=1 Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 (20.8) 20.2. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR NICHTNEGATIVE MESSBARE FUNKTIONEN 185 eine Darstellung der primitiven Funktion v · χBk , so dass wir aus der Definition des zugehörigen Integrals unmittelbar Z m X v(t)χBk (t)dt = αi λ(Ai ∩ Bk ) ∀ k ∈ N (20.9) A i=1 erhalten (der Schnitt mit A braucht auf der rechten Seite nicht mehr genommen zu werden, da wir schon Bk ⊆ A haben). Schließlich erwähnen wir an dieser Stelle noch die Gültigkeit der Ungleichung v(t) · χBk (t) ≤ βuk (t) ∀ k ∈ N, (20.10) die für ein t ∈ / Bk gilt, weil die linke Seite dann Null und die rechte Seite stets nichtnegativ ist, während wir für ein t ∈ Bk gemäß Definition dieser Menge v(t) · χBk (t) = v(t) ≤ βuk (t) haben. Nach diesen Vorbereitungen kommen wir nun zum Nachweis der eigentlichen Behauptung: Es gilt Z m X (20.5) αi λ(Ai ∩ A) v(t)dt = A i=1 (20.8) = m X αi lim λ(Ai ∩ Bk ) k→∞ i=1 = (20.9) = (20.10) ≤ = lim k→∞ m X αi λ(Ai ∩ Bk ) Zi=1 lim v(t)χBk (t)dt k→∞ A Z βuk (t)dt lim k→∞ A Z uk (t)dt, β lim k→∞ A wobei wir die aus dem Lemma 20.8 bekannte Monotonie des Lebesgue–Integrals für primitive Funktionen verwendet haben. Lässt man nun das vorübergehend fest gewählte β > 1 gegen Eins gehen, so folgt die Behauptung. 2 Eine unmittelbare Konsequenz des obigen Resultates ist das nachstehende Korollar. Korollar 20.11 ( Wohldefiniertheit des L–Integrals für nichtneg. messbare Funktionen ) Seien {uk }, {vk } zwei monoton wachsende Folgen primitiver Funktionen mit limk→∞ uk = limk→∞ vk (punktweise). Dann ist Z Z vk (t)dt uk (t)dt = lim lim k→∞ A n k→∞ A für jede messbare Teilmenge A ⊆ R . Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 186 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Beweis: Für ein festes l ∈ N gilt nach Voraussetzung die Ungleichung vl ≤ limk→∞ uk . Wegen Lemma 20.10 ist daher Z Z uk (t)dt vl (t)dt ≤ lim k→∞ A A für jedes l ∈ N. Mit l → ∞ folgt somit Z Z uk (t)dt. vl (t)dt ≤ lim lim l→∞ k→∞ A A Aus Symmetriegründen gilt aber auch die umgekehrte Ungleichung. Insgesamt ergibt sich damit die Behauptung. 2 Im Hinblick auf das Korollar 20.11 ist die nun folgende und weiter oben bereits avisierte Definition des Integrals einer nichtnegativen messbaren Funktion unabhängig von der speziellen Folge primitiver Funktionen und daher erst wohldefiniert. Definition 20.12 Seien A ⊆ Rn messbar, f : A −→ R eine nichtnegative und messbare Funktion sowie {uk } eine Folge monoton wachsender, primitiver Funktionen mit limk→∞ uk = f (punktweise). Dann heißt Z Z uk (t)dt f (t)dt := lim k→∞ A A das Lebesgue–Integral von f über A. Im Zusammenhang mit der vorstehenden Definition sei insbesondere daran erinnert, dass es zu der dort gegebenen messbaren Funktion f stets eine Folge primitiver Funktionen {uk } mit uk ↑ f gibt, vergleiche hierzu den Satz 20.9. Einige elementare Eigenschaften des Lebesgue–Integrals für nichtnegative messbare Funktionen sind in dem nächsten Resultat zusammengefasst. Lemma 20.13 ( Elementare Eigenschaften des L–Integrals nichtneg. messbarer Funktionen ) Seien A ⊆ Rn messbar, f, g : A −→ R messbar und nichtnegativ sowie α, β ≥ 0. Dann gelten: Z Z Z (a) Es ist (αf + βg)dt = α f dt + β gdt (Linearität). A (b) Es ist Z A f dt ≥ 0 A (Nichtnegativität). A (c) Für f ≤ g (punktweise) gilt Z f dt ≤ A Z gdt (Monotonie). A (d) Ist B ⊆ A eine weitere messbare Menge, so gilt Z B f dt ≤ Z f dt. A Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.2. