Entscheiderbrief 7/2012 Informations-Schnelldienst

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Entscheiderbrief 7/2012 Informations-Schnelldienst
E n t s c h e i d e r b r i e f
7/2012
Informations-Schnelldienst
19. Jahrgang
Die Roma – Ein Überblick unter besonderer Berücksichtigung Südosteuropas,
Teil 3: Entwicklung der
Lebensumstände*1*
Bevölkerungsanteile
Belastbare Daten sind schwer zu erheben. Bei Bevölkerungszählungen und Schätzungen werden Zahlen
ermittelt, die weit auseinander liegen. Viele Roma sind
nicht registriert bzw. verschließen sich der Erhebung
ihrer Ethnie. Bei Zugrundelegung mittlerer Schätzwerte12ist von ca. einer Million Roma in den Westbalkanstaaten23und einem durchschnittlichen Bevölke­
rungsanteil von rd. 4,9 Prozent auszugehen (eine nähere Übersicht gibt die Tabelle unten rechts).
1900 bis 1945
Anfang des 20. Jahrhunderts konnten Roma in Zentralund Osteuropa mit dem Einkommen aus ihren traditionellen Berufen einigermaßen auskommen.
*
1
2
Teil 1: Herkunft, Sprache, Bezeichnungen, Gruppen und
Kultur erschienen in Entscheiderbrief 3/2012, S. 1 ff. und Teil
2: Marginalisierung in Entscheiderbrief 5/2012, S. 1 f.
S. Europäische Kommission, EU-Rahmen für nationale Strategie zur Integration der Roma bis 2020, Brüssel 05.04.2011,
http://ec.europa.eu/justice/policies/discrimination/docs/
com_2011_173_de.pdf <Abruf 14.02.2012> u. vgl. Open So­
ciety Institute, Pathways to Progress? The European Union
and Roma Inclusion in the Western Balkans, April 2010,
www.soros.org/initiatives/roma/articles_publications/
publications/european-exclusion-20100402/pathwaysprogress-20100402.pdf <Abruf 14.02.2012>.
„Westbalkan“ ist ein Sammelbegriff für die Nachfolgestaaten
Jugoslawiens und Albanien unter Ausschluss Sloweniens
und Kroatiens. Der Begriff wurde auf dem EU-Gipfel im
Dezember 1998 in den Sprachgebrauch der EU eingeführt.
Inhalt
Verfahren
Die Roma - Ein Überblick unter besonderer
Berücksichtigung Südosteuropas,
Teil 3: Entwicklung der Lebensumstände
Zur Befreiung von der Passpflicht durch
das Bundesamt
1
3
Migration/Integration
Freiwillige Rückkehr 2011 unter
Mitwirkung von IOM
4
Aktuelle Rechtsfragen
Aus der BVerwG-Rechtsprechung
5
Was sonst?/Literatur
Beratungsstelle Radikalisierung
Globale Wanderungstrends im
E-Mail-Verkehr entdeckt
IZ Asyl und Migration weist hin auf
Land
Albanien
Anzahl Roma
6
7
7
%-Anteil
115.000,00
3,2
Bosnien-Herzegowina
50.000,00
1,1
Kosovo
37.500,00
1,5
197.500,00
9,6
Mazedonien (EJR)
Montenegro
20.000,00
2,9
Serbien
600.000,00
8,2
Gesamt
1.020.000,00
4,9
Entscheiderbrief 7/2012
Einigen Gruppen, wie den Musikern, ging es ausge­
sprochen gut. Die zunehmende Massenproduktion als
Folge der Industrialisierung machte die herkömmli­
chen Tätigkeiten (z.B. Geschirr-, Kessel- und Schirmflicken) weitgehend überflüssig. Die Nachfolgestaaten
des Osmanischen und Habsburger Reiches, welche
nach Balkankriegen und 1. Weltkrieg entstanden, wa­
ren sehr nationalistisch geprägt. Damit einher ging
meist eine Unterdrückung der Minderheiten. In den
mit dem Dritten Reich verbündeten faschistischen
Staaten – beispielsweise Ungarn, der ersten Slowa­
kischen Republik, Bulgarien und Rumänien – waren
Roma starken Repressionen ausgesetzt. So gab es Aus­
gangssperren, Betretenszeiten für Städte, Zuweisung
abgelegener Siedlungsplätze, Zwangsarbeit und Um­
siedlungen. Im direkten Einflussgebiet des Deutschen
Reiches bzw. der deutschen Truppen – zunächst in Po­
len, Böhmen und Mähren sowie später auch auf dem
