Great Transition Initiative

Transcription

Great Transition Initiative
G r e a t Tr a n s i t i o n
Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) / Hessische Landesstiftung der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. (HGDÖ) / Stockholm Environment Institute (SEI)
Institut für
sozial-ökologische Forschung (ISOE)
Hessische Landesstiftung der
Heinrich-Böll-Stiftung e.V. (HGDÖ)
Stockholm
Environment Institute (SEI)
Great Transition
Umbrüche und Übergänge
auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft
Paul Raskin
Tariq Banuri
Gilberto Gallopín
Pablo Gutman
Al Hammond
Robert Kates
Rob Swart
Great Transition –
Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu
einer planetarischen Gesellschaft
Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) /
Hessische Landesstiftung der
Heinrich-Böll-Stiftung e.V. (HGDÖ)
(Hg. der deutschen Ausgabe)
Autoren
Paul Raskin, Tariq Banuri, Gilberto Gallopín, Pablo Gutman,
Al Hammond, Robert Kates, Rob Swart
Ein Bericht der Global Scenario Group
Stockholm Environment Institute – Boston
Impressum
Materialien Soziale Ökologie (MSOE 20) (Social Ecology Materials)
ISSN 1617-3120
Herausgeber der deutschen Ausgabe von: Great Transition –
Umbrüche und Übergänge auf dem Weg zu einer planetarischen Gesellschaft:
Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) GmbH
und
Hessische Landesstiftung der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. (HGDÖ)
ISOE Web: http://www.isoe.de
HGDÖ Web: http://www.hgdoe.de
Herausgeber der Originalausgabe von: Great Transition –
The Promise and Lure of the Times Ahead:
Stockholm Environment Institute – Boston (SEI)
Tellus Institute
Global Scenario Group
© Copyright 2002 by the Stockholm Environment Institute
SEI Web: http://www.sei.se
GSG Web: http://www.gsg.org
Übersetzung aus dem Englischen:
Barbara Kleidt
© Copyright 2003, Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) GmbH
Hamburger Allee 45
D–60486 Frankfurt am Main
Tel.: ++49 / 69 / 707 6 919-0
Fax: ++49 / 69 / 707 6 919-11
Email: [email protected]
Unseren Großeltern, die für uns arbeiteten und träumten.
Unseren Enkeln auf der ganzen Welt, für die wir arbeiten und träumen.
Inhalt
7
Vorwort zur deutschen Ausgabe
9
Dank
11
Vorwort zur Originalausgabe
13
13
17
20
1. Wo stehen wir?
Historische Übergänge
Die planetarische Phase
Verzweigungen
25
25
26
31
33
36
39
2. Wohin gehen wir?
Zukunft im Plural
Globale Szenarien
Die treibenden Kräfte
Die Gefahren der Marktwirtschaft
Am Rand des Abgrunds
Utopie und Pragmatismus
41
41
42
49
50
3. Wohin wollen wir?
Ziele für eine nachhaltige Welt
Richtungswechsel
Grenzen politischer Reformen
Wie wollen wir leben?
57
57
60
64
79
4. Wie kommen wir ans Ziel?
Strategien
Die Akteure des Richtungswechsels
Dimensionen des Übergangs
Die Globalisierung zivilisieren
81
81
83
88
90
95
98
5. Die Geschichte der Zukunft
Prolog
Markteuphorie, Einbruch und Wiederbelebung
Die Krise
Globale Reformen
Great Transition
Epilog
99
6. Formen des Übergangs
105 Literatur
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Für die Diskussion über Nachhaltige Entwicklung sind Szenarien über zukünftige
globale und regionale Entwicklungen von großer Bedeutung. Mit ihnen lassen sich
große Datenmengen verdichten, ihnen liegen aber immer auch spezifische Entwicklungsvorstellungen und Weltbilder zugrunde sowie Annahmen über die treibenden Kräfte und zentralen Akteure, welche die derzeitigen global wirksamen
Veränderungsprozesse wesentlich bestimmen. Die „Global Scenario Group“, ein
Zusammenschluss international anerkannter Fachleute im Umfeld des Stockholm
Environment Institute (SEI) hat hierzu einen neuen, in der bisherigen Nachhaltigkeitsdebatte bislang einzigartigen Denkansatz entwickelt.
Neben der Fülle an Informationen und der klaren und bestechenden Sprache
sind es vor allem zwei Aspekte, welche eine breite Auseinandersetzung mit der
Studie so lohnend machen: Einerseits die im Bild eines krisenhaften Übergangs
angelegte neue Entwicklungsvorstellung, andererseits das Öffnen eines neuen
„Denkraums“ durch ein spezifisches Szenario-Verfahren.
Das Konzept des Übergangs (Transition) beinhaltet eine neuartige Entwicklungsvorstellung: Wir befinden uns inmitten eines großen historischen Übergangs,
dessen Zukunft noch offen ist, begrenzt und geformt von gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen. In solchen Übergangsphasen, die von Strukturbrüchen, Krisen und Turbulenzen geprägt sind, kann die gesellschaftliche Entwicklung sich in
unterschiedliche Pfade gabeln, abhängig davon, wie soziale und ökologische Konflikte gelöst und welche grundlegenden Strukturentscheidungen getroffen werden.
Die antizipierte Zukunft wird so zu einem Moment der gegenwärtigen politischen
und sozialen Debatten und Konflikte. Das Spektrum der Szenarien reicht vom düsteren Bild einer Zukunft mit wachsendem Elend, Naturzerstörung und Repression
bis hin zu einer Zukunft eines bereicherten Lebens, Solidarität und intakter Umwelt. Dieses komplexe und zukunftsoffene, gleichwohl auch entscheidungsabhängige Bild von Veränderung steht im Gegensatz zu einer deterministischen, linearen Entwicklungsvorstellung, bei der einzelne Makrovariablen (Bevölkerungswachstum, Ressourcenverbrauch, Bruttosozialprodukt etc.) sich so lange kontinuierlich verändern, bis der angestrebte Zustand erreicht ist. Eine solche Entwicklungsvorstellung dominiert bei uns bis heute die Diskussion um Strategien einer
Nachhaltigen Entwicklung. Sie liegt auch dem bekannten Modell der gleichmäßig
zu entwickelnden vier Säulen der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie, Politik und
Soziales) zu Grunde.
7
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Optionalität – das historisch und analytisch begründete „Denken in Möglichkeiten“ – ist dabei ein wesentliches Element der neuen Entwicklungsvorstellung: die
Gesellschaften haben es in der Hand, Entscheidungen für oder gegen eine der möglichen Zukünfte zu fällen. Die Vorstellung vom Übergang zu einer planetarischen
Gesellschaft ist dabei nicht nur deskriptiv, sondern zugleich normativ ausgerichtet: das propagierte Paradigma der „Neuen Nachhaltigkeit“ (New Sustainability Paradigm) impliziert eine starke Verpflichtung aller wichtigen, untereinander auch
in Konkurrenz und Konflikt stehenden Akteure auf eine zivilisierte, nachhaltige
Form der ökonomischen, politischen und kulturellen Globalisierung.
Die Szenarien der Studie beschreiben höchst unterschiedliche Visionen: In den
drei Welten „Konventionelle Welten“, „Welt des Verfalls und der Barbarei“ sowie
„Welt der großen Übergänge“ eröffnen sie einen neuen Denkraum, in dem die
Möglichkeitsbedingungen von Enwicklungsdynamiken und die ihnen zugrunde
liegenden Muster zum Thema werden. Im Unterschied zur üblichen Verfahrensweise von Szenarien, zukünftige Entwicklungen dadurch zu prognostizieren, dass
das bisher Geschehene fortgeschrieben wird, zeichnet sich „Great Transition“ durch
einen rekonstruktiven Umgang mit Szenarien aus: In einer Art „Rückspiegel“ auf
die Vergangenheit werden die Bedingungen des Gewordenseins der Gegenwart rekonstruiert, um so zu einem Verständnis der historischen Muster zu gelangen und
darauf aufbauend die gegenwärtigen Bedingungen für zukünftige Entwicklungen
und Prozesse bestimmen zu können. Erst auf dieser Basis werden die Szenarien als
Zukunftsbilder entworfen, um die Möglichkeitsräume künftiger Entwicklungen
abstecken zu können. Ungewöhnlich ist auch die Verbindung der Darstellung mit
kleinen Erzählungen, durch welche die Zukunftsentwürfe qualitativ beschrieben werden.
Der Ansatz der Global Scenario Group eröffnet unseres Erachtens eine neue
Sichtweise auf das Konzept und die Praktiken einer nachhaltigen Entwicklung –
sowohl für die Wissenschaft, als auch für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die
hier vorgelegte Übersetzung soll dazu dienen, den Text auch im deutschsprachigen Raum zu verbreiten und eine vertiefende Diskussion über das Modell zu ermöglichen. Sie ist entstanden im Rahmen der Vorbereitungen zu der Tagung
„Nachhaltigkeit neu denken – Die Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft
im Umbruch“, die im April 2003 in Frankfurt stattgefunden hat. Dort hat Paul Raskin, einer der Autoren, die Studie einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Das Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) hat als Veranstalter der Tagung
damit die Auseinandersetzung mit dem neuen Denkansatz aufgenommen.
8
Dank
Wir sind allen Kollegen der Global Scenario Group verpflichtet, die sich über die
Jahre während der aufregenden Erforschung von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft der Welt zu uns gesellt haben: Michael Chadwick, Khaled Mohammed
Fahmy, Tibor Farago, Nadezhda Gaponenko, Gordon Goodman, Lailai Li, Roger
Kasperson, Sam Moyo, Madiodio Niasse, H.W.O. Okoth-Ogendo, Atiq Rahman, Setijati Sastrapradja, Katsuo Seiki, Nicholas Sonntag und Veerle Vandeweerd. Dieser
Essay ist die Frucht unserer gemeinsamen Arbeit.
Wir danken dem Stockholm Environment Institute, der Rockefeller Foundation, der Nippon Foundation und dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen für
die großzügige Ausstattung der GSG mit Fördergeldern. Steven Rockefeller hat sowohl geistig wie finanziell die erste Schreibphase unterstützt. Wir sind Eric KempBenedict zutiefst für seine Beiträge zu Forschung und Modellbildung verpflichtet,
Faye Camardo und Pamela Pezzati für ihre gründliche Lektoratsarbeit und David
McAnulty für die Hilfe bei der Veröffentlichung. Sehr viele Menschen haben das
Manuskript vorab gelesen und uns wertvolle Hinweise gegeben, insbesondere danken wir dafür Bert Bolin, Michael Chadwick, David Fromkin, Nadezhda Gaponenko, Gordon Goodman, Roger Kasperson, Lailai Li, Madiodio Niasse, Gus Speth und
Philip Sutton.
Wir können nur hoffen, dass das Ergebnis den vielen eingeflossenen Einsichten
gerecht wird. Für gegebenenfalls falsch dargestellte Fakten, Fehlurteile und Mängel der Vorstellungskraft sind natürlich ausschließlich die Autoren verantwortlich.
9
Vorwort zur Originalausgabe
Die Zukunft ist, wie Karl Popper einmal formuliert hat, immer gegenwärtig, Versprechen, Verheißung und Versuchung zugleich. Die globalen Umbrüche und Übergänge haben längst begonnen. Die planetarische Gesellschaft wird in den nächsten Jahrzehnten Gestalt annehmen. Wie diese Gestalt aussehen wird, ist völlig ungewiss. Die derzeitigen Tendenzen bestimmen nur die Richtung bei der Abfahrt,
nicht das Ziel der Reise. Je nachdem, wie ökologische und soziale Konflikte gelöst
werden, kann sich die Welt vollkommen unterschiedlich entwickeln. Leicht drängt
sich das Bild einer düsteren Zukunft mit verarmten Menschen, zerstörten Kulturen und einer ausgebeuteten Natur auf. Viele Menschen halten diese Vision für die
wahrscheinlichste Variante. Aber es muss nicht so schlimm kommen. Die Menschheit zeichnet sich durch Wahlfreiheit und ihre Fähigkeit aus, vorausschauend zu
handeln. Wider allen Anschein ist der Übergang zu einer besseren, reicheren Zukunft mit mehr Solidarität unter den Menschen und einer intakten Natur durchaus möglich.
Und genau davon wollen die folgenden Seiten erzählen. Sie verdanken sich der
Analyse, der Vorstellungskraft und dem Engagement der Beteiligten. Im analytischen Teil werden die historischen Wurzeln, die derzeitige Dynamik und die künftigen Gefahren der Entwicklung beschrieben. Der Beitrag der Phantasie liegt in
langfristigen Szenarien, wie sich die Welt entwickeln könnte. Das Engagement plädiert für eines der vorgestellten Szenarien, Great Transition, und erläutert Strategien, handelnde Personen beziehungsweise Organisationen und die Werte einer
neuen globalen Agenda.
In dem Essay kulminiert die Arbeit der Global Scenario Group, die 1995 vom
Stockholm Environment Institute als international und interdisziplinär besetztes
Organ zur Erforschung des Übergangs zur Nachhaltigkeit gegründet wurde. Im
Lauf der Jahre hat die GSG zahlreiche Szenarien für internationale Organisationen erstellt und mit Kollegen auf der ganzen Welt zusammengearbeitet. Als dritter Teil einer Trilogie baut Great Transition auf Branch Points („Weggabelungen“),
Gallopín et al. 1997 und Bending the Curve („Richtungswechsel“), Raskin et al.
1998 auf. „Branch Points“ ist eine Einführung in die Voraussetzungen der GSGSzenarien, „Bending the Curve“ analysiert die langfristigen Risiken und Chancen
der Nachhaltigkeit innerhalb einer konventionell gedachten Weiterentwicklung.
Der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ existiert seit ungefähr zwei Jahrzehnten und hat zahllose internationale Konferenzen und sogar einige Taten inspiriert.
11
Vorwort
Unserer Überzeugung nach reicht die erste Welle der Nachhaltigkeit, die seit dem
„Earth Summit“, dem Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro Fortschritte erzielt, nicht
aus, um alarmierende globale Entwicklungen zu stoppen und umzukehren. Eine
zweite Welle muss über die Behelfslösungen und Reformen hinausführen, die bisher die Symptome des nicht-nachhaltigen Wirtschaftens zwar lindern konnten, die
eigentliche Krankheit aber nicht beheben. Ein neues Paradigma der Nachhaltigkeit
stellt die Lebensfähigkeit und die Wünschbarkeit konventioneller Wertvorstellungen, Wirtschaftsstrukturen und Gesellschaftsordnungen in Frage und bietet stattdessen die positive Vision von einer zivilisierten Form der Globalisierung, die allen
Menschen zugute käme.
Das könnte nur Realität werden, wenn sich in Schlüsselbereichen der Weltgesellschaft ein Verständnis für Art und Ausmaß der Herausforderung entwickeln
und die Chance, neue Punkte auf die Tagesordnung zu setzen, ergriffen würde. Die
Initiative für ein erneuertes, „zweites“ Nachhaltigkeitsparadigma müsste vor allem
von vier Akteuren ausgehen: Internationale Organisationen wie den Vereinten Nationen, transnationalen Unternehmen und Vereinigungen engagierter Bürger und
Bürgerinnen in Basisbewegungen, zivilgesellschaftliche Organisationen wie z.B.
Nichtregierungsorganisationen oder spirituelle Gemeinschaften. Die vierte Kraft ist
weniger greifbar, gibt jedoch den Ausschlag. Gemeint ist die wachsame Öffentlichkeit, der die Notwendigkeit von Veränderungen und neuen Werten bewusst ist
und die auf mehr Lebensqualität, menschliche Solidarität und ökologische Nachhaltigkeit achtet.
Der globale Wandel beschleunigt sich und die Widersprüche werden immer tiefer. Eine neue Form des Denkens, Handelns und Seins ist überfällig. So sehr die
Notwendigkeit die wichtigste Triebfeder der globalen Umbrüche und Übergänge
ist, so sicher übt die historische Gelegenheit, eine gerechte, friedfertige, freiheitliche und nachhaltige Welt zu schaffen, eine gewaltige Anziehungskraft aus. Darin
liegen Verheißung und Versprechen des 21. Jahrhunderts.
12
1. Wo stehen wir?
Jede Generation versteht ihren historischen Augenblick als einmalig und blickt in
eine Zukunft voller Gefahren und Chancen. Und so soll es auch sein, denn die Geschichte entfaltet sich als eine Erzählung von Wandel und Aufstieg. Jede Epoche
ist einzigartig, jede in ihrer einmaligen Art. In unserer Gegenwart scheinen die Koordinaten, durch die das Weberschiffchen der Geschichte fliegt, verschoben. Die
historische Zeit schlägt eine schnellere Gangart an, technische, ökologische und
kulturelle Neuerungen jagen einander. Der kosmische Raum schrumpft, während
Nationen und Regionen zu einer einzigen Erde zusammenwachsen. Konfrontiert
mit Verwerfungen und Ungewissheiten fürchten viele, dass die Menschheit ihre
Chance auf eine wünschenswerte Variante der globalen Entwicklung verspielt.
Doch so unwahrscheinlich er wirken mag, der Weg zu einer umfassenden, vielfältigen und ökologischen Weltgemeinschaft ist noch immer möglich.
Historische Übergänge
Umbrüche und Übergänge von einem Zustand in den nächsten sind in der Natur
allgegenwärtig. Physikalische oder biologische Systeme neigen dazu, sich innerhalb einer gegebenen Organisationsform kontinuierlich zu entwickeln, treten dann
aber in eine häufig chaotische und turbulente Phase der Transformation und gehen
von da aus in eine neue Organisationsform mit qualitativ anderen Merkmalen über.
Abbildung 1 illustriert den Verlauf von den praktisch stabilen Ausgangsbedingungen über eine Periode rascher Veränderungen bis zur neuerlichen Stabilisierung. Dasselbe Muster lässt sich an vielen Naturphänomenen studieren: bei der
Entstehung der Materie in den Sekundenbruchteilen unmittelbar nach dem Urknall,
bei der Veränderung des Aggregatszustandes eines Stoffes unter dem Einfluss von
Druck- und Temperaturveränderungen, bei der Epigenese einzelner Lebewesen oder
bei der Evolution der vielfältigen irdischen Lebensformen.
13
Great Transition
Abbildung 1: Übergangsphasen
EntwicklungsStabilisierung
merkmale
Beschleunigung
Abheben
Zeit
Nach Martens et al. (2001)
Seit dem Auftreten der ersten Hominiden vor ungefähr 5 Millionen Jahren, insbesondere seit dem Auftreten des Homo sapiens vor ungefähr 200.000 Jahren beschleunigt ein neuer Faktor die Veränderung des Planeten: die Kultur. Die Kultur
ändert sich mit Lichtgeschwindigkeit im Vergleich zu den Prozessen der biologischen Evolution und den noch langsameren geophysikalischen Vorgängen. Etwas
Neues – die Geschichte der Menschheit – betrat die Bühne und schob mit Erfindungsgeist und der Fähigkeit zur Überlieferung – gleichsam die DNS der Gesellschaft – eine kumulative, immer schneller werdende Entwicklung an. Mit der Erfindung der Schrift und damit auch dem Beginn der Geschichte im engeren Sinn
entsteht ein neuer Typus des Übergangs, der Epochenübergang, nach dem Wissen,
Technik und Gesellschaftsform nicht mehr dieselben sind.
Natürlich fügt sich der Lauf der Geschichte nicht nahtlos in die Idealvorstellung von Übergängen. Die reale historische Entwicklung lässt sich nur schwer als
kontinuierlicher Ablauf verstehen. Sie ist ohne Konstanten und wird von örtlichen
Gegebenheiten, Zufällen und willkürlichen Entscheidungen bestimmt. Man kann
die Geschichte so oder so erzählen, die Epochengrenzen so oder auch anders ziehen. Erst die langfristige Perspektive enthüllt zwei überragende Makrotransformationen der menschlichen Erfahrungswelt: der Übergang von der Steinzeit zu
den ersten Hochkulturen vor ungefähr 10.000 Jahren und der Übergang von
diesen Hochkulturen zur Moderne im Lauf des letzten Jahrtausends (Fromkin
1998). Wir befinden uns – unserer Auffassung nach – derzeit mitten in dem
dritten großen Übergang, den wir als planetarische Phase der Zivilisation bezeich14
Wo stehen wir?
nen und dessen möglichen Verlauf wir in dem Szenario Great Transition skizzieren werden.
Epochenumbrüche sind vielschichtige Phasen, in denen sich das gesamte kulturelle Bezugssystem und das Verhältnis der Menschheit zur Natur wandelt. Von
Zeit zu Zeit erreichen die kontinuierlichen technischen, institutionellen und geistesgeschichtlichen Veränderungen kritische Schwellenwerte, an denen sich der
gesamte Prozess beschleunigt und verstärkt. Die Struktur sozio-ökologischer Systeme stabilisiert sich in neuer Formation und die Dynamik fließender Veränderungen nimmt erneut ihren Lauf. Allerdings nicht für alle. Der Wandel breitet sich
von einer zentralen Neuerung aus und durchdringt die angrenzenden Bereiche nur
schrittweise über Eroberung, Nachahmung und Anverwandlung. Historisch ältere
Zustände haben in abgeschiedenen, schwer zugänglichen Regionen überlebt. Heute
legt sich die aufstrebende planetarische Dynamik über moderne, über vormoderne und sogar noch über die letzten Reste steinzeitlicher Kulturen. Alle diese Entwicklungszustände existieren auf der Erde nebeneinander.
Die drei wichtigsten miteinander verknüpften Merkmale jeder Zivilisationsstufe sind Gesellschaftsform, Wirtschaftssystem und Kommunikationsmittel. Deren
Entwicklung zeigt Tabelle 1 im Überblick.
Tabelle 1: Merkmale historischer Epochen
Steinzeit
Frühe
Hochkulturen
Moderne
Gesellschaftsform
Stamm/Dorf
Stadtstaat
Königreich
Nationalstaat Weltregierung
Wirtschaftssystem
Jäger und
Sammler
Ackerbau und Industrielle
Viehzucht
Produktion
Globalisierung
Kommunikation
Sprechen
Schreiben
Internet
Drucken
Planetarische Phase
In der Steinzeit waren die Menschen in Sippen, Stämmen und Dorfgemeinschaften organisiert, ihre wirtschaftliche Grundlage war das Jagen und Sammeln und
ihr wichtigstes Kommunikationsmittel das gesprochene Wort. Die frühen Hochkulturen kannten Stadtstaaten und Königreiche, dank der Landwirtschaft konnten
Überschüsse erzielt und verteilt werden und die Kommunikation erreichte durch
die Erfindung der Schrift ein neues Niveau. In der Moderne dominiert der Nationalstaat als politische Größe, auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution trat
15
Great Transition
der Kapitalismus seinen Siegeszug an und die Kommunikation wurde durch die
Erfindung des Buchdrucks demokratisiert. Wenn wir die Entwicklung in die planetarische Phase verlängern, sehen wir Weltregierung, Weltwirtschaft und Informationsrevolution als charakteristische Elemente.
Zahlreiche weitere Unterscheidungsmerkmale ließen sich für die einzelnen Epochen ergänzen, etwa die wechselnden Kunststile, der Stand der Wissenschaften,
das jeweilige Transportwesen, die Wertvorstellungen, die Art der Kriegsführung
und so weiter. Aber das Schema in Tabelle 1 lässt zumindest ahnen, wie die verschiedenen Elemente der sozio-ökonomischen Ordnung im Lauf der geschichtlichen Entwicklung ineinander greifen. Jede Spalte spiegelt eine Entwicklung. Die
Gesellschaftsform umfasst immer größere Einheiten und wächst vom Sippenverband über den Stadtstaat und den Nationalstaat bis zur Weltregierung. Die Wirtschaft differenziert sich zunehmend aus, angefangen vom Jagen und Sammeln
über die Landwirtschaft und die industrielle Produktion bis hin zur Globalisierung.
Auch die Fähigkeit, sich untereinander zu verständigen, reichte immer weiter, vom
Sprechen über das geschriebene und gedruckte Wort bis hin zu Internet und EMail unserer Tage.
Die gesellschaftliche Komplexität, sprich die Zahl der Variablen, die zur Beschreibung der Rollen, Beziehungen und Zusammenhänge innerhalb einer Gemeinschaft benötigt werden, steigt mit jedem Übergang. Jede Phase absorbiert und
überformt ihre Vorgängerin und erweitert die soziale und technische Verflechtung.
Gemessen an geologischen Zeiträumen hat es nur einen Herzschlag lang gedauert, bis sich aus der Stammes- eine Weltgesellschaft, aus der gesprochenen Sprache das elektronisch um die Welt geschickte Wort entwickelt hat.
Nicht nur die Komplexität der Gesellschaft und das Ausmaß der räumlichen
Vernetzung wächst von Epoche zu Epoche, auch die Geschwindigkeit des Wandels
beschleunigt sich. Nicht nur, dass sich geschichtliche Veränderungen schneller
vollziehen als evolutionäre Übergänge in der Natur, das Tempo der Geschichte
selbst nimmt zu. Das veranschaulicht Abbildung 2 mit einer schematischen Darstellung der Entfaltung von Komplexität im Verlauf der vier wichtigsten historischen Phasen. Die Zeitachse ist logarithmisch eingeteilt und so vermittelt das wiederkehrende Muster einer gleichmäßigen Beschleunigung. Der Zeitraum bis zum
nächsten Epochenumbruch verkürzt sich grob überschlagen um Faktor 10. Währte die Steinzeit noch 100.000 Jahre, hatten die frühen Hochkulturen rund 10.000
Jahre Bestand, so wird die Moderne bereits nach kaum 1.000 Jahren abgelöst. Dieses Muster würde in seiner Fortführung bedeuten, dass der planetarischen Phase
100 Jahre bleiben (eine durchaus begründbare Annahme, wie wir zeigen werden).
16
Wo stehen wir?
Abbildung 2: Beschleunigung der Geschichte
Planetarische
Phase
Komplexität
Moderne
Frühe
Hochkulturen
Steinzeit
Zeit
Die planetarische Phase
Wenn man nur die Umrisse der geschichtlichen Entwicklung betrachtet, drängt sich
der Dreiklang soziale Komplexität, beschleunigter Wandel und wachsende Reichweite auf. Es gehört in der aktuellen Globalisierungsdebatte zu den allgemein akzeptierten Annahmen, dass die Menschheit derzeit einen Umbruch erlebe, dessen
Ausmaße sich nur mit der neolithischen und der industriellen Revolution vergleichen lasse (Harrison 1996). Die globalen Veränderungen werden aus verschiedenen Blickwinkeln sichtbar: Zerstörung der planetarischen Umwelt, wechselseitige
wirtschaftliche Abhängigkeit, die Revolution der Informationstechnologie, die
wachsende Hegemonialmacht bestimmter kultureller Paradigmen oder auch die
jüngsten gesellschaftlichen und geopolitischen Verwerfungen.
Jedes dieser Phänomene und alle zusammen füllen den Ausdruck Globalisierung mit Sinn. Er bezeichnet das Wechselspiel zwischen sich verstärkenden ökonomischen, kulturellen, technischen, sozialen und ökologischen Aspekte und lässt
sich nicht auf einzelne Erscheinungen reduzieren. Am Ausgangspunkt aller Globalisierungsdiskurse und -debatten und aller Versuche, die Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern zu überwinden, steht eine Überzeugung: Für unsere Zeit ist
charakteristisch, dass die zunehmende Komplexität und das Maß der menschlichen
Entwicklung planetarische Ausmaße erreicht hat.
17
Great Transition
Bereits die bloße Anwesenheit des Homo sapiens, so viel ist klar, hat die Erde in
gewissem Ausmaß verändert. Schon als die ersten Menschen Afrika verließen, fand
so etwas wie Globalisierung statt. Um wie viel mehr gilt das erst für die Ausbreitung der Weltreligionen oder die Entdeckungsreisen der Renaissance, für den Kolonialismus und die Entstehung des Weltmarkts im vorvorigen Jahrhundert. Der
Kapitalismus dehnte sich phasenweise rasend schnell aus und band selbst entlegene Regionen in den globalen Handel ein. In anderen Phasen stagnierte er oder
war aufgrund wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Krisen minder einflussreich. Internationale Beziehungen und Institutionen blieben davon nicht unberührt, mehrfach mussten Nationen ihren Herrschaftsanspruch an andere Länder
abtreten (Sunkel 2001, Ferrer 1996, Maddison 1991). Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die internationale Verflechtung der Finanzmärkte, des Handels und der
Investitionen, anteilig gemessen an der damals viel geringeren Wirtschaftskraft,
ein unserer Zeit vergleichbares Niveau erreicht.
Die Behauptung, heute nehme die planetarische Phase Gestalt an, will keineswegs die wirtschaftliche Expansion und die wechselseitigen Verpflichtungen früherer Epochen in Abrede stellen. Im Gegenteil, ohne die wachsende Naturbeherrschung und den immer weiter ausgreifenden Herrschaftsanspruch einzelner Nationen wäre die Globalisierung nicht denkbar. Aber im Kern bedeutet der Anbruch
einer planetarischen Phase, dass die Eingriffe in die natürliche Umwelt und das Ineinanderverflochtensein der menschlichen Belange qualitativ eine neue Stufe erreicht haben. Weltbevölkerung und Weltwirtschaft müssen angesichts der begrenzten Ressourcen der Erde demnächst an Wachstumsgrenzen stoßen. Die seit Hunderten von Jahrtausenden ansteigende Komplexität und Ausdehnung von Gesellschaft musste irgendwann die ganze Erde umspannen. Dieses Irgendwann ist jetzt.
Zunehmend beherrscht und verändert eine planetarische Dynamik die Erde. Die
globale Klimaveränderung beeinflusst die Niederschlagsmenge und die Wasservorräte, die Ökosysteme und das Wetter an einzelnen Orten. Global vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologien dringen bis in den hintersten Winkel der Erde vor, verändern massiv Werte und Kulturen und provozieren zugleich
traditionalistische Rückschläge. Neue internationale Gremien wie etwa die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Weltbank nehmen den nationalen Gesetzgebern das Heft aus der Hand. Die Weltwirtschaft gerät durch regionale Finanzturbulenzen aus dem Gleichgewicht. Ausgeschlossen, marginalisiert und überschüttet mit Bildern des Überflusses drängen die Armen der Welt in die reichen Länder
und hoffen auf ein besseres Los. Eine verworrene Mischung aus Verzweiflung und
fundamentalistischer Reaktion nährt den weltweiten Terrorismus. All das sind Zeichen für den Anbruch einer neuen Epoche.
18
Wo stehen wir?
Es ist das Erbe der Moderne, die uns an die Schwelle zur planetarischen Gesellschaft trug. Vom ersten Aufblitzen humanistischer Empfindungen vor knapp 1.000
Jahren über die Aufklärung und wissenschaftliche Revolutionen bis hin zum Feuersturm der kapitalistischen Vereinnahmung forderte die Moderne die Geltung tradierter Weisheit, angeborener Vorrechte und Klassenschranken heraus und stieß
sich an der Behäbigkeit der vormodernen Wirtschaftsweise. Die Entwicklung kulminierte mit der industriellen Revolution um 1800. Verschiedene Stränge – gesetzlich geregelte Institutionen, Marktwirtschaft und wissenschaftlich-technischer
Erfindungsgeist – liefen zusammen und entfesselten das Verlangen nach Akkumulation, Akquisition und Innovation. Die fortlaufende Ausweitung der technischen Möglichkeiten, kulturellen Vorgaben und menschlichen Wünsche führte zu
einer Bevölkerungsexplosion und erhöhte neben dem Warenausstoß auch die Komplexität der Wirtschaft. Mit dem unstillbaren Hunger nach neuen Märkten, Ressourcen und Investitionsmöglichkeiten begann das expandierende und kolonisierende Industriesystem seinen Weg hin zu einem einheitlichen „Weltsystem“.
Die Welt ist in die planetarische Phase eingetreten, in der beschleunigte Veränderung und Expansion der Moderne kulminieren. Ein globales System nimmt
Gestalt an, das sich grundlegend von allen früheren Epochen unterscheidet. Der
genaue Zeitpunkt lässt sich nicht bestimmen, Altes und Neues durchdringen sich
untrennbar. Sicher markieren das Wachstum des Welthandels vor hundert Jahren,
die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert und die Gründung der Vereinten Nationen 1948 frühe Meilensteine.
Aber die eigentliche Globalisierung kristallisierte sich in den letzten beiden
Jahrzehnten aus einer unübersehbaren Masse von Einzelphänomenen heraus. Die
entscheidenden Entwicklungen seit 1980 sind:
• Globale Umweltprobleme: Klimaveränderung, Ozonloch und Verlust der Biodiversität führten zum ersten weltweiten Umweltgipfel.
• Technische Errungenschaften: Am Anfang stand der PC, am Ende kam das Internet und daneben eroberten zahlreiche neue Geräte und Systeme im Kommunikations- und Informationssektor den Markt. Neuerdings beginnt die kommerzielle
Verwertung von Biotechnologie.
• Geopolitischer Natur: Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des
kalten Krieges eliminierten praktisch die letzte Bastion gegen die Hegemonialmacht
des Kapitalismus. Neue geopolitische Sorgen gelten der Umweltverschmutzung,
Schurkenstaaten sowie dem internationalen Verbrechen und dem Terrorismus.