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR NICHTNEGATIVE MESSBARE FUNKTIONEN 187 Beweis: (a) Wegen Satz 19.27 ist αf +βg zumindest wieder eine (nichtnegative) messbare Funktion. Ist nun {uk } eine Folge primitiver Funktionen mit {uk } ↑ f , so ist {αuk } ↑ αf , und es folgt Z Z Z Z uk (t)dt = α f (t)dt αuk (t)dt = α lim αf (t)dt = lim A k→∞ k→∞ A A A wegen Definition 20.12 und der aus dem Lemma 20.8 bekannten Linearität des Lebesgue– Integrals von primitiven Funktionen. Sind nun {uk }, {vk } zwei Folgen primitiver Funktionen mit {uk } ↑ f und {vk } ↑ g, so gilt {uk + vk } ↑ f + g, weshalb wir durch erneute Anwendung der Definition 20.12 und des Lemmas 20.8 auch Z Z (uk + vk )dt (f + g)dt = lim k→∞ A A Z Z uk dt + vk dt = lim k→∞ A Z Z A vk dt uk dt + lim = lim k→∞ A k→∞ A Z Z = f dt + gdt A A erhalten. Insgesamt folgt die Aussage (a). (b) Die Nichtnegativität gilt für primitive Funktionen und überträgt sich durch Grenzübergang dann sofort auf nichtnegative messbare Funktionen f . (c) Sei nun f ≤ g vorausgesetzt. Dann ist g = f + (g − f ), wobei g − f selbst eine nichtnegative messbare Funktion ist. Aus den schon bewiesenen Aussagen (a) und (b) ergibt sich somit Z Z Z Z gdt = A (g − f )dt ≥ f dt + A A f dt, A also gerade die Behauptung. P (d) Sei zunächst s eine primitive Funktion, etwa s(t) = m i=1 αi χAi (t) mit paarweise disn junkten, messbaren Mengen Ai ⊆ R und nichtnegativen Zahlen αi ≥ 0. Definitionsgemä3 ist dann Z Z m m X X s(t)dt = αi λ(Ai ∩ A) und s(t)dt = αi λ(Ai ∩ B). A B i=1 i=1 Wegen B ⊆ A ist aufgrund des Satzes 19.15 und des Lemmas 19.4 aber λ(Ai ∩ B) ≤ λ(Ai ∩ A) für alle i = 1, . . . , m. Aus αi ≥ 0 folgt daher Z Z s(t)dt ≤ s(t)dt. (20.11) B A Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 188 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Die Aussage (d) gilt also zumindest für jede primitive Funktion. Da f : A → R nichtnegativ und messbar ist, existiert wegen des Satzes 20.9 eine Folge primitiver Funktionen {sk } mit {sk } ↑ f auf A. Gemäß Definition gilt dann Z Z sk (t)dt. f (t)dt = lim k→∞ A A Da B nach Voraussetzung ebenfalls messbar ist, handelt es sich bei der charakteristischen Funktion χB im Hinblick auf das Lemma 20.2 um eine messbare Abbildung. Folglich ist auch sk := sk χB für alle k ∈ N messbar, vergleiche Satz 19.27. Tatsächlich handelt es sich bei den sk um primitive Funktionen mit {sk } ↑ f auf B. Somit ist Z Z f (t)dt = lim sk (t)dt k→∞ B B aufgrund von Definition 20.12. Aus sk = sk auf B folgt dann mit der schon bewiesenen Aussage (20.11) für primitive Funktionen die Gleichungs– bzw. Ungleichungskette Z Z f (t)dt = lim sk (t)dt k→∞ B B Z sk (t)dt = lim k→∞ B Z sk (t)dt ≤ lim k→∞ A Z = f (t)dt, A insgesamt also gerade die Behauptung. 