Balkan – wurden Roma systematisch eliminiert. Im
Verlaufe des Zweiten Weltkrieges kamen europaweit
etwa 500.000 ums Leben.34
1945 bis 1989
Die nach dem 2. Weltkrieg an die Macht gekommenen
kommunistischen Parteien unterstützten anfänglich
die Bestrebungen der Roma zur Gründung eigener
Verbände und Kultureinrichtungen. Ab der zweiten
Hälfte der 1950er Jahre wurden aber solche Aktivitäten
untersagt. Man verweigerte den Roma, eine ethnische
oder nationale Minderheit zu sein. Der Lebensstil er­
schien als Mischung aus unerwünschten Überbleibseln
einer überwunden geglaubten Wirtschafts- und Ge­
sellschaftsordnung. Die Roma sollten sich nun als eine
bislang missachtete, ausgebeutete Unterklasse entfal­
ten. Dazu wurde die Ausübung ihrer traditionellen Be­
rufe erschwert oder verboten. Zwecks „Entfaltung im
Kommunismus“ versuchte der Staat, den Schulbesuch
der Kinder sicherzustellen und die Roma in den sozi­
alistischen Arbeitsprozess einzugliedern. Das Ziel war
die Assimilation in das Proletariat des Staatsvolks. Die
Maßnahmen brachten den Roma aber nicht nur Re­
striktionen, sondern auch eine Reihe individueller
Möglichkeiten der Qualifizierung und des sozialen
3
2
Vgl. Matter, Zur Lage der Roma im östlichen Europa,
www.v-r.de/data/files/389971252/Einleitung.pdf <Abruf
14.03.2012>.
Aufstiegs. So erwarben relativ viele höhere Schulab­
schlüsse. Trotz des permanenten Assimilationsdrucks
und der neuen Chancen wollten große Teile der Roma
nicht völlig in die Mehrheitsgesellschaft aufgehen und
ihre Roma-Kultur ganz aufgeben. Ihnen gelang es,
eine Grenze zwischen sich und der Mehrheitsgesell­
schaft aufrecht zu erhalten. Insgesamt verbesserten
die verstärkten Kontakte von Roma und Nicht-Roma
am Arbeitsplatz zwar das Verhältnis der Mehrheit zur
Minderheit etwas. Jedoch blieben lang tradierte Vorur­
teile auch in den sozialistischen Ländern des östlichen
wie des südöstlichen Europas bestehen.45
nach 1989
Mit dem Ende der sozialistischen Systeme und dem
Übergang zur Marktwirtschaft zu Beginn der 1990er
Jahre verschlechterte sich die Lebenssituation der
südosteuropäischen Roma entscheidend. Der Über­
gang führte in der landwirtschaftlichen wie in der
industriellen Produktion zu einem unregulierten
Arbeitsmarkt, Massenentlassungen und hoher Arbeits­
losigkeit. Roma waren unter den ersten, die entlassen
wurden, was zu Verarmung und Verelendung führte.56
Dadurch kam es verstärkt zu Landflucht in die bereits
übervölkerten und schlecht ausgestatteten RomaSiedlungen („Mahala“) der großen Städte.
Im Zuge des staatlichen Zerfalls Jugoslawiens und der
damit einhergehenden ethnisch-nationalistischen
bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen richteten
sich die Aggressionen auch gegen die jeweilige RomaBevölkerung. Sie erlitt kollektive Angriffe durch Ange­
hörige der Mehrheitsbevölkerung, Zerstörungen und
Plünderungen mit dem Ziel der Vertreibung. Viele süd­
osteuropäische Roma suchten vor diesem Hintergrund
Schutz bzw. bessere Lebensbedingungen in westlichen
Staaten Europas sowie in Nordamerika. Schätzungen
gehen von 200.000 bis 280.000 aus, die nach West­
europa kamen.67So flohen zehntausende Roma von
1991-1995 vor dem Krieg in Bosnien-Herzegowina und
beantragten Asyl, insbesondere in Deutschland, Italien,
4
5
6
Vgl. Matter (Fn. 3).
Vgl. Matter (Fn. 3) u. Europarat, Datenblätter zur Geschichte der Roma, Dritte Migration, www.coe.int/t/dg4/educa­
tion/roma/Source/FS/7.0_Dritte-Migration.pdf <Abruf
14.03.2012>.
Vgl. Europarat (Fn 5).