• Die wirtschaftliche Verflechtung: Alle Märkte – Rohstoff- und Warenbörsen,
Finanzmärkte, der Arbeitsmarkt und der Supermarkt am Stadtrand – sind zunehmend global.
19
Great Transition
Bestimmte Institutionen: Neue Akteure betreten die Bühne, etwa die WTO. Multinationale Konzerne und die international vernetzte Zivilgesellschaft – sowie als
Antithese zur planetarischen Moderne der internationale Terrorismus – beherrschen das Bild.
Wir behaupten, dass die genannten Elemente konstitutive Bestandteile des globalen Übergangs sind. Abbildung 3 zeigt die weltweite Vernetzung, die der für
Transitionen charakteristischen S-Kurve folgt, wobei das „Abheben“ in die Jahre
ab 1980 verlegt wird. Die Grafik unterstellt, dass wir uns in der Frühphase einer
Umbruchphase befinden. Derzeit lässt sich noch nicht sagen, welche Gestalt die
künftige globale Einheit annehmen wird. Sie hängt in hohem Maß von Entscheidungen und Maßnahmen ab, die erst noch getroffen und ergriffen werden müssen.
•
Globale Vernetzung
Abbildung 3: Planetarischer Strukturwandel
Vereinte Nationen
Apollo
Abheben
1980–2000
Klimaveränderung, Ozonloch, Erdgipfel,
PC, Internet, Informationsrevolution,
Zusammenbruch der UdSSR,
Hegemonie des Kapitalismus,
Globalisierung, WTO, Naturschutzbünde,
NGOs, Seattle
Verzweigungen
Der Übergang zur planetarischen Zivilisation hat begonnen, ist aber noch nicht
abgeschlossen, und es wird sehr darauf ankommen, welche Ausprägung sie erhält.
Angeregt vom Jahrtausendwechsel entstanden zahllose Sachbücher, nachdenkliche Editorials und gelehrte Abhandlungen, in denen dem Wesen der Globalisierung nachgespürt und nach dem Sinn der Unzufriedenheit gefragt wurde. Das Gefühl, in einer Phase des Umbruchs mit unabsehbaren Folgen zu leben, ließ die Deutungsversuche ins Kraut schießen. Schon Wittgenstein sprach von der Fliege in der
Flasche, die sich selbst in der Flasche nicht beobachten kann.
20
Wo stehen wir?
Reichliche Mengen alter Wein wurde in neue Schläuche gegossen, aber die alten
Ideologien wurden von dem Etikett „Globalisierung“ nicht genießbarer. Jede Brille politischer und philosophischer Vorlieben, das gesamte weltanschauliche Spektrum ist bei der Deutung des Phänomens vertreten – die Technikverfechter ebenso wie die Technikverächter, die Claqueure der neuen Märkte ebenso wie die Kassandras, die Sozialingenieure wie die Anarchisten. Grob lassen sich die gesellschaftstheoretischen Ansätze in drei Hauptströmungen unterteilen. Vertreter von
Evolutions-, Katastrophen- und Transformationstheorien hegen völlig unterschiedliche Vorstellungen, was die Welt zusammenhält. Daraus folgen im aktuellen Kontext grundsätzlich verschiedene Ausblicke auf die langfristige globale Entwicklungsperspektive.
Die „Evolutionisten“ sind optimistisch und davon überzeugt, dass die sich derzeit abzeichnenden Muster in Zukunft zu Wohlstand, Stabilität und ökologischer
Gesundung führen können. Die „Katastrophisten“ fürchten, dass die immer tiefer
aufreißenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Spannungen ungelöst
bleiben und fürchterliche Folgen haben werden. Die „Transformationisten“ teilen
diese Ängste, begreifen die Situation jedoch als Chance für eine bessere Gesellschaft. Diese drei Möglichkeiten sind gewissermaßen drei Welten. Die Erste spricht
von laufenden kleinen Anpassungen, die Zweite wird von schrecklichen Verheerungen zerrissen und die Dritte glaubt an eine strukturelle Erneuerung.
Jede dieser Sichtweisen interpretiert die Welt mit Bangen und Hoffen wie durch
trübe Kristallkugeln. Jede weiß ihre Interpretation gut zu begründen, denn es sind
widersprüchliche, auseinander strebende Kräfte am Werk. Sie könnten die globale Entwicklung sowohl in Richtung einer konventionellen Globalisierung, in den
Untergang und Barbarei oder aber in einen großen historischen Übergang treiben.
Der in Umbruch begriffene Planet kann fundamental unterschiedliche Welten hervorbringen, je nachdem, wie sich die noch unabgeschlossenen Ereignisse, gesellschaftliches Handeln, glückliche Zufälle und die Vernunft entwickeln.
Unsicherheit und Unbestimmtheit sind tief in die Wirklichkeit eingewoben. Im
mikroskopischen Maßstab ist die Materie diskontinuierlichen Quantensprüngen unterworfen. Auch im Makrobereich können sich unter bestimmten Voraussetzungen
scheinbar identische komplexe Systeme so oder anders entwickeln. Biologische Systeme können sich ebenso an äußere Störungen anpassen, bis ein kritischer Wert
überschritten wird. Dann gehen sie in einen von mehreren möglichen Zuständen
über. An kritischen Punkten haben kleine Störungen große Auswirkungen.
Die Fähigkeit der Menschen zur Selbstbezüglichkeit und der freie Wille verstärkt die Unbestimmtheit. Der Lebensweg jedes Individuums kennt Gabelungen,
an denen Erfahrungen, Gedanken und Taten über den weiteren Verlauf entschei21
Great Transition
den und andere Möglichkeiten in der Rubrik „Was hätte sein können“ abgehakt
werden. Die Geschichte der Menschheit hätte sich durchaus anders entwickeln können, sie ist nicht zwangsläufig, wie Gedankenspiele nach der Art „Was wäre, wenn“
zeigen (Ferguson 1999). Was, wenn Stalin in den zwanziger Jahren Opfer eines
Staatsstreichs geworden wäre? Wenn Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte? Die Geschichte ist ein Baum der Möglichkeiten; kritische Phasen und
Entscheidungssituationen sind wie Astgabeln, an denen bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten ausscheiden.
Der grauenhafte Terroranschlag auf die Vereinigten Staaten am 11. September
2001 und seine Folgen liefern ein aktuelles Beispiel für eine solche Gabelung.
„9/11“, wie die Amerikaner sagen, ist ein Scheitelpunkt, an dem sich die Zeit in
Vorher und Nachher teilt. Der kulturelle Kurzschluss legte Risse bloß und setzte der
Selbstgefälligkeit ein Ende. Einerseits offenbarte es einen panislamischen Fundamentalismus, der das Projekt der Moderne vollständig ablehnt, Reinheit predigt
und einen fanatischen Abwehrkampf gegen jede Form der Assimilation führt. Er
ist nicht zu entschuldigen. Andererseits hat der Anschlag wie kein Ereignis zuvor
die Verzweiflung und den Zorn aufgedeckt, in denen der Extremismus gedeiht, und
damit der Welt die Widersprüche und die Irrtümer der globalen Entwicklung vor
Augen geführt.
Sicher wird die Welt seit dem 11. September nie mehr dieselbe sein, aber welche Folgen von diesem Tag letztlich ausgehen werden, ist offen. Es gibt eine positive Möglichkeit: Neue strategische Allianzen könnten als Plattform für eine neuerliche multinationale Beschäftigung mit politischen, gesellschaftlichen und ökologischen Problemen dienen. Das geschärfte Bewusstsein für die Ungerechtigkeit
und die globalen Gefahren könnte eine gerechtere Entwicklung begünstigen, weil
sie nicht nur moralisch, sondern auch von der Sicherheitslage her das Gebotene
wäre. Die Stimmung könnte zugunsten des Bedürfnisses nach Mitsprache, Zusammenarbeit und weltweiter Verständigung umschlagen. Die Alternative wäre beunruhigend: Eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt könnte die kulturellen und
politischen Brüche zementieren, neue militärische und sicherheitspolitische Prioritäten könnten die demokratischen Institutionen schwächen, bürgerliche Freiheiten beschneiden und wirtschaftliche Chancen untergraben, und die Menschen
könnten in ihrer Verunsicherung fremdenfeindlicher und intoleranter werden,
während sich die Eliten hinter hohen Mauern verschanzen.
In den kritischen, vor uns liegenden Jahren wird sich entscheiden, ob wir etwas
gegen die sozialen, politischen und ökologischen Gefahren ausrichten und der
Hoffnung auf eine kulturell reichhaltige, alle Menschen einschließende, nachhaltige Weltkultur näher kommen oder ob ein Albtraum von Verarmung, Zerstörung
22
Wo stehen wir?
und Elend die Zukunft charakterisiert. Angesichts der Geschwindigkeit der planetarischen Transition besteht dringender Handlungsbedarf, bevor sich einige Optionen endgültig ausschließen – eine irreversible Klimaveränderung, die Sackgasse nicht-nachhaltiger Techniken, der unwiederbringliche Verlust kultureller und
biologischer Vielfalt. Wer die Korrektur der derzeitigen Lebensumstände auf diesem Planeten jetzt zurückstellt, verspielt womöglich für immer die Chance auf den
großen Übergang.
23
2. Wohin gehen wir?
Früher entstanden neue Epochen organisch und stufenweise aus den Krisen und
Chancen ihrer untergehenden Vorläuferinnen. Aber angesichts der planetarischen
Dimensionen reicht es heute nicht mehr aus, auf historische Umstände zu reagieren. Wir wissen, dass wir die Zukunft späterer Generationen gefährden. Deswegen
stehen wir vor einer beispiellosen Herausforderung: Wir müssen die Krise gedanklich vorwegnehmen, uns alternative Zukunftsmöglichkeiten vergegenwärtigen und
unsere Entscheidungen reiflich überlegen. Fragen der Zukunft, einst das Reich der
Träumer und Philosophen, haben sich ins Zentrum der Ereignisse gedrängt.
Zukunft im Plural
Ob volkswirtschaftliche Prognose oder Wettervorhersage – Aussagen über die Zukunft von Systemen beruhen im Wesentlichen auf drei Schritten: Beschreibung,
Analyse, Modellbildung. Man sammelt Daten über die gegenwärtige Lage, identifiziert die treibenden Kräfte hinter der Veränderung, bildet zukünftiges Verhalten
in mathematischen Variablen ab und berechnet deren Verlauf. Dieser Ansatz funktioniert hervorragend, wenn das untersuchte System gut erforscht und der Zeithorizont begrenzt ist. Aber er ist unzureichend für langfristige Prognosen über das
erstaunlich komplexe System unseres Planeten.
Die Zukunft der Erde sperrt sich aufgrund von drei Unbestimmtheitstypen
gegen Vorhersagen: Unkenntnis, Zufall und Willensfreiheit. Erstens sind wir über
den gegenwärtigen Zustand des Systems und die darin wirksamen Kräfte nur
lückenhaft informiert; daraus resultiert eine starke statistische Streuung über mögliche zukünftige Zustände. Zweitens sind komplexe Systeme nicht determiniert,
von daher ließe sich selbst bei vollständiger Datenlage die Entwicklung nicht eindeutig vorhersagen. Komplexe Systeme reagieren sehr empfindlich auf Ausgangsbedingungen. Von bestimmten Schwellenwerten aus entwickeln sie sich in die eine
oder die andere Richtung und bringen etwas vollständig Neues hervor. Diese Eigenschaft macht sie unberechenbar. Und drittens lässt sich Zukunft nicht vorhersagen, weil sie von Entscheidungen abhängt, die noch nicht getroffen wurden.
Wie können wir angesichts dieser Unbestimmtheit sinnvoll über Zukunft nachdenken? Die Szenariotechnik gibt uns ein Mittel an die Hand, um verschiedene
langfristige Entwicklungen durchzuspielen. Im Theater fasst das Szenario die Bühnenhandlung zusammen. Auch Entwicklungsszenarien sind Geschichten mit logi25
Great Transition
schem Aufbau und einer Erzählung über eine mögliche Zukunft. Globale Szenarien – Momentaufnahmen der wesentlichen Merkmale zu verschiedenen Zeitpunkten – beschreiben den Fluss der Ereignisse, die zu solchen zukünftigen Bedingungen führen. Sie stützen sich sowohl auf Wissenschaft – das Verständnis historischer Zusammenhänge, gegenwärtiger Verhältnisse sowie physischer und sozialer
Prozesse – als auch auf die Phantasie, um sich alternative Entwicklungen auszudenken. Wir können nicht wissen, was sein wird, aber wir können plausibel und
anschaulich schildern, was sein könnte.
Nicht Vorhersage, sondern Einsicht in die Bandbreite des Möglichen ist das Ziel
von Szenarien. Sie sollen rationales, durchdachtes Handeln gestatten, Verbindungslinien und Bezüge zwischen globalen und regionalen Entwicklungen enthüllen und zudem zeigen, an welchen Stellen der Mensch mit welchen mutmaßlichen Auswirkungen eingreifen könnte. Vermittels quantitativer Methoden liefern
sie ein umfassenderes Bild als reine Modellanalysen. Erzählungen berücksichtigen
nicht-quantifizierbare Aspekte: Werte, Verhaltensweise, Institutionen. Die stringente Modellbildung strukturiert und diszipliniert, während der erzählende Teil
jene plastische Vorstellung bietet, aus der erst Einsicht erwächst. Die Kunst besteht
in der richtigen Mischung beider Elemente.
Globale Szenarien
Welche Zukunft könnte sich aus den Turbulenzen formen, die unseren Planeten
derzeit umtreiben? Um darüber nachzudenken, müssen wir die Fülle der Möglichkeiten auf einige wenige exemplarische Erzählstränge reduzieren und uns auf die
wichtigsten Verzweigungen konzentrieren. Deswegen betrachten wir hier drei Ansätze: Konventionelle Welten, Verfall und Barbarei und die Großen Übergänge. Für
die erste Variante ist das Fortschreiben des Bestehenden charakteristisch, die zweite geht von einem grundlegenden, aber unerwünschten sozialen Umbruch aus und
die dritte von einem ebenso grundlegenden, aber erwünschten sozialen Wandel.
Konventionelle Welten behauptet, dass sich die Welt im 21. Jahrhundert in derselben Richtung wie bisher weiterentwickelt, ohne große Überraschungen, ohne
Brüche, ohne eine grundsätzliche Erneuerung der Zivilisation. Dieselben Kräfte und
Werte, die derzeit die Globalisierung vorantreiben, würden demzufolge auch die
Zukunft prägen. Kleinere Anpassungen in Wirtschaft und Politik würden genügen,
um soziale, ökonomische und ökologische Probleme in den Griff zu bekommen.
Verfall und Barbarei beschwört die Möglichkeit, dass diese Probleme nicht bewältigt werden, sondern sich in einer Abwärtsspirale dramatisch steigern und damit
das Krisenmanagement der bestehenden Institutionen überfordern. Am Ende stün26
Wohin gehen wir?
den dann Anarchie oder Diktatur. Das Szenario der Großen Übergänge, das im Zentrum dieses Essays steht, nimmt eine grundlegende, historisch einmalige Veränderung der Lebenseinstellung und der Gesellschaftsordnung in den Blick. Neue Werte
und ein neues Leitbild der Entwicklung würden diesem Szenario zufolge die Lebensqualität und eine Grundversorgung aller Menschen, Solidarität und globale
Gerechtigkeit sowie die Nähe zur Natur und ökologische Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt rücken.
Für jedes der drei Szenarien definieren wir zwei Varianten und erhalten so insgesamt sechs Szenarien. Indem wir die Konventionelle Welten in Marktkräfte und
Politische Reformen unterteilen, legen wir den Finger auf einen in der zeitgenössischen Debatte zentralen Punkt. In dem marktwirtschaftlichen Szenario treibt der
offene Wettbewerb auf dem Weltmarkt die Entwicklung voran. Soziale und ökologische Aspekte gelten als sekundär. Im Gegensatz dazu geht das Szenario Politische Reformen von umfassenden, aufeinander abgestimmten staatlichen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zum Erhalt der natürlichen Umwelt aus.
Auch das pessimistische Szenario Verfall und Barbarei unterteilt sich in zwei Varianten, den totalen Zusammenbruch und die Welt als Festung. Der Zusammenbruch tritt nach einer immer weitere Kreise ziehenden Spirale von Konflikten und
Krisen ein, die schließlich außer Kontrolle geraten und sämtliche Institutionen
unter sich begraben. Die Welt als Festung wäre die autoritäre Antwort auf den drohenden Zusammenbruch, bei der sich eine privilegierte Minderheit in einer Art globaler Apartheid durch einen Verbund abgeschotteter Enklaven gegen die Zumutungen der verarmten Mehrheit schützt.
Die beiden Varianten der Großen Übergänge heißen Öko-Kommunalismus und
Neues Nachhaltigkeits-Paradigma. Der Öko-Kommunalismus kämpft für den Umweltschutz vor Ort, direkte Demokratie und wirtschaftliche Autarkie. Er ist zwar
bei einigen Umweltgruppen und in anarchistischen Subkulturen beliebt, aber es ist
nicht recht erkennbar, wie er sich trotz der derzeitigen Globalisierungstendenzen
behaupten will, ohne die eine oder andere Form der Barbarei in Kauf zu nehmen.
Das vorliegende Buch identifiziert Great Transition mit dem Neuen Nachhaltigkeits-Paradigma. Dieses könnte den Charakter der Zivilisation weltweit verändern,
ohne in eine moderne Version der „Kleinstaaterei“ zurückzufallen. Die Hinwendung zur Nachhaltigkeit soll weltweite Solidarität, den Austausch unter den Kulturen und die wirtschaftliche Verflechtung fördern und gleichzeitig einen freiheitlichen, menschenwürdigen und ökologischen Übergang gewährleisten. Einen
Überblick über die sechs Szenarien vermittelt Abbildung 4, wobei die Pfeile das
Verhalten ausgewählter Variablen in der Zeit andeuten.
27
Great Transition
Abbildung 4: Exemplarische Verhaltensweise der Szenarien
Szenario
Bevölkerung Wirtschaft Umwelt Gerechtigkeit Technik
Konflikt
Konventionelle Welten
Marktkräfte
Politische Reformen
Verfall und Barbarei
Zusammenbruch
Welt als Festung
Great Transition
Öko-Kommunalismus
Neues NachhaltigkeitsParadigma
Quelle: Gallopín et al. 1997
Die Szenarien unterscheiden sich in ihrer Reaktion auf die gesellschaftlichen und
ökologischen Herausforderungen. Marktkräfte verlassen sich auf die Selbstheilungskräfte des Wettbewerbs. Politische Reformen hängen davon ab, dass sich die
überwältigende Mehrheit der Regierungen auf eine nachhaltige Zukunft einigt. Die
Welt als Festung muss sich auf bewaffnete Kräfte verlassen, um für Ordnung zu
sorgen, die Umwelt zu schützen und das Abgleiten in den Zusammenbruch zu verhindern. Das Szenario der Großen Übergänge strebt eine nachhaltige, lebenswerte
Zukunft an und entwickelt dafür neue Werte, ein neues Entwicklungsmodell und
hofft auf das Engagement von Bürgern und Bürgerinnen aus der ganzen Welt.
Die für die genannten Visionen jeweils charakteristischen Annahmen, Werte
und Mythen haben ideengeschichtliche Wurzeln. Sie werden in Tabelle 2 benannt.
Das Szenario der Marktkräfte hängt einem merkantilen Optimismus an und glaubt
an eine verborgene Hand, die für gut funktionierende Märkte sorgt und so alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme löst. Der wichtigste
Vordenker ist Adam Smith (1776), zu den aktuellen Vertretern gehören viele neoliberale Wirtschaftstheoretiker. Politische Reformen beruht hingegen auf der Überzeugung, dass die Märkte staatlicher Kontrolle bedürfen, um ihren immanenten
28
Wohin gehen wir?
Hang zu Wirtschaftskrisen, sozialen Unruhen sowie zur Umweltverschmutzung
auszugleichen. John Maynard Keynes wurde unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise zum „Vater“ der Theorie, die den Kapitalismus mit seinen zerstörerischen Kräften in verträgliche Bahnen lenken will (Keynes 1936). Erweitert um den
nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen und die Armutsbekämpfung
liegt dieselbe Sichtweise dem wegweisenden Bericht der Brundtland-Kommission
(WCED 1987) und seit dessen Erscheinen auch dem größten Teil der in offiziellen
Gremien geführten umwelt- und entwicklungspolitischen Debatten zugrunde.
Tabelle 2: Archetypische Weltsichten
Weltsicht
Vorläufer
Philosphie
Motto
Konventionelle Welten
Marktkräfte
Smith
Marktoptimismus,
verborgene, wissende
Hand
Es wird schon
werden
Keynes
Brundtland
staatliche Lenkungsvorgaben für die
Wirtschaft
Wachstum,
Umweltschutz und
Gerechtigkeit
durch bessere
Verwaltung und
Technik
Verfall und Barbarei
Zusammenbruch
Malthus
Untergangsstimmung,
Bevölkerungsexplosion
Rohstoffmangel
Das Ende ist nahe
Welt als Festung
Hobbes
Soziales Chaos, der
Mensch ist böse
Ordnung durch
einen starken
Mann
Morris und
Sozialutopisten
Gandhi
Verklärung des Landlebens, der Mensch ist gut,
Verdammung der Industrie
Klein ist schön
Neues NachhaltigkeitsParadigma
Mill
Nachhaltigkeit als
forschrittliche Evolution
der Geselolschaft
und der Welt
Menschliche
Solidarität, neue
Werte,
Lebensqualität
Durchwursteln
Ihr Schwager
(vermuten wir
einfach mal)
keine großartigen
philosophischen
Orientierungen
Que será, será
Politische Reformen
Große Übergänge
Öko-Kommunalismus
29
Great Transition
Hinter der These vom Zusammenbruch steht die trostlose Überzeugung, dass Bevölkerungsexplosion und hemmungsloses Wirtschaftswachstum direkt in den ökologischen Kollaps führen und heftige Verteilungskämpfe sowie den Niedergang der
Institutionen auslösen werden. Thomas Robert Malthus hat in seinem „Versuch
über das Bevölkerungsgesetz“ 1798 die These aufgestellt, die einer arithmetischen
Reihe folgende Nahrungsmittelproduktion könne keinesfalls mit dem der geometrischen Progression gehorchenden Bevölkerungswachstum Schritt halten und
gehört damit zu den einflussreichsten Vorreitern. Verschiedene moderne Autoren
teilen cum grano salis diese Einschätzung (Ehrlich 1973, Meadows et al. 1972, Kaplan 2000). Eine erste Ausprägung der Welt als Festung beschrieb Thomas Hobbes
1651 mit seinem „Leviathan“. Der Mensch sei des Menschen Wolf, behauptete er,
und müsse daher mit starker Hand geführt werden. Zwar bekennen sich nur wenige heute offen zu derart autoritären Auffassungen, aber viele Menschen sehen
eine solche Entwicklung in ihrer Ratlosigkeit als logische Folge der unkontrollierten gesellschaftlichen Polarisierung und der Umweltzerstörung, die sie allenthalben beobachten.
Ahnherren des Öko-Kommunalismus sind William Morris und die Sozialreformer des 19. Jahrhunderts (Thompson 1993), die von Ernst Schumacher geforderte Rückkehr zum menschlichen Maß (1981) oder der Traditionalismus eines Mahatma Gandhi (1993). Diesen anarchistischen Ansatz empfinden viele Umweltschützer und Gesellschaftsvisionäre von heute als ausgesprochen anregend (Sales
2000, Bossel 1998). Das Neue Nachhaltigkeits-Paradigma muss sich mangels historischer Vorbilder seinen eigenen Weg bahnen; genau genommen wagt das vorliegende Buch den ersten Versuch, das Paradigma zu erläutern. Immerhin hat John
Stuart Mill schon Mitte des 19. Jahrhunderts mit großem Weitblick die Vorstellung
von einer post-industriellen Gesellschaft entwickelt, die nicht primär nach materiellen Reichtümern strebt, sondern nach menschlicher Entwicklung (Mill 1848).
Eine recht geläufige Weltsicht – oder eher die Negation einer Weltsicht – wurde
bisher noch gar nicht erwähnt. Viele, wenn nicht die meisten Menschen schwören
jeglichen Spekulationen und Philosophien ab und entscheiden sich für ein „Durchwursteln“ (Lindblom 1959). Es ist die große Masse der Nicht-Bewussten, Unbesorgten und Uninteressierten, die schweigende Mehrheit, der nichts ferner liegt, als
nach einer Antwort auf die großen Fragen der Zukunft zu suchen.
30
Wohin gehen wir?
Die treibenden Kräfte
Ausgangspunkt aller Szenarien, unabhängig vom angenommenen weiteren Verlauf der Geschichte, ist eine Reihe von Kräften und Tendenzen, die das System derzeit bestimmen und vorantreiben.
Demographie
Die Bevölkerung wächst, die Besiedlungsdichte steigt, auch das Durchschnittsalter
verschiebt sich. Nicht wenige Prognosen nehmen bis 2050 einen Anstieg der Weltbevölkerung um 50 Prozent an. Dann würden sich 3 Milliarden Menschen mehr
als derzeit auf der Erde drängen, überwiegend in den Entwicklungsländern. Wenn
der Trend zur Verstädterung anhält, werden 4 Milliarden Neubürger in die Ballungsräume ziehen und Infrastruktur, Umwelt und sozialen Frieden auf eine harte
Probe stellen. Die sinkende Fruchtbarkeit lässt das Durchschnittsalter in den Industriestaaten wachsen. Die Transferleistungen an die Älteren werden die Erwerbstätigen massiv unter Druck setzen. Great Transition würde das Bevölkerungswachstum bremsen, die Landflucht abschwächen und nachhaltigere Siedlungsformen bevorzugen.
Wirtschaft
Waren-, Finanz- und Arbeitsmärkte wachsen zusammen, die globale Ökonomie
kennt keine isolierten Märkte. Die Fortschritte der Kommunikationstechnologie
sowie internationale Verträge zum Abbau von Handelsschranken gaben die Initialzündung zur Globalisierung. Riesige transnationale Unternehmen untergraben
nicht zuletzt auch die Hoheitsrechte einzelner Staaten. Nationale Regierungen finden es zunehmend schwieriger, Steuereinnahmen und Staatsausgaben unter Kontrolle zu halten, denn die Entwicklung einer entfesselten Weltwirtschaft entzieht
sich ihrem Einfluss. Der Einbruch zum Beispiel in Asien hat gezeigt, dass sich regionale Krisen international auswirken. Aber auch Terroranschläge oder gesundheitliche Gefahren wie der Rinderwahnsinn lassen sich nicht mehr auf einzelne
Länder eingrenzen. Great Transition würde die Allmacht des Marktes zugunsten
einer vernünftigen Gesellschafts- und Umweltpolitik einschränken, eine wachsame Zivilgesellschaft würde seitens der Unternehmen verantwortungsvolle Verhaltensweisen einfordern und neue Werte würden Produktionsweise und Konsumgewohnheiten ändern.
Die soziale Frage
Derzeit wird die Erde von wachsender Ungerechtigkeit und Dauerarmut geprägt.
Einige leben im Überfluss, während das Leben für sehr viele Menschen, die vom
31
Great Transition
globalen Wirtschaftswachstum abhängig sind, immer hoffnungsloser wird. Die
wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Nord- und Südhalbkugel wächst und auch
die Einkommensschere innerhalb der einzelnen Länder öffnet sich immer weiter.
Gleichzeitig höhlt der Übergang zur reinen Marktwirtschaft die herkömmlichen Sicherheitsnetze aus und der Verfall bestimmter Werte entwurzelt viele Menschen.
Das Verbrechen gedeiht unter diesen Umständen, manche Staaten leiden sehr unter
Beschaffungskriminalität oder den Folgen von ansteckenden Krankheiten. Eines
der Kernthemen von Great Transition ist die Einlösung der am 10. Dezember 1948
von der Generalversammlung der UNO verabschiedeten „Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte“, nach der alle Menschen in einer pluralistischen Gesellschaft
Anspruch auf Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben haben.
Kultur
Informationstechnologie und elektronische Medien begünstigen vielerorts eine
Konsumhaltung. Diese Entwicklung ist ebenso Ergebnis wie Motor der wirtschaftlichen Globalisierung. Doch die Ironie der Geschichte will es, dass die Fortschritte auf dem Weg zum Weltmarkt nationalistische und religiöse Gegenbewegungen
herausfordern. Dabei stellen nicht nur der Fundamentalismus, sondern auch die
Globalisierung die demokratischen Institutionen in Frage (Barber 2001). Denn das
Zusammenwachsen der Märkte schiebt wichtige ökologische und gesellschaftliche
Entscheidungen transnationalen Marktteilnehmern zu. Der Anschlag auf das World
Trade Center hat keinen Zweifel daran gelassen, dass der weltweite Terrorismus zu
einer treibenden Kraft der weiteren Entwicklung geworden ist. Die Ursachen
klingen widersprüchlich – zu viel und doch auch zu wenig Modernität. Der militante Kern wird offenbar vom utopischen Traum einer panislamischen Antwort auf
die allgegenwärtige westliche Kultur beflügelt. Die Sympathie der Massen scheint
eher in dem Zorn und der Verzweiflung angesichts ihres faktischen Ausschlusses
von Chancen und Wohlstand zu wurzeln. In dem lauten Getöse um das Für und
Wider des Konsums ist es manchmal sehr schwer, den Ruf nach weltweiter Solidarität, Toleranz und Vielfalt zu hören. Er ist für eine Moral im Sinne von Great
Transition zentral.
Technologie
Der technische Fortschritt wird weiterhin großen Einfluss auf Produktions- und
Arbeitsweise sowie Freizeitgestaltung haben. Vor allem die exponentiell wachsende Rechnerleistung sorgt für immer neue Innovationswellen. Die Biotechnologie
wird Landwirtschaft und Medizin verändern und gleichzeitig gewaltige ethische
und ökologische Probleme aufwerfen. Immer kleinere Apparate und das Vordrin32
Wohin gehen wir?
gen in den Nanobereich werden die Behandlung von Krankheiten, die Materialwissenschaften, die Computertechnik und vieles andere revolutionieren. Great
Transition würde die technologische Entwicklung in den Dienst der menschlichen
Erfüllung und der Nachhaltigkeit stellen.
Umwelt
Auch die globale Umweltzerstörung ist charakteristisch für die derzeitige Lage. International wächst die Besorgnis über die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf Atmosphäre, Böden und Wasserhaushalt, die Akkumulation toxischer Substanzen, das Artensterben und die Zerstörung von Ökosystemen. Die Tatsache, dass
sich einzelne Staaten nicht von globalen ökologischen Entwicklungen abkoppeln
können, verändert die Grundlagen einer Geopolitik und Global Governance. Im
Zentrum des Neuen Nachhaltigkeits-Paradigmas stünde das Verständnis, dass die
Menschheit als Teil des Lebensnetzes verantwortlich ist für die Nachhaltigkeit der
natürlichen Umwelt.
Governance
Derzeit läuft der Trend Richtung Demokratisierung und Dezentralisierung. Auf der
Ebene einzelner Individuen wird mehr Nachdruck auf Rechte gelegt, etwa die
Rechte der Frauen, die Rechte indigener Gruppen oder auch die Menschenrechte
ganz allgemein. In der Privatwirtschaft spiegelt sich die Tendenz in flachen Hierarchien und dezentraler Entscheidungsfindung wider. So manche Wirtschaftseinheit, etwa über das Internet verbundene Netzwerke oder Nichtregierungsorganisationen verzichten ganz auf Führungsstrukturen. Die Entstehung einer Zivilgesellschaft und deren Stimme bei Entscheidungen ist eine bemerkenswerte Tendenz.
Great Transition würde das Entstehen von Governanceformen ermöglichen, die lokale Bedürfnisse in globale Entscheidungen einbetten und eine Balance zwischen
nachhaltigen sozialen und ökologischen Werten und dem Wunsch nach kultureller und strategischer Vielfalt schaffen.
Die Gefahren der Marktwirtschaft
Das Szenario Marktkräfte schreibt die gegenwärtigen Trends für die nächsten Jahrzehnte fort. Damit verbleiben die Bemühungen um eine nachhaltige Entwicklung
im Hintergrund. Diese stillschweigende Annahme liegt allen Versuchen zu Grunde, einfach weiterzumachen wie bisher. Aber die Marktkräfte bieten wie alle Szenarien eine normative Sicht der Zukunft. Ihr Erfolg erfordert politische Anstrengungen, und dies ist kein einfaches Unterfangen. Nur mit umfassenden Initiativen
33
Great Transition
lassen sich Handelshemmnisse überwinden, der notwendige institutionelle Rahmen schaffen und die Entwicklungsländer in das Weltwirtschaftssystem einbeziehen. Dieses Programm verfolgen IWF, WTO und der so genannte Washington Consensus. Dahinter steht das konventionelle Entwicklungsparadigma.
Das Szenario Marktkräfte wurde bereits eingehend für jede einzelne Weltregion ausgearbeitet (Raskin et al. 1998). Einige Hinweise auf die Veränderung wichtiger Indikatoren gibt Abbildung 5. Der Verbrauch von Energie, Wasser und anderen natürlichen Ressourcen wächst längst nicht so schnell wie das Bruttoinlandsprodukt. Diese »Dematerialisierung« verdankt sich der strukturellen Verschiebung
vom produzierenden Gewerbe zum Dienstleistungssektor und den technischen
Neuerungen, nach denen der Markt verlangt. Trotz dieses Rückgangs erhöht sich
der Druck auf die Umwelt und die Rohstofflager, weil der Verbrauch stärker zunimmt als die Effizienzsteigerungen auffangen können. „Effizienzeffekte“ werden
durch „Wachstumseffekte“ ausgehebelt.
