Wortprotokoll - Abgeordnetenhaus von Berlin

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Wortprotokoll - Abgeordnetenhaus von Berlin
17. Wahlperiode
Plenar- und Ausschussdienst
Öffentliche Sitzung
Wortprotokoll
Ausschuss für Bildung,
Jugend und Familie
70. Sitzung
21. April 2016
Beginn:
Schluss:
Vorsitz:
13.02 Uhr
15.53 Uhr
Renate Harant (SPD)
Punkt 1 der Tagesordnung
a) Aktuelle Viertelstunde
Siehe Inhaltsprotokoll.
b) Bericht der Senatorin aus der Kultusministerkonferenz bzw. der Jugendministerkonferenz
Entfällt.
Vorsitzende Renate Harant: Wir sind bei
Punkt 2 der Tagesordnung
a) Besprechung gemäß § 21 Abs. 3 GO Abghs
Schulen vor dem Scheitern – wie lässt sich das Ruder
an Schulen mit extrem hohen Abbrecherquoten herumreißen?
(auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen)
Redaktion: W. Schütz, Tel. 2325-1461 bzw. quer 99407-1461
0300
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b) Besprechung gemäß § 21 Abs. 3 GO Abghs
Ursachen und Hintergründe der steigenden Zahl an
Schulabgängern ohne Abschluss
(auf Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der
CDU)
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Hierzu: Anhörung
Ich begrüße die bereits anwesenden Anzuhörenden ganz herzlich. Herr Brunswicker wird
etwas später kommen, wurde mir gerade gesagt. Deswegen begrüße ich erst einmal Frau Andrea Franke, sie ist Schulleiterin der Willy-Brandt-Oberschule in Berlin-Mitte. Ich begrüße
ebenfalls sehr herzlich Frau Angelika Jurczyk, Schulleiterin der Anna-Seghers-Schule in Berlin-Adlershof, und Herrn Detlef Pawollek, er ist Schulleiter der Röntgen-Schule in BerlinNeukölln. Herzlich willkommen! Vielen Dank, dass Sie sich so kurzfristig die Zeit genommen haben! – Sie haben von Herrn Pawollek im Vorfeld per E-Mail eine umfangreiche
schriftliche Stellungnahme bekommen. – Ich bedanke mich bei Ihnen dafür. – Des Weiteren
gehe ich davon aus, dass wir ein Wortprotokoll brauchen. – Auch dazu besteht Einverständnis. Dann frage ich, ob es eine Begründung des Besprechungsbedarfs zu Punkt 2 a) durch die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geben wird. – Frau Remlinger, bitte!
Stefanie Remlinger (GRÜNE): Vielen Dank! – Nur ganz kurz: Ich möchte vor allem betonen, dass es mich freut, dass wir ein Thema gefunden haben, das uns alle sehr interessiert,
dem wir nachgehen wollen. Ich freue mich, dass Sie hier sind. Es ist ein bisschen bedauerlich,
dass der von uns eingeladene Anzuhörende noch nicht da ist, umso mehr freue ich mich, dass
Sie da sind, und will sagen, dass wir ein großes Interesse haben, sowohl die innerschulischen
als auch die die Unterrichtsformen angehenden Aspekte zu beleuchten. Der Begriff „Schuldistanz“ sollte aus unserer Sicht nicht nur aus dem Umfeld erklärt werden, aber selbstverständlich sollten auch die Umfeldfaktoren Elternarbeit, Sozialdaten usw. mitbetrachtet werden. Wir
haben nicht die vorgefertigte Meinung, dass es diese drei Stellschrauben sind, die wir drehen
müssten, und dann wäre alles gut, sondern wollen Ihnen ernsthaft zuhören, was für Empfehlungen Sie uns aus Ihrer schulischen Praxis mitgeben können.
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Frau Remlinger! – Es gibt auch eine Begründung zum
zweiten Punkt. Herr Oberg, bitte!
Lars Oberg (SPD): Ich möchte gern zur Begründung zunächst mal den Blick zurück wagen.