Entscheiderbrief 7/2012
Österreich, Schweden, der Schweiz und dem Vereinig­
ten Königreich. Eine weitere Fluchtbewegung löste
der Kosovo-Konflikt aus. Während dessen Zuspitzung
1998/99 waren hunderttausende Kosovo-Albaner und
Roma vertrieben worden.78
2009.1213Ein Großteil beantragt Asyl.1314Das aktuelle
Geschehen gilt als Teil der sog. Dritten Migration.1415
Auch heute sind Roma in den Staaten Südosteuro­
pas Benachteiligungen ausgesetzt.89Die Europäische
Kommission zählt die nach dem Kalten Krieg ange­
wachsenen Probleme sogar zu „Europas dringendsten
Menschenrechtsfragen“.910Eine internationale Initia­
tive will im Rahmen der Roma-Dekade 2005-2015 die
Lebensumstände verbessern. Im Februar 2005 unter­
zeichneten zwölf Regierungen – darunter zunächst
nur Serbien und Mazedonien, später auch Montene­
gro, Bosnien und Herzegowina sowie Albanien – die
Erklärung. Mit dieser wurden die Jahre bis 2015 als
„Decade of Roma Inclusion“ ausgerufen. Weltbank und
EU stellen Fördergelder zur Verfügung. In den Staa­
ten Südosteuropas sind zwischenzeitlich bereits viele
Maßnahmen im gesetzlichen und institutionellen Be­
reich erfolgt, haben aber nicht immer den gewünsch­
ten Erfolg.1011Die Integration der Roma, insbesondere
eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage und der
Bildungsperspektiven der Kinder, gilt als eine der zent­
ralen Herausforderungen Europas. Einige Studien war­
nen, dass eine weitere Marginalisierung der Roma die
soziale Desintegration ganzer nationaler Gesellschaf­
ten und massive Migration nach Nord-/Westeuropa
zur Folge haben könnte.1112Hierher kommen Roma
verstärkt bereits seit der Visaliberalisierung Ende
12 Vgl. z.B. Entscheiderbrief 11/2011, S. 4 f.; 12/2010, S. 2 f.;
11/2010, S. 5; 5/2010, S. 3; 3/2010, S. 7 f. und etwa zur
Schweiz Baumgartner, NZZ v. 25.01.2012.
13 Vgl. etwa Entscheiderbrief 11/2011, S. 4 f. u. 12/2010, S. 2 f.
14 Erste Migration ab 7. Jhd. von Indien nach Europa. Zweite
Migration ab Mitte des 19. Jhd. von Osteuropa nach Mittel­
europa, USA und Australien (vgl. Europarat [Fn. 5]).
7 Europarat (Fn. 5).
8 Dies wird in unterschiedlicher Weise auch z.B. für EU-Staa­
ten behauptet. So meldet Kanada, dass sich die Asylanträge
von Ungarn, viele davon Roma, 2011 mit 4.453 gegenüber
2010 mit 2.351 fast verdoppelt haben (vgl. Stolz, Au Canada
les demandes d’asile de Hongrois ont presque doublé en
2011, Le Monde v. 13.03.2012). Zur Entwicklung der Antrag­
stellungen ungarischer und tschechischer Roma in Kanada
seit Mitte der 1990er Jahre s. etwa Entscheiderbrief 7/2010, S.
9 f. u. vgl. Simon, Flucht aus der EU, der Freitag v. 15.08.2009.
9 Deutscher Bundestag (Wissenschaftliche Dienste), Die
Roma-Dekade 2005-2015, Nr. 44/07 www.bundestag.de/do­
kumente/analysen/2007/Die_Roma-Dekade_2005-2015.pdf
<Abruf 15.03.2012>.
10 Vgl. Entscheiderbrief 3/2012, S. 5 ff.
11 Heuss, Roma und Minderheitenrechte in der EU, Aus Politik
und Zeitgeschichte 22-23/2011.
Martina Todt-Arnold
Zur Befreiung von der Passpflicht durch
das Bundesamt
Grundsätzlich müssen Ausländer, die ins Bundesge­
biet einreisen oder sich darin aufhalten, einen gül­
tigen Pass oder Passersatz besitzen (§ 3 I 1 AufenthG
– Passpflicht).1 Davon gibt es allgemeine Ausnahmen
durch Rechtsverordnung2 und solche im Einzelfall,
über die seit dem 15.02.2010 das Bundesamt3 nach
pflichtgemäßem Ermessen entscheidet. Befreiung
von der Passpflicht brauchen etwa solche palästinen­
sischen Volkszugehörigen, die nur ein libanesisches
„Reisedokument für Flüchtlinge“ besitzen, da dieser
Ausweis nicht visierfähig ist.4
Der Antrag erreicht das Bundesamt grundsätzlich über
das Auswärtige Amt anlässlich eines Visumverfahrens
1 Zur Passpflicht im Ausländerrecht s. Entscheiderbrief 3/2012,
S. 3 ff.
2 Z.B. für den Bereich der EU (§ 3 I Nr. 2 AufenthV).
3 § 3 II AufenthG i.V.m. BMI-Erlass v. 20.01.2010, vgl. Entschei­
derbrief 2/2010, S. 3.