Abbildung 5: Globale Indikatoren im Marktkräfte-Szenario
Bevölkerung Pro-KopfEinkommen
WeltBIP
Nahrungsmittel
Hunger
Energiebedarf
Wasserbedarf
CO2Emmissionen
Waldfläche
Zu den Vorhersagen des Marktkräfte-Szenarios gehören:
• Zwischen 1995 und 2050 wächst die Weltbevölkerung um über 50 Prozent, der
Durchschnittsverdienst steigt um Faktor 2,5 und die Produktionsmenge vervierfacht sich.
• Der Bedarf an Lebensmitteln verdoppelt sich angesichts der höheren Einkommen und der steigenden Bevölkerungszahlen.
34
Wohin gehen wir?
Fast eine Milliarde Menschen hungert, weil die ungleiche Verteilung des Wohlstands die armutsbekämpfenden Wirkungen des Wirtschaftswachstums konterkariert.
• Die Wirtschaft der Entwicklungsländer wächst überproportional. Trotzdem öffnet sich die Einkommensschere zu den industrialisierten Ländern weiter von derzeit 20.000 $ pro Kopf auf 55.000 $ im Jahr 2050, weil die Gehälter in den entwickelten Ländern in die Höhe schnellen.
• Der Energie- und Wasserbedarf steigt beträchtlich an.
• Die Kohlendioxidemissionen werden weiterhin stark wachsen und die Stabilität
des Weltklimas gefährden. Daraus erwachsen große ökologische, ökonomische und
gesundheitliche Risiken.
• Wälder werden für neue Anbauflächen, Wohngebiete und andere Projekte abgeholzt.
Die Zukunft der Marktkräfte würde unseren Nachfahren unter Umständen eine
riskante Hinterlassenschaft bescheren. Das Szenario ist weder nachhaltig noch
wünschenswert, denn auf diesem Entwicklungspfad liegen erhebliche ökologische
und soziale Hindernisse. Bevölkerungswachstum, Wirtschaftswachstum und der
Raubbau an den Ressourcen erhöhen den Druck auf die Natur. Die Umweltzerstörung würde fortschreiten, statt eingedämmt zu werden, und die Gefahr würde
wachsen, dass kritische Schwellenwerte überschritten und Ereignisse ausgelöst
werden, die das Klima und die Ökosysteme der Erde radikal verändern.
Der wachsende Druck auf die Ressourcen wird sehr wahrscheinlich zu Verteilungskämpfen führen. Die Erdölförderung lässt irgendwann in den nächsten Jahrzehnten nach, die Preise für Rohöl werden dann in astronomische Höhen klettern
und die Energiefrage ins Zentrum der Weltpolitik rücken. In manchen Regionen
ist jetzt schon absehbar, dass um Süßwasserreserven innerhalb und zwischen Staaten Kriege geführt werden könnten. Auch wird man sich zwischen dem Erhalt von
Ökosystemen und der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse entscheiden müssen.
Um eine wohlhabendere, größere Bevölkerung zu ernähren, werden Wälder abgeholzt und Sümpfe trockengelegt. Der Eintrag chemischer Substanzen durch eine
extensive Landwirtschaft wird vor Flüssen und Grundwasser nicht Halt machen.
Immer größere Flächen verschwinden unter Gebäuden und Straßen. Allein durch
Bewässerung nutzbare Flächen wird man wegen des Wassermangels aufgeben
müssen und dabei feststellen, dass sich Äcker und Felder nicht beliebig ersetzen
oder gar vermehren lassen. Wertvolle ökologische Nischen wie Flussauen, Küstenriffe, der Urwald oder Sumpfgebiete werden dem Flächenverbrauch, dem Wassermangel und der Umweltverschmutzung zum Opfer fallen. Die Klimaveränderung
kann als große Unbekannte die Gleichung weiter komplizieren, sie kann die Ver•
35
Great Transition
sorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln, den Erhalt der Ökosysteme sowie unserer gewohnten Umgebung erschweren.
Die Marktkräfte gefährden in hohem Maße die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität. Das Zusammenspiel beständiger globaler Armut, fortgesetzter Ungerechtigkeit zwischen und innerhalb einzelner Nationen und der Raubbau
an natürlichen Ressourcen stört den sozialen Frieden, löst Migrationsströme aus
und bedroht die internationale Sicherheit. Die Marktkräfte werden kaum für eine
nachhaltige und die Umwelt achtende Zukunft sorgen. Ihre Versprechungen könnten sich zudem als falsch erweisen. Denn die ökonomischen Kosten der Umweltzerstörung und die Wanderbewegungen aufgrund wachsender Umweltprobleme
könnten die entscheidende Prämisse des Szenarios - ungebrochenes globales Wirtschaftswachstum - untergraben.
Angesichts solcher Spannungen und Widersprüche ist die langfristige Stabilität in diesem Szenario alles andere als garantiert. Es könnte über Jahrzehnte fortbestehen, indem eine ökologische und soziale Krise die nächste ablöst. Vielleicht
provoziert gerade die ständige Gefährdung eine mächtige, fortschrittliche Bewegung, die für eine nachhaltige und gerechte Entwicklung kämpft. Genauso wahrscheinlich ist jedoch, dass sich die Krise verselbstständigt und außer Kontrolle
gerät.
Am Rand des Abgrunds
Das Szenario Verfall und Barbarei denkt die im Marktkräfte-Szenario angelegten
Gefahren zu Ende. Die Zukunft hielte dann Kriege und andere Auseinandersetzungen bereit, welche die moralischen Grundlagen unserer Zivilisation zerstören
würden. Diese grauenhafte Vorstellung ist nicht zu weit hergeholt. Dem pessimistischen Blick in die Zukunft erscheint sie mehr als wahrscheinlich. Wir untersuchen sie, um frühe Warnzeichen zu erkennen und dafür zu sorgen, dass rechtzeitig entsprechend gegengesteuert wird.
Das Szenario geht von denselben Vorbedingungen wie die anderen Szenarien
aus, doch der Schwung für mehr Nachhaltigkeit und eine erneuerte Entwicklungsagenda, die am Ende des 20. Jahrhunderts so hoffnungsvoll stimmten, bricht zusammen. Die Warnglocken schrillen der Verfallsthese zufolge ungehört, Umweltzerstörung, Klimaveränderung, soziale Polarisierung und Terrorismus werden falsch
gedeutet. Die Welt folgt überkommenen Vorstellungen und vertraut sich unkritisch
den Marktkräften an. Doch statt ökologische Probleme und sozi-ökonomische
Spannungen zu beseitigen, baut sich gleich an mehreren Fronten eine Krise auf.
36
Wohin gehen wir?
Im Verlauf dieser Krise ist die Reaktion der letzten verbleibenden Institutionen von
entscheidender Bedeutung: Staatenbündnisse, internationale Organisationen,
transnationale Großkonzerne, bewaffnete Kräfte. Im Fall des Zusammenbruchs
würden sie gegeneinander arbeiten und jeden Versuch, die Ordnung wiederherzustellen, wechselseitig verhindern. Bildet sich jedoch die Welt als Festung heraus,
haben es einige Akteure verstanden, die unheilvollen Entwicklungen für einzelne
Enklaven abzuwenden. Sie können ihre eigenen Interessen verteidigen und bilden
Allianzen. In der Anwendung von Gewalt sehen sie ein notwendiges Mittel, um
den Wohlstand, die Rohstoffquellen und die Regierbarkeit der jeweiligen politischen Einheit zu sichern. Die Eliten ziehen sich in schützenden Enklaven zurück,
meist in den Industriestaaten, vereinzelt aber auch in den Entwicklungsländern.
Einzelheiten sind in der Erzählung Die Welt als Festung nachzulesen.
Die Stabilität einer solchen abgeschotteten Welt hängt von dem Organisationstalent der privilegierten Enklaven ab, von ihrer Fähigkeit, die Entrechteten
unter Kontrolle zu halten. Wahrscheinlich trägt eine solche Welt den Keim zu ihrer
eigenen Zerstörung längst in sich, auch wenn die Ordnung über Jahrzehnte aufrechterhalten werden kann. Ein allgemeiner Aufstand der vom Wohlstand Ausgeschlossenen kann das System stürzen, insbesondere wenn sich die Machthaber untereinander zerstreiten. Der Kollaps der Enklaven kann entweder den Zusammenbruch einleiten oder eine neue, gerechtere Weltordnung hervorbringen.
Die Welt als Festung
Im Jahr 2002 wirkte die Markteuphorie des letzten Jahrzehnts wie ein naiver, absurder
Traum. Die globale Rezession dämpfte den irrationalen Überschwang an den Finanzmärkten und insbesondere am Neuen Markt, und der Anschlag vom 11. September legte die Abgründe der geopolitischen Landschaft bloß. Die bisher schlafwandelnde globale Elite schreckte hoch. Die Nationen der Welt mobilisierten ihre Kräfte, um in einer gemeinsamen Anstrengung den Terrorismus zu bekämpfen. Ihnen bot sich die unerwartete Chance, die Entwicklungsstrategie zu revidieren und der Globalisierung eine gerechtere, demokratischere
und nachhaltigere Richtung zu geben. Aber sie nutzten diese Chance nicht, sondern verschenkten den kurzen Moment der Einigkeit mit militärischer Aufrüstung und polarisierenden Verdächtigungen. Die leere Rhetorik auf dem Umweltgipfel 2002 in Johannesburg war
nur noch ein schwacher Nachhall der Nachhaltigkeitsbewegung.
Allmählich kam eine koordinierte Aktion gegen den Terrorismus in Gang, die dessen
„Beherrschbarkeit“ suggerierte, auch wenn gelegentliche Anschläge immer wieder Wasser
auf die Mühlen der Hardliner gaben. Ein und dasselbe Mantra – Wirtschaftswachstum, Handelsliberalisierung, Strukturanpassungen – hallte durch die Flure der international einflussreichen Organisationen, etwa der WTO, durch die Vorstandsetagen der Weltkonzerne und
37
Great Transition
die Konferenzräume von Regierungen. Individualismus und Konsumfreude trieben neue Blüten, kombiniert allerdings mit größerem Respekt vor den Herrschaftsinstanzen als den Garanten der staatlichen und persönlichen Sicherheit, aber auch als aktiven Partnern bei der
Schaffung eines Weltmarktes.
Aber Nutznießer dieser wirtschaftlichen Globalisierung waren nur zwei Fünftel der Gesellschaft: Die 20 Prozent der Spitzenverdiener und die 20 Prozent mit dem höchsten Ausbildungsstand. Die Weltwirtschaft gebar eine neureiche Klasse, die sich in ihrer Internationalität gefiel. Aber dem standen Milliarden verzweifelt armer Menschen gegenüber, deren
Situation nicht von dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung berührt wurde. Es gab
nach wie vor internationale Einrichtungen und Hilfsprogramme zur Armutsbekämpfung. Sie
setzten auf unternehmerische Initiative und Modernisierung. Da jedoch die meisten Gelder
in Sicherheit und Kontrollbehörden flossen, waren die Mittel für soziale Belange ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Not der Armen wurde immer dringender, die Kluft zwischen Vermögenden und Mittellosen immer größer. Trotzdem wurde die Entwicklungshilfe immer weiter abgebaut. Die
Bereitschaft und die Fähigkeit, von institutioneller Seite zu helfen, war erschöpft. Derweil
verschlechterte sich die Lage der Umwelt. Die Mehrfachbelastung - Umweltverschmutzung,
Klimaveränderung, die Zerstörung von Ökosystemen - beschleunigte den Niedergang. Streit
um die knappen Wasservorräte führte vor allem zwischen Ländern mit gemeinsamen Flüssen zu Konflikten. Luftverschmutzung, kontaminierte Böden, Nahrungsmittelknappheit und
Seuchen stürzten das Gesundheitswesen eine tiefe Krise.
Angelockt von den Bildern des Überflusses wurden die verelendeten Massen aufsässig.
Viele Menschen drängten um jeden Preis in die reichen Länder. Da die Neigung zur Kriminalität unter den gegebenen anarchischen Verhältnissen groß war, gelang es dem organisierten Verbrechen, eigene Kampfverbände aufzustellen und für weithin gefürchtete Aktionen zu nutzen. Daneben entstand eine neue Klasse militanter Kämpfer, perfekt trainiert,
hoch gebildet, zornig. Sie schürten den Hass und vergifteten die sozialen Beziehungen. Der
Terrorismus lebte auf, überzog die Welt mit Selbstmordattentaten auf belebten Plätzen und
Symbolen der Globalisierung und schreckte schließlich auch vor dem Einsatz biologischer
und atomarer Waffen nicht zurück.
In dieser angsterfüllten Atmosphäre vertieften sich alte ethnische, religiöse und nationalistische Spannungen. Die staatliche Einheit vieler Entwicklungsländer zerbrach, die Ordnungskräfte versagten und Kriminelle nutzten das Machtvakuum. Erschütterungen suchten
auch die wohlhabenden Nationen heim, weil die Infrastruktur zerfiel und manche technische
Einrichtung versagte. Der Motor der Weltwirtschaft stotterte, die internationalen Institutionen waren geschwächt, während die mit der Klimaveränderung einhergehenden Unwetter
katastrophale Ausmaße annahmen. Die reiche Minderheit fürchtete, in den Strudel von Immigration, Gewalt und Krankheit gerissen zu werden. Die Krise geriet außer Kontrolle.
Die Kräfte der Weltordnung traten in Aktion. Internationale Verteidigungsbündnisse,
Konzerne und die Regierungen der mächtigsten Staaten bildeten eine Rettungsallianz von
eigenen Gnaden. Sie polierten die Vereinten Nationen auf, nutzten diese als Plattform und
erklärten den planetaren Notstand. Militärische Strafaktionen und drakonische Polizei-
38
Wohin gehen wir?
maßnahmen sollten die schlimmsten Konfliktherde „ausbrennen“. Mit finanzieller und personeller Unterstützung durch die Allianz konnten die lokalen Machthaber jeden Widerstand
unterdrücken und ihr Land dank der internationalen Friedenstruppen ruhig halten.
Am Ende steht eine neue Zweiteilung der Welt. Die einen sprechen von der Welt als Festung, die anderen nennen es planetarische Apartheid. Die Grenze zu den Habenichtsen ist
dicht, die juristischen und institutionellen Verhältnisse zementieren das Ungleichgewicht und
den autoritären Führungsstil. In den geschützten Enklaven der Industrienationen herrscht
Überfluss, ebenso in den bis an die Zähne bewaffneten Hochburgen der Reichen in den Entwicklungsländern - Oasen des Wohlstands in einem Meer von Elend. Der Polizeistaat außerhalb der Festungsmauern verwehrt den verarmten Massen die Grundrechte, vor allem natürlich die Bewegungsfreiheit. Soziale Unruhen werden mit hochmoderner Technik und altmodischer Brutalität unterdrückt. Mit beiden Mitteln werden auch die letzten natürlichen Ressourcen geschützt. Einer kleinen Elite ist es gelungen, die Barbarei räumlich zu begrenzen,
eine Art Umweltmanagement einzuführen und eine unbehagliche Stabilität zu erzwingen.
Utopie und Pragmatismus
Die Weltsicht der Marktkräfte umfasst eine ehrgeizige Vision und spielt gleichzeitig eine Art Kosmolotterie. Die Vision sieht die Entstehung eines weltweiten freien Marktes, der unbehindert von Zöllen und anderen Handelsschranken funktioniert, von supranationalen Institutionen kontrolliert wird und das westliche Modell zum verbindlichen Entwicklungsziel erklärt. Der gewaltige Lotterieanteil liegt
in der Frage, ob die globalen Märkte nicht über ihre immanenten Widersprüche
stolpern – Umweltzerstörung, Wirtschaftskrisen, Einkommensschere sowie kulturelle Konflikte.
Es stimmt wohl, dass sich einige Umweltzerstörungen durch die „unsichtbare
Hand“ des Marktes korrigieren lassen: ökologische Knappheit spiegelt sich in höheren Preisen und drückt auf die Nachfrage, sie begründet die Investitionen für neue
Techniken oder ermöglicht die Substitution von Rohstoffen. Deswegen betont die
Umweltökonomie die Bedeutung der „Internalisierung der externen Kosten“, d.h.,
dass die Folgekosten in den Preis eines Produktes eingerechnet würden. Müsste der
Verbraucher anteilig die Umweltschäden durch Produktion oder Beseitigung des
gekauften Artikels mitbezahlen, sähe seine Entscheidung an der Kasse wohl
anders aus. Kann dieser immanente Reparaturmechanismus schnell genug und in
genügend großem Ausmaß Abhilfe schaffen? Das ist eine Glaubensfrage, und wer
sie mit Ja beantwortet, kann seinen Optimismus weder wissenschaftlich noch
historisch belegen. Die freie Marktwirtschaft kann nicht gewährleisten, dass wir
uns die Zukunft nicht durch eine massive Veränderung der Ökosysteme oder andere unliebsame Überraschungen verbauen.
39
Great Transition
Ebenfalls mehr als fraglich ist die Überzeugung, die Kräfte des Marktes würden
eine gesellschaftlich tragfähige Grundlage schaffen. Sie wird von der Hoffnung
genährt, das allgemeine Wirtschaftswachstum würde die Zahl der Armen und
damit auch das Konfliktpotenzial nicht zuletzt durch mehr Gerechtigkeit automatisch reduzieren. Aber auch diese Heilserwartung steht auf tönernen Füßen. Die
Erfahrungen seit der industriellen Revolution zeigen vielmehr, das nur gezielte
Wohlfahrtsprogramme die Situation der von der marktwirtschaftlichen Dynamik
entwurzelten und verarmten Massen verbessern können. In diesem Szenario, das
sich allein auf den Wettbewerb als Korrektiv verlässt, bleibt die globale Armut bestehen, weil die Kombination von Bevölkerungswachstum und ungleicher Einkommensverteilung die positiven Effekte durch das gestiegene Durchschnittseinkommen wieder aufhebt.
Selbst wenn die Marktkräfte, unwahrscheinlich genug, in einer stabilen Weltwirtschaft münden, gibt das Szenario keinen Grund zu der Annahme, die moralische Verpflichtung, den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Umwelt zu
hinterlassen und die Lage der Benachteiligten zu verbessern, könnte erfüllt werden. Das wirtschaftliche und soziale Gefälle lässt Gesellschaften auseinanderbrechen und entzieht freiheitlichen demokratischen Institutionen die Grundlage. Der
Raubbau an den Ressourcen und die Umweltzerstörung vergrößern innerstaatliche
und internationale Spannungen. Für die ökonomische Effizienz ist es wichtig, dass
Märkte nicht reguliert werden, aber nur ein regulierter Markt kann nachhaltig wirtschaften. Umweltschutz, Gerechtigkeit und Entwicklungsziele stehen über dem
Markt. Solche Fragen lassen sich am besten in einem demokratischen Prozess beantworten. Er setzt weitestgehend gezielte Wertvorstellungen und informierte, gebildete Teilnehmer voraus.
Der Traum von einer Welt der Marktkräfte ist der hinter dem derzeitig dominanten Entwicklungs-Paradigma liegende Impuls. Er wird von einflussreichen internationalen Institutionen, Politikern und Theoretikern stillschweigend vorausgesetzt und oft als der einzig vernünftige, ja, der einzig mögliche Ansatz hingestellt.
Doch wer sich angesichts der vielschichtigen Probleme, die auf uns zukommen, auf
dieses Gedankengebäude verlässt, versteigt sich in eine Art Elfenbeinturm. Der
Übergang zu einer nachhaltigen globalen Zukunft verlangt eine andere Politik, andere Verhaltensweisen und andere Werte. „Business-as-usual“ ist eine utopische
Phantasie – eine neue gesellschaftliche Vision ist eine pragmatische Notwendigkeit.
40
3. Wohin wollen wir?
Die Frage nach der Zukunft - wo führt das alles hin? - lässt sich nicht klar beantworten, sondern wirft neue beunruhigende Fragen auf. Schreibt man die Tendenzen der Gegenwart in die nächsten Jahrzehnte fort, erhält man eine widersprüchliche, brüchige Darstellung. Die Zukunft birgt tausend Möglichkeiten, darunter
auch die Verelendung weiter Bevölkerungsteile und ökologische Verarmung. Aber
Menschen sind Reisende, nicht Lemminge, und können deswegen das Ziel ihres
Weges hinterfragen - wo wollen wir hin? Die Fähigkeit zu Visionen und zu absichtsvollem Handeln gibt uns eine Freiheit, die uns ebenso stark anspornen kann
wie uns die Vergangenheit in eine bestimmte Richtung drängt.
Ziele für eine nachhaltige Welt
Aus den Konflikten des 20. Jahrhunderts gingen vier große Ideale für eine zukünftige Weltgesellschaft hervor: Frieden, Freiheit, Wohlstand und die Bewahrung der
Natur. Wir haben die Chance, diese Idealziele im 21. Jahrhundert durch einen tief
greifenden Strukturwandel zu verwirklichen.
Dem Frieden galten viele Bemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg, aber das
atomare Wettrüsten hat zwar weitere Weltkriege, nicht jedoch Bürgerkriege und
lokal begrenzte Konflikte verhindert. Der internationale Kampf für die Freiheit begann in den späten vierziger Jahren und wandte sich gegen Imperialismus, Kolonialismus, Missachtung der Menschenrechte sowie totalitäre Unterdrückung. Er
führte in den fünfziger und sechziger Jahren zu einer Welle von Unabhängigkeitserklärungen und zu verschiedenen internationalen Initiativen, um die ehemaligen Kolonien auf dem Weg zu den Standards der ehemaligen Herren zu unterstützen. Schließlich wandte sich das Interesse in den siebziger Jahren der Erde
selbst zu. Ursprünglich lag der Fokus auf den natürlichen Ressourcen und der
menschlichen Lebenswelt, später rückten die komplexen Versorgungssysteme in
den Mittelpunkt.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen Frieden und Freiheit wieder auf der Tagesordnung, nicht nur wegen der fortgesetzten bewaffneten Konflikte, sondern
auch wegen der Terroranschläge gegen Zivilisten. Der Kampf gegen die neuen Gefahren gefährdet nicht zuletzt die demokratischen Freiheiten. Die Überwindung von
Kriegen ist Teil der Neuen Nachhaltigkeit. Die Menschenrechte – ökonomische, soziale und politische – müssen universell für alle gelten. Die demokratische Regel
41
Great Transition
mit Autonomie und Rechten für Minderheiten muss aufrechterhalten und ihr Geltungsbereich geografisch ausgeweitet werden. Bereits heute sind viele dieser Ziele
in internationalen Vereinbarungen niedergelegt. Doch um sie allgemein durchzusetzen, müssten alle Staaten diese Verträge ratifizieren und dann auch umsetzen.
Die zentrale Herausforderung für Entwicklung ist die Erfüllung grundlegender
Bedürfnisse: Nahrung, Wasser und Gesundheit, Bildung, Beschäftigung und Partizipation. Wirtschaftlich prosperierende und gerechte Gesellschaften sorgen dafür,
dass ihre Mitglieder lesen und schreiben, Grund- und weiterführende Schulen besuchen und einen Beruf lernen können. Hunger und Benachteiligung könnten bis
2050 der Vergangenheit angehören, das Recht auf ein gesundes, erfülltes Leben
ließe sich bis zu diesem Zeitpunkt jedem Menschen einräumen – praktisch, nicht
nur theoretisch.
Eine robuste, produktive Umgebung ist conditio sine qua non für Frieden, Freiheit und Entwicklung. Die Bewahrung einer intakten, schönen Erde verlangt die
Eindämmung der Klimaveränderung, den nachhaltigen Umgang mit Energie-, Rohstoff- und Wasserquellen, geringere Schadstoffemissionen sowie die Erhaltung der
Ökosysteme und Habitate.
Heute, am Beginn eines neuen Jahrhunderts, sind wir von diesen Zielen weit
entfernt, auch wenn sich in vieler Hinsicht Fortschritte vermelden lassen. Wir stehen vor der Herausforderung, weltweit den Übergang zu einer friedfertigen, freien, gerechten und umweltbewussten Welt einzuleiten - auch wenn das wie ein realitätsblinder Traum wirken mag.
Richtungswechsel
Nachhaltigkeit wurde in zahlreichen Vereinbarungen über Menschenrechte, Armut
und Umweltschutz als Ziel formuliert. Doch den noblen Worten folgten keine entschlossenen Taten, das Engagement der Politiker ließ zu wünschen übrig. So bleibt
die Vision der Nachhaltigkeit eine virtuelle Realität und wird dem realen Drang
nach globalen Märkten nur übergestülpt.
Die hochgesteckten Ziele beschreiben eine ethische Verpflichtung auf eine
nachhaltige Welt. Sie sind die Begleitmusik, verführerisch, aber weltfremd. Libretto und Choreografie müssen hinzukommen, konkrete Ziele also, mit denen die
guten Vorsätze politisch wirksam werden können. Das Szenario Politische Reformen veranschaulicht, wie dies geschehen könnte. Im Wesentlichen beschreibt es,
wie sich der politische Wille herausbildet, um einen Richtungswechsel einzuleiten
und mit umfassenden Maßnahmen Nachhaltigkeit zu fördern.
42
Wohin wollen wir?
Wir haben dieses Szenario in einer früheren Veröffentlichung detailliert erörtert
(Raskin et al. 1998). Am Anfang steht eine Zustandsbeschreibung für die Jahre
2025 und 2050. Zu diesem Zeitpunkt, so nehmen wir an, sind einige gesellschaftsund umweltpolitische Minimalforderungen erfüllt. Wir beschreiben dann im Rückblick, wie eine realistische Kombination kleiner Verbesserungen im Szenario
Marktkräfte diese Minimalforderungen erfüllen helfen könnte. Eine Skizze des Ablaufs findet sich unter der Überschrift Politische Reformen.
Was lässt sich mit Politischen Reformen erreichen? Weithin diskutierte soziale
und ökologische Ziele bieten hier wichtige Anhaltspunkte für die Größenordnung
der Aufgabe. Alle Zahlen sind natürlich vorläufig und müssen bei entsprechenden
neuen Erkenntnissen korrigiert werden. Politische Reformen im Sinn der übergeordneten Nachhaltigkeitsziele - Frieden, Freiheit, Entwicklung und Umweltschutz
- werden im Folgenden diskutiert und grafisch in Abbildung 6 im Kontrast zum
marktwirtschaftlichen Szenario dargestellt.
Gleichberechtigung
1980
Klima
1980
Ökosysteme
1980
Wassermangel
Betroffene (in Mrd)
1980
1980
Entwicklung
Hungernde (in Mrd)
Freiheit
Frieden
Waldfläche (Mio ha)
CO2-Konzentration (ppm)
Konflikte > (1000 Tote/p.a.)
Abbildung 6: Politische Reformen und Marktkräfte im Vergleich
Ausgewählte Indikatoren für Frieden, Freiheit, Entwicklung und Umwelt
1980
Marktkräfte
Politische Reformen
Politische Reformen
Aus dem Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert kristallisiert sich die Globalisierung als wichtigstes Thema vor dem letzten Milleniumswechsel heraus. Wie alle Wendepunkte verlief die planetarische Entwicklungsphase der Welt anfangs recht widersprüchlich.
Oberflächlich gesehen schienen die Veränderungen auf ein rasches Zusammenwachsen zu
einem Weltmarkt hinauszulaufen. Die Transportmittel wurden billiger und schneller. Auch
die Informationstechnologie wirkte als Katalysator. Doch gleichzeitig formierte sich die Gegenbewegung. Sie reagierte auf die Versäumnisse der kopflos ins Verderben stürzenden
43
Great Transition
Märkte und engagierte sich für ökologische Nachhaltigkeit und eine menschenwürdige Entwicklung.
Der Schwung der politischen Reformen lässt sich anhand einer ganzen Reihe von UNOInitiativen nachvollziehen. 1972 begann der Reigen der internationalen Umweltkonferenzen
in Stockholm unter dem Titel „Der Mensch und seine natürliche Umwelt“, 1987 wurde die
Weltkommission für Umwelt und Entwicklung gegründet und 1992 fand in Rio de Janeiro
der „Erdgipfel“ statt. Diese Konferenzen zeigten zunächst kaum Wirkung, aber auf die Länge
der Zeit wird doch klar, dass sie den bemerkenswerten Umbrüchen Anfang des 21. Jahrhunderts den Boden bereiteten. Damals jedoch schienen alle Mahnungen zu verpuffen.
Ende des 20. Jahrhunderts ließ das internationale Engagement für eine nachhaltige Zukunft stark nach. Die Appelle auf internationalen Konferenzen für eine gemeinsame Umweltschutz- und Entwicklungsagenda reichten selten über rhetorische Gesten hinaus. Sonderinteressen herrschten vor. Gerade die mächtigen Nationen weigerten sich, ihre ökonomische Entwicklung mit den globalen ökologischen Anforderungen zu harmonisieren. Internationale Differenzen erlaubten nichts weiter als eine endlose Reihe von Spitzenkonferenzen,
deren Ergebnis sich in anregenden, aber wirkungslosen Pamphleten erschöpfte.
Aber nach 2002 schwang das Pendel wieder Richtung nachhaltige Entwicklung. Dazu
führte eine Reihe von Faktoren. Der Umweltgipfel in Johannesburg war ein Schlüsselereignis. Der politische Wille zu Reformen verdankt sich teilweise dem Ende des Börsenhypes,
der in den neunziger Jahren wunderliche Blüten trieb. An der Wende zum neuen Jahrhundert erinnerte eine weltweite Rezession daran, dass das goldene Kalb des neuen Reichtums
das Zeitliche gesegnet hatte und der E-Commerce keineswegs sämtliche wirtschaftlichen Unsicherheiten beseitigte. Die Terroranschläge vom 11. September rissen die Überflussgesellschaft endgültig aus ihrem trägen Schlummer und weckte neben dem Gefühl von Verunsicherung und Zorn ein Gespür dafür, dass die Weltentwicklung auf tönernen Füßen stand.
Das Anti-Terror-Bündnis öffnete einer neuen Form der Globalisierung die Tür. Es war
eine beispiellose Gelegenheit, zu agieren statt zu reagieren und sich gemeinschaftlich zu engagieren. Der Realitätsschub überzeugte die Regierungen, dass die Märkte schneller internationalisiert und die Institutionen schneller modernisiert werden mussten. Zunächst wollte man nur ein bestimmtes Versprechen der Globalisierung einlösen: die Einbeziehung jener,
die bisher von der westlichen Moderne ausgeschlossen waren. Freihandelsinstitutionen wurden ausgebaut, die internationale Sicht auf die Wirtschaft gestärkt. An den Schaltstellen
der Macht in Unternehmen wie politischen Ämtern hielt eine neue Generation Einzug. Die
Vision einer alle Menschen einschließenden globalen Marktwirtschaft stärkte sowohl die internationale Sicherheit wie auch die ökonomische Lage. Doch das reichte nicht.
Die Umweltzerstörung schritt weiter fort. Wissenschaftler warnten immer eindringlicher,
dass die Menschen mit ihrem Tun die Stabilität der Erde gefährdeten. Die Öffentlichkeit
wurde angesichts sich häufender Unwetterkatastrophen und des dramatischen Artensterbens ungeduldig. Der Motor der Weltwirtschaft stotterte, und das Gefühl, in einer riskanten, entscheidenden Wendezeit zu leben, wurde von ökologischen Problemen und der sozialen Polarisierung verstärkt. In den benachteiligten Regionen beklagten die Menschen das
fortgesetzte Scheitern der Globalisierung bei der Armutsbekämpfung. Als Hauptleidtragen-
44
Wohin wollen wir?
de des Klimawechsels forderten sie neue globale Vereinbarungen. Eine gleichzeitig soziale,
ökonomische und ökologische Krise bahnt sich an.
Die Suche nach einer einschließenderen, demokratischeren und sichereren Form der Entwicklung begann. Eine weltweite Koalition, ursprünglich im Kampf gegen den weltweiten
Terrorismus gegründet, erweiterte ihr Mandat, um multilaterale Aktionen zu Gunsten von
Umweltschutz, Abrüstung, internationale Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung durchzusetzen. Die Ziele internationale Sicherheit und nachhaltige Entwicklung vermischten sich.
Die Medien reagierten und verstärkten mit ihrer Berichterstattung die Besorgnis über Umwelt und sozialen Frieden. Nichtregierungsorganisationen arbeiteten in internationalen Netzwerken Hand in Hand und dehnten ihren Einfluss aus. Das Internet begünstigte die Fähigkeit, sich weltweit abzustimmen. Eine wachsende Anzahl multinationaler Unternehmen plädierte, alarmiert von der Bedrohung der globalen Stabilität, für eine Weltpolitik der Risikominderung, die der Wirtschaft einen sicheren Handlungsrahmen schuf.
Neue politische Führungspersönlichkeiten engagierten sich für gemeinschaftliche Aktionen und setzen sich an die Spitze der Bewegung. Ein weltweiter Konsens erwuchs aus
dem dringenden Bedürfnis nach einer Politik, die für eine gesunde Umwelt sorgt und die
Armut wirksam bekämpft. Politische Reformen suchten den Ausgleich zwischen jenen, die
den Status Quo bevorzugten und für die Marktkräfte plädierten, und jenen, die grundsätzlich ein neues Leitbild für erforderlich hielten für eine Great Transition das Wort eintraten.