Wir haben, als wir die Schulstrukturreform vor einigen Jahren in Kraft gesetzt haben, auch ein
sehr ehrgeiziges Ziel formuliert als damalige rot-rote Koalition, die sich mit dieser Schulstrukturreform verbunden hat, nämlich die Zahl der Schulabbrecher deutlich zu reduzieren,
am liebsten natürlich auf null zu senken. Wie wir wissen, entwickeln sich die Zahlen nicht in
diese Richtung und verharren – in manchen Jahren mit einem gewissen Ausschlag nach oben
– auf sehr hohem Niveau. Wir haben also viel zu viele junge Menschen, die ohne jeden Abschluss die Schule verlassen. Das sind tausende individuelle Bildungskatastrophen, aber natürlich auch etwas, was wir im Gesamtsystem nicht akzeptieren können. Deswegen möchten
wir gern darüber diskutieren, was die Ursachen sind, die vor Ort eine Rolle spielen, aber auch,
welche Strategien man dagegen entwickeln kann. Einfache oder schnelle Antworten – da
stimme ich Frau Remlinger zu – kann es dazu nicht geben. Niemand von uns hat die drei
Stellschrauben in der Tasche, an denen wir einfach drehen, und dann ist das Problem besei- stz/vo -
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tigt. Wir würden aber gern versuchen, in der Diskussion untereinander – dazu können wir Sie
befragen, auch wenn es nicht aus Ihrer schulischen Praxis kommt – den Blick ein bisschen zu
weiten, denn jüngste Ergebnisse zeigen, dass es einen gravierenden Unterschied zwischen den
Bundesländern gibt, was die Zahl der Schulabbrecher angeht.
Es ist so, dass offenbar die regionale Herkunft eine große Rolle spielt. Es sind die ostdeutschen Bundesländer, alle sechs, die da weit vorne liegen. Das ist ungewöhnlich, weil sie sich
strukturell doch deutlich voneinander unterscheiden. Z. B. ist die Anzahl der Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache in Berlin hoch, in den anderen ostdeutschen Bundesländern aber
sehr niedrig. Also was für Ursachen sind es, die darüber hinausgehen? Warum gibt es derartige Unterschiede? Was kann man ggf. von anderen Bundesländern lernen? Uns ist es sehr
wichtig, das auch mit der Praxis in den Schulen rückzukoppeln, weil Sie ein Gefühl dafür
haben: Was läuft bei Ihnen wie, und wo könnten wir Sie mehr unterstützen? Sie kennen auch
die Kinder, bei denen es am Ende darauf hinausläuft, dass sie keinen Schulabschluss haben.
Das ist immer verbunden mit der Frage: Wo fängt es eigentlich an schiefzulaufen? Zu welchem Zeitpunkt müssen wir spätestens intervenieren, damit das noch ein gutes Ende nimmt?
Das sind sehr viele Fragen, es ist auch ein sehr emotionales Thema, weil wir wissen, dass es
für viele Kinder entscheidend ist für den gesamten weiteren Lebensweg, ob es gelingt, einen
Schulabschluss zu machen oder nicht. Deswegen kommt uns da auch eine große politische
Verantwortung zu.
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Herr Oberg! – Ein gutes Ende ist also ein Schulabschluss in diesem Zusammenhang. – Frau Bentele möchte gern auch noch begründen.
Hildegard Bentele (CDU): Es geht in die gleiche Richtung, wie Herr Oberg es angedeutet
hat. Ich denke auch, die Sorge um die gleichbleibend oder teilweise auch leicht steigenden
Zahlen, was die Schulabbrecher ohne Schulabschluss angeht, vereint uns alle. Noch einmal
zurückgehend auf die Schulstrukturreform, weshalb wir es nach sechs Jahren noch einmal
aufrufen wollen: Die Idee oder die große Erwartung, die damit verbunden war, war ja, lernschwächere mit lernstärkeren Schülern zusammenzubringen und dann ein neues Lernumfeld
zu schaffen, um bessere Ergebnisse zu bekommen, indem der eine den anderen mitzieht und
motiviert. Das ist bisher nicht aufgegangen, und wir müssen uns nach den Gründen fragen.
Ich höre sehr oft: Eigentlich waren die Bedingungen an den Hauptschulen gar nicht so
schlecht. Wir hatten viel kleinere Klassen, wir konnten uns viel intensiver um die Kinder und
Jugendlichen kümmern. Das ist weggefallen durch die ISS. – Mich würde interessieren, wie
Sie das sehen, ob man das durch Teilungsstunden oder Sonstiges wieder auffangen kann oder
ob da wirklich ein grundsätzliches Problem liegt. Wir haben ja auch erlebt, dass die Anforderungen an den MSA noch einmal abgesenkt wurden. Also daran kann es auch nicht liegen.