4 Vgl. Deutsche Botschaft Beirut, Merkblatt für Besuchsreise,
www.beirut.diplo.de/contentblob/128914/Daten/789939/
Download_Datei_Besuchsreisen.pdf <Abruf 30.05.2012>.
3
Entscheiderbrief 7/2012
bei einer deutschen Auslandsvertretung.5 Trotz die­
ser Verknüpfung sind beide Verfahren eigenständige
Verwaltungsakte6 mit unterschiedlichen Funktionen.
Ein Visum gibt vor Einreise einen Aufenthaltstitel,7
während eine Ausnahme von der Passpflicht die Aus­
stellung eines Reiseausweises im Ausland ersetzt.8 Eine
Befreiung stellt grundsätzlich eine Ausnahme dar,
schon weil ein Ausländer ohne anerkannten Pass- oder
Passersatz nicht oder nur erheblich erschwert in sei­
nen Heimatstaat zurückgeführt werden kann. Insbe­
sondere gilt dies, wenn Ausweisungstatbestände vor­
liegen. Hier kann eine Ausnahme von der Passpflicht
zwecks Daueraufenthalts nur gewährt werden, wenn
ein Anspruch oder sehr gewichtiger Grund für diesen
Aufenthalt besteht und keine Umstände ersichtlich
sind, wonach in naher oder mittlerer Zukunft mit ei­
ner Aufenthaltsbeendigung oder der Verwirklichung
von Ausweisungstatbeständen i.S.d. § 55 AufenthG
zu rechnen ist. Diese Praxis entspricht ohne Weiteres
dem Ausnahmecharakter der Norm mit Blick auf die
ansonsten zwingend einer Aufenthaltserlaubnis ent­
gegenstehende Passlosigkeit eines Ausländers im Bun­
desgebiet.9 Da diese Aspekte prinzipiell im Rahmen der
Visumerteilung geprüft werden, wird eine Befreiung
vom Bundesamt in der Regel erteilt, wenn die Voraus­
setzungen für die Visumerteilung einschließlich der
Identität des Ausländers zureichend positiv geklärt
sind.
Die Visumsprüfung erfolgt grundsätzlich vor der Prü­
fung einer Passpflichtausnahme. Denn scheidet schon
eine Einreise wegen Nichterfüllung der Visumsvo­
raussetzungen aus, ist für eine Passpflichtbefreiung
mangels Einreisebefugnis kein Raum mehr. Sofern das
5 „In begründeten Einzelfällen (z.B. im Flugzeug verlorener
Reisepass) kann jedoch auch bei einer Bundespolizeibe­
hörde der Antrag auf Zulassung einer Ausnahme von der
Passpflicht vor Einreise beantragt werden.“ (VwV AufenthG,
3.2). Zum Zoll und zu Landesbehörden (z.B. für Seehafen
Hamburg) als Grenzbehörde s. GK-AufenthG, §71 AufenthG
Rn. 130 ff.
6 S. VwV AufenthG, 3.2 und VG Berlin, B.v. 20.12.2005 - VG 3 V
30.05, juris.
7 S. etwa Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 2. Aufl.,
Rn. 78.
8 Die Zustimmung zur Ausstellung oder Verlängerung von
Reiseausweisen für Ausländer im Ausland obliegt eben­
falls dem Bundesamt (§ 11 I AufenthV i.V.m. BMI-Erlass v.
20.01.2010).
9 Vgl. VG Berlin, B.v. 17.04.2007 - 10 A 396.06.
4
Visum lediglich wegen Nichterfüllung der Passpflicht
zu versagen wäre, ist der Ausländer auf die Möglichkeit
hinzuweisen, eine Ausnahme von der Passpflicht zu
beantragen. Die Entscheidung des Bundesamtes wird
ihm von der deutschen Auslandsvertretung – ggf. mit
einem Blattvisum – ausgehändigt.10 Die Zulassung kos­
tet grundsätzlich 20 Euro11 und ist auf sechs Monate
befristet.12
Die Bewilligung einer Ausnahme befreit den Auslän­
der nach Einreise nicht davon, bei Aufenthalt über die
Dauer der Befreiung hinaus sich um die Erfüllung der
Passpflicht nach § 3 I AufenthG zu bemühen (§ 48 III
AufenthG). Wer dies schuldhaft unterlässt, begeht eine
Ordnungswidrigkeit (§ 98 II Nr. 3 AufenthG).
Michael Kalis, BMI*13*
10 In Sonderfällen (s. Fn. 5) ist es die ersuchende Polizeibehör­
de, da stets die Behörde, die das Bundesamt wegen einer
Ausnahme befasst, Aushändigungsbehörde ist (s. VwV Auf­
enthG, 3.2).