2 Die vorigen Eigenschaften erlauben uns, eine Charakterisierung des Lebesgue–Integrals von nichtnegativen messbaren Funktionen anzugeben, die in der Literatur häufig als alternative Definition zu finden ist. Korollar 20.14 ( Charakterisierung des L–Integrals nichtnegativer messbarer Funktionen ) Seien A ⊆ Rn messbar und f : A → R nichtnegativ und messbar. Dann gilt Z Z f (t)dt = sup u(t)dt u primitive Funktion mit u ≤ f . A A Beweis: Aus der Definition des Lebesgue–Integrals von f über A folgt mit einer speziellen Folge monoton steigender primitiver Funktionen {uk } ↑ f unmittelbar Z Z Z uk (t)dt = sup uk (t)dt, f (t)dt = lim A k→∞ A k∈N A Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.3. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR BELIEBIGE MESSBARE FUNKTIONEN 189 wobei die zweite Gleichung noch die Monotonie des Integrals verwendet (eine monoton wachsende Folge konvergiert gegen ihr – endliches oder unendliches – Supremum). Lassen wir statt der speziellen Menge {uk | k ∈ N} nun alle nichtnegativen und nach oben durch f beschränkten primitiven Funktionen zu, so folgt die Ungleichung Z Z u(t)dt u primitive Funktion mit u ≤ f . f (t)dt ≤ sup A A Die andere Abschätzung ergibt sich wie folgt: Sei u eine beliebige primitive Funktion mit u ≤ f . Wegen Lemma 20.13 (c) ist dann Z Z f (t)dt ≥ u(t)dt. A A Da u hierbei beliebig war, folgt Z Z u(t)dt u primitive Funktion mit u ≤ f , f (t)dt ≥ sup A A zusammen also gerade die Behauptung. 20.3 2 Das Lebesgue–Integral für beliebige messbare Funktionen Seien A ⊆ Rn eine messbare Menge und f : A → R eine messbare Funktion. Dann gilt f = f + − f − auf A für die beiden wegen Satz 19.27 ebenfalls messbaren Funktionen f + := max{0, f } und f − := max{0, −f }. Da sowohl f + als auch f − nichtnegativ sind, existieren die Ausdrücke Z Z + f dt und f − dt, A (20.12) A wobei beide Integrale endliche oder unendliche Werte annehmen können. Diese Vorbetrachtung motiviert die nachstehende Definition. Definition 20.15 Seien A ⊆ Rn messbar sowie f : A → R eine messbare Abbildung. Ist mindestens eines der beiden Integrale aus (20.12) endlich, so definieren wir Z Z Z + f dt := f dt − f − dt (20.13) A A A und nennen den links stehenden Ausdruck das (Lebesgue–) Integral von f auf A. In diesem Fall bezeichnen wir f als quasi–integrierbar auf A; sind sogar beide Integrale aus (20.12) endlich, so heißt f (Lebesgue–) integrierbar auf A. Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 190 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Handelt es sich bei f selbst bereits um eine nichtnegative Funktion, so gilt f = f + und das Integral von f stimmt mit dem von f + überein, also mit dem schon früher definierten Integral für eine nichtnegative, messbare Funktion. Ansonsten sei ausdrücklich darauf verwiesen, dass wir in diesem Kapitel bisher nur das Lebesgue–Integral von Funktionen (primitiven Funktionen etc.) eingeführt haben, aber noch an keiner Stelle von einer (Lebesgue–) integrierbaren Funktion gesprochen haben. Der Begriff einer (Lebesgue–) integrierbaren Funktion taucht erstmals in