Der Markt, gestützt von Handelsliberalisierungen, Privatisierungen und der weltweiten Übernahme des westlichen Wirtschaftssystems, blieb die eigentliche Triebfeder des Wirtschaftswachstums. Aber international vereinbarte Nachhaltigkeitsziele und Armutsbekämpfung
schränkten die Freiheit der Märkte ein. Die Vereinten Nationen wurden reorganisiert und
entsprechend der politischen Reformen neu ausgerichtet.
Der nationale und regionale Handlungsspielraum wird von der Notwendigkeit eingeengt,
dass die reichen Länder ihre Umweltzerstörung radikal herunterfahren und den armen Ländern helfen müssen, die Armut zu bekämpfen, Menschen Bildung zu ermöglichen und die
bestehenden ressourcenschonenden, umweltverträglichen Techniken zu übernehmen. Die politischen Mittel, um diese Ziele zu erreichen - Wirtschaftsreformen, Regulierung, freiwillige Beteiligung, Sozialprogramme und technische Entwicklung - unterschieden sich von Region zu Region. Fortschritte wurden genau überwacht und regelmäßig abgestimmt. Ganz allmählich zeigten sich erste Erfolge, die Umweltzerstörung ließ nach und die extremen Ausprägungen der Armut verschwanden.
45
Great Transition
Frieden
Politische Reformen würden die historisch einmalige Chance bieten, der Geisel des
Krieges Herr zu werden. Ziel ist eine globale Marktentwicklung, die alle Menschen
einschließt und die Not erheblich reduziert, die alle Staaten auf internationale Gesetze und rechtliche Rahmenbedingungen verpflichtet und Global Governance begünstigt. Dieses Szenario würde Verteilungskämpfen, Konflikten aufgrund ökologischer Missstände und nationalistischen Auseinandersetzungen den Wind aus den
Segeln nehmen und zugleich internationale Mechanismen zur Friedenssicherung
und Verhandlungsroutinen schaffen. Zwischen 1990 und 2000 gab es durchschnittlich 28 größere bewaffneten Konflikte, die jeweils mindestens 1.000 Tote
pro Jahr forderten. Ziel des Szenarios Politische Reformen ist, diese Konflikte auf
weniger als fünf im Jahr 2050 zu reduzieren.
Freiheit
Freie Meinungsäußerung und das passive und aktive Wahlrecht für alle Bürger,
Männer wie Frauen, gehören zu den unverzichtbaren Elementen jeder Demokratie. Es darf bezüglich dieser Mitspracherechte keine Diskriminierung und keine Bevorzugung geben. Die schrittweise Gleichstellung von Frauen, ethnischen Gruppen und anderen Minderheiten ist eine bemerkenswerte Tendenz der letzten Jahrzehnte. Sie würde sich bei einer Entwicklung zur Nachhaltigkeit verstärken und
könnte bis 2050 weitgehend Realität sein. Abbildung 6 zeigt dies anhand der
Gleichberechtigung der Geschlechter, deren Index sich nach der Lebenserwartung,
dem Ausbildungsstand und dem Einkommensniveau richtet (UNDP 2001).
Entwicklung
Die Bekämpfung der Armut ist das zentrale entwicklungspolitische Ziel des Szenarios. Eine wichtige Kennziffer in diesem Zusammenhang ist die Zahl der Hungernden. Derzeit sind mehr als 800 Millionen Menschen unterernährt. Der Aufruf
der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN, bis 2015 den Hunger zu
halbieren, mag angesichts der zaghaften Fortschritte allzu ambitioniert wirken
(FAO 1996). Das Szenario strebt dieses Ziel für 2025 und eine erneute Halbierung
bis 2050 an. Für andere Armutskennziffern, etwa der Zugang zu sauberem Wasser oder die Analphabetenrate, gelten ähnliche Vorgaben. Die Lebenserwartung
einzelner Regionen hängt eng mit dem Gesundheitswesen zusammen. Die Menschen in den Entwicklungsländern werden derzeit im Schnitt 60 Jahre alt. Ihre Lebenserwartung sollte bis 2025 auf 70 Jahre, bis 2050 auf annähernd 80 Jahre gesteigert werden.
46
Wohin wollen wir?
Umwelt
Ökologische Nachhaltigkeit heißt, die Eingriffe des Menschen so zu gestalten, dass
sich die Natur jederzeit erholen kann und künftige Generationen sie in ihrer ganzen
Schönheit und Vielfalt erleben können. Abbildung 6 greift exemplarisch die Zahlen für die Klimaveränderung, das Artensterben und die Wasserknappheit heraus.
• In Bezug auf die Klimaveränderung wird eine Reduktion der Treibhausgase auf
ein vertretbares Niveau angestrebt (UNFCCC 1997). Die Konzentration des wichtigsten Treibhausgases, Kohlendioxid (CO2), hat sich seit Beginn der industriellen
Revolution von 280 ppm auf ungefähr 360 ppm erhöht (ppm steht für parts per
million, der üblichen Messgröße für den Volumengehalt von Stoffen in Gasen). Da
der Schadstoffausstoß weiter ansteigt und das Kohlendioxid Jahrhunderte in der
Atmosphäre verbleibt, lässt sich die Klimaveränderung nicht mehr vermeiden, nur
noch abfedern. Ein sinnvolles, wenn auch ehrgeiziges Ziel ist eine Stabilisierung
der CO2-Emissionen bei 450 ppm bis zum Jahr 2100. Damit ließe sich der Temperaturanstieg auf unter 2 Grad Celsius begrenzen und würde damit für viele Ökosysteme langsam genug ablaufen, um sich anzupassen (IPCC 2001). Dafür wäre es
notwendig, die Emission von Treibhausgasen in den Industrieländern innerhalb
der nächsten 50 Jahre zu halbieren, um den Ländern der so genannten Dritten Welt
genug „Luftraum“ für deren Entwicklung zuzugestehen. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts könnten sie sich an die globalen Standards beim Schadstoffausstoß angepasst haben.
• Die Klimaveränderung ist nicht die einzige Gefahr, die Ökosystemen und Artenvielfalt droht. Bodenversiegelung, Eingriffe in den Wasserhaushalt und Umweltverschmutzung tragen ihren Teil bei. Nachhaltigkeit verlangt zumindest genügend Reservate, in denen sich Ökosysteme mit allen Tieren und Pflanzen ungestört
entfalten können (CBD 2001, CCD 2001). Derzeit sind 25 Prozent der Landfläche
auf der Erde von Umweltschäden betroffen und über ein Fünftel der tropischen
Regenwälder wurden gerodet (Watson et al. 1998). Minimalziel der Nachhaltigkeit
wäre, die Zerstörung von Ökosystemen bis 2025 zu stoppen und anschließend den
Prozess der Wiederherstellung einzuleiten, wie Abbildung 6 an der Wiederaufforstung verdeutlicht. Das heißt zwar, zunächst weitere Verluste hinzunehmen. Aber
es ist schlicht unmöglich, die Zerstörungswut mitten in einer expandierenden
Weltwirtschaft umzukehren (Raskin et al. 1998).
• Die Wasserfrage ist für die Ökologie ebenso wichtig wie für die soziale Frage.
Derzeit leidet ungefähr ein Drittel der Weltbevölkerung unter zeitweiligen oder
massiven Versorgungsengpässen (Raskin et al. 1998). Die Nachfrage nach Süßwasser wächst, und insofern sind zwei Arten von Konflikten klar absehbar – zwischen Staaten mit gemeinsamen Flüssen und zwischen Menschheit und Natur. Das
47
Great Transition
Szenario versucht, die Bedürfnisse der Menschen zu decken – den Trinkwasserbedarf, der Bedarf in Landwirtschaft und Industrie – und gleichzeitig die Ökosysteme zu erhalten. Die Lage ist derzeit alles andere als rosig. Nach dem Szenario
Marktkräfte werden bis 2025 mehr als doppelt so viele Menschen unter Wassermangel leiden als heute. Nachhaltiges Minimalziel ist die Verringerung der Wasserknappheit durch einen ressourcenschonenden Umgang, Kläranlagen und den
Schutz von Quellen. Abbildung 6 zeigt, wie viel sich durch Wasserschutzmaßnahmen und effizientere Wassernutzung einsparen ließe.
Unter dem Primat Politischer Reformen würde „Wachstum mit Gerechtigkeit“
zum Leitmotiv der Entwicklungspolitik. Ein ganzes Maßnahmenbündel dient der
Einkommensverbesserung der bisher Benachteiligten. Wiederbelebte multi- und
binationale Förderprogramme bauen menschliche und institutionelle Kompetenz
auf. Es fließen verstärkt Investitionen und Know-how in die ärmsten Staaten.
Marktmechanismen zur Reduktion der Treibhausgase und zugunsten anderer Umweltziele lenken zusätzliche Geldströme in die Entwicklungsländer und wirken in
Richtung einer Angleichung des BIPs von Nord und Süd. Programme zur Familienplanung sowie ein höherer Bildungsstand senken die Geburtenraten.
Im Vergleich zum Marktkräfte-Szenario fördert das Szenario Politische Reformen den Ausgleich zwischen Arm und Reich auf nationaler wie internationaler
Ebene. Maßnahmen zur Armutsbekämpfung schließen die soziale Kluft ein Stück
weit. Abgesehen von dem moralischen Aspekt sorgt eine gleichmäßigere Verteilung des Wohlstandes für sozialen Frieden und entschärft globale Konflikte. Das
Durchschnittseinkommen liegt in den Industrieländern rund siebenmal höher als
im Rest der Welt (und um Faktor 35 über dem der Entwicklungsländer). Das Szenario senkt den Quotient auf 3 bis 2050. Die innerstaatliche Verteilungsgerechtigkeit (definiert durch das Verhältnis der 20 Prozent Spitzenverdiener zu den 20 Prozent der untersten Einkommensbezieher) hat sich in vielen Ländern negativ entwickelt. Auch diesen Trend will das Szenario umkehren (Raskin et al. 1998).
Die Umweltziele lassen sich nur erreichen, wenn die Wohlstandsnationen Ausbeutung und Verschmutzung der Umwelt spürbar mindern. Denn in den Entwicklungsländern nehmen diese zu, da sich ihre Ökonomien den Mustern der reichen
Länder angleichen. Auf der Nachfrageseite steigt die Effizienz des Energie-, Wasser- und Rohstoffverbrauchs schnell. Auf der Angebotsseite beschleunigt sich der
Übergang zu erneuerbaren Energien, ökologischer Landwirtschaft und umweltverträglicher Herstellung. Politische Reformen stoßen mit einem umfassenden Maßnahmenkatalog und entsprechendem politischen Engagement die Entwicklung zur
Nachhaltigkeit an.
48
Wohin wollen wir?
Diese ökologischen und sozialen Initiativen verstärken das Nachhaltigkeitsprojekt
und werden ihrerseits von diesem verstärkt. Wenn die Armen Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Bildung und wirtschaftlicher Sicherheit haben, wird das Bevölkerungswachstum nachlassen. Die Armutsbekämpfung wirkt sich positiv auf die
natürlichen Ressourcen aus, denn Armut ist eine der Hauptursachen für Umweltdegradierungen und gleichzeitig auch wieder deren Folge. Eine stabile Umwelt ist
die Grundlage für wirtschaftliche Prosperität, die ihrerseits wiederum Bedingung
für soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit ist. Mehr Gerechtigkeit fördert den
Zusammenhalt einer Gesellschaft auf kommunaler, nationaler und globaler Ebene.
Die Solidarität der Menschen und eine gesunde Umwelt mindern die Gefahr von
kriegerischen Auseinandersetzungen und zerstörerischen Gewaltakten.
Grenzen politischer Reformen
Das Szenario Marktkräfte würde sich buchstäblich und im übertragenen Sinn
selbst das Wasser abgraben, weil es seinen Bestand durch Raubbau an der Natur
und der Tendenz zu blutigen Auseinandersetzungen gefährdet. Politische Reformen streben Nachhaltigkeit an, indem sie den Weltmärkten soziale und ökologische „Fesseln“ anlegen. Aber genügt das?
Das Szenario hat eine gute und eine schlechte Seite. Die gute Seite: Man kann
viel erreichen, ohne gleich eine Revolution vorauszusetzen oder einen deus ex machina zu bemühen. Die Entwicklung muss nicht zwangsläufig in einer Umweltkatastrophe enden. Mit neuen Technologien, anderen Rohstoffen und adäquateren
Produktionsverfahren lässt sich die Zerstörung begrenzen. Insgesamt bewirkt die
Kombination vieler kleiner, durchaus machbarer Anpassungen erhebliche Verbesserungen. Auch Armut und das extreme soziale Gefälle sind nicht naturgegeben,
sondern Ergebnis gesellschaftspolitischer Entscheidungen. Der lange Kampf gegen
das Elend der Menschen lässt sich auf lange Sicht gewinnen, wenn eine nachhaltige Lebensgrundlage und der nationale wie internationale Ausgleich gefördert
werden.
Die schlechte Seite unterteilt sich in zwei Aspekte. Erstens dürfte es sehr schwer
werden, die derzeitige Dynamik mit Reformen zu beeinflussen. Allein die rein technischen Probleme werden eine hohe Hürde bilden. Politische Reformen schreiben
schließlich die Wertvorstellungen, den Lebensstil und das Wirtschaftssystem der
Marktwirtschaft fort und wollen mit einer klugen Politik bei Ressourcennutzung,
nachwachsenden Rohstoffen, Umweltschutz und Armutsbekämpfung gegensteuern. Aber die erforderliche Gangart sowie das Ausmaß der technischen und sozia-
49
Great Transition
len Anpassungen ist entmutigend. Der Reform-Pfad gleicht dem Versuch, auf einer
abwärts fahrenden Rolltreppe hinaufzulaufen.
Der zweite negative Aspekt ist noch desillusionierender. Die Plausibilität des
Szenarios beruht auf einer Annahme: Der politische Wille ist stark genug. Um diesen Weg zu gehen, müssen sich die Regierungen in einer bislang noch nie da gewesenen Weise massiv und rückhaltlos für Nachhaltigkeitsziele engagieren. Dieses Engagement muss sich in effizienten und umfassenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und institutionellen Initiativen ausdrücken. Ein solcher politischer
Wille lässt derzeit nirgendwo erkennen.
Politische Reformen könnten nur greifen, wenn Eigeninteressen zurückgestellt,
keine kurzsichtigen, engstirnigen Entscheidungen gefällt und die selbstgefällige
Trägheit aufgegeben werden. Aber Nachhaltigkeit und Marktdynamik widersprechen sich. Die wachsenden Reichtümer auf der einen sind unlösbar mit der alarmierenden Armut auf der anderen Seite verknüpft und dieser Zusammenhang unterhöhlt die politische Basis für eine Wende. Denn mit dem Reichtum würden die
Industrieländer auf einen Teil ihrer Macht verzichten. Auch Konsumhaltung und
Individualismus werden nicht einer Politik applaudieren, die das langfristige Wohl
von Umwelt und allen Menschen im Blick hat. Solange die primären Interessen
von Volksvertretungen und den Personen an den Schalthebeln der politischen
Macht kurzfristig sind, bleiben Politiker und Politikerinnen auf die nächsten Wahlen statt auf die nächste Generation fixiert. Die Kluft zwischen Worten und Taten
lässt sich wohl nur überbrücken, wenn ein grundlegender Wertewandel einsetzt,
ein anderer Lebensstil Verbreitung findet und die politischen Prioritäten von den
herkömmlichen Selbstverständlichkeiten der Konventionellen Welten abrücken.
Wie wollen wir leben?
Politische Reformen könnten sich also als unzureichend erweisen. Es wird schwer
fallen, den Tanker der derzeitigen Globalisierung mit technischen und politischen
Modifikationen auszubremsen. Neben diesen pragmatischen Bedenken hinsichtlich der Machbarkeit von Reformen gibt es auch normative Einwände: Wäre dieser Weg überhaupt wünschenswert? Er führt zu einem übervölkerten, hoch technisierten globalen Handelsplatz, in dem immerhin weniger Menschen hungern und
der Umwelt zumindest eine Schonfrist eingeräumt wird. Aber wäre diese Welt eine,
in der jeder so leben kann, wie er will? Bietet sie Individuen wie Gesellschaften
Raum zur Entfaltung? Lässt sie uns die Wahl? Nachhaltig bedeutet für sich genommen noch nicht wünschenswert.
50
Wohin wollen wir?
Das Szenario Politische Reformen gehorcht der Notwendigkeit. Soziale und ökologische Verwerfungen sollen minimiert werden, aber die Lebensqualität steht nicht
zur Debatte. Die Neue Nachhaltigkeit stellt über diese Reformen hinaus eine alte
Frage neu, die nicht nur Sokrates schon vor langer Zeit stellte: Wie wollen wir
leben? Das ist der Weg der Großen Übergänge, der Weg des Wünschenswerten.
Das neue Paradigma revidiert den Fortschrittsbegriff. Über weite Strecke wurde
die Geschichte vom Überlebenskampf der Menschen unter widrigen Bedingungen
bestimmt. Der lange Weg vom Faustkeil bis zu unseren technischen Mitteln sorgte für immer größere Überschüsse. Fortschritt hieß bisher, den Mangel zu bekämpfen. Dieses materielle Problem könnte sich inzwischen eigentlich erledigt haben.
Das neue Paradigma setzt voraus, dass die historische Chance auf eine Welt ohne
materielle Not gegeben ist, eine Welt, in der alle Menschen einen annehmbaren
Lebensstandard genießen könnten. In dieser Welt ist es nicht mehr sinnvoll, Dinge
um des Überlebens willen zu horten – wir würden sie über das Überlebensnotwendige hinaus anhäufen. Die Vision eines besseren Lebens kann sich einer Erfüllung jenseits der materiellen Bedürfnisse zuwenden – Lebensqualität, solidarisches Miteinander und die Sorge um unseren Planeten. Mit John Maynard Keynes (1930) können wir von einer Zeit träumen, in der uns der Zweck wichtiger ist
als die Mittel und wir das Gute dem Nützlichen vorziehen.
Das Streben nach immer mehr Konsum steht hinter dem derzeit gültigen
Wachstumsparadigma. Aber materielle Güter als Selbstzweck sind nur ein Ersatz
für Zufriedenheit, ein Hunger, den nichts stillen kann. Die „Erfüllungskurve“ enthüllt die fälschliche Identifikation von Konsum und Lebensqualität (Abbildung 7).
An einem bestimmten Punkt ist es genug, mehr Konsum führt dann nicht mehr zu
größerer Zufriedenheit. Alle weiteren Ausgaben für Güter sind Luxus, der uns im
Grunde mehr kostet als nutzt. Denn wir müssen für diese Güter arbeiten, ihre Nutzung erlernen, sie warten und reparieren, später wegwerfen und fühlen uns bei alldem vielleicht noch nicht einmal richtig wohl, weil wir so viel haben und andere
so wenig. Verschwenderischer Konsum opfert andere Seiten des Lebens – Beziehungen, Kreativität, Gemeinschaft, Natur und geistige Erfüllung –, die für unsere
Erfüllung ebenso wichtig sind (wie die gepunktete Linie in Abbildung 7 andeutet).
51
Great Transition
Abbildung 7: Die Erfüllungskurve
Übe
rleb
en
Erfüllung
Sättigung
nz
ga
va
tra
Ex
Be
lic que
hk meit
Luxus
Konsum
Nach Dominguez und Robin 1992
Great Transition setzt den Begriff Erfüllung umfassender an. Das Glück der Menschen beruht nicht allein auf Materiellem. In allen Kulturen ist dieses Wissen vorhanden. Mit dem Neuen Nachhaltigkeits-Paradigma wird es zum zentralen Thema,
das die wesentlichen Impulse gibt. Nachhaltigkeit ist der Imperativ, der neue Punkte auf die Tagesordnung setzt. Der Wunsch nach einem erfüllten, reichen Leben,
nach starken menschlichen Bindungen und der Einklang mit der Natur sind die
Verlockungen, die uns in die Zukunft ziehen.
Ist das möglich? Wenn man sich umschaut, scheint es eher unrealistisch. Die
Gegenwart ist so voller Widersprüche, Ungerechtigkeit, die Natur wird fortlaufend
zerstört und der menschliche Geist so häufig entmündigt. Aber die Geschichte birgt
immer Überraschungen, auch unwillkommene. Doch auch günstige Entwicklungen sind denkbar.
Weiter hinten finden Sie die „Geschichte der Zukunft“. Sie berichtet über die
Anfänge von Great Transition, geschrieben im Rückblick aus dem Jahr 2068. Was
schließt sich daran an? Weitere Veränderungen, kein Zweifel. Wir werden niemals
eine ideale, könnten aber doch immerhin eine gute planetarische Gesellschaft er52
Wohin wollen wir?
reichen. Visionen leiten uns auf der Reise. Eine Möglichkeit skizziert die folgende
Erzählung.
Blick in die ferne Zukunft
Hier ist eine Kultur mit beispielloser Freiheit, Toleranz und einem recht angenehmen Leben.
Alle Menschen haben das Recht auf ein sinnvolles, erfülltes Leben. Die Bande menschlicher
Solidarität waren niemals stärker und der Blick für das ökologisch Vertretbare durchdringt
die menschlichen Werte. Es ist natürlich nicht das Paradies, es sind schließlich immer noch
Menschen. Konflikte, Unzufriedenheit, Bösartigkeit und Tragödien sind nicht abgeschafft.
Aber im 21. Jahrhundert hat man die historische Chance genutzt und die Entwicklung auf
eine wesentlich nachhaltigere und freiheitlichere Welt ausgerichtet.
Die Weltgesellschaft setzt sich aus unzähligen kleinen Gemeinschaften zusammen. Einige experimentieren gern auf kulturellem Gebiet, beteiligen sich intensiv an der politischen
Diskussion oder der technischen Innovation. Andere pflegen den gemächlichen Schritt der
traditionellen Kulturen, der direkten Demokratie und haben dem Fortschritt abgeschworen.
Einige verbinden Nachdenklichkeit, handwerkliches Geschick und hohe ästhetische Maßstäbe zu einer Art »versierten Einfachheit«, eine Reminiszenz an die frühere Zen-Kunst. Es
gibt zahllose Sonder- und Unterformen. Gerade diese Pluralität erfreut sich höchster Wertschätzung, da sie jedem Individuum eine Heimat bietet und das gesellschaftliche Leben ungeheuer bereichert.
Die alten Dualismen wurden überwunden. Die Polarisierungen –kosmopolitisch gegen
lokalpatriotisch, global gegen national oder Top-down gegen Bottom-up – haben ausgedient.
Die Menschen fühlen sich verschiedenen Gemeinschaften verbunden, akzeptieren ihre Mehrfach-Zugehörigkeit: Familie, Gemeinde, Region und planetarische Gesellschaft. Die globalen Kommunikationsnetze verbinden die ganze Welt und Übersetzungsdienste bauen die
Sprachschranke ab. Weltweit hat sich eine Kultur von Frieden und wechselseitigen Respekt
durchgesetzt, die für eine im Prinzip harmonische Gesellschaft sorgt.
Die Weltunion ist als Nachfolgerin der Vereinten Nationen eine globale Föderation im
Dienst von Kooperation, Sicherheit und Nachhaltigkeit. Beschlüsse fallen in einem dezentralen Netz aus Regierungen, Bürgervertretungen und Wirtschaftsunternehmen, wobei diese
Organe häufig partnerschaftlich arbeiten. Soziale und ökologische Ziele sind für jede Entscheidungsebene verbindlich, aber abgesehen von diesen Beschränkungen besteht eine große,
wenn auch fallweise durch überregionale Prioritäten geschmälerte Freiheit, sich lokal begrenzten Lösungen zuzuwenden. Menschen- und andere Grundrechte müssen respektiert
werden. Es gibt sehr wirksame Schlichtungsmechanismen für Konflikte, sodass die
Friedenstruppen der Weltunion nur gelegentlich gegen Übergriffe und Übertretungen vorgehen müssen.
Der Lebensstil der meisten Menschen verbindet materiellen Wohlstand mit qualitativer
Erfüllung. Konsum um des Konsums willen und luxuriöse Statussymbole gelten als vulgärer Rückfall in überwundene Zeiten. Als erfülltes Leben gilt, sich mit hochwertigen Inhalten zu beschäftigen - künstlerischen oder kulturellen Leistungen, technischen Erfindungen,
53
Great Transition
menschlichen Beziehungen sowie eine harmonische Beziehung zur Natur. Das Familienleben erweitert sich auf Personen im Umkreis, weil die Menschen immer älter werden und die
Kernfamilie immer kleiner. Die Menschen empfinden es als Bereicherung, ehrenamtlich gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben zu übernehmen. Die Höhe der Einkommen weicht nicht
sehr stark voneinander ab. Das Fünftel der Bestbezahlten verdient etwa das Zwei- bis Dreifache der 20 Prozent am unteren Ende der Skala. Ein garantiertes Mindesteinkommen ermöglicht ein bequemes Leben auf sehr niedrigem Niveau. Der Gemeinschaftssinn wird durch
die stark regionalisierte Versorgung, die Nutzung einheimischer Ressourcen und den Stolz
auf die eigene Umgebung gestärkt.
Die Wirtschaft stellt sich in den Dienst dieser Ziele und ist kein Selbstzweck. Auf Wettbewerb ausgerichtete Märkte führen zu einer sehr effizienten Produktion und Allokation.
Aber dieser Wettbewerb unterliegt strengen Regeln, sodass die Wirtschaft nicht-ökonomische Ziele verfolgt. Das Verursacherprinzip gilt weltweit und schlägt sich in Ökosteuern,
handelbaren Quoten, Standards und Subventionen nieder. Nachhaltiges Wirtschaften ist die
Norm, deren Einhaltung von einer aufmerksamen Öffentlichkeit beobachtet und eingefordert
wird. Investitionsentscheidungen fallen auf Grund sorgfältiger Überlegungen, die auch die
indirekten und langfristigen ökologischen Folgen einbeziehen. Technische Innovation wird
von Preisvorteilen, den Vorlieben der Verbraucher und Verbraucherinnen, Anreizen und kreativen Impulsen angeregt. Ökologisch gesehen ist die neue Wirtschaft buchstäblich ein geschlossener Kreislauf, der auf Recycling und Wiederverwendung von Materialien beruht und
in nichts mehr der alten Wegwerfgesellschaft gleicht.
Einige Gemeinden haben sich dem Nullwachstum verschrieben und werben mit der gewonnenen Zeit, in der die Menschen nicht-ökonomische Aktivitäten entfalten können. Andere Ökonomien wachsen durchaus, jedoch innerhalb der für nachhaltiges Wirtschaften
zulässigen Kriterien. Die automatisierte Fertigung befreit die Menschen von stumpfsinniger,
auf immergleichen Handgriffen beruhender Arbeit. Fast überall ist parallel ein arbeitsintensives Handwerk aufgeblüht, das sich neben der hochtechnologischen Produktion zur Befriedigung der Grundbedürfnisse etablieren konnte. Der (Kunst-)Handwerker kann sich in
dieser Produktionsform persönlich ausdrücken, während sie dem Verbraucher eine umfangreiche Palette von ebenso schönen wie nützlichen Gütern zur Verfügung stellt und insgesamt
zu einer reichen, vielfältigen Welt beiträgt.
Lange Anfahrtswege gehören der Vergangenheit an. Integrierte Siedlungsformen vereinen Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeitaktivitäten in unmittelbarer Nachbarschaft.
Durch das Prinzip der Stadt in der Stadt werden die Ballungszentren auf ein menschliches
Maß gebracht, ohne deswegen ein kosmopolitisches, kulturell intensives Zusammenleben zu
verhindern. Aber auch das Leben auf dem Land ist attraktiv, denn das Erlebnis der Landschaft wird durch den digitalen Anschluss an die große weite Welt niemals einsam und hinterwäldlerisch. Privatfahrzeuge sind klein, kompakt und schadstofffrei. Sie werden nur dann
genutzt, wenn man nicht laufen oder radfahren kann oder keine öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Größere Fahrzeuge werden für besondere Gelegenheiten oder Reisen geleast. Eine fortschrittliche Verkehrspolitik hat für die Anbindung der Gemeinden
54
Wohin wollen wir?
an den nächsten Verkehrsknotenpunkt gesorgt, von denen aus man in andere Städte oder
andere Regionen gelangt.
Der Übergang zur Solarwirtschaft ist abgeschlossen. Die Gebäude werden mit Solarzellen, Sonnenenergie, Biomassereaktoren und Wasserkraft beheizt und mit Strom versorgt. Die
Sonnenenergie wird daneben zur Erzeugung von Wasserstoff genutzt, der Benzin und Diesel als Treibstoff abgelöst hat. Daneben gibt es reine Elektroautos. Die Fortschritte der Biotechnologie haben, mit der nötigen Vorsicht eingesetzt, neue Materialien, eine neue Landwirtschaft und alternative Behandlungsmethoden möglich gemacht. Saubere Herstellverfahren haben der Umweltverschmutzung ein Ende bereitet. Ökobauern greifen auf umfangreiches Wissen zurück, sodass es ihnen bei minimalem Einsatz von Chemikalien gelingt, nachhaltig hohe Erträge zu erwirtschaften. Die Bevölkerung wächst nicht mehr, durch den
Verzehr von weniger Fleisch und kompakte Siedlungsstrukturen hinterlässt der Mensch weniger Spuren in der Natur. Die globale Erwärmung lässt nach, weil der Ausstoß von Treibhausgasen sich wieder auf dem Niveau von vor 1800 bewegt. Die Ökosysteme erholen sich,
gefährdete Arten kehren zurück, auch wenn sich nicht alle Narben der Vergangenheit
schließen.
Das ist nicht das Ende der Geschichte, sondern in mancher Hinsicht erst der Anfang.
Denn endlich leben die Menschen mit dem Bewusstsein ihrer intensiven Verbundenheit untereinander, mit künftigen Generationen und mit dem Netz des Lebens insgesamt.
55
4. Wie kommen wir ans Ziel?
Wie können wir den planetarischen Übergang hin zu einer nachhaltigen und wünschenswerten Weltgesellschaft navigieren? Der Ansatz der Marktkräfte könnte an
den Klippen ökologischer und sozialer Krisen scheitern. Er birgt die Gefahr in sich,
in die Barbarei einer Welt als Festung zu versinken. Politische Reformen könnten
durch systematische Technologiefortschritte und Armutsbekämpfung eine Lenkungswirkung Richtung Nachhaltigkeit entfalten, aber es ist durchaus denkbar,
dass die Dynamik des weltweiten Wirtschaftswachstums eine solche Politik der
kleinen Schritte ad absurdum führt. Auch fragt sich, wie angesichts der vorherrschenden Konsumhaltung neue Visionen und politische zugkräftige Ideen entstehen sollten. Der Wechsel muss tiefer ansetzen, um eine sichere Passage durch die
turbulenten Zeiten der sich anbahnenden großen globalen Krise zu gewährleisten.
Strategien
Der Ansatz der Großen Übergänge zur Nachhaltigkeit setzt gleichermaßen auf
Marktkräfte wie auf Politische Reformen. Die Marktkräfte sorgen für Wohlstand,
die Reformen für den notwendigen technologischen Umbau und eine etwas gerechtere Verteilung des Wohlstands. Aber die Großen Übergänge gehen über beide
Ansätze hinaus. Marktwirtschaftlich induzierte Veränderungen und staatlich vorgeschriebene Anpassungen genügen nicht. Große Übergänge fügt ein Drittes hinzu:
neue Wertvorstellungen. Erst die Hinwendung zu einer alternativen globalen Vision öffnet tragfähige Möglichkeiten, Umweltprobleme zu beheben und ein friedlicheres Miteinander der Menschen zu fördern. Das neue Entwicklungsparadigma
würde einen anderen Lebensstil und mehr gesellschaftliche Solidarität umfassen.
Die Unterschiede zwischen den bisher vorgestellten drei Modellen veranschaulicht
Abbildung 8.
57
Great Transition
Abbildung 8: Werkzeuge für den Strukturwwandel
Marktkräfte
Reich
Wohlergehen
Konsum
Durchsatz
Arm
Politische Reformen
Armutsfeder
Dematerialisierung
Great Transitions
Egalitätsklammer
Lebensstil
Dematerialisierung
Quelle: „Keile“ nach Robinson und Tinker 1996
Der marktwirtschaftliche Ansatz hält an der üblichen Gleichsetzung von Wohlbefinden und Konsum fest, aber wachsender Konsum geht mit wachsendem Ressourcenverbrauch einher. Der Druck auf die natürliche Umwelt würde also steigen.
Auch der reformpolitische Ansatz identifiziert ein angenehmes Leben mit materiellem Überfluss, koppelt den Konsum jedoch vom Ressourcenverbrauch ab (»De58
Wie kommen wir ans Ziel?
materialisierungskeil«). Große Übergänge setzt zusätzlich beim Lebensstil an und
unterbricht die Kopplung von Wohlbefinden und Konsum. Die Auswirkungen auf
die Umwelt lassen sich auf die Produkte einzelner menschlicher Tätigkeiten umrechnen – gefahrene Kilometer, Jahresstahlproduktion, geerntetes Getreide und so
weiter – oder auf Einheiten dieser Tätigkeiten selbst. Politische Reformen konzentriert sich auf Letzteres und verbessert die Umweltbilanz, indem er saubere und erneuerbare Technologien mit höherem Wirkungsgrad einführt. Die Großen Übergänge ergänzen diese technischen Fortschritte um Veränderungen der Lebensweise, sodass die Wirtschaftstätigkeit in den Industrieländern sinkt und sich für den
gesamten Globus eine neue Perspektive ergibt.
Ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen den Szenarien betrifft, wie in der
rechten Spalte von Abbildung 8 angedeutet, die Verteilungsgerechtigkeit. Im Modell der Marktkräfte wächst die Wirtschaft in den ärmeren Regionen der Welt
schneller als in den reichen Ländern. Trotzdem öffnet sich die Einkommensschere
immer weiter. Eine Milliarde Menschen wird in drückender Armut am Boden der
Einkommenspyramide verharren. Politische Reformen würden das Elend durch gezielte Hilfen und Förderung erheblich mildern (»Armutsfeder«) und den Abstand
zwischen Reichen und Armen verkleinern. Das inner- wie zwischenstaatliche
Wohlstandsgefälle würde den sozialen Frieden aber nach wie vor bedrohen. Natürlich räumt auch Große Übergänge der Armutsbekämpfung einen sehr hohen Stellenwert ein. Doch sie will nicht nur den Benachteiligten eine Chance geben, sondern legt großen Nachdruck auf die Schaffung einer gerechten, friedfertigen und
gleichberechtigten Gesellschaft (»Egalitätsklammer«).
Konventionelle Strategien konzentrieren sich auf jene „Stellschrauben“, mit
denen sich Wirtschaftsstrukturen, technische Standards, Demokratie und Institutionen direkt beeinflussen lassen. Das gilt zumindest für die allgemein übliche Entwicklungspolitik. Große Übergänge will hingegen an der Wurzel ansetzen, bei den
Erfahrungen einzelner Menschen, aber auch bei gesellschaftlichen Erfahrungen,
die das Handeln motivieren. Dazu gehören Werte, Verstehen, das Verhältnis zu
Macht und Kultur (Abbildung 9). Politische Lenkungsinstrumente bewirken kurzfristige Änderungen. Die tieferliegenden, das Handeln letztlich bestimmenden Antriebskräfte fördern eine allmähliche Anpassung der kulturellen und politischen
Gepflogenheiten. Das in einer Gesellschaft Selbstverständliche definiert die Grenzen der Veränderungsbereitschaft und damit auch die Zukunft. Die Großen Übergänge würde diese Grenzen hinausschieben und damit die Wahlmöglichkeiten der
Menschheit erweitern.
59
Great Transition
Abbildung 9: Direkte Einflussfaktoren und zugrundeliegende Triebkräfte
Direkte Einflussfaktoren
Demographie
Werte
&
Bedürfnisse
Wirtschaft
Wissen
&
Verständnis
Technologie
Machtverhältnisse
Governance
Kultur
Tieferliegende Triebkräfte
Die Akteure des Richtungswechsels
Globale Visionen müssen sich eine Frage gefallen lassen: Wer soll, wer kann die
Welt verändern? Zentrale Akteure der Marktkräfte sind globale Unternehmen, den
Markt fördernde Regierungen und ausgabenfreudige Verbraucher. Politische Reformen setzen ebenfalls auf Privatwirtschaft und Konsumfreude, jedoch zusätzlich
auf staatliche Richtlinien, um die Ökonomie umwelt- und sozialverträglich zu gestalten. In den Großen Übergängen gehen die wichtigsten Impulse für neue Werte
von der Zivilgesellschaft und engagierten Bürgern und Bürgerinnen aus.
Faktisch tragen alle gesellschaftlichen Akteure ihren Teil zur Entwicklung der
Welt bei und werden ihrerseits von dieser Entwicklung geprägt. Man kann eine
Aufführung kaum von den Schauspielern trennen. Die Chancen für Great Transition hängen von der Anpassungsfähigkeit aller Institutionen ab, von den Regierungen ebenso wie vom Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern,
von der Wirtschaft, von der Erziehung, von den Medien und der Gesellschaftsordnung. Aber drei neue Akteure treten immer stärker in den Mittelpunkt: internationale Organisationen, transnationale Unternehmen und die Nichtregierungsorganisationen. Der vierte wirklich wichtige Faktor ist eher amorph: das öffentli60
Wie kommen wir ans Ziel?
che Bewusstsein, die allgemein und insbesondere in der Jugendkultur akzeptierten Werte. Gleichzeitig bringen sich andere Akteure - das organisierte Verbrechen,
Netzwerke von Terroristen und Lobbyisten - in Position und drohen, den offiziellen Darstellern die Schau zu stehlen.
Die institutionalisierte internationale Zusammenarbeit bezeichnet den Beginn
der planetarischen Phase. Insbesondere die Vereinten Nationen verkörpern die
Hoffnung auf eine Welt, in der Frieden, Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung über die Zerstörung und die Leiden des 20. Jahrhunderts triumphieren.
Aber die UNO hat nicht die Macht, um ihre erhabene Mission zu erfüllen. Immer
wieder verhindern die Interessen einzelner Mitgliedstaaten ein effizientes Eingreifen. Trotzdem sind die Vereinten Nationen die legitime kollektive Stimme der Staatengemeinschaft.
Diese Stimme übernimmt in den verschiedenen Szenarien verschiedene Rollen.
Das Modell der Marktkräfte sieht die Autorität eher bei der Privatwirtschaft, den
internationalen Banken und der WTO. Hier werden die Vereinten Nationen zur
Bühne für internationale Mammutkonferenzen mit oft genug nie umgesetzten Beschlüssen, wohlmeinender Rhetorik und Krisenmanagement. In Politische Reformen spielen jedoch die UN eine Schlüsselrolle, um ökologische und soziale Ziele
zu implementieren. Im Szenario Verfall und Barbarei sind die UN ein nur noch historisch interessantes Phänomen. In Great Transition würden die Vereinten Nationen nach grundlegender Umgestaltung das internationale Bestreben um eine neue
Entwicklungs-Agenda repräsentieren, während gleichzeitig die Vorherrschaft der
Nationalstaaten zu Ende geht.
In hohem Maße spiegelt die Entwicklung der internationalen Gremien die politischen Leitlinien des bestehenden globalen Systems. Neue Werte entstammen
anderen Quellen, die politische Entscheidung für Great Transition fällt an anderer
Stelle. Aber die UN und andere internationale Institutionen sind nicht einfach abhängige Variablen in der Gleichung des globalen Wandels. In entscheidenden Momenten können sie eine führende Rolle übernehmen und den Anstoß geben für
den Übergang.
Die Größe, die Reichweite und das politische Gewicht transnationaler Unternehmen haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg vervielfacht. Im Modell der Marktkräfte würde ihre Macht ungebremst weiterwachsen. Politische Reformen würden
ihre Mitarbeit oder zumindest ihre Zustimmung voraussetzen, wobei das Großkapital von sich aus auf nachhaltige Entwicklung als Bedingung der Möglichkeit stabiler Märkte drängen würde. Great Transition würde der Wirtschaft eine neue Rolle
zusprechen. Mit der Ausbreitung neuer Werte bei der Konsumentenöffentlichkeit
ergreifen fortschrittliche Firmen die Gewinnchancen der neuen Sachlage und ak61
Great Transition
zeptieren zugleich ihre soziale Verantwortung. Gemeinsam mit Regierung und
Bürgerbewegungen setzen sie rigorose Standards für nachhaltiges Wirtschaften
und nutzen ihre ganze Kreativität, um diese zu realisieren.
In gewissem Umfang können aus der Wirtschaft positive Impulse kommen. Es
bieten sich viele Möglichkeiten, Gewinnabsicht, Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung in Einklang zubringen, von denen alle Beteiligten profitieren. Wenn
Betriebsstätten umweltfreundlich geführt werden, sinken Kosten und Risiken. So
manches Unternehmen erweiterte seinen Marktanteil mit demonstrativem Verantwortungsbewusstsein. Auf einigen Chefetagen gilt Nachhaltigkeit als ökonomische
und moralische Notwendigkeit. Aber in ihrer Gesamtheit bewirken diese Anpassungen keinen Strukturwandel. Außerdem haben Initiativen aus geschäftlichen Interessen keinen Bestand, sobald sich die Stimmung der Öffentlichkeit von der
Nachhaltigkeit abwendet. Nichtsdestoweniger sind an Nachhaltigkeit interessierte
Unternehmen wichtiger Teil der Veränderungsdynamik. Denn sie reagieren konstruktiv auf den Druck, der von Verbrauchern, Gesetzgeber und Öffentlichkeit ausgeht, ja, sie verstärken ihn sogar noch.
Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sind institutionalisierte Formen der Zivilgesellschaft; es sind kritische neue soziale Akteure in globalen, regionalen und
lokalen Arenen (Florini 2000). Das explosive Wachstum der Anzahl von NGOs und
ihre Vielfalt geben der politischen und kulturellen Landschaft ein neues Gesicht.
Mit modernen Kommunikationsmitteln schaffen sie öffentliches Bewusstsein und
starten Kampagnen, um politische Entscheidungen oder das Verhalten großer Unternehmen zu beeinflussen. Bei offiziellen internationalen Konferenzen sitzen einige ihrer Vertreter im Saal und stimmen mit ab, während andere draußen auf der
Straße gegen die derzeitige Form der Globalisierung oder auch die Globalisierung
überhaupt demonstrieren. Die Mehrzahl dieser informellen Gruppen setzt positive
Impulse und stößt teils überfällige Debatten an. Aber auch Kriminelle und Terroristen organisieren sich, auch sie nutzen moderne Informationsmittel, um die
Keime von Gewalt, Hass und Angst zu säen.
NGOs haben sehr erfolgreiche Programme für Kleinstkredite, Wiederaufforstung, Umweltschutz, Stadtteilentwicklung oder technische Hilfen durchgeführt.
Dank dieser Hilfen können einzelne Gemeinden wirtschaftliche oder gesellschaftliche Probleme besser bewältigen und so mancher Slum-Bewohner hat Zugang zu
finanziellen Mitteln oder zu einer Schulbildung, die er auf anderen Wegen nie erhalten würde. NGOs wirken auf die Produktionsweise ein, indem sie Firmen beobachten, zum Boykott aufrufen oder publikumswirksame Aktionen veranstalten. Sie
verhelfen einem bescheideneren Lebensstil zu Popularität. In jüngster Zeit versuchen sie eine globale Öffentlichkeit herzustellen, indem sie Individuen und Orga62
Wie kommen wir ans Ziel?
nisationen aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichsten Interessenbereichen
vernetzen. Diese Netzwerke betreiben Forschung, mobilisieren die Öffentlichkeit,
ergreifen Partei und organisieren den Protest zu Umwelt- oder auch Menschenrechtsfragen (Reinicke et al. 2000, Banuri et al. 2001).
Mit all diesen Aktivitäten füllt die Zivilgesellschaft im politischen Leben eine
Lücke. Durch die Bestellung von Gutachten bei Fachleuten unterschiedlichster
Couleur haben sie neue Analysekapazitäten und Lösungsansätze für die anstehenden Probleme geschaffen. Als Sprachrohr für Betroffene und über originelle
Formen der Einmischung haben sie dem Einfluss der Öffentlichkeit neue Kanäle
eröffnet. Indem sie Politikern auf die Finger schauten, haben sie der Transparenz
bei der Entscheidungsfindung auf die Sprünge geholfen. Ihre größte Leistung besteht jedoch darin, ethischen und moralischen Argumenten in der politischen
Arena Gehör verschafft zu haben.
Wie alle gesellschaftlichen Akteure ist die Zivilgesellschaft ein in Bewegung
begriffenes Phänomen und wird von eben jenen globalen Vorgängen beeinflusst,
die sie selbst zu beeinflussen sucht. Der engagierte, bewusste Teil der Bevölkerung
setzt ungeahnte Energien frei und entdeckt sich als weltweit vernetzte Kraft, die
etwas bewirken kann. Es bilden sich die verschiedensten Allianzen und Netzwerke,
allenthalben kann man Experimente beobachten. Doch als globale Bewegung bleiben diese Kräfte zersplittert und reaktiv. Sie handeln nicht im Sinn einer eigenständigen gesellschaftlichen Vision oder einer kohärenten Strategie.
Für Great Transition kommt es entscheidend darauf an, ob sich die verschiedenen Gruppen der Zivilgesellschaft zusammenschließen und auf eine gemeinsame Zielsetzung einigen können. Nur das würde der globalen Entwicklung eine
neue Richtung geben. Unzählige Einzelinitiativen, die sich teils für lokal begrenzte Projekte, teils mit globalen Ambitionen engagieren, müssten sich dafür abstimmen, eine gemeinsame Grundlage, gemeinsame Prinzipien, gemeinsame Werten
entwickeln. Erziehungseinrichtungen, spirituelle und wissenschaftliche Gemeinschaften tragen hier besondere Verantwortung.
Internationale Organisationen, transnationale Unternehmen und die Zivilgesellschaft sind die globalen Akteure, aber der Motor der Great Transition ist eine
engagierte, wachsame Öffentlichkeit, die für Werte wie Lebensqualität, menschliche Solidarität und Nachhaltigkeit kämpft. Anstöße, wenn auch recht diffuse,
gehen vor allem von der internationalen Jugendkultur aus. Diese Altersgruppe, die
einen bestimmten, von den Medien verbreiteten Stil pflegt und deren Einstellung
ebenfalls übers TV relativ einheitlich geprägt ist, wird mit ihren Werten und Verhaltensweisen die künftige Kultur stark beeinflussen. Das kann wenig vielversprechend sein, wenn Konsumhaltung, Egoismus und Nihilismus die Oberhand ge63
Great Transition
winnen. Aber wenn sich die Globalisierung mit all ihren Problemen deutlicher abzeichnet, könnte die Jugend in aller Welt ihren Idealismus in einem gemeinsamen
Projekt für eine Great Transition wiederentdecken.
So mancher sieht weniger in den gesellschaftlichen Kräften als vielmehr in der
Technologie den eigentlichen Motor für Veränderungen. Optimisten preisen die
Möglichkeiten von Informationstechnologie, Biotechnologie oder künstlicher Intelligenz, die eine Fülle höchst positiver Auswirkungen auf die Gesellschaft haben
könnten. Pessimisten warnen hingegen vor einer unmenschlichen Gesellschaft, die
geprägt ist von Digitalisierung, Robotern und geklonten Wesen. Die bisher vorgestellte Szenarien - Marktkräfte, Politische Reformen, Große Übergänge und auch
Welt als Festung - sind mit der fortgesetzten technischen Revolution durchaus vereinbar. Technik ist nicht autonom. Prioritäten, Geschwindigkeit und Zweck von
Innovationen werden von Institutionen, Machtverhältnissen und den Wahlmöglichkeiten einer Gesellschaft geprägt.
Great Transition entfaltet sich als Evolution der zivilgesellschaftlichen Organisationen hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit, einer neuen Rolle für Wirtschaft und
Regierung und insbesondere zu neuen Werten und der Partizipation globaler Bürgerinnen und Bürger. Für eine solche Gesellschaft fehlen Vorbilder. Uns steht also
ein langer Lern- und Entdeckungsprozess bevor, viele Experimente und Anpassungen (BSD 1998). Mangelt es an politischem Willen, wird die Zivilgesellschaft
den Übergang vorwärts treiben. Allerdings bleibt fraglich, ob die Akteure des Wandels aus ihrer derzeitigen Zersplitterung zur Gemeinsamkeit finden und die historisch einmalige Chance ergreifen. Wenn viele Stimmen in den Chor einfallen, wird
ein Neues Nachhaltigkeits-Paradigma eingeläutet. Die Geschichte des Wandels zu
einer Great Transition ist eine Fabel, wie verschiedene Akteure kollektiv ihre Energie umsichtig im Dienst des neuen Leitbilds bündeln.
Dimensionen des Übergangs
Great Transition wird den Charakter der Zivilisation selbst in Reaktion auf die planetarischen Herausforderungen verändern. Die Geschichte kennt seit langem Übergänge in bestimmten kritischen und entscheidenden Momenten. Dazu gehört der
Aufstieg der ersten Städte vor Tausenden von Jahren und der Anbruch der Moderne vor 1.000 Jahren. Die ganze Kultur verändert sich in der Verschiebung der Strukturen einer Gesellschaft und ihres Verhältnisses zur Natur. Der Übergang der gesamten sozialen Ordnung umfasst eine Reihe kleinerer Übergängen, von denen
Werte und Wissen, Bevölkerungsdichte und soziale Bindungen, Wirtschaft und
64
Wie kommen wir ans Ziel?
Herrschaftsformen sowie Technologie und Umwelt betroffen sind (Speth 1992).
Diese Aspekte verstärken sich wechselseitig und beschleunigen die Transformation.
Werte und Wissen
Menschen entscheiden anhand herrschender Werte, was sie für das Gute, Wahre,
Schöne halten. Werte bestimmen, wonach Menschen streben, wie Menschen leben
wollen. Werte werden kulturell geformt und spiegeln Normen und Sehnsüchte einer
Gesellschaft. Je nach den herrschenden Werten findet sich eine Gesellschaft irgendwo zwischen den Polen Aggression und Toleranz, Individualismus und Solidarität sowie Materialismus und Sinnstreben. Ichbezogenheit und Konsumorientierung sind die Triebkräfte der nicht-nachhaltigen Trends der Konventionellen
Welten, aber sie sind keineswegs angeboren oder unvermeidlich. Die Plausibilität
von Great Transition steht und fällt mit der Möglichkeit, dass die weitere Entwicklung der Welt von anderen, noch im Entstehen begriffenen Werten begleitet wird.
Die Unterscheidung zwischen „Bedürfnissen“ und „Wünschen“ hat weitreichende Folgen für den Übergang. Die leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen
Bedürfnisse sind universell, aber die Kultur überformt ihre Wahrnehmung und die
Art und Weise, wie sie als Wünsche bewusst werden (Maslow 1954). Werbung und
Medien erzeugen neue Wünsche, die als Bedürfnisse erlebt werden. Werte sind das
Bindeglied zwischen Bedürfnissen und Wünschen und deren Befriedigung. Das Bedürfnis, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten, kann man mit Steak oder
auch rein vegetarisch stillen. Das Selbstwertgefühl lässt sich mit einem schicken
Sportwagen oder mit guten Freunden bestätigen. Ein Wandel der Werte, weg vom
bloßen Konsum hin zu gesellschaftlicher Solidarität und Ökologie, würde Wünsche, Lebensart und Verhalten verändern.
Verschiedene Faktoren motivieren die Suche nach neuen Werten. Angst und
Verlangen - Schrecken und Verheißung der Zukunft - sind gleichermaßen beteiligt. Die Furcht vor ökologischen und gesellschaftlichen Katastrophen bringt die
Menschen dazu, überlieferte Werte zu revidieren. Das ist der „Druck“ (Push) der
Notwendigkeit (Tabelle 3). Gleichzeitig lockt uns die Vorstellung von einer harmonischeren Welt, in der man erfüllter leben kann. Das ist der „Sog“ (Pull) des
Wünschenswerten. Beide gemeinsam lassen unsere Vorstellung vom Reichtum
nicht unberührt.
65
Great Transition
Tabelle 3: Push- und Pull-Faktoren für ein Neues Nachhaltigkeits-Paradigma
„Druck“
„Sog“
Angst vor der Zukunft
Verheißung von Sicherheit und
Solidarität
Befürchtung, dass politische Modifikationen die Krise nicht verhindern können
eine Ethik der Verantwortung für
den Mitmenschen ebenso wie für
Natur und Zukunft
Drohender Verlust von
Entscheidungsfreiheit mangels
Alternativen
Anteilnahme am Leben der
Gemeinschaft, am politischen wie
kulturellen Leben
Entfremdung durch eine dominante Kultur
Ein sinnerfülltes, selbstgewähltes
Leben
Stressiges, gehetztes Leben
Zeit für persönliche Dinge, mehr
Nähe zur Natur
Individualismus, Konsum und die Anhäufung von Dingen mag die Märkte zu voller Blüte treiben. Aber als herrschende Werte würden sie die Menschheit in einer
planetarischen Zivilisation an der Entfaltung ihres gesamten Potenzials hindern.
Auf dem Weg zu Great Transition bilden die Aufmerksamkeit von Menschen füreinander, ihre Verbundenheit untereinander und mit anderen Lebewesen sowie das
Bewusstsein der Zukunft den begrifflichen Rahmen einer neuen Ethik (ECI 2000).
Die Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen anderer Menschen, aber
auch der Natur und künftiger Generationen bilden die Grundlage für jedes Handeln.
Great Transition würde im Hinblick auf Wissen die Art und Weise verändern,
wie Probleme definiert und gelöst werden. Grundlegende Analyseeinheit für die
neue Wissenschaft der Nachhaltigkeit sind sozio-ökologische Systeme sowie deren
Gestaltung und Interaktion von der lokalen bis planetarischen Ebene. Es sind komplexe, nicht-lineare Systeme, bei denen zwischen Ursache und Wirkung lange
Zeiträume verstreichen. Der systematische Rahmen muss die zentralen Probleme
veranschaulichen, etwa die Verwundbarkeit durch plötzliche Umschwünge oder
Wechselwirkungen über große räumliche Entfernungen hinweg. Die Wissenschaft
der Nachhaltigkeit enthält ein faszinierendes neues Forschungsprogramm und
schafft die Grundlage eines Frühwarnsystems, die Entscheidungsträger und Öffentlichkeit über drohende Gefahren aufklärt und Hinweise an die Hand gibt, wie
auf die Herausforderung zu reagieren wäre.
66
Wie kommen wir ans Ziel?
Die Verkopplung von menschlichen und biophysikalischen Systemen erfordert eine
Vereinheitlichung des Wissens. Die Reduktion umfassender Systeme auf ihre konstitutiven Bestandteile war ein wichtiger methodologischer Fortschritt der wissenschaftlichen Revolution. Die Einteilung der Erkenntnisbereiche in einzelne wissenschaftliche Disziplinen ermöglichte erst szientifische Strenge und die Durchdringung der Phänomene. Sie ist zur Erfassung der komplizierten Übergangsprobleme noch immer unentbehrlich. Aber die isolierten Erkenntnisse einzelner Disziplinen genügen heute nicht mehr. Ein interdisziplinäres, ganzheitliches Modell
muss das reduktionistische Programm ergänzen.
Die Herausforderung liegt erstens in der Entwicklung angemessener Methodologien, zweitens in der Ausbildung von wissenschaftlich Arbeitenden gemäß dem
neuen Nachhaltigkeitsparadigma und drittens im Aufbau institutioneller Kapazitäten. Eine Wissenschaft der Nachhaltigkeit würde die Integration, die Unsicherheit und den normativen Gehalt sozio-ökologischer Probleme betonen (Kates et al.
2001). Sie verfährt nach parallelen Methoden: Analyse, Aktion, Partizipation, Leitlinien und Kontrolle gehen in einem sich laufend anpassenden Experiment in der
realen Welt Hand in Hand. Nur bewährte Aussagen, die dem Kriterium wissenschaftlicher Strenge genügen, sind zuverlässig. Aber um Vertrauen kann nur werben, wer die Gesellschaft versteht. Die Besonderheit von Nachhaltigkeitsproblemen
erfordert die Integration verschiedener Ansichten und Ziele in die Wissenschaft.
Wissenschaftler, wichtige Akteure und Betroffene müssen zusammenarbeiten, alle
zu den Erkenntnissen Zugang haben, und darüber hinaus muss das traditionelle
Wissen bewahrt und berücksichtigt werden.
Damit all das möglich wird, müssen Wissenschafts-, und Bildungseinrichtungen diese Art von Forschung fördern, unterstützen und anerkennen. Die institutionelle Basis des Wissensübergangs ist insbesondere in den Entwicklungsländern
dringend erforderlich. Hier bietet die Informationstechnologie den in früheren
Jahrhunderten undenkbaren allgemeinen Zugang zu Datenbanken, Analyseinstrumenten und wissenschaftlichen Entdeckungen. Wissenschaftler, Entscheidungsträger und Bürger können sich austauschen und sich zu Forschungsnetzwerken zusammenschließen. Die Demokratisierung des Wissens befähigt Menschen
und Organisationen sich konstruktiv an der Debatte über Entwicklung, Umwelt
und Zukunft zu beteiligen.
Demographie und Sozialer Wandel
Menschen, Siedlungsformen und soziale Bindungen unterliegen einem raschen,
tiefgreifenden Wandel. Die wachsende Bevölkerungsdichte, die ausufernden Städte, die fortgesetzte Veränderung des Rechtssystems und die Globalisierung prägen
67
Great Transition
die demographischen und sozialen Veränderungen. Je nach Szenario wirken sie
sich unterschiedlich aus. Sie sind auch für das Unterfangen der Great Transition
entscheidend.
Demographischer Übergang und die Neuerfindung der Städte
Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich. Derzeit leben mehr als 6 Milliarden
Menschen auf der Erde. Jährlich wächst diese Zahl um 1,3 Prozent, das sind im
Moment ungefähr 80 Millionen zusätzliche Erdenbürger pro Jahr. Prozentual gesehen erreichte das Bevölkerungswachstum in den frühen sechziger Jahren seine
Spitze mit 2,2 vom Hundert, das bislang größte absolute Bevölkerungswachstum
ist mit rund 87 Millionen Menschen jährlich in die späten achtziger Jahre zu datieren. Wenn man die mittelfristig prognostizierten Veränderungen der Geburtsund Sterberaten einbezieht, ergibt sich ein Anstieg der Weltbevölkerung auf mehr
als 9 Milliarden bis 2050 (UNDP 2001). Die Zunahme wird sich praktisch ausschließlich auf die Entwicklungsländer beschränken.
Hier so schnell wie möglich eine Stabilisierung zu erreichen, ist Ziel und Mittel der Great Transition. Als Ziel stehen niedrigere Geburten- und Sterberaten für
mehr Lebensqualität. Dann würden nicht so viele Kinder sterben und die Überlebenden hätten bessere Wachstums- und Entwicklungschancen. Ihre Mütter würden seltener im Kindbett sterben und hätten größere Aussichten auf Ausbildung,
Arbeit und Einkommen. Die Väter würden gesünder, die Großeltern länger leben.
Gleichzeitig müsste sich die älteste Institution der Welt – die Familie – neu definieren, weil die Köpfe pro Haushalt sinken und die Eltern immer älter werden. Als
Mittel vereinfacht das gesunkene Bevölkerungswachstum den Übergang. Weniger
Menschen bedeutet weniger Druck auf die Umwelt, nicht zuletzt, weil es weniger
arme Menschen geben würde.
Die Veränderung von Werten und Gesellschaftspolitik im Zuge der Great Transition könnte den Bevölkerungszuwachs bis 2050 um 1 Milliarde Menschen verringern. Dafür wäre einerseits der Bedarf an Verhütungsmitteln zu decken und andererseits ein Umfeld zu schaffen, in dem die Menschen später eine Familie gründen und vor allem weniger Kinder haben wollen. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Geburtenkontrolle und Ausbildung, insbesondere der Mädchen,
sowie der Chance auf einen Arbeitsplatz. Um den Bevölkerungsanstieg wirksam zu
dämpfen, muss sich das Schulsystem in den Entwicklungsländern verbessern.
Die Zahl der Städter hat im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überproportional zugelegt. Heute lebt fast die Hälfte der Menschheit in Ballungsräumen. Wenn
dieser Trend anhält, werden im Jahr 2050 bis zu 75 Prozent – in absoluten Zahlen: 4 Milliarden Menschen – die urbanen Zentren bevölkern. Auf der Erde könn68
Wie kommen wir ans Ziel?
te es 400 Städte von der Größe Delhis, Osakas oder Buenos Aires geben. Im Schnitt
verdienen die Bewohner der Ballungsräume besser, haben weniger Kinder, leichteren Zugang zu Bildungseinrichtungen und eine höhere Lebenserwartung. Aber
in den Städten prallen die Extreme aufeinander, und für die Mittellosen ist das
Leben dort wesentlich schwieriger und ungesünder als auf dem Land.
Die Herausforderung, mit der sich Städteplaner, Architekten, Bauherren und
Geldgeber angesichts der wuchernden Städte konfrontiert sehen, ist auch eine
Chance. Eine echte Wende im Städtebau würde Flächen und Infrastruktur effizienter nutzen, mit weniger Material und Energie auskommen und trotzdem vernünftige Lebensbedingungen bieten. Die derzeit auf verschiedene Behörden und
Wissenschaften verteilten Zuständigkeiten für Wohnqualität, Effizienz und Umwelt würden zusammengeführt. Die innerhalb der nächsten beiden Generationen
ohnehin fällige Erneuerung der derzeitigen Infrastruktur ist die Gelegenheit, lebenswerte Städte zu schaffen, die Ressourcen schonen und Ökosysteme bewahren.
Der Übergang zur nachhaltigen Stadt ist eine gewaltige Herausforderung. Die
Aufgabe wird in dem Maße leichter, in dem sich das Bevölkerungswachstum abschwächt. Great Transition würde zudem durch bessere Lebensbedingungen auch
außerhalb der Städte die Landflucht bekämpfen. Die Kommunikations- und Informationstechnik schafft die Voraussetzung für Telearbeit und reduziert damit die
Notwendigkeit, in die Stadt zu ziehen. Urbane Strukturen, die Arbeiten und Wohnen, Einkaufen und Freizeit näher zusammenrücken, senken das Verkehrsaufkommen und stärken gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl. Der Übergang zu kulturell
vielfältigen, sicheren und nachhaltigen Gemeinden würde durch einen stärkeren
sozialen Zusammenhalt begünstigt. Das setzt vor allem die Bekämpfung extremer
Armut voraus.
Der Kampf um die Rechte
Die Idee der Menschenrechte hat sich im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts in
erstaunlichem Umfang durchgesetzt. Auch die Rechte von Kindern, den Angehörigen indigener Völker oder der Natur werden inzwischen weithin anerkannt.
Es sind Rechte, die Zivilisten in Bürgerkriegen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten schützen, Völkermord und Folter verbieten, Hunger als
Mittel der Kriegsführung oder der Unterdrückung ächten, vergewaltigten oder von
Misshandlung bedrohten Frauen Schutz gewähren, Kinderarbeit verbieten, bedrohte Arten vor dem Aussterben schützen und die Vielfalt in der Natur ebenso
wie in der Gesellschaft bejahen.
Diese Rechte finden ihren Ausdruck in internationalen Abkommen, ihre Durchsetzung obliegt neuen Institutionen. Aber von einer wirklich allgemeinen Geltung
69
Great Transition
sind sie noch sehr weit entfernt. Great Transition will ihre Anerkennung beschleunigen und die unveräußerlichen Rechte der Menschen und der Natur institutionalisieren. Es ist notwendig, ein öffentliches Bewusstsein für diese Rechte zu
schaffen und sie damit zu stärken. Eine zweite Aufgabe liegt in der Verbreitung
von Freiheit und Demokratie.
Verschiedene Rechte schließen einander jedoch nicht selten aus. Einerseits genießen Minderheiten besonderen Schutz, andererseits soll die Gesellschaft nicht in
kleine Fraktionen auseinanderbrechen. Bewaffnete Konflikte lassen sich nur reduzieren, wenn ethnische oder religiöse Autonomie gewährt und weithin respektiert
wird, ohne den Bestand größerer politischer Einheiten zu gefährden. DieVersorgungssysteme lassen sich nicht erhalten, ohne die Rechte der Natur zu beachten.
Diese Achtung darf sich nicht auf einzelne bevorzugte gefährdete Arten beschränken, sondern muss sich auf ganze Gattungen und Ökosysteme beziehen.
Man wird Grausamkeiten gegen Menschen nicht verhindern können, solange
man Grausamkeiten gegen Tiere duldet. Great Transition betrifft Menschen und stellt
Menschen in den Mittelpunkt. Um jedoch die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen und die Lebensqualität zu steigern, muss zwischen dem Gebrauch von Hausund Versuchstieren und deren Rechten als fühlenden Geschöpfen ein vernünftiger
Mittelweg gefunden werden. Einander ausschließende oder zumindest miteinander
konkurrierende Rechte gehören zu den schwierigsten, aber auch zu den wichtigsten
Themen. Im Lauf der Zeit hat die Menschheit vielfach gelernt, einige Rechte auszuweiten, einige Konflikte zu lösen und sich mit dem Rest zu arrangieren.
Armut und Gerechtigkeit
Derzeit bestehen neben einer modernen, dynamischen, stark formalisierten Weltwirtschaft noch immer lokal begrenzte Märkte, bäuerliche Subsistenzwirtschaft
und andere, informelle Wirtschaftsformen. 1 Prozent der Menschheit verdient so
viel wie die 57 Prozent am unteren Ende der Skala zusammen. Fast 3 Milliarden
Menschen leben von weniger als 2 Dollar pro Tag (UNDP 2001). Die Globalisierung würde diese Marginalisierung noch verschärfen, wenn die informellen, regionalen Ökonomien den ausschließlich an Gewinn- und Umsatzsteigerung, nicht
jedoch an den Menschen und den Verhältnissen vor Ort interessierten Marktkräften ausgesetzt würden. Eine solche Globalisierung ließe die Hoffnungen auf
Gleichheit und Demokratie als unerfüllbaren Traum erscheinen.