11 § 48 I 1 Nr. 9 AufenthV. Für Minderjährige die Hälfte (§ 50 I
AufenthV). Zu weiteren Ermäßigungen und Befreiungen
s. § 52 VII AufenthV.
12 S. VwV AufenthG, 3.2.
* Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung
des Verfassers wieder.
Freiwillige Rückkehr 2011 unter
Mitwirkung von IOM
Über 6.300 Personen kehrten 2011 freiwillig unter Mit­
wirkung von IOM1 aus Deutschland in ihre Heimatlän­
der zurück, zwei Drittel davon waren abgelehnte Asyl­
bewerber. Insgesamt über 54 Prozent der Rückkehrer
gingen nach Serbien und Mazedonien. Aus beiden
Staaten kommen seit der sog. Visaliberalisierung Ende
1 Zu IOM (International Organisation for Migration) und
deren Möglichkeiten der Rückkehrförderung einschließ­
lich Download von Antragsformularen s. www.bamf.de/
DE/Rueckkehrfoerderung/Foerderprogramme/Program­
meREAGGARP/programme-reag-garp-node.html <Abruf
04.04.2012>.
Entscheiderbrief 7/2012
2009 ganz überwiegend Roma2 nach Deutschland. Ein
Großteil stellt – fast ausnahmslos erfolglos – Asylan­
trag.3
Freiwillige Rückkehr unter Mitwirkung
vom IOM 20114
Personen
davon
abgelehnte
Asylbeweber
Anteil
abgelehnter
Asylbewerber
Serbien
2.263
1.624
71,8 %
Mazedonien
1.173
892
76,0 %
Irak
523
309
59,1%
China
259
236
91,1%
Russische
Föderation
233
108
46,4 %
Kosovo
204
156
76,5 %
Vietnam
154
112
72,7 %
Iran
151
45
29,8 %
Türkei
135
89
65,9 %
Staats­
angehörigkeit
Indien
105
77
73,3 %
sonstige
1.119
536
47,9 %
Gesamt
6.319
4.184
66,2 %
Die Redaktion, R.B.
2 Näher zu dieser ethnischen Gruppe und den Hintergründen
der Migrationsbemühungen von Roma nach Nord- und
Westeuropa s. Die Roma – Ein Überblick unter besonderer
Berücksichtigung Südosteuropas. Teil 1 und 2 in Entschei­
derbrief 3/2012, S. 1 ff. bzw. 5/2012, S. 1 f., Teil 3 in dieser
Ausgabe. Staatsangehörige europäischer Drittstaaten (Nicht­
EU-Staaten), die ohne Visum nach Deutschland einreisen
dürfen, erhalten von Seiten des Bundes als Rückkehrhilfe
lediglich Reisekosten. Diese Regelung gilt insbesondere für
serbische und mazedonische Staatsangehörige, die nach
dem 21.12.2009 visumfrei eingereist sind. Gleiches gilt für
Personen aus Bosnien und Herzegowina sowie Albanien mit
visumsfreier Einreise nach dem 15.12.2010.
3 Vgl. z.B. Entscheiderbrief 11/2011, S. 4 f.; 12/2010, S. 2 f.;
11/2010, S. 5; 5/2010, S. 3; 3/2010, S. 7 f. und etwa zur
Schweiz Baumgartner, NZZ v. 25.01.2012.
4 Quelle: Referat 222 nach Angaben von IOM.
Aus der BVerwG-Rechtsprechung
Widerruf/Änderung der Rechtslage/Rückwirkung
Die Pflicht zum Widerruf der Flüchtlingsanerkennung
nach § 73 I 1 AsylVfG bei Änderung der Rechtslage
gilt ebenfalls, wenn der Gesetzgeber sie nicht nur mit
Wirkung für die Zukunft, sondern ausnahmsweise in
verfassungskonformer Weise auch rückwirkend gere­
gelt hat. Dafür, dass § 73 I AsylVfG grundsätzlich eine
Rückwirkung erlaubt, spricht sein Wortlaut. Die Norm
differenziert – anders als die allgemeine Widerrufsre­
gelung in § 49 II 1 Nr. 3 und 4 VwVfG – nicht zwischen
nachträglich eingetretenen Tatsachen und geänderten
Rechtsvorschriften. Verlangt wird nur, dass die „Vor­
aussetzungen“ für die Anerkennung nicht mehr vor­
liegen. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich nichts
anderes. § 28 II AsylVfG – Regelausschlussgrund der
selbstgeschaffenen Nachfluchtgründe im Folgeverfah­
ren – beansprucht keine Rückwirkung, wie dies etwa
aufgrund Unionsrechts bei den Ausschlussgründen
wegen Asylunwürdigkeit1 der Fall ist.