der Definition 20.15 auf. Hier müssen wir nun fein säuberlich unterscheiden zwischen dem Integral einer Funktion und einer integrierbaren Funktion. Das Integral existiert stets dann, sofern in der Differenz (20.13) zumindest einer der beiden Integrale endlich ist und somit der nicht definierte Fall ∞ −∞“ vermieden wird; dann ” nennen wir f quasi–integrierbar, aber noch nicht integrierbar. Um von einer integrierbaren Funktion f zu sprechen, verlangen wir ausdrücklich mehr, nämlich die Endlichkeit der beiden auftretenden Integrale aus (20.12). Bemerkung 20.16 Der gerade eingeführte Begriff der Lebesgue–Integrierbarkeit von messbaren Funktionen gilt insbesondere auch für nichtnegative, messbare Funktionen. Konkret soll dies heißen, dass wir eine nichtnegative, R messbare Funktion f : A → R als Lebesgue– integrierbar bezeichnen, wenn das Integral A f (t)dt einen endlichen Wert annimmt (hierbei ist A ⊆ Rn natürlich wieder eine messbare Menge). 3 Für die nun definierte Integrierbarkeit einer messbaren Abbildung lassen sich verschiedene und zum Teil recht nützliche Charakterisierungen angeben. Satz 20.17 ( Charakterisierung Lebesgue–integrierbarer Funktionen ) Seien A ⊆ Rn eine messbare Menge und f : A → R eine messbare Funktion. Dann sind die folgenden Aussagen äquivalent: (a) f ist integrierbar. (b) f + und f − sind integrierbar. (c) Es gibt integrierbare Funktionen u ≥ 0, v ≥ 0 mit f = u − v. (d) Es gibt eine integrierbare Funktion g mit |f | ≤ g. (e) |f | ist integrierbar. Beweis: Die Äquivalenz von (a) und (b) ist gerade die Definition 20.15, so dass wir durch einen Ringschluss nur noch die Äquivalenz der Aussagen (b)–(e) beweisen müssen. (b) =⇒ (c): Da f + , f − integrierbar sind, leisten u := f + , v := f − gerade das Gewünschte. (c) =⇒ (d): Mit den beiden nichtnegativen Funktionen u und v ist offenbar auch deren Summe u + v integrierbar. Wegen f = u−v ≤u ≤u+v und −f =v−u≤v ≤u+v Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.3. DAS LEBESGUE–INTEGRAL FÜR BELIEBIGE MESSBARE FUNKTIONEN 191 gilt dann |f | ≤ g mit g := u + v. (d) =⇒ (e): Aus der Monotonie des Integrals für nichtnegative messbare Funktionen folgt aus dem Teil (d) unmittelbar Z Z |f |dt ≤ gdt. A A Die Integrierbarkeit von g impliziert daher die Integrierbarkeit von |f |, vergleiche hierzu die Bemerkung 20.16. (e) =⇒ (b): Per Definition ist f + ≤ |f | und f − ≤ |f |. Durch erneute Anwendung der Monotonie des Integrals für nichtnegative, messbare Funktionen folgt somit Z Z Z Z + − f dt ≤ |f |dt und f dt ≤ |f |dt. A A A A Aus der Integrierbarkeit von |f | ergibt sich wegen Bemerkung 20.16 somit die Integrierbarkeit von f + und f − . 