Der gesellschaftliche Übergang würde sich auf Wohlstand für die Armen, sichere Einkommen und Gerechtigkeit konzentrieren. Great Transition will eine Welt,
in der Menschen nicht länger erniedrigt werden und die extremen Unterschiede
zwischen Arm und Reich verschwinden. Dann rückt das Versprechen des 20. Jahr70
Wie kommen wir ans Ziel?
hunderts auf allgemeine Freiheit, Respekt und einen angemessenen Lebensunterhalt im 21. Jahrhundert in den Bereich des Möglichen. Wenn neue Werte und neue
Prioritäten die Kluft zwischen den Einbezogenen und den Ausgeschlossenen
schließen helfen, öffnet sich die Tür für Frieden und Solidarität. Der Kampf gegen
Armut und für größere Gerechtigkeit wirkt auf den Prozess des Übergangs zurück
und beschleunigt ihn.
Wirtschaft und Governance
Great Transition verlangt eine Neuordnung humaner Institutionen, also der
menschlichen Beziehungen und der Strukturen, die das Verhalten in einer Gesellschaft bestimmen. Die institutionellen Veränderungen würden die Evolution der
Werte, des Wissens und der Lebensart anstoßen und dann wiederum von diesen
beeinflusst. Der entscheidende Punkt ist der Charakter der Wirtschaft und Governanceformen.
Die Umrisse einer neuen Ökonomie
Der ökonomische Übergang bezeichnet die Umstellung auf ein Produktions-, Distributions- und Entscheidungssystem, das mit Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und
menschlicher Erfüllung harmoniert. Er würde verschiedene Ziele ausbalancieren:
das Ende menschlicher Deprivation, der Abbau von Ungerechtigkeit, eine ökologisch tragfähige Produktion und fortgesetzte Innovation. Dafür sind zweifelsohne
politische Instrumente wie Ökosteuern, die finanzielle Unterstützung sozial Benachteiligter sowie eine »grüne« Buchhaltung notwendig. Derartige Steuerungsinstrumente sollten allerdings Ausdruck einer tiefgreifenden Neuorientierung der
ökonomischen Strukturen sein. Die Wirtschaft darf nicht Selbstzweck sein, sondern muss sich in den Dienst von Menschen und Natur stellen. Die Wende würde
sich in anderen Verhaltensweisen niederschlagen und die herrschende Praxis von
Unternehmen, staatlichen Organen und internationalen Institutionen verändern.
Das Streben nach einer nachhaltigen Lebensweise würde das Verhalten der
Menschen verändern. Sie würden ökologisch bewusst einkaufen, die Konsumhaltung würde nach einiger Zeit der Vergangenheit angehören und der Individualverkehr zu Gunsten der öffentlichen Verkehrsmittel zurückgehen. Vielleicht würden mehr Menschen ehrenamtlich tätig, vielleicht würde das Spendenaufkommen
steigen und die Umverteilung durch steuerliche Unterstützungen. Wenn die Überflussgesellschaften ihren Raubbau an der Natur reduzieren, geben sie Ressourcen
für andere Menschen frei.
Eine Veränderung der Konsumgewohnheiten würde im Markt starke Akzente
setzen. Das ökonomische Eigeninteresse bleibt natürlich eine wichtige Triebfeder
71
Great Transition
und hält die Wirtschaft in Gang, aber auch ökonomische Interessen sind nicht in
Stein gemeißelt. Eine aufgeklärte Wirtschaft entwickelt Eigeninitiative und sieht
in ökologischer Effizienz, grünem Marketing und sozialem Verantwortungsbewusstsein einen Wettbewerbsvorteil. Der Markt würde Unternehmen mit einem
neuen Verhaltenskodex belohnen, Ignoranten hingegen dank der zunehmend informierteren, aufmerksameren, von NGOs mobilisierten Öffentlichkeit bestrafen.
Im Lauf des Übergangs würde die Wirtschaft mehrfach ihre Bilanzierungspraxis ändern und soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit nicht als
Mittel zur Gewinnmaximierung, sondern als Selbstzweck aufnehmen. Gerade die
großen Unternehmen könnten eine führende Rolle bei dieser Veränderung spielen,
weil sie die technischen und finanziellen Voraussetzungen für strategische Innovationen haben. Aber auch kleine Firmen mit ihren direkteren menschlichen Beziehungen und ihren Wurzeln vor Ort sind wichtig.
Selbstverständlich erfordern ökologische und soziale Ziele hohe Investitionen,
aber die Gelder dafür sind in der Weltwirtschaft vorhanden. Zudem wirft die
Wende ihre eigenen Erträge ab. Die Einsparungen durch umweltverträgliche Produktion und die Erhaltung des Umweltkapitals zahlen sich als Ökodividende aus.
Eine Friedensdividende erwächst aus dem allmählichen Zurückfahren der Rüstungsausgaben von derzeit 700 Milliarden Dollar auf das für die reine Friedenssicherung notwendige Niveau, möglicherweise 30 Milliarden Dollar (Renner 1994).
Auch das Humankapital trägt „Zinsen“, wenn Milliarden von Menschen Kreativität
und Arbeitskraft sinnvoll einbringen können, die normalerweise der Armut überlassen wären. Die Technologiedividende ergibt sich aus neuen Innovationschancen und dem allgemeineren Zugang zu Informationsmitteln. Die Solidaritätsdividende finanziert sich aus sinkenden Kosten für Sicherheit und Polizei.
Der ökonomische Übergang ist eine Frage des Wollens, nicht des Könnens. Die
Ressourcen sind vorhanden. Wenn sich Werte und Prioritäten verschieben, finden
sich auch die notwendigen Gelder.
Neue Institutionen
Ein Übergang zu neuen Governanceformen verlangt Institutionen, welche das Neue
Nachhaltigkeits-Paradigma durch die Partnerschaft zwischen verschiedenen Interessengruppen und politischen Körperschaften auf lokaler, nationaler und globaler
Ebene vorantreibt. Bestimmte Strukturen werden sich immer an den Gewohnheiten orientieren, aber die Ausbildung neuer Partizipationsformen wird das herkömmliche Regierungssystem ergänzen und auch herausfordern. Im neuen Paradigma ist der Staat in die Zivilgesellschaft eingebettet, die Nation in die planetarische Gesellschaft. Der Markt ist eine gesellschaftliche Einrichtung, welche die Ge72
Wie kommen wir ans Ziel?
sellschaft nicht nur mit Reichtum, sondern auch mit ökologischer Nachhaltigkeit
und Gerechtigkeit versorgen sollte. Jeder Mensch steht im Zentrum eines Netzes
sozialer Beziehungen, er ist keine Monade.
Erweiterte Rechte für Individuen oder Haushalte würden die soziale Gerechtigkeit verbessern. Man könnte zum Beispiel ein Mindesteinkommen für alle garantieren, indem man eine negative Einkommenssteuer einführt. Das würde wirksam
die Armut und die Ungleichheit der Geschlechter bekämpfen. Ein Mindesteinkommen gäbe nicht nur Frauen wirtschaftliche Unabhängigkeit, sondern würde indirekt auch der Umwelt zugute kommen, weil es die Versuchung schmälert, Arbeitslosigkeit und Elend durch Wirtschaftswachstum einzudämmen (Van Parijs 2000).
Am anderen Ende der Einkommensskala könnte eine progressive Besteuerung die
Ansammlung von Vermögen auf ein Maß begrenzen, das die Gesellschaften der
Great Transition anhand von Gerechtigkeits- und Nachhaltigkeitsüberlegungen für
vertretbar halten.
Ein regulierter Markt würde verhindern, dass die Marktkräfte soziale und ökologische Ziele verletzen. Sie würden sich auf den Regelkreis von sozial und ökologisch bewussten Verbrauchern, öffentlichem Druck und lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Vereinbarungen stützen. Ein starkes, gut informiertes Netz von NGOs, an bestimmten Themen interessierte Foren und Verbände von
Ökoproduzenten würde die Notwendigkeit staatlicher Vorschriften und Kontrollinstanzen reduzieren.
Ein Einkommenstransfer von den städtischen zu den ländlichen Regionen
könnte ein Ausgleich für die Naturerhaltung sein. Schon heute zahlt die Europäische Union Bergbauern oder anderen Landwirten Prämien für die Landschaftspflege. Der Übergang könnte sich analoger Mechanismen bedienen, bei denen Gelder aus den reichen Städten in die armen Landstriche fließen, dort gleichzeitig die
Armut lindern und Dienstleistungen für Ökosysteme sichern, etwa die Erhaltung
der Biodiversität, die Bewahrung von Wäldern und Grundwasserqualität oder die
Kohlenstoffsequestrierung.
Durch den aus allen Richtungen auf sie einströmenden Druck entwickeln die
Nationalstaaten ein neues Selbstverständnis. Nach den Prinzipien Subsidiarität und
Partizipation verlagert sich die Verantwortung auf die lokale Ebene. Die Tatsache,
dass sich viele Probleme nur noch durch Global Governance lösen lassen, führt
hingegen zur Verlagerung von Kompetenzen auf die internationale Ebene. Wirtschaftsunternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen mischen sich stärker ein und üben quasi von der Seite Druck auf die Regierungen aus. Trotzdem behalten die Regierungen der Nationalstaaten erhebliche Macht und spielen vor allem
in der Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Vereinbarungen eine große Rolle.
73
Great Transition
Die Vorgänge sollten transparent und berechenbar sein und nach demokratischen
Regeln ablaufen.
Internationale Verhandlungen und Vereinbarungen würden mehr Gewicht gewinnen, denn die ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte werden zusehends globaler. Die übergeordneten Instanzen setzen und überwachen Minimalstandards für Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Menschenrechte. Wie diese Standards umgesetzt werden, bleibt den Körperschaften auf nationaler oder regionaler
Ebene überlassen. Je nach politischer Kultur kann das ganz unterschiedliche Gestalt annehmen. Neben diesen formalen Governance-Verfahren binden die internationalen Diskussionen und Vereinbarungen Wirtschaftsvertreter, Verbraucherverbände und andere globale Netzwerke mit ein.
Die globale Informationsrevolution löst internationale Experimentierfreude und
diese wiederum neue Formen einer Corporate Governance aus. Unternehmen, Regierungen, NGOs und Graswurzelorganisationen arbeiten zunehmend zusammen.
Erste Ansätze zu einer wachsenden Transparenz und Berechenbarkeit zeichnen sich
in gegenwärtigen Initiativen bereits ab. Sie gleichen Geschäftspraktiken den Prinzipien der Nachhaltigkeit an, die einer planetarischen Gesellschaft angemessen sind.
In einer egalitären Politik liegt der Schlüssel zur Armutsbekämpfung. Anders
lassen sich übertriebener Reichtum und die sozialen Kosten der Armut nicht beschneiden. Zu den makropolitischen Maßnahmen müssen Programme vor Ort
kommen, die den Benachteiligten selbst eine Stimme geben. Ziel ist, dass die
Armen sich selbst helfen können, einzeln wie auch als Kollektiv. Die Ressourcen
würden durch Gemeinschaftsinstitutionen, Finanzsysteme und eine angemessene
Technik zurückfließen und die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, NGOs und
Kommunen stärken.
Technologie und Umwelt
Der technologische Übergang würde die Eingriffe der Menschen in die Natur erheblich reduzieren. Die drei Säulen heißen Effizienzsteigerung, nachwachsende
Rohstoffe und industrielle Ökologie. Effizienzsteigerung bedeutet, den erforderlichen Aufwand je produzierter Einheit radikal zu senken. Nachwachsende Rohstoffe
folgen dem Prinzip der Kapitalerhaltung – man lebt nur von den Zinsen, sprich
dem, was die Natur laufend ergänzen kann. Solarenergie statt fossile Brennstoffe,
nachhaltige Landwirtschaft statt Bodendegradierung und der Schutz von Ökosystemen statt deren Auslöschung. Industrielle Ökologie steht für Reduktion des Abfalls durch Recycling, Wiederverwendung, Reparieren und Aufbereiten sowie eine
Verlängerung der Produktlebensdauer. Es gibt mehrere Schlüsselfaktoren.
74
Wie kommen wir ans Ziel?
Energie
Es ist eine Herausforderung, bezahlbare und zuverlässige Energiequellen zu erschließen, ohne das Prinzip der Nachhaltigkeit zu verletzen. Die Lösung liegt in
einer ebenso sozialen wie ökologischen Wende. Die soziale Energiewende gewährt
jenen Milliarden Menschen Zugang zu modernen Treibstoffen, die noch immer auf
traditionelle Biomasse zurückgreifen müssen. Die ökologische Energiewende reduziert die Nachfrage durch sinkenden Verbrauch in den Industrieländern, hohe
Ausnutzungsgrade und den Einsatz von erneuerbaren Energien.
Der Zwang, die Treibhausgase weltweit zu reduzieren, gibt die Dimension und
die Gangart für die internationale Energieagenda vor. Um das Klima auf einem
vertretbaren Niveau zu stabilisieren, muss der Einsatz fossiler Brennstoffe bald zu
einem Ende gelangen. Der Weg zur Solarenergie führt über das Erdgas, das weniger schädliche Emissionen erzeugt, aber auch über neuere Biomassereaktoren.
Atomkraft ist zwar klimafreundlich, hat aber so viele andere Nachteile – nuklearer Abfall, Sicherheitsrisiken und mögliche Waffenproduktion –, dass sie sich
schlecht mit der Suche nach langfristigen, robusten Lösungen verträgt.
Die Aufgabe ist gewaltig, aber dasselbe gilt für die technischen Möglichkeiten.
Die Nachfrageseite der Energiegleichung lässt sich hochgradig effizient gestalten:
Beleuchtung, elektrische Geräte, Gebäude und Fahrzeuge können mit minimalen
Energiemengen betrieben werden. Die Kopplung von Wärme- und Energieerzeugung verwendet ein Abfallprodukt, das sonst ungenutzt entsorgt worden wäre.
Kompaktere, die Landschaft weniger stark zersiedelnde Ortschaften reduzieren das
Verkehrsaufkommen und begünstigen den öffentlichen Nahverkehr oder das Fahrradfahren. Das Internet hilft Energie sparen, indem es energieintensivere Reisen
oder Versandwege überflüssig macht oder effizienter gestaltet.
Auf der Angebotsseite kann die Solarenergie vielfältig genutzt werden: direkt
über Solarzellen und Photovoltaik, indirekt über Wind, Wasser und Biomasse. Mit
Sonnenenergie lässt sich Wasserstoff herstellen, ein sauberer Treibstoff, der Benzin und Diesel ablösen kann. Die Solartechnik vergrößert ihren Marktanteil, allerdings im Schneckentempo. Noch ist sie teurer als konventionelle Energieträger, obwohl der Unterschied immer geringer wird und längst verschwunden wäre, wenn
auch ökologische Kosten in den Preis einfließen würden.
Die technischen Lösungen für Umweltprobleme existieren entweder bereits oder
lassen sich durch neue Prioritäten in Forschung und Entwicklung bald auf den
Markt bringen. Die institutionellen Hemmnisse wiegen schwerer. Eine weithin zu
beobachtende Trägheit verhindert den Umbau von Technologie und Infrastruktur
seit Jahrzehnten. Mächtige Interessen versuchen ihre Pfründe bei den konventionellen Energieträgern zu sichern. Eine widersinnige Politik subventioniert fossile
75
Great Transition
Brennstoffe und niedrige Energieausnutzungsgrade. Der Anreiz für eine neue Ära
in der Energie muss auch von politischer Seite gesetzt werden und durch Preisgestaltung und Verhaltensformen ein Gegengewicht zu den Verfechtern einer
Kohle-, Erdöl- und Erdgaswirtschaft in den reichen Ländern bilden und den Entwicklungsländern den direkten Sprung ins Solarzeitalter ermöglichen. Great Transition würde diesen Ansatz in den Vordergrund stellen.
Nahrungsmittel und Boden
Alle Menschen sollen satt werden, ohne dass Böden, Artenvielfalt und Ökosysteme zerstört werden. Bei der Steigerung der Ernteerträge wurden im letzten Jahrhundert große Erfolge erzielt. Aber der großflächige Einsatz von chemischen Düngern und Schädlingsbekämpfungsmitteln hat die Böden und das Grundwasser
verseucht und trotzdem sind fast 1 Milliarde Menschen unterernährt. Wälder und
andere Ökosysteme verschwinden durch den Bedarf an Ackerfläche und Weiden
aufgrund von Bevölkerungswachstum, wachsender Kaufkraft und höherem
Fleischkonsum.
Die Agrarwende fördert Anbaumethoden, die wissensintensiv und dafür fast
chemiefrei sind. Komplexe Bewirtschaftungssysteme nutzen natürliche Synergien
aus. Der Fruchtwechsel zwischen Stickstoff erzeugenden Pflanzen und anderen
Feldfrüchten reduziert den Bedarf an Chemiedünger, integrierter Anbau vermindert den Bedarf an Schädlingsbekämpfungsmitteln. Der Erhalt der Böden lässt sich
mit ordentlicher Entwässerung, Terrassierung, schonender Feldbestellung und vielen anderen Mitteln bewerkstelligen. Die Fischzucht würde strengen Öko-Kriterien
entsprechen, der Fischfang in den Ozeanen auf die Mengen beschränkt, die die Bestände verkraften können. Die gesunkene Nachfrage erleichtert die Aufgabe, weil
durch Great Transition zum einen das Bevölkerungswachstum und zum anderen
der Fleischkonsum nachlässt.
Biotechnologie verspricht steigende Erträge, sinkenden Einsatz von Chemikalien, den Schutz des Wassers und mehr Nährwert. Aber sie birgt Risiken für die genetische Vielfalt und zerstört Ökosysteme durch das Eindringen schädlingsresistenter Organismen. Außerdem würden die Landwirte immer stärker von den Multis der Agrarindustrie abhängig. Der Übergang würde das Vorsorgeprinzip beherzigen und Biotechnologie nur dann einsetzen, wenn sie die landwirtschaftliche
Produktion absolut sicher und umweltverträglich steigern kann. Gleichzeitig sorgen parallele Verbesserungen in weniger riskanten und von der Öffentlichkeit eher
akzeptierten Bereichen für eine bessere Ernährung.
Die Erhaltung und Wiederherstellung des weltweiten Ökosystems ist Dreh- und
Angelpunkt des Übergangs. Beides ließe sich durch eine Neubewertung des Bei76
Wie kommen wir ans Ziel?
trags, den die Ökosysteme zu Produkten, Dienstleistungen, Ästhetik und Lebensraum leisten, fördern. Die Flächennutzung würde einer Revision unterzogen, zersiedelte Gebiete zum Beispiel zumindest teilweise renaturiert. Die Natur würde widerstandsfähiger, wenn die Umweltverschmutzung, der Klimawandel und der übermäßige Wasserverbrauch nachließen.
Wasser
Wassernachhaltigkeit bedeutet, die Süßwasservorräte für menschliche Bedürfnisse, Wirtschaftstätigkeit und Natur zu sichern. Nur verschiedene, an die örtlichen
Verhältnisse angepasste Lösungen werden die wachsende Nachfrage mit entsprechend größeren Liefermengen befriedigen können.
Bei der Bewässerung von Feldern und in anderen Systemen, die dringend auf
Wasser angewiesen sind, lässt sich der Verbrauch durch Einsparungen und Verbesserungen erheblich reduzieren. Das gilt auch für Verluste im Leitungssystem.
Hinsichtlich der Stromversorgung ist es oft sinnvoll, sich für Alternativen zu Wasserkraftwerken zu entscheiden. Neuzüchtungen und neue Anbaumethoden wie die
Tropfbewässerung könnten sowohl in der bewässerten als auch in der auf natürliche Niederschläge zurückgreifenden Landwirtschaft für einen sehr viel niedrigeren Wasserbedarf sorgen. Einige sehr trockene Regionen werden verstärkt Nahrungsmittel importieren, um den Wasserverbrauch der Landwirtschaft zu reduzieren. Gerade in den von Desertifikation oder Versteppung bedrohten Gebieten begünstigen die niedrigere Bevölkerungszahl und veränderte Konsumgewohnheiten,
wie sie Great Transition mit sich bringen würde, eine Wasserwende.
Intakte Ökosysteme erhalten Ressourcen, weil das Wasser nach Überschwemmungen langsamer abfließt und sich der Grundwasserspiegel nicht senkt. Auch die
Nutzung unkonventioneller Wasserquellen und Anbaumethoden, etwa das Auffangen von Regenwasser, bedarfsorientierte Bewässerung, Entsalzungsanlagen in
Küstenstädten und die Weiterverwendung von Brauchwasser in der Landwirtschaft
wären hilfreich. Das Süßwasserproblem muss im Rahmen von ökologischen Überlegungen und den Bedürfnissen der Menschen betrachtet werden. Die Entscheidungen sollten nicht an zentraler Stelle gefällt werden, sondern dort, wo sich das
Verteilungsproblem am besten lösen lässt. Robuste, ausgewogene Lösungen sind
entscheidend auf die Mitwirkung der Betroffenen angewiesen.
Umweltrisiken und Entwicklung
In den hoch entwickelten Industrienationen besteht die Aufgabe darin, die Veränderung von Technologie, Geschäftspraxis und Infrastruktur stufenweise einzuführen und auf die ohnehin fällige Erneuerung abzustimmen. In den Entwick77
Great Transition
lungsländern dreht es sich eher darum, bestimmte verschwenderische Phasen der
Industrialisierung zu überspringen und sich direkt sparsamen Technologien zuzuwenden, die zu den jeweiligen gesellschaftlichen und ökologischen Gegebenheiten passen. Diese Alternative veranschaulicht Abbildung 10. Durch innovative Methoden können die Entwicklungsländer auf der sicheren Seite bleiben.
Abbildung 10
Sicherheitsgrenze
Umweltrisiken
Tunnel
Entwicklungsstand
Nach Munasinghe 1999
Technologien und Verhaltensweisen können auf dem Weg zur Nachhaltigkeit Synergien eingehen. Geschützte Ökosysteme binden Kohlenstoff, der Schutz des
Grundwassers wirkt der Erosion entgegen, erneuerbare Energien mildern sowohl
den Klimawechsel als auch die Luftverschmutzung. Die angewandten Wissenschaften haben den Auftrag, die Stoffströme in die globale Ökonomie und den
Müll zu reduzieren. Die bereits bestehenden Technologien und kreativen Ideen bilden eine gute Plattform für einen technologischen und ökologischen Übergang.
78
Wie kommen wir ans Ziel?
Die Globalisierung zivilisieren
Globalisierung bedeutet mehr als wirtschaftliche Integration. Die Wörter, Bilder
und Ideen sind schneller als die Stoffströme, und schon allein die Flut der Produkte weckt Ängste vor dem Verlust der eigenen Sprache, der eigenen Kultur und
der eigenen Werte. Im Gegenzug gewinnen ethnische, nationale und religiöse Differenzen an Bedeutung. Auch die „Menschenströme“ schwellen an. Manche verlassen ihre Heimat vorübergehend, andere auf Dauer, fast alle gezwungenermaßen.
Die Zahl der Flüchtlinge und der Welthandel wachsen mit ungefähr derselben Rate.
Menschen wandern in die reichen Länder, wollen ihren Teil vom Kuchen, und so
werden die wohlhabenden Orte ethnisch vielfältiger, eine Entwicklung, die nicht
jeder begrüßt. Mit den Fernreisen und den Erzeugnissen ferner Länder kommen
fremde Krankheitserreger und gefährden die Gesundheit nicht nur der Menschen,
sondern auch von Ackerpflanzen und Nutztieren. Neophyten können einheimische
Biotope zerstören. Giftmüll wird in Länder exportiert, die den Risiken nicht gewachsen sind. Terroristen agieren global. Aggressives Marketing und das Umsichgreifen bestimmter kultureller Werte beflügeln den weltweiten Konsum. Aber Milliarden von Menschen bleiben vom Wohlstand ausgeschlossen.
Aber die modernen Kommunikationsmittel transportieren nicht nur die heile
Welt des Konsums, sondern auch die Sorge um die Erde und deren Zukunft. Das
fördert eine neue Kultur der Verantwortung für nachfolgende Generationen. Medien verbinden im wachsenden Informationsaustausch Menschen und Gruppen und
verleihen ihnen mehr Einfluss. Die erweiterte, vertiefte und beschleunigte Vernetzung, die mit der Globalisierung einhergeht, ist die Bedingung für Great Transition. Die Globalisierung prägt erweiterte Bewusstseinskategorien, rückt die Menschheit als Ganzes in den Blick, deren Platz in der Gesamtheit des Lebensnetzes und
ihre Verbundenheit mit dem Schicksal des Planeten. Die Globalisierung sorgt für
die Verbreitung von Systemen der Produktion und Partizipation, teilt Unternehmen
und Zivilgesellschaft damit neue Rollen zu und ermöglicht mehr Gerechtigkeit.
Wer für eine humane, nachhaltigere und wünschenswerte Zukunft eintritt, kann
nicht einfach gegen Globalisierung sein. Das wäre unbefriedigend. Man muss sich
vielmehr für einen anderen Charakter der Globalisierung in den nächsten Jahrzehnten einsetzen. Wenn man die damit verbundenen Chancen wahrnehmen und
die Gefahren vermeiden will, muss die Globalisierung anders gestaltet werden.
Great Transition beruht auf der Globalisierung und will deren unbefriedigende
Aspekte bewältigen. Die Opfer der Globalisierung und ihre Verbündeten demonstrieren längst nicht nur in den Straßen. Sie arbeiten heraus, was zur Zivilisierung
der Globalisierung notwendig wäre (Held et al. 1999, Helleiner 2000).
79
Great Transition
Die Grundsätze und die Mittel zur Gestaltung dieser neuen Form von Globalisierung sind vorhanden. Great Transition würde Rechte sichern, die Natur bewahren,
auf kulturellen Reichtum achten und den menschlichen Geist anregen.
80
5. Die Geschichte der Zukunft
Mandela City, 2068
Vor einem Jahrhundert schickte Apollo 8 die ersten Bilder von unserem blauen
Planeten auf die Erde, eine wunderschöne leuchtende Perle in der Dunkelheit des
Universums. Dieses Bild aus dem Weltraum vermittelte einen lebhaften Eindruck
von der Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit unseres Zuhauses und grub sich tief in
die Vorstellungswelt der Menschheit ein. Allerdings enthüllte es nicht die Veränderungen, die sich im Verborgenen bereits anbahnten und die Geschichte der
Menschheit und die Erde selbst auf eine neue Stufe heben sollten.
Prolog
Es wäre eitel und verfrüht, schon im Verlauf des planetarischen Übergangs einen
abschließenden Bericht über diese faszinierende Epoche zu geben. Noch debattieren Gelehrte, Komplexitätsexperten und eine Öffentlichkeit, deren Begeisterung für
die jüngste Geschichte keine Schranken kennt, heftig über die Zeitgeschichte.
Weder lässt sich die Vergangenheit eindeutig beschreiben noch gestattet die Zukunft Vorhersagen. Wer weiß schon, was uns erwartet? Die Analyse der Ursachen
und die Deutung unserer außergewöhnlichen Zeit muss künftigen Historikern überlassen bleiben. Erst sie werden den nötigen Abstand haben, um die ganze Geschichte sachgemäß, einfühlsam und informiert zu erzählen. Die vorliegende kurze
Abhandlung will die allgemeinen Umrisse der noch lange nicht abgeschlossenen
Great Transition skizzieren. Es versteht sich von selbst, dass wir, was ihren Ablauf
betrifft, notgedrungen auf subjektive Eindrücke angewiesen sind.
Insgesamt gesehen ist unser Jahrhundert des Übergangs nur ein Wimpernschlag
in der langen menschlichen Evolution. Wir stellen uns die großen Epochenumbrüche der Vergangenheit - die neolithische Revolution, die frühen Hochkulturen
und die moderne Ära - als Drehscheiben vor, in denen die Grundlagen der Gesellschaft vollständig verschoben wurden. Zu diesen Meilensteinen der Geschichte
können wir nun unserem Urteil nach einen neuen hinzufügen. Der planetarische
Übergang hat die Komplexität der Gesellschaft auf ein neues Niveau gehoben und
eine neue Kultur hervorgebracht. Zum ersten Mal lässt sich die Entwicklung der
Menschheit in ihrer Dynamik nur noch auf globaler Basis verstehen. Während sich
frühere Übergänge allmählich über ein Jahrtausend oder über Jahrhunderte hinzogen, ereignete sich der letzte Umbruch innerhalb einer Generation. Während
81
Great Transition
Veränderungen einst von regional begrenzten Erneuerungsbewegungen ausgingen, von einzelnen Erfindungen, die sich mit der Zeit ausbreiteten, betraf diese
Transformation die ganze Welt und bezog alle Menschen, ja, alle Lebewesen auf
diesem Planeten mit ein.
Der unmittelbare Vorläufer der Great Transition war die industrielle Revolution. Jahrhunderte voller institutioneller, kultureller und technischer Veränderungen im Verlauf der Moderne legten die Grundmauern. Seit der industriellen Revolution wuchs die Zahl der Erfindungen explosionsartig an. Dasselbe lässt sich für
das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum sagen, eine Art Urknall, der die
Menschheit in die planetarische Phase katapultierte. Mit dem ungeheueren Wachstum in den Industrieländern gerieten traditionellere Gesellschaften über die Marktmechanismen in den Bannkreis des Westens und der Planet als Ganzes wurde in
seinem ökologischen Bestand in Frage gestellt.
Der industrielle Kapitalismus hinterließ, wo immer er auftrat, ein widersprüchliches Erbe. Einerseits ist es eine Geschichte von Emanzipation, Wohlstand, Modernisierung und Demokratie. Andererseits stoßen uns an dieser Epoche soziale
Abgründe, schreckliche Armut und ökonomischer Imperialismus ab. Es überrascht
nicht, dass sich gegen Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung eine vielstimmige
Opposition bildete. Sozialisten kämpften auf der ganzen Welt für eine egalitäre Gesellschaft, in der Mehrwert für die Menschen und nicht für die wenigen Kapitaleigner produziert und eine kollektive Moral die egoistische Gewinnsucht ablösen
würde. Der Traum zerschellte am realen Sozialismus. Militärisch unter Druck gesetzt und ökonomisch isoliert endete das Gesellschaftsexperiment in bürokratischen Diktaturen, die letztlich wieder in der globalen Marktwirtschaft aufgingen.
1948 kristallisierten sich in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die
Hoffnungen einer neuen Generation. Der Weltfrieden sollte aus der Agonie des
Weltkrieges erwachsen, die Menschheitsfamilie die Wunden des Hasses ausheilen
lassen und die Glocken der Freiheit in jedem Land läuten. Die Menschen hatten
noch viel Leid ertragen müssen, bevor diese Vision verwirklicht war. Aber die
Hoffnung leuchtete wie ein Licht am Ende des Tunnels und wies den Weg.
Der planetarische Strukturwandel beschleunigte sich nach 1990, als sich mit
der Selbstauflösung der Sowjetunion der eiserne Vorhang hob und die Welt aus
der Erstarrung des kalten Krieges erwachte. Ungehindert konnte sich der Kapitalismus als weltweites System etablieren. Die Bühne war längst vorbereitet. Technische Entwicklungen führten zur Informations- und Kommunikationsrevolution.
Es gab infolge des Zweiten Weltkrieges eine Fülle internationaler Institutionen. Die
Zivilgesellschaft gewann als dritte Kraft immer mehr Gewicht. Umweltschutzbewegungen und eine Wiedergeburt spiritueller Ideale leiteten die an Werten orien82
Die Geschichte der Zukunft
tierte Bewegung unseres eigenen Jahrhunderts ein. Die akkumulierten Umweltzerstörungen schlugen in globale Probleme um. Das Zusammenwachsen der Weltwirtschaft wurde von den zunehmenden Handels-, Finanz- und Informationsströmen beschleunigt.
Wir zeichnen die verschiedenen Phasen dieses Übergangs nach. Die erste Phase
begann mit einer regelrechten Euphorie angesichts der ökonomischen Globalisierung, wurde dann von einem großen Terroranschlag empfindlich gestört und
schlug in Verzweiflung um. Die anschließende Krise veränderte in fundamentaler
Weise die Basis für den Kurs der globalen Entwicklung. Mit weltweiten Reformen
versuchte man damals, auf dem institutionellen Weg eine globale Governance zu
schaffen. Diese Epoche wurde von Great Transition abgelöst, die eine Neuorientierung und ein Wiederaufleben von Werten brachte.
Markteuphorie, Einbruch und Wiederbelebung
1990-2015
Ende des 20. Jahrhunderts trieb der wirtschaftliche Aufschwung auf dem fruchtbaren Boden einer ausgereiften Informations- und Kommunikationstechnologie
die vernetzte Ökonomie zu einer ersten Blüte. Weltweit verbreiteten die Medien
einen Enthusiasmus, dem man sich kaum entziehen konnte. Business-Gurus, Techno-Propheten und Kulturkritiker erteilten dem »reibungslosen Kapitalismus« gleichermaßen die Absolution. Die Hausse an den Börsen verbannte jeden Gedanken
an zyklische Verläufe. Immer neue technische Spielereien eroberten den Markt und
ließen den Konsum in unglaubliche Höhen schießen. Die globalisierte Ökonomie
schuf einen planetarischen Handelsplatz und brachte den westlichen Modernismus
und Dollars zu den Unterentwickelten. Man nahm an, das sich in einer reicheren
Welt mit den magischen Kräften des Marktes die globale Umwelt retten ließe.