Wir sind in Erklärungsnot, und deshalb freue ich mich, dass wir heute mit Ihnen dreien bzw.
nachher vieren das Thema diskutieren können, sodass wir einen Weg finden, wie wir da Verbesserungen schaffen.
Vorsitzende Renate Harant: Das Thema bewegt uns alle sehr und ist ein sehr wichtiges
Thema. Nachdem Herr Brunswicker noch nicht da ist, würde ich sagen, wir fangen bei Herrn
Pawollek an und gehen dann rüber auf die andere Seite. – Sie wissen, so grob fünf Minuten
Eingangsstatement, es wird dann sicherlich viele Nachfragen geben, auf die Sie Antworten
geben können. – Herr Pawollek, bitte!
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Detlef Pawollek (Röntgen-Schule): Vielen Dank! – Ich bin vorher schon gebrieft worden,
dass ich fünf Minuten Redezeit habe, um etwas zu Ihrem Anliegen zu sagen. Ich werde es
versuchen, ich werde auch versuchen, die Dinge, die Sie kurz angesprochen haben, zu berücksichtigen. Ich will nur eine grundsätzliche Sache vorweg sagen: Der Blick verengt sich in dieser Frage immer sehr stark auf Schule, weil Schule natürlich die Instanz ist, die die Abschlüsse vergibt. Worüber wir hier aber reden, ist meines Erachtens kein rein schulisches Problem,
sondern ein gesellschaftliches Problem. Schule hat diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus meiner Sicht nicht zu verantworten, sie hat damit umzugehen. Die Schulstrukturreform war der richtige Schritt. Ich glaube, es gibt wenige, die die Meinung vertreten, dass die
Hauptschule mit der geringeren Frequenz der bessere Weg gewesen wäre. Das dreigliedrige
Schulsystem war tot. Es gab allerdings sehr viele Bemühungen und Projekte, auch gute, Bewegungen, die aus der Hauptschule heraus entstanden sind, natürlich aus der Not heraus, denn
die Situation an der Hauptschule war eine ganz andere, als sie jetzt an der Sekundarschule ist,
weil sich dort die Probleme sehr stark konzentriert haben.
Die Sekundarschule ist von daher auf jeden Fall ein Erfolg. Das, was vor Kurzem in einem
Artikel im „Tagesspiegel“ zu lesen war, dass Ganztagsschulen zwar nicht vom Leistungsbild
her den gewünschten Erfolg bringen, aber klimatisch betrachtet schon, trifft auf die Sekundarschule auch zu. Ich glaube, es wird einfach im Wert unterschätzt, dass das eine hohe Bedeutung hat. Wenn ich sage, dass die Sekundarschulen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht zu verantworten haben, sondern mit ihnen umgehen müssen, dann meine ich damit
Folgendes: Wenn Sie sich den Neuköllner Sozialbericht anschauen, die Angaben, die dort
gemacht werden über Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, Armut, die Zahl der Kinder,
die nicht eingeschult werden, weil sie die Voraussetzungen nicht erfüllen, die Zahl der Kinder
mit Behinderungen, dann kann man das als höchst dramatisch betrachten. Wenn man sich das
noch einmal vor Augen hält im Vergleich zu dem, was die Entwicklung in diesem Bezirk,
insbesondere in Nord-Neukölln, abbildet, allein die Zunahme der Kinder an den Schulen, die
lernmittelbefreit sind – in den letzten acht Jahren ist es ein Zuwachs von 33 Prozent auf
55 Prozent –, dann sagt das etwas über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus. Wenn
dann noch hinzukommt, dass vor ca. vier, fünf Jahren die erste Welle der Auswanderer aus
Osteuropa auch schwerpunktmäßig in Neukölln ankam und sich dort bereits die ersten Schulen mit den sogenannten Willkommensklassen auseinandersetzen mussten und durften und
dies die Generation ist, die jetzt nach und nach schon die Schulen verlässt, häufig auch ohne
Abschluss, dann ist es vor dem Hintergrund nicht verwunderlich, dass wir im Moment Zahlen
haben, die vielleicht ein wenig erschrecken. Ich warne davor, dass sich der Blick ausschließlich auf den Schultyp verengt, denn ich bin nicht der Meinung, dass der Schultyp dafür verantwortlich ist, sondern – ich wiederhole mich – es sind die Rahmenbedingungen.