2 Wir beweisen im Folgenden einige wichtige Eigenschaften von Lebesgue–integrierbaren Funktionen. Satz 20.18 ( Eigenschaften von Lebesgue–integrierbaren Funktionen ) Sei A ⊆ Rn messbar. Dann gelten: (a) Ist f : A → R messbar und beschränkt sowie λ(A) < ∞, so ist f integrierbar über A; insbesondere ist jede auf einer kompakten Menge stetige Funktion integrierbar. (b) Sind f, g : A → R integrierbar mit f (t) ≤ g(t) für alle t ∈ A, so ist Z Z f (t)dt ≤ g(t)dt. A A (c) Ist f : A → R messbar, gilt a ≤ f (t) ≤ b für alle t ∈ A und ist λ(A) < +∞, so ist Z aλ(A) ≤ f (t)dt ≤ bλ(A). A (d) Mit f, g : A → R integrierbar ist auch die Summe f + g integrierbar, und es gilt Z Z Z (f + g)(t)dt = f (t)dt + g(t)dt. A A A (e) Mit f : A → R integrierbar und α ∈ R ist auch αf integrierbar auf A, und es gilt Z Z (αf )(t)dt = α f (t)dt. A A Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 192 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL (f ) Für f : A → R integrierbar gilt die Dreiecksungleichung Z Z f (t)dt. f (t)dt ≤ A A (g) Mit f, g : A → R integrierbar sind auch max{f, g} und min{f, g} integrierbar auf A. Beweis: (a) Da f beschränkt ist, existiert ein γ ≥ 0 mit |f | ≤ γ auf A. Da f ferner messbar ist, handelt es sich bei |f | nach Satz 19.27 ebenfalls um eine messbare Funktion auf A. Aus der Linearität und Monotonie von nichtnegativen messbaren Funktionen folgt daher Z Z Z |f |dt ≤ γdt = γ 1dt = γλ(A) < ∞, A A A vergleiche Lemma 20.8 und Lemma 20.13. Nach Bemerkung 20.16 ist |f | daher integrierbar auf A, was wegen Satz 20.17 äquivalent zur Integrierbarkeit von f selbst ist. (b) Seien f, g : A → R integrierbar mit f ≤ g auf A. Dann ist f + ≤ g+ und f − ≥ g − . Aus der Monotonie des Integrals von nichtnegativen messbaren Funktionen erhalten wir dann Z Z Z Z + + − f dt ≤ g dt und f dt ≥ g − dt. A A A A Die Definition des Integrals für beliebige messbare Funktionen sowie die Monotonie des Integrals von nichtnegativen messbaren Abbildungen impliziert daher Z Z Z Z Z Z + − + − f dt = f dt − f dt ≤ g dt − g dt = gdt, A A A A A A vergleiche erneut das Lemma 20.13. (c) Aus a ≤ f (t) ≤ b, dem schon bewiesenen Teil (b) sowie dem Lemma 20.8 ergibt sich unmittelbar Z Z Z Z Z aλ(A) = a 1dt = adt ≤ f dt ≤ bdt = b 1dt = bλ(A), A A A A A wobei wir auch die noch zu zeigende Aussage (e) benutzt haben. (d) Wir schreiben f = f + − f − und g = g + − g − . Wegen der Integrierbarkeit von f, g und Satz 20.17 sind auch f + , f − , g + , g − integrierbar, außerdem handelt es sich hierbei um nichtnegative Funktionen. Aufgrund des Lemmas 20.13 sind dann auch u := f + + g + und v := f − + g − integrierbar. Mit diesen Funktionen haben wir die Darstellung f + g = f + + g + − (f − + g − ) = u − v, so dass die Behauptung aus dem Satz 20.17 folgt. Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.4. WEITERE EIGENSCHAFTEN DES LEBESGUE–INTEGRALS 193 (e) Mit f ist auch |f | integrierbar auf A nach Satz 20.17. Da |f | nichtnegativ ist, folgt wegen Lemma 20.13 daher auch die Integrierbarkeit von |αf | = |α| · |f |. Nochmalige Anwendung des Satzes 20.17 liefert dann auch die Integrierbarkeit von αf auf A. Die behauptete Formel verifiziert man schließlich, indem man f = f + − f − schreibt und die Fälle α ≥ 0 und α < 0 gesondert betrachtet. (f) Mit f ist aufgrund des Satzes 20.17 auch |f | integrierbar. Wegen f ≤ |f | und −f ≤ |f | folgt aus den bereits bewiesenen Aussagen (b) und (e) direkt Z Z f (t)dt f (t)dt ≤ A und − Z A f (t)dt = A Z −f (t)dt ≤ A Z A Zusammen ergibt dies gerade die Dreiecksungleichung. f (t)dt. (g) Aufgrund