Aber das war ein Irrtum. Die Neugründungen der Dot.com-Milliardäre rückten
sehr schnell in tiefrote Zahlen. Die populäre Behauptung vom »Ende der Geschichte« war eine bequeme Ideologie für die Befürworter einer kapitalistischen
Hegemonie, aber wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen. Die Gier nach materiellem Überfluss bot auf Dauer keine zufriedenstellende Lebensgrundlage. Die Globalisierung weckte Zorn und Widerstand und verstärkte die Polarisierung nur
noch. Die Magie des Marktes hatte wohl ihre Stärken, aber dazu gehörten weder
Voraussicht noch Koordination. Beides ist für ökologischen Nachhaltigkeit unbedingt erforderlich.
Letztlich beschränkte sich die Markteuphorie auf eine kleine, aber lautstarke
Minderheit, die in den Medien sehr präsent war, die öffentliche Meinung stark be83
Great Transition
einflusste und auf der politischen Bühne die Fäden zog. Dagegen protestierte im
Lauf der neunziger Jahr eine lockere Koalition von Umweltverbänden, Arbeitnehmervertretern und Gruppen, die sich für eine gerechte Gesellschaftsordnung einsetzten. Die zunehmend auch in gewaltsamen Ausschreitungen mündenden Aktionen richteten sich gegen eine Globalisierung im Dienst ökonomischer Interessen, die von den Demonstranten als sozial ungerecht, ökologisch bedenklich und
als Ausverkauf hart erkämpfter Sicherheiten angesehen wurde. Damals fehlte der
Protestbewegung Geschlossenheit und eine klare Vision, wie die Zukunft einer
menschlichen und nachhaltigen Alternative aussehen könnte. Aber sie bot bereits
einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte. Der langwierige Kampf um
Sinn und Zweck der Globalisierung hatte begonnen.
Im Jahr 2002 gehörte der irrationale Überschwang der neunziger Jahre der Vergangenheit an. Der Spuk war ebenso schnell zu Ende, wie er begonnen hatte. In
den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts wurde an allen Ecken und Enden gespart. Der Bärenmarkt an den Börsen und der internationale Terrorismus ersticken
jede Euphorie. Der »verlogene Aufschwung« hatte sich ohnehin weitgehend auf die
Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sowie auf einige Rohstofflieferanten in
Südostasien beschränkt. Die ökonomische Basis war sehr schmal - weniger als fünf
Prozent der Weltbevölkerung hatten Zugang zu digitalen Netzen - und die vorhersehbaren Übertreibungen führten direkt in den Abschwung. Nur eine kleine
Elite konnte die Vorteile der wirtschaftlichen Integration genießen. Gleichzeitig
verstärkten wachsende ökologische Bedenken, die unentwegte Armut und die Konsumkultur die Kritik an der Marktwirtschaft, insbesondere bei den jungen Leuten.
Die naive Börsenbegeisterung endete spätestens mit den furchtbaren Anschlägen auf die Hochburgen der finanziellen und militärischen Weltmacht, ausgeführt
mit zivilen Verkehrsflugzeugen, die am 11. September 2001 das World Trade Center zerstörten und das Pentagon erheblich schädigten. Das traumatische Erlebnis
riss die Menschen aus ihrer selbstzufriedenen Trägheit und öffnete ihnen die
Augen für den Zorn, den die Globalisierung bei jenen auslöste, die ihr ausgesetzt
waren, ohne von ihr zu profitieren. Die Verzweiflung von Milliarden offenbarte
sich als fruchtbarer Boden für Indoktrinierung und einen Fanatismus, den zynische Moslem-Fundamentalisten von eigenen Gnaden nur zu gern schürten.
Während die Arroganz des Westens dem Rest der Welt eine unwürdige Nebenrolle zugestand, boten die transnationalen Islamisten einen Heilsweg über den Märtyrertod in den Armeen des globalen Dschihad. Auch der Terrorismus war zum internationalen Phänomen geworden.
Damals fürchtete man weithin eine Spirale der Gewalt. Die Vereinigten Staaten schlugen hart zurück und eröffneten mit der zumindest passiven Duldung
84
Die Geschichte der Zukunft
buchstäblich aller anderen Nationen ihren Krieg gegen den Terrorismus. Doch die
Ironie der Geschichte wollte es, dass diese weltweite Mobilisierung eine reifere und
realistischere Form der marktwirtschaftlichen Globalisierung förderte. Was die Ursachen des Terrorismus betrifft, erfreuten sich zunächst zwei Theorien besonderer
Popularität: zu viel Modernismus, zu wenig Modernismus. Einerseits schien sich
der militante Fundamentalismus als Gralshüter der Tradition mit seiner brutalen
Negation von Toleranz und Pluralismus der Einbindung in das Projekt der Moderne vollständig zu entziehen. Man konnte ihn, so gesehen, nur bekämpfen, aber
nicht schönreden. Andererseits belegte das Phänomen so viel aufgestaute Wut in
den Metropolen der Dritten Welt, dass man nur das Scheitern, nicht aber einen Erfolg der Globalisierung feststellen konnte. Eine Entwicklung, die Menschen ins Abseits drängt und in ihrer Verelendung mit Bildern des Überflusses überschüttet,
musste Zorn und Gewalt wecken.
Deswegen betrieb die internationale Staatengemeinschaft, die in den Vereinten
Nationen und anderen übergeordneten Körperschaften eine Basis für die Zusammenarbeit gefunden hatten, eine zweigleisige Strategie nach dem Motto Zuckerbrot und Peitsche. Als Zuckerbrot dienten umfangreiche Initiativen zur Modernisierung armer Länder, sodass die Segnungen der Marktwirtschaft die verarmten
Massen erreichten und besänftigen. Die Peitsche bestand in der Vernichtung eingeschworener Fanatiker, der Zerschlagung ihrer Organisationen durch verdeckte
Operationen und, wenn nötig, militärische Aktionen. Beide Strategien waren teilweise erfolgreich. Der Krieg gegen Terrorismus zerstörte nach einiger Zeit die
Handlungsfähigkeit der Attentäter und verhinderte, dass sie mehrere große Anschläge nacheinander planen und ausführen konnte. Trotzdem wurde der neue Lebensstil von Gefahrenbewusstsein und einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis charakterisiert. Der romantisch überhöhte Märtyrertod verführte viele entwurzelte Jugendliche, und es kam immer wieder zu Gewaltakten.
Die Maßnahmen zur allgemeinen Verbreitung der Marktwirtschaft werden
heute als »inklusives Wachstum« bezeichnet. Zwischen 2002 und der Krise 2015
wurden die internationalen Anstrengungen für Handelsliberalisierungen, Modernisierung und die Ausweitung von Marktinstitutionen verdoppelt. Das führte zu
einer neuen Globalisierungswelle. Mit mehr Augenmaß und bescheideneren Zielen als im ersten Anlauf regte sie fast überall Wirtschaftswachstum an. Eine neue
Generation von Technokraten entstand in beinah allen Staaten der Welt. Diese Politik war grundsätzlich nichts Neues. Der Internationale Währungsfonds warb seit
Jahren für strukturelle Anpassungen und die WTO hatte die Öffnung der Märkte
ermöglicht. Aber die Maßnahmen wurden mit mehr Nachdruck betrieben und mit
mehr Ressourcen unterstützt als je zuvor. Bis 2002 betrieben die USA eine riskan85
Great Transition
te Mischung aus ökonomischer Globalisierung und politischem Isolationismus,
nach 2002 engagierten sie sich für ein umfassendes, international vernetztes
rechtsstaatliches System der Marktwirtschaft.
Die Schulden wurden aus strategischen Gründen erlassen, Hilfe vom Ausland
strömte in die unterentwickelten Staaten und stützte die Kräfte, die eine Modernisierung befürworteten. Initiativen zur Bildung von Nationen sorgten für stabilere
Verhältnisse, Friedenstruppen für Stabilität. Vor der Krise war die elektronische
Vernetzung sehr weit fortgeschritten, anwenderfreundliche Technologien wie Spracherkennung und berührungsempfindliche Bildschirme mit standardisierten
Schnittstellen stand ungefähr der Hälfte der Weltbevölkerung zur Verfügung. Die
globale „Verdrahtung“ wurde zu Recht gefeiert, obwohl dabei weniger Draht als
vielmehr Glasfaserkabel und Funkverbindungen im Spiel waren. Auch wenn man
erst später wirklich weltweit auf diese Netze Zugriff hatte, beruhte der wirtschaftliche Aufschwung jener Tage teilweise auf dem Ausbau der digitalen Infrastruktur.
Die Epoche wurde von gigantischen Konzernen beherrscht, die vollkommen
global agierten und die Gestaltungsmöglichkeiten der nationalen Regierungen
stark beschränkten. Computerkonzerne schufen die digitale Infrastruktur und
schrieben die notwendige Software. Die Konsumgüterindustrie vertrieb ihre Güter
über elektronische Kanäle und sprach immer größere Märkte an. Energiekonzerne
trieben den Boom buchstäblich an und lieferten den Treibstoff für den Transport
der Produkte rund um den Globus. Wahrlich universale Banken und Wertpapierhäuser finanzierten die Expansion. Und sie alle verdienten gut. Derartige Gewinne und so hohe Rücklagen, solche Größe und Macht wurden weder vorher noch
nachher je wieder erreicht.
Es gab verschiedene wichtige Anläufe zu einer Weltregierung. Die WTO lieferte die vertraglichen Grundlagen für globale Handelssysteme. Multilaterale Abkommen liberalisierten die Investitionen, zunächst nur in den reichen Ländern,
später in der ganzen Welt. Das Kapital konnte sich nahezu schrankenlos bewegen,
während ein ganzes Bündel internationaler Maßnahmen die Märkte öffnete und
den weltweiten Wettbewerb anheizte. Fast alle nationalen Regierungen konnten
innere Widerstände überwinden und ihre Institutionen an die Notwendigkeit der
Globalisierung anpassen. Die Modernisierung des Finanzsystems und die Reform
der öffentlichen Bildungseinrichtungen schritt mit Siebenmeilenstiefeln voran und
unterstützte Weltwirtschaft und Privatisierung.
Aber der Gedanke an eine Global Governance verlor neben wirtschaftlichen
Vereinheitlichung und Friedenssicherung an Bedeutung. Zwar wurden weiterhin
internationale Konferenzen über Umweltfragen und soziale Probleme abgehalten.
Aber sie waren entweder so wirkungslos wie das Kyoto-Protokoll, das den Aus86
Die Geschichte der Zukunft
stoß von Treibhausgasen vermindern sollte, oder kaum mehr als ein rhetorischer
Aufruf für »nachhaltige Entwicklung« und Armutsbekämpfung, ohne dass daraus
finanziell oder programmatisch Taten folgten. Die Ideologie des »inklusiven
Wachstums« vertrug sich mit dem Aufbau marktwirtschaftlichen Institutionen,
nicht jedoch mit der aktiven Verfolgung nichtwirtschaftlicher Ziele wie etwa Nachhaltigkeit oder eben der Armutsbekämpfung. Die mächtigen internationalen Institutionen und die führenden Politikerinnen und Politiker der Welt vertrauten auf
marktwirtschaftlichen Lösungen, Trickle-down-Effekte und einen Sicherheits- und
Militärapparat.
Kulturell wie ökonomisch wuchs die Welt zusammen. Materialistische Werte,
Konsum und Besitzindividualismus verbreiteten sich rasch, verstärkt von den Medien. Die Furcht, von der westlichen Kultur vereinnahmt zu werden (»McWorld«),
förderte in einigen Ländern traditionalistische Gegenbewegungen. Doch der Mammon und der allmächtige Dollar glitzerten zu verführerisch; nur einige fundamentalistische Hochburgen widerstanden trotz Aufschwung und allgemeinem
Wohlstand. Die Proteste gegen eine von Multis gesteuerten Globalisierung hielten
an und wurden sogar noch heftiger. Aber da diese Bewegung weder eine glaubwürdige Vision noch ein zukunftsweisende Strategie entwickelte, bekam sie weder
in den Industrie- noch in den Schwellenländern den nötigen Zulauf der Massen
und verlor an politischer Zugkraft.
Obwohl fortgesetzte Ungerechtigkeit die Epoche charakterisierte, profitierten
doch viele von der ökonomischen und digitalen Globalisierung, oft in völlig unerwarteter Weise. Beispielsweise wurde das Online-Banking in den reichen Ländern zur Bequemlichkeit der Kunden erfunden, aber damit war gleichzeitig ein Mittel geschaffen, das zivilisatorisch nicht erschlossene Landstriche mit Finanzdienstleistungen versorgte, in Gegenden, in denen es weder Banken noch andere
Kreditgeber gab. Mit der Ausbreitung digitaler Netze wuchsen auch die Organisationen, die online Kleinstkredite zuteilten. Dank kleiner Kredite, Vernetzung und
weniger Korruption dank transparenterer Abläufe explodierte das kleine Gewerbe
und die Produktivität wuchs rasch an. Bauern mit Internetzugang erfuhren von
besseren Anbautechniken, erhielten Darlehen, um ertragsreicheres Saatgut zu kaufen, Wetterberichte, die ihnen bei der Aussaat und Ernte halfen, sowie Information über die aktuellen Marktpreise, sodass sie besser entscheiden konnten an wen
und wann sie verkauften. Genossenschaftliche Zusammenschlüsse einzelner Handwerker vertrieben traditionelles Kunsthandwerk oder maßgefertigte Kleidungsstücke an Großhändler oder Direktkunden im Nachbarland oder auf einem anderen Kontinent. Kleine Fabriken, Händler und Dienstleistungsanbieter wurden auf
regionaler Ebene wettbewerbsfähig.
87
Great Transition
Das Realeinkommen wuchs sogar in einigen armen Gemeinden rasch. Diese Entwicklung hat in Indien, China, Brasilien und Südafrika begonnen, alles Länder, die
relativ früh mit der Digitalisierung und der Öffnung des Marktes begonnen hatten.
Die stufenweise Annäherung der Entwicklungsländer an den Standard der reichen
Länder - der Heilige Gral des konventionellen Entwicklungsdenkens - schien eine
ferne, aber immerhin plausible Möglichkeit. Aber das grelle Licht des Wirtschaftswachstums hatte auch seine dunklen Seiten. Die Beweihräucherung des Marktes in
den Medien und in den PR-Kampagnen der multinationalen Konzerne schob andere, nachdenklichere Stimmen beiseite. Doch ökologische Gefährdung, biologische Zerstörung und Gesundheitsrisiken für die Menschen drängten sich mit der
Zeit heftiger und häufiger in den Vordergrund. Die wachsenden Umweltveränderungen – höhere Durchschnittstemperaturen und klimatische Schwankungen, zusammenbrechende Ökosysteme, der Rückgang der Fischbestände – trafen die armen
Regionen am härtesten. Wissenschaftler warnten immer eindringlicher davor, dass
die Veränderungen Schwellenwerte überschreiten könnten, von denen aus es keine
Umkehr mehr geben und die Welt auf eine Katastrophe zutreiben würde.
Der Widerstand der Ärmsten wuchs. An Milliarden von Menschen war die Globalisierung vorbeigezogen. Während die Reichen immer reicher wurden und neue
gesellschaftliche Schichten in Wohlstand leben konnten, verdammte tiefste Armut
Milliarden zu einer Existenz am oder unter dem Minimum. Die Einkommensverteilung klaffte noch weiter auseinander. Fast eine Milliarde Menschen hungerte.
Diese eine Zahl strafte die Prediger des Marktes Lügen, nach deren Credo das Wirtschaftswachstum den Lebensstandard aller Menschen anheben würde. Mit der
wachsenden Vernetzung wurde die Ungerechtigkeit der Ungleichverteilung für
beide Seiten immer offensichtlicher. Der Migrationsdruck, der Zorn und die politischen Unstimmigkeiten wuchsen, Unruhen und Konflikte zeichneten sich ab. Gestärkt von neuen Mitstreitern verschärften die Globalisierungsgegner ihren Kampf
für eine neue Ausrichtung der Gesellschafts- und Umweltpolitik.
Die Krise
2015
Wie jeder Aufschwung hatte auch die Periode des „inklusiven Wachstums“ einmal
ein Ende. Im Rückblick mag die Krise von 2015 wie die unvermeidliche Folge der
Spannungen und Widersprüche wirken, die sich in der vorangehenden Epoche zusammengebraut hatten. Aber man ist immer erst hinterher klüger: Damals wurden
die Menschen von dem Einbruch vollkommen überrascht. Die Reformen der Boomperiode hatten durchaus ihre positiven Seiten. Moderne Institutionen und das Wirt88
Die Geschichte der Zukunft
schaftswachstum erreichten fast alle Länder der Erde, und der Terrorismus wurde
auf ein erträgliches Maß begrenzt. Aber der Krise, die sich parallel zu dem weltweiten Marktprogramm aufbaute, hatten sie nichts entgegenzusetzen. Umweltzerstörung, soziale Polarisierung und ökonomische Verwerfungen gingen auf Kollisionskurs, aber mitten in der Markteuphorie waren alle blind für das Offensichtliche.
Die Krise hatte verschiedene Ursachen. Die rücksichtslose Ausbeutung von Ressourcen und Umweltprobleme führten zu erhöhten Kosten und belasteten nicht nur
Menschen und Ökosysteme, sondern auch die globale Wirtschaft. Der Zusammenbruch der Hochseefischerei trug seinen Teil zur Nahrungsmittelknappheit bei und
beeinträchtigte die Welthungerhilfe. Vielerorts wurde das Trinkwasser knapp, sodass teure Programme zur Sicherung einer Minimalversorgung notwendig wurden.
Die Preise wasserabhängiger Rohstoffe, etwa das Holz für Papier und Verpackungen, vervielfachten sich in kürzester Zeit. Selbst in den ärmsten Ländern hatten
sich zwar Eliten gebildet, aber die drückende Armut und die Zweiteilung der Gesellschaft unterhöhlten die Marktwirtschaft. Die wachsenden Extreme lösten, je
klarer sie sich herauskristallisierten, Proteste und sogar gewalttätige Aufstände aus.
Der Marsch der Fischer auf Neu-Delhi und die Wasser-Unruhen im Irak sind besonders krasse Beispiele. Vertieft durch ökologische und soziale Brennpunkte, in
einem politischen Umfeld ohne die Möglichkeit, monetäre oder fiskalische Maßnahmen weltweit durchzusetzen, schlug die durchaus erwartete „Korrektur“ nach
der langen Boomphase in eine tiefgreifende Wirtschaftskrise um.
Diese Krise entfesselte heftige Proteste gegen die Vorherrschaft der Multis,
gegen die seit einem Vierteljahrhundert rapide fortschreitende Umweltzerstörung
und das soziale Elend neben unermesslichen Reichtümern. Die geballte Unzufriedenheit und die gesamten Ängste, die sich seit 1990 unterschwellig aufgestaut hatten, entluden sich mehr oder weniger gleichzeitig. Der allgemeine Konsens, der den
Aufschwung getragen hatte, zerbrach. Besonders die Jugendlichen revoltierten
gegen den unseligen Materialismus und die Ungerechtigkeit der Weltordnung. Damals etablierte sich die Yin-Yang-Bewegung. Die eigenständige Jugendkultur mit
ihrem explizit politischen Impetus wurde von den Zeitgenossen als Kinderkreuzzug verunglimpft. Aber sie leistete einen wichtigen Beitrag zu den globalen Reformen, die eine Neuauflage des New Deal anstrebten, eine weltweite Ausgabe des
Programms, das unter Franklin Roosevelt zwischen 1933 und 1941 für Amerika
entwickelt worden war.
Parallel zu dem Reformansatz gründete sich auch die „Allianz zur Errettung der
Welt“, ein Zusammenschluss rechtsgerichteter Politiker, Wirtschaftsführer und Militärs. Es war eine bunt gemischte Truppe von globalen Akteuren, die sich jedoch
nicht durchsetzen konnte. Die Law-and-Order-Vertreter erkannten, wenn auch zum
89
Great Transition
Teil widerwillig, dass das internationale Machtvakuum ausgefüllt werden musste,
und glaubten, sie sollten den Job übernehmen. Aber gerade die autoritäre Anmaßung schweißte die Reformbewegung zusammen und führte zu gemeinsamen
Aktionen gegen die Gefahr einer Welt als Festung. Ein Jahrhundert zuvor erst hatten derartige Globalisierungsexperimente die Welt in die Katastrophe des Ersten
Weltkriegs geführt. Die demokratischen Kräfte waren entschlossen, einen erneuten Rückfall in die Barbarei abzuwehren.
Globale Reformen
2015-2025
Zu den Nebenwirkungen des Booms hatte die Ausweitung und Festigung demokratischer Institutionen auf nationaler und regionaler Ebene gehört. Die Informations- und Kommunikationsmittel verbesserten allmählich die Effizienz demokratischer Prozesse. Die Menschen konnten per Internet ihre Stimme abgeben, Steuern zahlen, Grundbucheinträge ändern, Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle anzeigen oder ihr Fahrzeug registrieren lassen. Auch Kritik und Verbesserungsvorschläge ließen sich transparenter und umstandslos anbringen. Die informierte,
wohlhabende Bürgerschaft, der sich nicht wenige globale Unternehmen anschlossen, konnte recht effektiv Druck auf die Regierungen ausüben. Beide Gruppen forderten ein stärkeres Eingehen auf ihre Bedürfnisse und die Einhaltung von Gesetzen. Diktaturen gerieten zunehmend in die Isolation.
Um 2015 waren die meisten Regierungen bereit, sich in den Dienst der Bevölkerung zu stellen. In dem Bemühen, der Krise Herr zu werden, nahm die politische
Führungsrolle auf nationaler wie lokaler Ebene ungeahnten Aufschwung. Mit ganz
unterschiedlichen Mitteln stellten die einzelnen Regierungen die Ordnung wieder
her, beseitigten die schlimmsten Umweltschäden, sorgten für mehr Gerechtigkeit,
bekämpften die drückendste Armut und wandten sich einem ganzen Bündel anderer Sorgen zu. Das massive staatliche Engagement fand auch auf internationaler Ebene Widerhall.
Vor der Krise beschränkte sich die Effizienz weltweiter Vereinbarungen mehr oder
weniger auf die Liberalisierung des Handels, begleitet von Deregulierung und Privatisierung. Doch die Renaissance internationaler Zusammenarbeit während der Globalen Reformära übertraf alle bisher da gewesenen Vorstellungen. Der Weltgerichtshof, die wiedergegründete Weltunion (vormals Vereinte Nationen) und die Weltregulierungsbehörde (Abkömmling der nach der Bretton-Woods-Konferenz gegründeten Institutionen der Weltbank und des IWF) stammen alle aus dieser Epoche.
Während die Welt noch darum kämpfte, ökonomisch wieder Tritt zu fassen und
90
Die Geschichte der Zukunft
offen für neue Regeln im Wirtschaftsleben war, boten die gestärkten internationalen Institutionen eine Plattform, um die Weltmärkte zu regulieren. Im Würgegriff der Krise und getragen von der Sehnsucht der Menschen nach einer starken
Hand handelten die Führenden der Welt entschlossen. Nachhaltige Entwicklung,
der fast schon vergessene Schlachtruf am Ende des 20. Jahrhunderts, wurde zum
Leitbild. Die Politik missbrauchte ihn diesmal jedoch nicht für wohlgefällige, aber
folgenlose Rhetorik, sondern überführte umfassende ökologische und soziale Ziele
in konkrete Maßnahmen.
Man handelte auf globaler Ebene Verträge aus, die die Emission von Treibhausgasen begrenzten, aber auch den Handel mit Emissionsmengen ermöglichten.
Verbote für den Handel mit Gütern aus gefährdeten Ökosystemen, zum Beispiel mit
Tropenhölzern, wurden durchgesetzt. Für die Fangquoten auf den Meeren galt die
Erholung der Fischbestände als Richtmaß. Über die mäßige Besteuerung von Handel und internationalen Kapitalbewegungen finanzierte die Weltregierung Gesundheits-, Bildungs- und Umweltprogramme. Großzügige Regelungen senkten die
Armut, innovative Ideen sorgten für nachhaltige Einkommenserzielung. Bahnbrechend war ein Kartellverfahren gegen einen Energiekonzern, den der Weltgerichtshof in sechs eigenständige Unternehmen aufspaltete und damit einen Präzendensfall für andere Branchen schuf.
Um 2020 zog das Wirtschaftswachstum wieder an, nicht trotz der Beschränkung auf nachhaltige Entwicklungsziele, sondern gerade wegen dieser Vorschriften. Koordiniert von den neuen Regierungsinstitutionen wurde die Vernetzung der
Welt abgeschlossen, Gelder für Armutsbekämpfung bereitgestellt und Umweltschutzprojekte vorangetrieben. Diese Investitionen lösten einen bespiellosen Aufschwung aus und eine neue Welle technischer Innovationen. Dieser Boom unterschied sich stark von vorherigen Wachstumsphasen. Statt das Gefälle zwischen
nördlicher und südlicher Hemisphäre weiter zu steigern, schloss sich die Lücke
durch die gezielte Anhebung des Lebensstandards der Armen. Statt das Einkommen innerhalb einzelner Staaten noch ungerechter zu verteilen, wurde entweder
der Status quo bewahrt oder eine Annäherung erreicht. Statt die Umwelt unbekümmert auszubeuten und zu zerstören, wurde der Druck auf die Ressourcen
und Ökosysteme peu à peu abgemildert.
Die Nachhaltigkeit blieb nur für kurze Zeit das Leitbild. Die in der Ära der Globalen Reform geschaffenen Institutionen sind zwar bis heute intakt, doch die Ära
selbst war ziemlich kurz. Die goldenen Jahre beschränken sich auf 2015 bis 2020.
Die Krise war noch frisch in Erinnerung und stärkte den politischen Willen zu Reformen. Die großen Konzerne schlossen sich an, weil ihr Marktanteil stagnierte.
Aber kaum dass der Aufschwung wieder Gestalt annahm, plädierten viele für die
91
Great Transition
Rückkehr zu freien Märkten. Die Umweltschützer hingegen erkannten, dass sich
die Weltwachstumsmaschine nicht ausreichend zügeln ließ. Hatten sie die Erfolge
der Reformbemühungen zunächst durchaus überzeugt, sahen sie nun ein, dass die
bisherigen Beschränkungen nicht viel mehr als eine Verlangsamung bewirkten,
letztlich aber wieder zu Verschwendung und Raubbau führen würden. Die Zwangsheirat der ungleichen Partner entlud sich in immer heftigeren Spannungen.
Es gelang den Regierungen nicht, mit den vielschichtigen, sich rasch verändernden Anliegen und Sorgen der Menschen Schritt zu halten. Das öffentliche Vertrauen in das Gebaren der politischen Führungsspitze war endgültig verspielt, als
die Grenzen der von der Staatsmacht initiierten Bemühungen um Nachhaltigkeit
deutlich wurden. Debatten flammten im Internet auf, schlugen im Cyberspace Wellen und verebbten wieder, während die offiziellen Stellen noch um die richtige Reaktion stritten. Und schon war wieder eine Chance verspielt. Die weltweite Koordination scheiterte oft genug am Formalismus der internationalen Gremien. Auf
diese Weise ließen sich die im Fluss begriffenen gesellschaftlichen und industriellen Prozesse nicht kontrollieren und in sinnvolle Bahnen lenken. Das Kaleidoskop
von rund 200 Nationen ordnet sich in immer neuen, zufälligen, nicht vorhersagbaren und nicht zentral steuerbaren Konstellationen. Inzwischen ist auch mathematisch bewiesen, dass sich chaotische, nicht-deterministische Systeme mit mehreren Akteuren nicht determinieren lassen. Die Reformen und die starken, kompetenten Regierungen haben viel bewirkt, aber beides reicht nicht aus, um die von
der Bevölkerung eingeforderten Veränderungen durchzusetzen.
Im Weltmaßstab wurde es immer schwieriger, sich auf neue Verträge zu einigen, neue Gelder aus den üblichen Quellen zu erschließen. Man stritt über die Verwendung solcher Gelder und über den Inhalt der Verträge. Die Bürokratie, die zur
Durchsetzung der bereits abgeschlossenen Vereinbarungen geschaffen wurde,
wuchs überproportional und wurde extrem schwerfällig. Eine Reihe von Staaten
scherte aus den internationalen Gremien aus und riss Lücken ins System, die sich
kaum stopfen ließen. Einige Weltkonzerne erwiesen sich hingegen als ausgesprochen agil und wendig, wenn es darum ging, Verbote und Restriktionen zu umgehen. Dabei hielten sie intern hartnäckig an überkommenen Strukturen fest.
Die Begeisterung für die Marktwirtschaft hatte eins klar bewiesen: Eine hemmungslose Globalisierung aus rein wirtschaftlichen Motiven war schlicht und ergreifend nicht lebensfähig. Der Neubeginn nach der Krise von 2015 belebte das
Wirtschaftswachstum, linderte die schlimmsten Auswüchse der Umweltzerstörung
und verhalf den Ärmsten zu einem etwas stabileren Auskommen. Aber diese von
staatlicher Seite initiierte Reformbewegung verlor um 2025 den Schwung. Der politische Wille zu einer weltweiten Einigung kam den Regierenden abhanden, der
92
Die Geschichte der Zukunft
Traum von der nachhaltigen Entwicklung schien ein zweites Mal ausgeträumt. Die
nächste Krise zeichnete sich ab.
Eine wachsende Zahl von Menschen und Organisationen gewann den Eindruck,
dass Reformen allein nicht ausreichten. Bisher selbstverständliche Überzeugungen
wurden brüchig. War unendliches Wirtschaftswachstum tatsächlich kompatibel mit
Ökologie? Vertrug sich die Konsumhaltung tatsächlich mit einer nachhaltigen
Ethik? Bot das Streben nach Wohlstand tatsächlich den Weg zu einem guten
Leben? Eine Massenbewegung formierte sich und verlangte grundsätzliche Änderungen. Manche sprechen von der „Koalition für den Großen Übergang“. Meist
wird sie jedoch nach ihrem Symbol, dem bunten Blumenstrauß, Bouquet-Bewegung genannt.
Der Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Gruppen, aufgeschlossenen Unternehmen und Individuen umfasst die überraschende Vielfalt der Menschheit und
wird ihrem Slogan: „Lass hunderttausend Blumen blühn“ vollkommen gerecht.
Spirituelle Bewegungen sind ebenso vertreten wie Yin-Yang, Interessenverbände
und lose Netzwerke. Alle Weltgegenden sind repräsentiert – Kommunen, Nationen,
Regionen, Flussbecken – und bilden spontan ein basisdemokratisches Parlament.
Ihr gemeinsamer Nenner sind bestimmte Werte: das Recht aller Menschen auf ein
menschenwürdiges Leben, die Verantwortung für das Wohl der Erde und all ihrer
Geschöpfe, die Verpflichtung gegenüber künftigen Generationen. Und dieser Aufbruch zu einem gerechteren, ökologischeren und erfüllenderen Leben war nicht
aufzuhalten.
Die Yin-Yang Bewegung
Die Jugend der Welt spielte eine entscheidende Rolle während des langen Übergangs. Junge
Menschen waren schon immer die Ersten, die neue Wege probierten und neue Träume
träumten. So war es auch mit den neuen Kommunikationstechniken und dem Experimentieren mit einer globalen Kultur. Die ersten Blüten der Markteuphorie manifestierten sich in
konsumorientierter Jugendkultur. Andere Folgen der digitalen Informationsrevolution waren
aber genauso wichtig. Die pädagogischen Implikationen des beschleunigten Lernens und des
schnellen Informationszugriffs hatte einen massiv demokratisierender Effekt. Er befähigte
die jüngere Generation, sich in Wirtschaftsfragen und überhaupt alle gesellschaftlich relevanten Aspekte kompetent einzumischen. Um 2020 war der Umgang mit dem Internet für
die Mehrzahl der Oberstufenschüler und Studenten vollkommen selbstverständlich. Zahlreiche Websites und Portale in über 200 Sprachen wandten sich an diese Zielgruppe.
Dass die überwältigende Mehrheit der mit dem Internet vertrauten, gebildeten jungen
Leute aus den Entwicklungsländern stammte, hatte unerwartete Nebenwirkungen. Die boomende Branche linderte mit diesen Talenten ihren chronischen Fachkräftemangel und nutz-
93
Great Transition
te zugleich die niedrigeren Löhne, indem sie Programmierung und Gestaltung von Internetauftritten, elektronischen Lerninhalten und Software nach Indien, China oder andere Drittweltländer vergab. Bald schon waren die meisten Führungskräfte der Internetbranche in
einem Entwicklungsland geboren. Diese neue Elite sorgte für die bessere digitale Anbindung
ihrer Heimat.
Die kulturellen und politischen Veränderungen, die der universelle Informationszugriff
auslöste, waren noch weniger erwartet worden. Die weite Welt rückte in das Bewusstsein
vieler Menschen, durch Vernetzung und automatische Übersetzungsprogramme konnten sie
über früher unüberwindliche Grenzen hinweg konkrete Erfahrungen austauschen. Man kommunizierte mit E-Mails, Mobiltelefonen und SMS, Musik- und Videotauschbörsen florierten, politische Traktate und Aufrufe zu Protestdemonstrationen erreichten aus dem Untergrund riesige informelle Netzwerke.