Es gibt im Umkehrschluss – das war auch die erste Frage – sicherlich Schulen, die nicht den
Erwartungen entsprechen, sogenannten Turnaround- oder Brennpunktschulen, aber auch da
müsste man den Blick ein bisschen schärfen und gucken, unter welchen Voraussetzungen
diese Schulen auch vor vier, fünf Jahren gearbeitet haben. Die Schulstrukturreform hat nicht
alles zum Besseren gewendet, vieles hingegen aber schon. Die Schulen, die keine Oberstufe
haben, sind gegenüber den Sekundarschulen, die eine haben, klar im Nachteil, und die Schulen, die im Rahmen der Fusion aus ihrem eigenen Schultyp als Hauptschule heraus Sekundarschulen werden mussten, haben es ganz besonders schwer. Wenn es also in Berlin ca. 10, 20 –
ich kenne die genaue Zahl nicht – Schulen gibt, die es besonders schwer haben, ist es nicht
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selten der Fall, dass sie früher Hauptschulen waren oder sich an einem Standort befanden, wo
auch schon damals die Situation als prekär zu bezeichnen war.
In der Zusammenfassung würde ich sagen – dann können Sie gern Fragen stellen –, es ist keine Frage des Schultyps, sondern eine Frage der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die
sich aus meiner Sicht zunehmend verschärfen, insbesondere in gewissen Regionen der Stadt,
und auf die die Schulen, auch wenn sie mehr Personal und mehr Ausstattung hätten, nicht in
der Art und Weise adäquat reagieren können, wie Sie das erwarten oder sich wünschen. Mein
Schluss ist, dass mit der Zunahme der Alimentierung wiederum die Bereitschaft der Familien
und der Schüler abnimmt, wenn milieubedingt prekäre Verhältnisse vorliegen, einen Abschluss zu erreichen. Das sehen wir daran, dass all die Angebote niedrigschwelliger Art, die
wir machen, um die Kinder zu einem Abschluss zu führen, in jedem Fall ausreichen müssten,
um das Minimalziel, die Berufsbildungsreife, zu erreichen. Unsere Erfahrungen sind, dass
allerdings deren Bereitschaft, diesem Weg zu folgen, damit einhergeht, dass sie dann noch
zusätzlich in ihrer Leistungsbereitschaft nachlassen. Aus meiner Sicht ist ein wesentlicher
Grund darin zu sehen, dass die innerfamiliären Verhältnisse uns da in unserer Arbeit und im
Erfolg deutlich behindern. – Danke! Jetzt können Sie gern Fragen stellen.
Vorsitzende Renate Harant: Nein, wir machen es so, dass erst mal jeder sein Statement abgibt, dann gibt es eine Runde in den Fraktionen, und dann kommen Sie wieder dran und können die Fragen beantworten. – Als Nächstes dann bitte Frau Jurczyk.
Angelika Jurczyk (Anna-Seghers-Schule): Schönen Dank für die Einladung! Ich war etwas
irritiert, als ich das Thema gelesen habe, bin dann aber im Gespräch aufgefordert worden,
einfach mal zu resümieren und darzustellen, wie unser Ergebnis zustande kommt. Wir schaffen es seit mehreren Jahren, dass alle Schülerinnen und Schüler im Jahrgang 10 mit einem
Abschluss die Schule verlassen. Es war für uns ganz interessant, darüber nachzudenken: Wie
schaffen wir das eigentlich? Das ist so ein Punkt, wo man mal resümiert und darüber nachdenkt.
Zur Schule: Wir sind eine Gemeinschaftsschule. Vor acht Jahren haben wir uns mit dem
Schulversuch Gemeinschaftsschule beschäftigt, haben uns dann daran beteiligt und sind jetzt
im achten Jahr, also die ersten Klassen, mit denen wir angefangen haben, sind jetzt im
8. Jahrgang. Wir haben eine gymnasiale Oberstufe, das heißt, ich habe Schülerinnen und
Schüler von der 1. Klasse bis zum Abitur. Wir haben in unserem Gebiet Adlershof eine sehr
hohe Nachfrage nach Schulplätzen. Wir haben eine dreizügige Grundstufe und eine vierzügige Sekundarstufe I, in der gymnasialen Oberstufe diesmal, hoffentlich einmalig, fünf
11. Klassen. Das wird hoffentlich weniger werden in den nächsten Jahren, weil es mehr gymnasiale Oberstufen in unserem Bezirk gibt. Also von der Schülerzahl her sind es 1 200 Schüler für die gesamte Schule, das verteilt sich aber wunderbar.