Weder gebietet noch verbietet das Unionsrecht eine
Rückwirkung hinsichtlich selbstgeschaffener Nach­
fluchtgründe (s. Art. 5 III QualfRL). Aus den Gesetz­
gebungsmaterialien zu § 28 II AsylVfG folgt, dass mit
der Verschärfung der Anerkennungsvoraussetzungen
beim Flüchtlingsschutz nur zukunftsgerichtet auf
das Verhalten der Asylsuchenden eingewirkt werden
sollte. Es fehlt jeder Anhaltspunkt für eine beabsich­
tigte Rückwirkung. Eine solche würde zudem der
vom Gesetzgeber angestrebten Entlastung des Bun­
desamts entgegenlaufen (U.v. 01.03.2012 - 10 C 10.11
<5287469>).
jüdische Emigranten aus Russland/
Flüchtlingsschutz
Mit Inkrafttreten des ZuwG zum 01.01.2005 wurden
die Rechte dieser Personengruppe neu geregelt. Nach §
23 II AufenthG kann das BMI zur Wahrung besonders
gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik
gegenüber dem Bundesamt anordnen, Ausländern aus
bestimmten Staaten oder bestimmten Ausländergrup­
1 S. BVerwG, U.v. 07.11.2011 - 10 C 26.10; vgl. Entscheiderbrief
10/2011, S. 10.
5
Entscheiderbrief 7/2012
pen eine Aufnahmezusage zu erteilen.2 Diese erhalten
nach der Einreise einen humanitären Aufenthaltsti­
tel. Abschiebungsschutz nach Art. 33 GFK bzw. § 60 I
AufenthG genießen sie nicht. Aus den Übergangsvor­
schriften des AufenthG folgt, dass die Neuregelung
auch die Rechtsstellung der jüdischen Emigranten
abschließend regelt, die früher aufgenommen wor­
den waren. Ein Vertrauensschutz greift nicht, da die
Ausländer ein Daueraufenthaltsrecht besitzen und bei
Furcht vor Verfolgung einen Asylantrag stellen kön­
nen. Das BVerwG ließ deshalb offen, ob eine nach al­
tem Recht vermittelte Rechtsstellung in entsprechen­
der Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes ein
flüchtlingsrechtliches Abschiebungsverbot umfasst
hat (U.v. 22.03.2012 - 1 C 3.11, nach BVerwG-Pressemit­
teilung Nr. 25/2012 v. 22.03.2012).
Aufenthaltserlaubnis für anerkannten Flüchtling
und Terrorismusunterstützung
Ein anerkannter Flüchtling hat Anspruch auf eine
Aufenthaltserlaubnis (§ 25 II AufenthG), sofern er nicht
aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die
Sicherheit der Bundesrepublik anzusehen ist (§ 25 II 2
i.V.m. I 2 AufenthG).
Es kommt – anders als es das OVG RP annahm – nicht
darauf an, ob jemand tatsächlich ausgewiesen wurde.
Denn der allgemeine Versagungsgrund des § 5 IV
AufenthG (Vorliegen von Ausweisungsgründen nach
§ 54 Nr. 5 bis 5 b AufenthG) gilt ausweislich von
Gesetzessystematik und -materialien auch für die
flüchtlingsrechtliche Aufenthaltserlaubnis des § 25
AufenthG. Allerdings folgt aus Art. 24 I QualfRL bei
anerkannten Flüchtlingen eine Einschränkung auf
schwerwiegende Gründe.
Die Norm geht von einem grundsätzlichen Anspruch
auf eine Aufenthaltserlaubnis aus. Sie ermöglicht
den Mitgliedstaaten aber durch Absatz 3, einen Auf­
enthaltstitel zu versagen, wenn die Verpflichtung auf
Achtung der Nichtzurückweisung (Art. 33 I GFK) nicht
eingreift. Dies gilt u.a. für Personen, die aus schwerwie­
genden Gründen als Gefahr für die Sicherheit des Auf-
2
6
Vgl. Bell, ZAR 4/2011, S. 126 f.
nahmelandes anzusehen sind (Art. 33 II GFK). Einem
Flüchtling die Aufenthaltserlaubnis zu versagen, steht
deshalb nur dann mit Unionsrecht in Einklang, falls
sein Verhalten diese erhöhte Gefahrenschwelle über­
schreitet. Es ist unerheblich, ob eine Abschiebung aus
tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht beab­
sichtigt ist. Zwecks näherer tatsächlicher Feststellung
der Schwere der Gefahr (hier: langjährige Tätigkeit für
Terrorismus unterstützende Organisation - KONGRA­
GEL/PKK) wurde das Verfahren daher an das Oberver­
waltungsgericht zurückverwiesen (U.v. 22.05.2012 - 1
C 8.11, nach Pressemitteilung BVerwG Nr. 47/2012 v.