Wann genau sich aus dieser diffusen Gemeinschaft eine Jugendkultur mit eindeutigen
Merkmalen herauskristallisierte, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dazu 2012 Massenproteste gegen das Primat des Marktes begannen. Das internationale Jugendnetz, kurz YIN
(Youth International Network), war im Kern eine vorrangig kulturell interessierte Alternativszene. YANG (Youth Action for a New Globalization) dagegen stellte einen lockeren Verband von NGOs dar, die durch zahlreiche Protestaktionen allmählich zu einem schlagkräftigen politischen Netzwerk zusammen wuchsen.
Bis 2015 standen sich die beiden Bewegungen kritisch gegenüber. Vielen Yangs verachteten die Yins als hedonistisch, unpolitisch und träge, sahen in ihnen ausschließlich die
Erben der Hippies und von Timothy Leary. Die Yins wiederum hielten die Yangs für humorlose Politicos, die sich an Machtspielchen erfreuten. Aber die Sprecher beider Richtungen befleißigten sich einer schärferen Rhetorik, als es den tatsächlichen Unterschieden angemessen war. Die Weltfeste der Yins und ihre gutbesuchten Festivals nahmen jedenfalls
einen zunehmend politischen Unterton an. Gleichzeitig entwickelten sich die Yang-Demonstrationen immer stärker zu kulturellen Highlights.
Während der Krise 2015 verflüchtigten sich die Differenzen. Beide Bewegungen vertraten im Grunde dieselben Ziele – ein erfüllteres Leben und der Wunsch nach einer nachhaltigen, gerechten Weltordnung. Kultureller und politischer Aufbruch entpuppten sich als zwei
Seiten einer Medaille, für die man gemeinsam kämpfen wollte. Das war die Geburtsstunde
von Yin-Yang.
Viele Aktivisten sehen ihre Bewegung als Echo auf die Revolte von 1968 mit deren Jugendkultur, dem Idealismus und den Protesten. Aber Yin-Yang geht weit darüber hinaus.
Die Bewegung ist viel größer und vielfältiger als ihre Vorläuferin, global vernetzt, ausgesprochen anpassungsfähig, extrem gut organisiert und politisch versiert. Wie hätte die Krise
2015 ohne sie überwunden werden können? Vielleicht wäre die Welt ins Chaos abgeglitten,
vielleicht hätten die autoritären Kräfte Oberwasser bekommen, die längst in den Kulissen
auf ihre Chance lauerten.
Solche Spekulationen sind wohl müßig. Die Geschichte wäre ohne Yin-Yang anders verlaufen, so viel ist klar. An zwei Punkten hat die Bewegung eine Schlüsselrolle gespielt. Sie
stellte die entscheidenden politischen Führungspersönlichkeiten, die weltweite Reformen als
94
Die Geschichte der Zukunft
Antwort auf die Krise formulieren und breitenwirksam vertreten konnten. Und um 2020
trug sie die Aufbruchstimmung von 2015 weiter. In ihr kristallisierten sich die neuen Werte
und das Engagement einer Zivilgesellschaft, insbesondere in den Ereignissen von 2025, die
einen Meilenstein auf dem Weg zur Konsolidierung der Great Transition darstellen.
Great Transition
2025Die den Werten verpflichteten Bewegungen haben ihre Wurzeln in den Initiativen
für Menschenrechte und Umweltschutz, die im 20. Jahrhundert entstanden sind,
sowie in der spirituellen Erneuerung unseres eigenen Jahrhunderts. Die Suche nach
einem sinnvollen, erfüllten Leben und Alternativen zu einem materialistischen Lebensstil lässt sich bis tief in die Geschichte zurückverfolgen. Doch erst in unserer
Epoche hat eine post-materialistische Ethik aufgrund der Fortschritte bei der Nahrungsmittelproduktion und der Möglichkeit, allen Menschen einen annehmlichen
Lebensunterhalt zu bieten, die Chance, bei großen Teilen der Bevölkerung Rückhalt zu finden.
In der Umbruchphase um 2025 veränderten sich Lebensstil und -einstellung
stark. Zum Beispiel wurde die traditionelle Kernfamilie zunehmend auf andere
Menschen und sogar auf Mitgeschöpfe ausgedehnt, denn durch erfolgreiche Geburtenkontrolle schrumpften die Haushaltsgrößen und das Durchschnittsalter
wuchs. Die Veränderungen reichten bis ins Geschmackliche: Das Schlagwort von
der „nachhaltigen Ernährung“ machte unter einem Motto aus dem letzten Jahrhundert („Man ist, was man isst“) Furore. Sehr viele Menschen essen seither ausschließlich vegetarisch. Dazu motiviert auch die Sorge um Umwelt und die eigene
Gesundheit. Biolandbau und Tierschutz sind inzwischen in vielen Kreisen ganz
selbstverständlich. Immer mehr Menschen bevorzugen ein Leben, das sich ohne
Mangel zu leiden auf das Wesentliche konzentriert. Viele sind stolz, Zeit zu haben.
Demgegenüber gilt materieller Überfluss als unschick. Kultivierte Lebensart ist an
die Stelle des hemmungslosen Konsums getreten. Der Besitz von teuren Autos oder
zahllosen Geräten, sei es im Haushalt, sei es im Freizeitbereich, ist ein Anachronismus, der fast nur noch in den zahlreichen Museen für Kulturgeschichte bestaunt
werden kann. Im Leben der Menschen spielt derartiger Ballast praktisch keine Rolle
mehr. Alles ist von dem Gefühl durchdrungen, dass jeder und jede Einzelne für
das, was er oder sie verbraucht, verantwortlich ist.
Die Wertbewegung findet weltweit Anhänger und wird durch Diskussionsforen
im Internet verstärkt. Die „Gleichbeteiligungs“-Bewegung hat ihre Vorläufer in dem
Streben nach Gleichberechtigung und Bürgerbeteiligung, verdankt darüber hinaus
auch sehr viel den Aktivisten zur Armutsbekämpfung. Sie hat entscheidend zur
95
Great Transition
heutigen Transparenz der politischen und institutionellen Abläufe beigetragen.
Aber Sympathie allein mündet noch nicht automatisch im Handeln. Erst die Globalisierung der Zivilgesellschaft – die Werte-basierten Organisationen (WBOs)
schossen in den vergangen Jahren wie Pilze aus dem Boden – schuf die Grundlage für politischen Einfluss. Die globalen Netzwerke und Allianzen hoben die Weltgeschichte auf eine neue Stufe: Die Menschen sind heute bereit, einzeln und in der
Gruppe ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, Probleme eigenständig zu lösen
und Verantwortung zu tragen. Das ist das herausragende Merkmal unserer Zeit.
Information war schon immer eine Quelle der Macht, und diese Macht verschob
sich um 2025 massiv. Weltweit vernetzte WBOs boten mit Digitalkameras und anderen Geräten den Multis und unfähigen Regierungen die Stirn. Die Konzerne
wurden auf Schritt und Tritt von der aufmerksamen Öffentlichkeit überwacht, wo
und in welchem Umfang sie zum Beispiel Holz einschlagen ließen, welche Arbeitsbedingungen und Löhne sie boten, welchen Beitrag sie zur Gemeinde leisteten, an denen der Firmensitz lag. Die Informationen waren im Internet abrufbar,
oft mit Videos unterfüttert. Das zwang die Händler, sich von moralisch untragbaren Lieferanten zu trennen. Die Verbraucher boykottierten Produkte, wenn sie ethische Bedenken hatten. Die WBOs übten nicht nur auf globale Unternehmen Druck
aus, sondern auch auf Regierungen, die sich nicht ausreichend um die Beseitigung
von Armut und Ungerechtigkeit kümmerten, ökologisch wichtige Ressourcen verschleuderten oder universelle Rechte verletzten.
Durch die wachsende Transparenz und dem Beharren auf Forderungen übernahmen die in Netzwerken aktiven Bürger und Bürgerinnen eine Kontrollfunktion, die sie weit effizienter einlösten als alle bisherigen staatlichen und internationalen Behörden. Die Filialen eines global agierenden Kreditinstituts, bei dem eine
bestimmte muslimische Gemeinschaft in Indonesien keine Konten eröffnen durfte, wurden auf der ganzen Welt von Demonstranten besetzt. Die Bank fürchtete
um ihren guten Ruf und gab schließlich nach. Ein repressives Regime in Afrika geriet ins Visier einer Ad-hoc-Allianz von WBOs, die Hunderte von Seiten ins Internet stellten mit wenig schmeichelhaften Lebensläufen des Präsidenten und der
wichtigsten Generäle sowie Informationen über die großen Konzerne, die mit dem
Land Geschäfte machten (woraufhin diese schnell ihre Verträge annullierten).
Die Verfechter des Verursacher-Prinzips wurden ebenfalls zu einer Massenbewegung, die den Wandel zu einem neuen Leitbild bei den Führungspersönlichkeiten beschleunigte. In Regierungen wie Unternehmen setzte sich ein neuer Typus
durch, der gesellschaftliche und ökologische Verpflichtungen nicht nur akzeptierte, sondern mit kreativen Lösungen auch erfüllte. Unzählige Unternehmen mit über
den Globus verstreuten Produktionsstätten schlossen sich der Initiative „Null Be96
Die Geschichte der Zukunft
lastung“ an und stellten ihre Waren ohne Abfälle oder Emissionen her beziehungsweise sammelten die Produkte nach Gebrauch wieder ein und recycelten das
Material. Eine Reihe von Großbetrieben senkte die Herstellkosten so stark, dass sie
an sozialen Brennpunkten preiswerte Waren und Dienstleistungen anbieten und
häufig auch Mitarbeiter einstellen konnten. So erschlossen sie sich neue Märkte.
Andere entwickelten mit Nanotechnologien bessere Produkte mit geringerem
Ressourcenverbrauch. Dieser „Reindustrialisierung“ genannte Trend beschäftigte
sich mit der nachhaltigen Herstellung der materiellen Grundlagen der menschlichen Zivilisation.
Die Verursacher-Bewegung mutete den Regierungen sehr viel mehr Transparenz zu und mischte sich in viele Entscheidungen ein. Geplante Vorschriften oder
Gesetze werden seit einiger Zeit regelmäßig im Internet veröffentlicht, sodass sich
alle damit beschäftigen und darüber austauschen können. Lizenzen für den Holzeinschlag oder Erzabbau auf staatlichem Grund und Boden werden ebenso vorab
publiziert und zur Diskussion gestellt wie Aufforstungsmaßnahmen oder andere
Pläne zur Entwicklung natürlicher Ressourcen. Die Wahlen selbst finden meistenteils elektronisch statt, Wahlbetrug ist seither viel seltener.
Persönliche und philosophische Aspekte begleiten die Great Transition. Seit
den Anfängen der Yin-Yang-Bewegung ist unter den jungen Menschen die Unzufriedenheit mit dem materialistischen Konsumdenken auf dem Vormarsch. Die
Suche nach einem Gemeinschaftsleben lockt immer mehr Menschen, das Streben
nach Sinn und ethischer Vertretbarkeit hat immer mehr Anhänger. In den wohlhabenden Regionen wurden Konsumwünsche, Wettbewerb und Individualismus
von Werten wie Einfachheit, Ruhe und Gemeinschaft abgelöst. Viele reduzierten
ihre Arbeitszeit, um sich Wissen anzueignen, künstlerisch aktiv zu werden, Freundschaften zu pflegen oder sich handwerklich zu betätigen. Überall lässt sich eine
Renaissance der Kultur beobachten. Man ist wieder stolz auf die Überlieferung,
achtet die eigenen Wurzeln, schätzt lokale Besonderheiten und genießt vorzugsweise Produkte aus der Region. Allenthalben ist ein neuer Optimismus zu spüren.
Die Übernahme politischer Verantwortung in der Bevölkerung, das weitverbreitete Gefühl, persönlich seinen Beitrag zur Gemeinschaft leisten zu wollen, die
(insbesondere bei den Jugendlichen verbreitete) Bereitschaft, gegen Ungerechtigkeit zu protestieren, die Suche nach einem kulturell erfüllten und trotzdem bequemen Leben ohne übertriebenen Luxus – all das zusammengenommen charakterisiert unserer Auffassung nach die planetarische Ethik. Die Geschichte ist nicht
zu Ende, vielmehr wurde die Zukunft auf ein neues Fundament gestellt. Noch gibt
es Inseln der Armut, aber auch sie werden bald beseitigt sein. Konflikte und Intoleranz sind nach wie vor virulent, aber es stehen wirksame Verhandlungs- und Lö97
Great Transition
sungsansätze bereit. Der Planet hat sich noch lange nicht von seinen ökologischen
Wunden erholt, aber die Sorge um seine Gesundung treibt die Menschen um. Die
Einflüsterungen von Besitzgier und Machthunger haben sich nicht verflüchtigt,
aber der starke Rückkopplungseffekt durch die weltweite Vernetzung verhindert
eine Usurpation. Das Engagement der Menschen prägt unsere Epoche. Alle haben
das Recht auf ein menschenwürdiges, erfülltes Leben, alle Kulturen haben im Rahmen der globalen humanen Einheit ihr Recht auf Entfaltung. Die Erde beherbergt
eine lebendige, quirlige Gemeinschaft.
Epilog
Uns, die wir im Gestern der Zukunft leben, steht eine Erkenntnis offen, die früheren Spekulationen über das Morgen verschlossen war. Die Untergangsphantasien
der Jahrhundertwende haben sich nicht bewahrheitet, widerlegt von der persönlichen wie politischen Entscheidung der Menschen. Der irrationale Überschwang an
den Börsen wurde längst als gefährliches Hirngespinst enttarnt. Die Utopien von
postkapitalistischen Paradiesen konnten sich ebenfalls nur als gegenstandslos erweisen. Die alten Reformer, die sich auf Kongressen und Weltkonferenzen trafen
und Managementstrategien für eine nachhaltige, humane Zukunft ausarbeiten
wollten, gestalteten nur eine Etappe auf dem Weg in die richtige Richtung. Wir
werden ihnen ewig dankbar sein, denn nur aufgrund ihrer Bemühungen hatten wir
überhaupt noch eine Wahl.
Das zeitlose Drama des Lebens wird ewig mit den Widersprüchen der conditio
humana weitergehen, Hoffnungen auf Enttäuschungen, Triumphe auf Niederlagen,
Aufbrüche auf Rückzüge folgen. Aber neuerdings hat sich das Drama eine Bühne
geschaffen, die so leicht keiner mehr aufgeben will. Nicht umsonst halten wir so
große Stücke auf unsere Eltern und Großeltern. Heute sind wir in der Rolle jener,
die sich über die Ansprüche und Widerstände der Jugend wundert, ihre politische
Unruhe nur noch zum Teil nachvollziehen kann und sie ein wenig distanziert auf
ihrer Suche nach neuen Herausforderungen begleitet. Ob sie die Vorboten eines
neuen Übergangs sind? Das liegt im Dunkel der Zeit.
98
6. Formen des Übergangs
Je nachdem, wie sich die Unsicherheiten des planetarischen Übergangs auflösen,
entscheidet sich die Zukunft der Welt. Die in diesem Essay erörterten Szenarien
schildern verschiedene Aussichten, die jeweils eine spezifische Kombination von
Institutionen, Werten und kulturellen Eigenheiten repräsentieren. Die Erzählungen
sollen abschließend mit einigen Zahlen zu den Schlüsselindikatoren abgerundet
werden. Wir beschränken uns dabei auf die Szenarien Marktkräfte, Politische Reformen, Welt als Festung und Great Transition.
Alle Szenarien gehen von denselben Ausgangswerten aus, von einem bestimmten Set derzeitiger Tendenzen. Soziale, ökonomische und ökologische Entwicklungen differieren dann allmählich unter dem Einfluss verschiedener Ereignisse, institutioneller Veränderungen und neuer Werte. Die Marktkräfte schildern
eine Welt beschleunigter Globalisierung auf rein wirtschaftlicher Ebene mit minimalen Bemühungen um Umwelt und gesellschaftlichen Ausgleich. Die Entwicklung wird von der Ausbreitung dominanter Institutionen und westlicher Werte beherrscht. Der vom Wettbewerb geprägte Weltmarkt gibt dem planetarischen Übergang Gestalt. In Politische Reformen versuchen die staatlichen Organe, die Wirtschaftstätigkeit im Sinn einer Reihe von sozialen und ökologischen Zielen zu lenken. Eine Politik der Nachhaltigkeit prägt den planetarischen Strukturwandel. Die
Welt als Festung beschreibt eine Abfolge von Krisen, die schließlich tyrannische
Herrschaftsformen heraufbeschwören. Der planetarische Übergang liefe hier auf
eine autoritäre, ungerechte Zukunft hinaus. In Great Transition würden die „Weltbürger“ Zivilcourage beweisen und sich für Lebensqualität, menschliche Solidarität und ökologische Sensibilität engagieren. Neue Werte stünden im Mittelpunkt
dieser weltumspannenden Neuorientierung.
Diese Muster vergleicht Abbildung 11 (Raskin et al. 1998, Kemp-Benedikt et al.
2002, PoleStar 2000). Die Marktkräfte werden von widersprüchlichen Tendenzen
bestimmt. Technische Fortschritte sorgen für bessere Umweltverträglichkeit je geleisteter Arbeitseinheit, aber der Produktionszuwachs frisst diese Verbesserungen
wieder auf, sodass die Umweltbilanz unter dem Strich düster aussieht. Die Volkswirtschaften der armen Länder werden überproportional wachsen, aber das kann
die Kluft zu den Industriestaaten nicht schließen: Die Schere wird sich im Gegenteil noch weiter öffnen. Am Ende stehen die fortgesetzte Erosion des ökologischen
Gleichgewichts und eine Zementierung der Armut. Den Politischen Reformen gelingt eine Trendwende. Einerseits wird die Entwicklung alternativer Techniken und
99
Great Transition
umweltverträglicher Methoden in Industrie und Landwirtschaft forciert, der Wirkungsgrad von Maschinen und Geräten verbessert und auf nachwachsende oder
unbegrenzt zur Verfügung stehende Rohstoffe zurückgegriffen. Andererseits mildern gezielte Programme die Armut. Die Welt als Festung läuft auf ein Nebeneinander moderner, prosperierender Inseln in einem Meer von Massenelend hinaus.
Ökosysteme
Wirtschaft
Politische
Reformen
Hungernde (in Mrd)
Mrd Menschen
Gleichberechtigung
Bevölkerung
Marktkräfte
Freiheit
Arm/Reich
Einkommensquotient
Klima
Waldfläche (Mio ha)
Frieden
BIP (Mrd US-$
Mrd Menschen
CO2-Konzentrationen
Konflikte (> 1000 Tote p.a.)
Abbildung 11: Die Szenarien im Vergleich
Ausgewählte Indikatoren
Great Transition
Entwicklung
Wassermangel
Internat. Gerechtigkeit
Welt als Festung
Great Transition setzt wie die Politischen Reformen auf die rasche Durchsetzung
umweltfreundlicher Technologien, legt darauf jedoch mehr Nachdruck. Zweites
Hauptcharakteristikum ist die Förderung ökologischer Nachhaltigkeit durch die
Abkehr von der Wegwerfgesellschaft. Der Ressourcenverbrauch sinkt mit dem
Nachlassen der Konsumfreude. Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich und
wird irgendwann rückläufig. Das Wirtschaftswachstum in den Regionen des Überflusses flacht ab. Die Siedlungsstrukturen verdichten sich, die derzeit zu beobachtende Zersiedlung der Landschaft hat ein Ende. Kompakte Orte sorgen für kurze
Wege. Gleichzeitig wird die drückendste Armut gemildert, weil eine größere Gerechtigkeit innerhalb und zwischen einzelnen Ländern erzielt wird.
100
Formen des Übergangs
Nahrungsmittelbedarf
Siedlungsformen
Bebaute Fläche
(ha/Einwochner)
Privatwagen
1000 km pro Person
Ernährung
Wochenstunden
Ø-Quotient niedriger:hoher
Einkommen
1000 US-$ pro Kopf
Einkommen
Erneuerbare Energien (%)
Bevölkerung
% Kalorien aus Fleisch u. Fisch
1000 kcal pro Kopf/Tag
Mrd Menschen
Abbildung 12: Verlaufsmuster zur Great Transition
Arbeitszeit
Gerechtigkeit
Erneuerbare Energie
Die Zahlen für Great Transition zeigt Abbildung 12 jeweils für „reiche“, das sind
im Wesentlichen die OECD-Staaten, und die „armen“ Länder, sprich dem Rest der
Welt. Das Bevölkerungswachstum verlangsamt sich in Abhängigkeit zu der Einkommensverteilung, dem Bildungsstand und der Gleichstellung der Geschlechter.
In den Ländern des Überflusses entscheiden sich viele Menschen für kürzere Arbeitszeiten und weniger Einkommen. Zeit wird zur besonders wertvollen Ressource, die Bürger und Bürgerinnen gern in kulturelle, politische oder persönliche Interessen investieren. Geldanlageprojekte und Transferleistungen in die ärmeren Regionen generieren rasches Wachstum und eine gerechtere Weltordnung. Die Wohlhabenden essen aus ökologischen, ethischen und gesundheitlichen Gründen weniger Fleisch. Die Gerechtigkeit innerhalb der einzelnen Staaten nähert sich dem
Vorbild europäischer Staaten wie Österreich oder Dänemark. In den Industrieländern nimmt die Nutzung von Privatautos ab, weil Städte und andere Siedlungen
dichter gebaut und besser an den öffentlichen Nah- und Fernverkehr angebunden
werden. Die erneuerbaren Energien, überhaupt nachwachsende Rohstoffe setzen
sich durch. Der Durchsatz und Ausstoß giftiger Substanzen sinkt damit erheblich.
Die Wende in der Landwirtschaft gibt Biobauern und ökologisch wirtschaftenden
Farmern Auftrieb.
101
Great Transition
Great Transition ist eine komplexe Geschichte. Alle Aspekte aller Szenarien greifen heute schon ineinander und die künftige Weltordnung wird sich aus dem
Kampf verschiedener Tendenzen um die Vorherrschaft herausschälen. Das kann
ähnlich wie in dem Kapitel über die „Geschichte der Zukunft“ geschehen. Wie sich
die Szenarien überlagern und einander ablösen, zeigt Abbildung 13. Die Marktkräfte dominieren, bis die Welt aufgrund der inneren Widersprüche in eine Krise
stürzt und jenen Auftrieb gibt, die für eine Welt als Festung plädieren. Nach dieser kurzen, wenig hilfreichen Phase gelingen im Schatten der Krise Politische Reformen. Schließlich münden die seit langem gärenden Wünsche nach einem fundamentalen Wandel in Great Transition.
Abbildung 13: Abfolge der Tendenzen einer Great Transition
Vorherrschaft
Great Transition
Politische Reformen
Marktkräfte
Welt als Festung
Die Analyse gibt Grund zu der Annahme, dass sich die Gefahr einer nicht-nachhaltigen Zukunft noch abwenden lässt, wenn auch nur unter großen Schwierigkeiten. Great Transition rechnet mit einer tiefgreifenden Veränderung der Lebensstile und damit einhergehend mit anderen Werten und einem anderen Technikverständnis. Doch selbst im günstigsten Fall würde es Jahrzehnte dauern, um die
Bedürfnisse der Menschen mit den Anforderungen einer intakten Umwelt in Einklang zu bringen, die Armut endgültig zu besiegen und die tiefe Kluft zwischen
den Völkern zu schließen. Einige Klimaveränderungen lassen sich nicht mehr rückgängig machen, Wasserknappheit wird an vielen Orten der Welt Thema bleiben,
ausgestorbene Tier- und Pflanzenarten werden nicht zurückkehren und viele Men102
Formen des Übergangs
schen werden hungers sterben oder Opfer von Umständen, die durch die ungerechte Weltordnung bedingt sind.
Trotzdem ist ein planetarischer Übergang zu einer humanen, egalitären und
ökologischen Zukunft möglich. Man darf die Entwicklung jedoch nicht linear fortlaufen lassen, sondern muss sie zurückbiegen, muss der Kurve eine neue Richtung
geben. Eine radikale Revision der technologischen Möglichkeiten steht am Anfang
des Übergangs. Ein Überdenken menschlicher Ziele schließt ihn ab. Das ist Verheißung und Verlockung der Zukunft.
103
Literatur
Banuri, T. / E. Spanger-Siegfried, K. Saeed / S. Waddell (2001): Global Public Policy
Networks: An emerging innovation in policy development and application. Boston: SEI-B/Tellus Institute.
Barber, B. (1995): Jihad vs. McWorld. New York: Random House.
Bossel, H. (1998): Earth at a Crossroads. Paths to a Sustainable Future. Cambridge, UK: Cambridge University Press.
BSD (Board on Sustainable Development of the U.S. National Research Council)
(1998): Our Common Journey: Navigating a Sustainability Transition. Washington, D.C.: National Academy Press.
CBD (Convention on Biological Diversity) (2001): See http://www.biodiv.org/.
CCD (Convention to Combat Desertification) (2001): See http://www.unccd.int.
Dominguez, J. / V. Robin (1992): Your Money or Your Life. NY: Viking Penguin.
ECI (Earth Charter Initiative) (2000): The Earth Charter. San José, Costa Rica: Earth
Charter Commission Secretariat. See http://www.earthcharter.org/draft/
charter.rtf.
Ehrlich, P. (1968): The Population Bomb. NY: Ballantine.
FAO (Food and Agricultural Organization) (1996): Rome Declaration on World
Food Security and World Food Summit Plan of Action. http://www.fao.org.
Ferguson, N. (ed.) (1999): Virtual History: Alternatives and Counterfactuals. NY:
Basic Books.
Ferrer, A. (1996): Historia de la Globalización: orígenes del orden económico mundial. México: Fondo de Cultura Económica.
Florini, A. (2000): The Third Force: The Rise of Transnational Civil Society. NY:
Carnegie Endowment.
Gallopín, G. / A. Hammond / P. Raskin / R. Swart (1997): Branch Points: Global
Scenarios and Human Choice. Stockholm, Sweden: Stockholm Environment Institute. PoleStar Series Report No. 7. See http://www.gsg.org.
Gandhi, M. (1993): The Essential Writings of Mahatma Gandhi. NY: Oxford University Press.
Harris, P. (1992): The Third Revolution. London: Tauris.
Held, H./A. McGrew/D. Goldblatt/J. Perraton (1999): Global Transformations: Politics, Economics and Culture. Stanford, CA: Stanford University Press.
Helleiner, G. (2000): Markets, Politics and Globalization: Can The Global Economy
Be Civilized? Tenth Raúl Prebisch Lecture, Geneva, 11 December.
105
Great Transition
Hobbes, T. (1651) (1977): The Leviathan. NY: Penguin.
IPCC (International Panel on Climate Change) (2001): Climate Change 2001: Impacts, Adaptation and Vulnerability (McCarthy, J. / O. Canziani / N. Leary / D.
Dokken / K. White, eds.). Cambridge, UK: Cambridge University Press.
Kaplan, R. (2000): The Coming Anarchy. NY: Random House.
Kates, R. / W. Clark / R. Corell / J. Hall / C. Jaeger / I. Lowe / J. McCarthy / H. Schellnhuber/B. Bolin/N. Dickson/S. Faucheux/G. Gallopín/A. Gruebler/B. Huntley/
J. Jäger / N. Jodha / R. Kasperson / A. Mabogunje / P. Matson / H. Mooney / B.
Moore / T. O’Riordan / U. Svedin (2001): Sustainability science. Science 292:
641–642.
Kemp-Benedict, E. / C. Heaps / P. Raskin (2002): Global Scenario Group Futures:
Technical Notes. Boston: Stockholm Environment Institute – Boston. See
http://www.gsg.org.
Keynes, J. M. (1936): The General Theory of Employment, Interest, and Money.
London: MacMillan.
Keynes, J. M. (1972): (first published 1930) Economic Possibilities for our Grandchildren. In: The Collected Writings of John Maynard Keynes. Vol. IX: Essays
and Persuasions. London: MacMillan.
Lindblom, C. (1959): The science of ‘Muddling Through’ Public Administration Review XIX: 79–89.
Maddison, A. (1991): Dynamic Forces in Capitalist Development. A Long-Run
Comparative View. Oxford: Oxford University Press.
Malthus, T. (1798) (1983): An Essay on the Principle of Population. U.S.: Penguin.
Martens, P. / J. Rotmans (eds.). (2001): Transitions in a Globalising World. Maastricht: ICIS (manuscript).
Maslow, A. (1954): Motivation and Personality. New York: Harper Brothers.
Meadows, D. H. / D. L. Meadows / J. Randers / W. W. Behrens (1972): Limits to Growth. New York: Universe Books.
Mill, J. S. (1848) (1998): Principles of Political Economy. Oxford, UK: Oxford University Press.
Munasinghe, M. (1999): Development, Equity and Sustainability in the Context of
Climate Change. In: Climate Change and its Linkages with Development, Equity and Sustainability (M. Munasinghe / R. Swarts, eds.). Washington, D.C.:
LIFE/RIVM/World Bank.
PoleStar (The PoleStar System) (2000): SEI-Boston See http://www.tellus.org/
seib/publications/ps2000.pdf.
106
Literatur
Raskin, P. / G. Gallopín / P. Gutman / A. Hammond / R. Swart (1998): Bending the
Curve: Toward Global Sustainability. Stockholm, Sweden: Stockholm Environment Institute. PoleStar Series Report No. 8. See http://www.gsg.org.
Reinicke, W. / F. Deng / T. Benner / J. Gershman / B. Whitaker (eds.) (2000): Critical
Choices: The United Nations, Networks, and the Future of Global Governance.
Ottawa: IDRC.
Renner, M. (1994): Budgeting for Disarmament: the Costs of War and Peace.
Worldwatch paper 122. Washington D.C.: Worldwatch.
Robinson, J. / J. Tinker (1996): Reconciling Ecological, Economic and Social Imperatives: Towards an Analytical Framework. Vancouver: Sustainable Development Research Institute (UBC).
Sales, K. (2000): Dwellers in the Land. The Bioregional Vision. Athens, GA: University of Georgia Press.
Schumacher, E. F. (1972): Small is Beautiful. London: Blond and Briggs.
Smith, A. (1776) (1991): The Wealth of Nations. Amherst, NY: Prometheus.
Speth, G. (1992): The transition to a sustainable society, Proc. Natl. Acad. Sci. USA
89: 870–872.
Sunkel, O. (2001): La Sostenibilidad del Desarrollo Vigente en America Latina. In:
Comisión Sudamericana de Paz, Seguridad y Democracia. América Latina en el
siglo XXI. De la esperanza a la equidad. Mexico D.F.: Fondo de Cultura Económica.
Thompson, P. (1993): The Work of William Morris. Oxford: Oxford University Press.
UNDP (United Nations Development Program) (2001): Human Development Report
2000. Oxford: Oxford University Press.
UNFCCC (United Nations Framework Convention on Climate Change) (1997):
Kyoto Protocol to the United Nations Framework Convention on Climate Change. See http://www.unfccc.de.
UNPD (United Nations Population Division) (2001): World Population Prospect. The
2000 Revision. Highlights. NY: United Nations.
Van Parijs, P. (2000): A Basic Income for All. Boston Review. See http://bostonreview.mit.edu/BR25.5/vanparijs.html.
Watson, R. T. / J. A. Dixon / S. P. Hamburg / A. C. Janetos / R. H. Moss (1998): Protecting Our Planet, Securing our Future: Linkages Among Global Environmental
Issues and Human Needs. Washington, D.C.: UNEP/USNASA/World Bank.
WCED (World Commission on Environment and Development) (1987): Our Common Future. Oxford: Oxford University Press.
107
„Great Transition“ ist ein bahnbrechendes Buch, das neues Licht auf eine nachhaltige Zukunft wirft. Die Wurzeln, aus denen sich die Gegenwart entwickelt hat, die derzeitigen Umbrüche, die Gefahren, die die Zukunft birgt, aber auch Alternativen zu den
zerstörerischen Tendenzen werden beschrieben und vor allem ein bestimmter Lösungsweg genauer unter die Lupe genommen. Dieser verlangt eigene Strategien, Katalysatoren des Wandels und globale Werte. Die planetarische Phase der Geschichte ist angebrochen, obwohl sich ihre Gestalt bislang nur äußerst verschwommen abzeichnet. Die weitere Entwicklung kann auf totale Verarmung der Erde hinauslaufen,
gleichgültig, ob man den Besitzstand der Menschen, die kulturelle Ebene oder die
Natur betrachtet. Oder sie kann zu einer Bereicherung führen, zu mehr Solidarität
unter den Menschen und zu ökologischer Nachhaltigkeit. Die Autoren liefern eine beunruhigende Einschätzung: Die Welt steht am Scheideweg und weitermachen wie bisher wäre ebenso gefährlich wie der Weg in eine nachhaltige Zukunft ungewiss und
problematisch erscheint. Aber noch ist eine grundsätzliche Umorientierung möglich.
Ein neues Paradigma der Nachhaltigkeit erreicht die fortschrittlich gesinnten Bürgerinnen und Bürger, erreicht Regierungen, internationale Organisationen und die Wirtschaft. Zusammen könnten sie auf eine alternative Form der Globalisierung hinwirken,
die sich auf Lebensqualität, menschliche Solidarität, Schutz der natürlichen Umwelt
und das Ideal einer informierten, engagierten Gesellschaft konzentriert.
Institut für
sozial-ökologische
Forschung (ISOE)
Hessische Landesstiftung der Heinrich-Böll-Stiftung e.V.

Documents pareils