Die Frage ist natürlich: Was haben wir gemacht? Warum ist es uns gelungen, alle Schüler mit
im Boot zu haben und sie am Ende auch zu befähigen, einen Schulabschluss zu bekommen? –
Wir haben nur noch eine sehr geringe Anzahl an Schülerinnen und Schülern, die schuldistanziert sind. Wir haben also sehr wenige Schülerinnen und Schüler, die unentschuldigt der
Schule fernbleiben. Das hat damit zu tun, dass wir das System der Schule verändert haben.
Wir sind umgestiegen auf Teamarbeit, auf Jahrgangsarbeit, das heißt, wir haben kleine Teams
gebildet um die Klassen, um die Jahrgänge herum, die sehr intensiv und sehr nah an den
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Schülern sind, sodass sofort Reaktionen stattfinden können, wenn es Probleme im Umfeld
gibt, wenn es häusliche Probleme gibt. Die Tatsache, dass wir die Schüler bereits ab Klasse 1
kennen, macht das Arbeiten mit dem Elternhaus wesentlich einfacher. Man kann also bestimmte Problemfelder, die sich sehr zeitig zeigen, sehr intensiv miteinander bearbeiten, kann
die entsprechenden Institutionen mit ins Boot holen und somit langfristig auf bestimmte Aufgaben aufmerksam machen. Die Eltern wissen, sie haben in uns als Schule einen verlässlichen
Partner, der auch an ihrer Seite steht. Das ist der eine Punkt.
Das andere ist, dass wir uns überlegt haben, diese Durchgängigkeit von Klasse 1 bis 10 zumindest erst mal – ich will von dem anderen gar nicht sprechen – so zu gestalten, dass wir
diesen Übergang von Klasse 6 nach Klasse 7 anders für uns strukturiert haben. Wir führen
diesen Übergang mit unseren Schülern schon in Klasse 5 durch, das heißt von Klasse 4 nach
Klasse 5 ist dieser sachte Übergang in die Oberstufe. Wir haben jetzt drei Jahre diesen Übergang von Klasse 6 nach Klasse 7. Es verbleiben zwischen 95 und 99 Prozent meiner Schülerinnen und Schüler aus der Klasse 6 an der Schule, das heißt, auch die Anzahl der Schüler, die
ich zusätzlich aufnehme, ist sehr gering. Es ist eine Klasse, also 25 bis 30 Schüler, da pegelt
sich das immer so ein. Die Nachfrage ist doppelt so groß. Für die Eltern ist es schwierig,
überhaupt noch nachzufragen oder zu wagen, sich anzumelden, weil sie wissen, es ist sehr
schwer, in dem Verfahren überhaupt einen Platz zu bekommen. Durch diese Vermischung
von Grundstufe und Sekundarstufe I schon in den Klassen 5 und 6 fällt es natürlich leichter,
auf die Schüler, auf die einzelnen Persönlichkeiten einzugehen. Wir haben bestimmte Strukturen geschaffen, die Schüler bereits da sehr frühzeitig zu fördern. Wir haben zusätzliche Lernzeiten eingebaut, und wir beginnen in Klasse 7, weiterführend in Klasse 8, mit der Berufsorientierung. Wir führen Praktika durch, wir führen die Schüler an die Berufswelt heran, gucken
aber auch, wie der Übergang in die gymnasiale Oberstufe stattfindet.