bisheriger Ergebnisse ist die Summe bzw. Differenz zweier integrierbarer Funktionen wieder integrierbar, ebenso ist auch der Betrag einer integrierbaren Abbildung integrierbar. Die Behauptung ergibt sich daher unmittelbar aus den beiden Darstellungen max{f, g} = 1 f + g + |f − g| und 2 min{f, g} = 1 f + g − |f − g| 2 für das Maximum und Minimum von f und g. 20.4 2 Weitere Eigenschaften des Lebesgue–Integrals Im Satz 20.18 haben wir bereits eine Reihe wichtiger Eigenschaften des Lebesgue–Integrals formuliert. In diesem Abschnitt beweisen wir einerseits einige weitere Eigenschaften und verschärfen andererseits frühere Ergebnisse. Wir beginnen mit dem folgenden Lemma. Lemma 20.19 ( L–Integral auf messbaren Teilmengen messbarer Mengen ) Seien A ⊆ Rn messbar, f : A → R integrierbar auf A und B ⊆ A eine ebenfalls messbare Teilmenge. Dann ist f auch integrierbar auf B, und es gilt Z Z f (t)dt = f (t)χB (t)dt B A Beweis: Sei f zunächst eine primitive Funktion, etwa f= m X αi χAi i=1 Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 194 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL für disjunkte, messbare Mengen Ai ⊆ Rn und Skalare α1 , . . . , αm ≥ 0. Gemäß Definition ist dann Z m X αi λ(Ai ∩ B). (20.14) f dt = B i=1 Ferner ist f · χB ebenfalls eine primitive Funktion mit der Darstellung f · χB = m X αi · χAi · χB = i=1 m X αi χAi ∩B . i=1 Aus der Definition des Integrals für nichtnegative Treppenfunktionen erhalten wir daher Z m m X X f χB dt = αi λ(Ai ∩ B ∩ A) = αi λ(Ai ∩ B) (20.15) A i=1 i=1 wegen B ⊆ A. Aus (20.14) und (20.15) folgt nun Z Z f χB dt. f dt = B A Insbesondere folgt hieraus die Integrierbarkeit von f auf der Menge B. Im nächsten Beweisschritt sei f eine nichtnegative messbare Funktion. Wegen Satz 20.9 existiert dann eine Folge primitiver Funktionen {sk } mit {sk } ↑ f auf A. Dies impliziert wiederum {sk ·χB } ↑ {f ·χB }. Aus der Definition des Integrals von nichtnegativen, messbaren Funktionen und dem vorher bewiesenen Teil über primitive Funktionen erhalten wir dann Z Z sk (t)dt f (t)dt = lim k→∞ B B Z sk (t)χB (t)dt = lim k→∞ A Z = f (t)χB (t)dt, A womit die Aussage auch für nichtnegative messbare Funktionen bewiesen wäre, denn aus der obigen Formel ergibt sich insbesondere die Integrierbarkeit von f auf B. Schließlich sei ein integrierbares f beliebig gegeben (nicht notwendig nichtnegativ). Wir schreiben wie üblich f = f + −f − und wenden den zuvor gezeigten Beweisteil auf die beiden nichtnegativen Funktionen f + und f − an. Demnach gilt Z Z Z Z + + − f dt = f χB dt und f dt = f − χB dt. B A B A Aus der Definition des Integrals für beliebige Funktionen ergibt sich damit Z Z Z + f dt = f dt − f − dt B B B Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 20.4. WEITERE EIGENSCHAFTEN DES LEBESGUE–INTEGRALS = = = Z + f χB dt − ZA ZA Z 195 f − χB dt A + − (f − f )χB dt f χB dt, A wobei wir noch die Linearität des Integrals verwendet haben. 