22.05.2012).
Anschlussberufung
Eine Anschlussberufung ist auch im asylgerichtlichen
Verfahren zulassungsfrei statthaft und nicht an den
Rahmen der zugelassenen Berufung gebunden. Die
Monatsfrist für die Einlegung der Anschlussberufung
(§ 127 II 2 VwGO) wird bei einer gestaffelten Beru­
fungsbegründung durch Zustellung des Schriftsat­
zes in Lauf gesetzt, durch den i.V.m. vorangehenden
Schriftsätzen erstmals den Anforderungen des § 124a
III 4 VwGO genügt wird. Frühere Schriftsätze, die
lediglich Teile der Berufungsbegründung i.S. dieser
Norm vorwegnehmen, dürfen formlos übermittelt
werden. Auf die Anschlussberufungsfrist braucht nicht
durch eine Rechtsmittelbelehrung hingewiesen zu
werden (U.v. 01.03.2012 - 10 C 5.11 <5285789>).
Dr. Roland Bell, M.A.
Beratungsstelle Radikalisierung
Seit dem 01.01.2012 ist im Bundesamt die „Beratungs­
stelle Radikalisierung“ eingerichtet, an die sich alle
wenden können, die sich um die Entwicklung eines
Angehörigen oder Bekannten sorgen. Eltern, Angehö­
rige, Freunde und Lehrer sind oft die ersten, denen die
islamistische Radikalisierung eines jungen Menschen
auffällt und gleichzeitig die letzten, zu denen dieser
trotz zunehmender Isolierung Kontakt hält. Zu ihrer
Entscheiderbrief 7/2012
Unterstützung in dieser schwierigen Situation steht
nun ein professionelles Beratungsangebot bereit. Das
Bundesamt dient bundesweit als eine Erstanlaufstelle,
die die Ratsuchenden mit allgemeinen Informationen
versorgt und ggf. Ansprechpartner und Netzwerke vor
Ort benennt. Die Beratung ist kostenfrei. Bisher nutz­
ten insbesondere Eltern, Lehrer sowie Sicherheitsbe­
hörden das Angebot der Beratungsstelle.
Kontaktdaten:
Telefon: 0911 – 943 43 43
E-Mail: [email protected]
Internet: www.initiative-sicherheitspartnerschaft.de
Corinna Rappe, 432
wanderung nach Geschlecht und Alter beziffern lassen.
Auch sei dort im Zusammenhang mit der Finanzkrise
ein deutlicher Anstieg der Mobilität festzustellen. Dies
gelte über die USA hinaus für fast alle entwickelten
Staaten mit wenigen Ausnahmen, etwa der Schweiz
und Taiwan. Wo die internationale Mobilität zunehme,
zeige sich ein weiterer Trend: Die Mobilität von Frauen
steige stärker als die der Männer. Zudem erlaubten
die digitalen Daten erstmals realistische Eindrücke
hinsichtlich des Wanderungsverhaltens in manchen
Regionen, über das bisher vielfach nur habe spekuliert
werden können.
Die Redaktion, R.B.
Globale Wanderungstrends im
E-Mail-Verkehr entdeckt
Emilio Zagheni/Ingmar Weber: You are where you
E-mail: Using E-mail Data to Estimate Internatio­
nal Migration Rates, in: Proceedings of ACM WebSci
22-24.06.2012, www.demogr.mpg.de/publications/
files/4598_1340471188_1_Zagheni&Weber_Websci12.
pdf.
weist hin auf
Veröffentlichungen des Bundesamtes
Die Autoren konstatierten, dass die bisherigen Einund Auswanderungsdaten der Staaten kaum vergleich­
bar und häufig überaltert seien. Auch fehlten oft Anga­
ben zu Geschlecht sowie Alter. Globale Internetdaten
hätten solche Nachteile nicht. Sie seien einheitlich
und schnell verfügbar. Deshalb erstellten sie einen
Datensatz globaler Migrationsströme aus zwischen
September 2009 und Juni 2011 weltweit versandten
E-Mails von 43 Millionen Benutzerkonten eines Email­
providers.
Unter anderem mit Hilfe der IP-Adresse – daraus lässt
sich grundsätzlich bestimmen, aus welchem Land
versendet wurde – und weiterer Angaben unter Be­
rücksichtigung von Korrekturfaktoren analysierten die
Verfasser den anonymisierten Datensatz. Sie schildern
wesentliche neue Einblicke in das globale Migrations­
geschehen. So habe sich erstmals für die USA die Aus­
ƒ Einbürgerungsverhalten von Ausländerinnen und
Ausländern in Deutschland sowie Erkenntnisse zu
Optionspflichtigen (Forschungsbericht 15)
Stand: Juni 2012
Hrsg.: Bundesamt, 22
ƒ Die Optionsregelung im Staatsangehörigkeitsrecht
aus Sicht von Betroffenen (Forschungsbericht 16)
Stand: Juni 2012
Hrsg.: Bundesamt, 22
ƒ Das Integrationspanel.
Entwicklung der Deutschkenntnisse und Fortschrit­
te der Integration bei Teilnehmenden an Alphabeti­
sierungskursen (Working Paper 42)
Stand: Juni 2012
Hrsg.: Bundesamt, 220
7
Entscheiderbrief 7/2012
Veröffentlichungen anderer
Roland Bank/Constantin Hruschka, Die EuGHEntscheidung zu Überstellungen nach Griechenland
und ihre Folgen für Dublin-Verfahren (nicht nur) in
Deutschland, ZAR Heft 6/2012, S. 182
Heike Brabandt, Staatliche Grenzpolitiken und Visum­
bestimmungen: Die Festung Europa, ZAR Heft 6/2012,
S. 175
BReg
ƒ Kostenbescheide der Bundespolizei an Asyl­
suchende, anerkannte Asylberechtigte und Flücht­
linge, BT-Drs. 17/9540
ƒ Kooperationsverträge der Europäischen Agentur für
die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen
und die Bindungswirkung der Europäischen Men­
schenrechtskonvention bei Einsätzen und Kooperati­
onen, BT-Drs. 17/9757
Anne-Kathrin Fricke, Kein flüchtlingsrechtliches
Abschiebungsverbot für jüdische Emigranten aus der
ehemaligen Sowjetunion (Anmerkung zu BVerwG v.
22.03.2012 - 1 C 3/11), jurisPR-BVerwG 13/2012 Anm. 1
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland, Abschie­
bungshaft vermeiden. Alternativen in Belgien,
Deutschland und dem Vereinigten Königreich, Berlin
April 2012, 51 S.
Schweizerische Flüchtlingshilfe Bern
ƒ Pakistan: Situation von Hijras, 14.05.2012
ƒ Irak: Anhänger des ehemaligen Regimes, 19.04.2012
ƒ Russland: Homosexuelle und georgische Minderhei­
ten im Militär, 19.04.2012
Wilfried Marxer, Integrationspolitik in Liechtenstein,
AWR-Bulletin Heft 1/2012, S. 14 ff.
UNHCR Genf
ƒ Eligibility Guidelines for assessing the international
Protection needs of Members of religious Minorities
from Pakistan, 14.05.2012
8
ƒ Hungary as a country of asylum. Observations on the
situation of asylum-seekers and refugees in Hungary,
24.04.2012, über www.unhcr.org/refworld
ƒ Position on Returns to Mali, Mai 2012
ƒ The State of the World‘s Refugees 2012, 31.05.2012,
288 S., 18.99 £
U.S. Commission on International Religious Free­
dom, Annual Report 2012, Washington März 2012, 331
S., über www.uscirf.gov
Informationen hierzu über
IVS-Telefon:
0911/943-7188
IVS-Fax:
0911/943-7198
E-Mail:
[email protected]
Demnächst lesen Sie:
ƒ Asylanträge im internationalen Vergleich
ƒ Aus der Rechtsprechung
ƒ Aktuelles aus Europa
Impressum
Entscheiderbrief
Ausgabe:
7/2012 - 09.07.2012
Herausgeber: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
ISSN 1869-1803
Anschrift:
Redaktion Entscheiderbrief
90343 Nürnberg
Tel.:
0911/943-7100
Fax:
0911/943-7198
E-Mail:
[email protected]
Internet:
www.BAMF.de
Redaktion:
Dr. Roland Bell, RL 411 (verantw. Leiter)
Bernd Emtmann, 420
Wolfgang Heindel, 421
Maria Schäfer, 412
Martina Todt-Arnold, 413
Josef Wiesend, 424
Turnus:
monatlich; Redaktionsschluss
jeweils der 15. eines Monats
(Änderungen nach Bedarf)
Vertrieb:
Doris Tanadi, 410
Layout:
Petra Schiller, 410
Druck:
Bonifatius GmbH
Druck-Buch-Verlag
Auflage:
1250 Exemplare
Besondere Hinweise:
Nachdruck und Nutzung nur nach Zustimmung des
Herausgebers mit Quellenangabe und Belegexemplar. Kein Anspruch
auf Veröffentlichung oder Manuskriptrückgabe.

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