2 Korollar 20.20 ( Additivität des Integrals bezüglich der Integrationsmengen ) Seien A, B ⊆ Rn messbar und f : A∪B → R integrierbar. Dann ist f auf jeder der Mengen A, B und A ∩ B integrierbar, und es gilt Z Z Z Z f dt + f dt = f dt + f dt. (20.16) A∪B A∩B A B Beweis: Aus der Integrierbarkeit von f auf A ∪ B folgt die Integrierbarkeit von f über jede der messbaren Teilmengen A, B und A ∩ B direkt aus dem Lemma 20.19. Aus diesem Resultat ergibt sich außerdem Z Z Z Z Z Z f= f χA , f= f χB , f= f χA∩B . A A∪B B A∪B A∩B A∪B Die Linearität des Integrals impliziert daher Z Z Z Z Z Z f+ f− f = f χA + f χB − f χA∩B A B A∩B A∪B A∪B ZA∪B f (χA + χB − χA∩B ) = {z } | A∪B =χA∪B Z = f χA∪B ZA∪B = f, A∪B also gerade die Behauptung. 2 Gilt in der Situation des Korollars 20.20 dabei A ∩ B = ∅ oder handelt es sich bei diesem Durchschnitt auch nur um eine Nullmenge, so vereinfacht sich (20.16) zu Z Z Z f dt = f dt + f dt. A∪B A B Dies folgt beispielsweise aus dem nachstehenden Resultat bzw. dessen Korollar. Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 196 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Satz 20.21 ( Charakterisierung von Funktionen mit Lebesgue–Integral gleich Null ) Seien A ⊆ Rn messbar und f : A → R nichtnegativ und messbar. Dann gilt Z f dt = 0 ⇐⇒ f = 0 fast überall. A Beweis: Wegen der Messbarkeit von f ist die Menge N := t ∈ A | f (t) 6= 0 = t ∈ A | f (t) > 0 messbar. Mittels dieser Menge lässt sich die Behauptung wie folgt schreiben: Z f dt = 0 ⇐⇒ λ(N) = 0. A R Sei zunächst f dt = 0 vorausgesetzt. Für jedes k ∈ N definieren wir die messbare Menge A Ak := t ∈ A | f (t) ≥ k1 . Dann gilt Ak ↑ N und somit λ(N) = limk→∞ λ(Ak ) aufgrund der Stetigkeit von unten des Lebesgue–Maßes. Nun ist f (t) ≥ k1 χAk (t) für alle t ∈ A (für t ∈ Ak gilt dies per Definition von Ak , für t ∈ / Ak folgt dies aus f ≥ 0). Aus dem Lemma 20.19 und der Monotonie des Integrals ergibt sich daher Z Z Z Z 1 1 1 1 0= f dt ≥ χAk dt = χAk dt = 1dt = λ(Ak ) k A k Ak k A A k und deshalb λ(Ak ) = 0 für alle k ∈ N. Folglich ist auch λ(N) = limk→∞ λ(Ak ) = 0. Sei umgekehrt λ(N) = 0 vorausgesetzt. Wegen Lemma 19.13 ist N dann messbar. Damit handelt es sich wegen Lemma 20.2 bei uk := kχN für alle k ∈ N ebenfalls um eine (nichtnegative) messbare (primitive) Funktion mit Z Z Z uk dt = k χN dt = k 1dt = kλ(N) = 0 ∀ k ∈ N, A A N wobei wir erneut das Lemma 20.19 verwendet haben. Setzen wir noch g := supk∈N uk = limk→∞ uk (hier wurde die Monotonie der uk ausgenutzt), so ist g messbar aufgrund des Satzes 19.27, und es gilt uk ↑ g. Aus der Definition eines Integrals nichtnegativer, messbarer Funktionen ergibt sich somit Z Z uk dt = 0. gdt = lim k→∞ A A Nun ist aber f ≤ g per Konstruktion, folglich Z Z 0≤ f dt ≤ gdt = 0 A A aufgrund der Monotonie des Integrals und daher R A f dt = 0. Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 2 20.4. WEITERE EIGENSCHAFTEN DES LEBESGUE–INTEGRALS 197 Korollar 20.22 ( Integral über Nullmengen ) Seien A ⊆ Rn messbar und f : A → R messbar. Dann ist f über jede Nullmenge N ⊆ A integrierbar, und es gilt Z f dt = 0. N Beweis: Wir schreiben f = f + − f − . Dann sind f + , f − nichtnegative Funktionen, die auf der Nullmenge N fast überall gleich Null sind. Wegen Satz 20.21 gilt daher Z Z + f dt = 0 und f − dt = 0, N also Z N f dt = N Z + f dt − N Z f − dt = 0 N und damit die Behauptung. 2 Satz 20.23 ( Integral fast überall gleicher Funktionen etc. ) Seien A ⊆ Rn messbar und f, g : A → R messbare Funktionen. Dann gelten: (a) Sind f, g quasi–integrierbar und f ≤ g fast überall auf A, so gilt Z Z f dt ≤ gdt. A A (b) Sind f, g quasi–integrierbar und ist f = g fast überall auf A, so gilt Z Z f dt = gdt. A A (c) Ist f integrierbar und gilt f = g fast überall auf A, so ist g ebenfalls integrierbar, und es gilt Z Z f dt = gdt. A A Beweis: messbar sind, ist wegen Lemma 19.26 die Menge (a) Da f, g nach Voraussetzung N := t ∈ A | f (t) > g(t) messbar. Tatsächlich gilt sogar λ(N) = 0 aufgrund unserer Voraussetzung. Daher verschwindet die nichtnegative, messbare Funktion f + · χN fast überall. Wegen f + · χN c ≤ g + auf A mit der Komplementärmenge N c := A \ N ergibt sich aus dem Korollar 20.22 daher Z Z Z Z + + + + g + dt. f χN c dt ≤ f dt = (f χN + f χN c )dt = A A A A Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12 198 KAPITEL 20. DAS LEBESGUE–INTEGRAL Ebenso verifiziert man die Ungleichung Z Z − f dt ≥ g − dt. A A Zusammen mit der Definition 20.15 folgt gerade die Behauptung. (b) Nach Voraussetzung ist sowohl f ≤ g als auch f ≥ g fast überall auf A. Damit folgt die Behauptung sofort aus Teil (a). (c) Diese Aussage ergibt sich unmittelbar aus dem Teil (b), da nach Voraussetzung das Integral von f über A endlich ist. 2 Das vorige Resultat besagt insbesondere, dass die Integrierbarkeit und das Integral einer Funktion f invariant gegenüber Abänderungen von f auf Nullmengen sind. Damit lassen sich frühere Resultate teilweise verschärfen. Wir geben hierfür nur ein Beispiel an. Korollar 20.24 ( Integrierbarkeit von fast überall majorisierten Funktionen ) Seien A ⊆ Rn eine messbare Menge und f, g : A → R messbare Abbildungen mit |f | ≤ g fast überall. Dann ist mit g auch f integrierbar. Beweis: Wir setzen h(t) := max g(t), |f (t)| für alle t ∈ A. Wegen Satz 19.27 ist h messbar. Außerdem ist |f | ≤ h auf A und g = h fast überall auf A. Wegen Satz 20.23 und der vorausgesetzten Integrierbarkeit von g ist dann auch h integrierbar auf A. Damit ist h eine integrierbare Majorante von f und daher auch f selbst integrierbar auf A aufgrund des Charakterisierungssatzes 20.17. 2 Zum Abschluss dieses Kapitels beweisen wir eine weitere wichtige Eigenschaft von integrierbaren Funktionen, die insbesondere im folgenden Kapitel von fundamentaler Bedeutung wird. Satz 20.25 ( Integrierbare Funktionen sind fast überall endlich ) Seien A ⊆ Rn messbar und f : A → R integrierbar. Dann ist f fast überall reellwertig. Beweis: Wir setzen N := t ∈ A |f (t)| = + ∞ . Für jedes reelle α > 0 gilt dann αχN (t) ≤ f (t) für alle t ∈ A. Hieraus folgt Z Z Z Z f (t)dt < + ∞ αλ(N) = α 1dt = α χN (t)dt = αχN (t) ≤ N A A A aufgrund des Lemmas 20.19, der Monotonie des Integrals sowie der vorausgesetzten Integrierbarkeit von f , vergleiche Satz 20.17. Da α > 0 hierbei beliebig groß gewählt werden kann, ergibt sich unmittelbar λ(N) = 0 und damit die Behauptung. 2 Christian Kanzow, Universität Würzburg, WS 2011/12