Also wir haben uns mit diesem Schulversuch insgesamt in der Schule umstrukturiert und haben für uns nach Ausprobieren, nach Probephasen Institutionen und bestimmte Dinge gefunden, die für die Schüler und die Eltern sinnvoll sind, sodass sie das Gefühl haben, sie sind gut
aufgehoben und werden entsprechend gefördert. In den Klassen 9 und 10 findet eine sehr intensive Vorbereitung auf die Prüfungen statt – entsprechend dem Niveau. Es ist vorhin gesagt
worden, dass an der Schule ja Schülerinnen und Schüler unterschiedlichsten Klientels zusammenkommen. Das ist bei uns natürlich genauso. Ich habe nicht nur Schüler, die einen hohen Anspruch haben, bei denen man also davon ausgeht, dass sie Abitur machen wollen. Ich
habe auch die Schüler mit dem Förderbedarf Lernen, ich habe die Schüler mit sozialemotionalem Förderbedarf. Wir haben das sogenannte – das werden Sie sicherlich alle kennen – Tischgruppenmodell, das heißt, vier Schüler arbeiten miteinander in einer kleinen
Gruppe und sind sehr heterogen zusammengestellt. Also lernen sie sehr zeitig, miteinander zu
arbeiten, voneinander zu lernen und miteinander umzugehen. Ich habe gestern noch einmal
mit einer Teamleiterin gesprochen, die hat gesagt: Unsere Schüler fühlen sich in der Schule
wohl. Sie werden, egal wie sie sind, in der Klasse immer aufgenommen, und sie sind immer
ein Glied dieser Klasse. – Das Schlimmste, was ein Schüler machen kann, ist, nicht zur Schule zu kommen, denn das ist das, was die Mitschüler nicht verstehen, und das tolerieren sie
auch nicht. Sie können auffällig sein, sie können mal stören, das wird von den anderen toleriert, damit geht man gut um, aber wenn sie nicht kommen – das ist das, was die anderen einfach nicht wollen, was sie nicht tolerieren, und damit können sie dann auch nicht umgehen. Es
ist eine andere Form der Schule, die wir für uns gefunden haben. Das ist schwer zu vergleichen. Die Bedingungen, die wir haben, sind natürlich auch noch mal ein bisschen anders. In- stz/vo -
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sofern: Fragen Sie! Ich könnte jetzt eine Stunde über die Schule reden, sicherlich auch sehr
emotional, weil es auch ein Stück Geschichte ist, das von mir mitgeschaffen wurde. Es ist
einfach der Versuch, Schule auch ein Stück anders zu leben.
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Frau Jurczyk! Man spürt die Begeisterung, aber wir
müssen hier immer versuchen, uns kurz zu fassen. – Frau Franke, bitte schön!
Andrea Franke (Willy-Brandt-Oberschule): Ich bin neue Schulleiterin der Willy-BrandtOberschule im Wedding. Das ist ein Brennpunktbezirk, im Sozialraum natürlich auch. Ich
habe nicht, wie die meisten anderen Schulen, einen geringen ndH-Anteil, sondern bei mir
liegt er bei 90 Prozent, der Lmb-Anteil, also Lernmittelbefreiung, auch bei 90 Prozent. Es
sind ganz viele Sozialhilfeempfänger. Eigentlich passt das genau zu Ihrem Thema heute.
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Ich habe 480 Schüler, 18 Regelklassen, drei Willkommensklassen, darunter eine Alphabetisierungsklasse. Die personelle Ausstattung liegt im Moment bei annähernd 100 Prozent. Also,
ich kann jetzt nicht sagen, dass es an der personellen Ausstattung liegt, dass die Schule noch
keine wirklichen Erfolge vorzuweisen hat.
Der Misserfolg, mit dem ich an dieser Schule gestartet bin, war, dass 77 Prozent der Schülerinnen und Schüler des 9. Jahrgangs keinen BBR-Abschluss geschafft hatten. – Das ist genau
das Thema, das Sie interessiert. – Bei der aktuellen Datenlage von VERA 8 sieht es deutlich
besser aus, aber das würde ich jetzt nicht unbedingt bestimmten Problemlösungsstrategien der
Schule zuweisen.
Als ich angefangen habe, habe ich dem Kollegium folgende Frage gestellt: Was haben Sie
denn nach den letzten Ergebnissen, die so schlecht waren, bei sich verändert? Das Ergebnis
war eine gähnende Leere, und es wurde damit argumentiert: Die Schüler sind so schlecht, der
Sozialraum ist schwierig usw. Dann habe ich gesagt: Na ja, wir haben doch aber 100 Prozent
personelle Ausstattung. – Ich habe übrigens eine Überausstattung an Schulsozialarbeitern, ich
habe sonderpädagogische Lehrkräfte. Ich habe also alles, was das Herz begehrt, bloß anscheinend die falschen Schüler. Diese Schüler gibt es aber überall.
Ich als Schulleiterin habe die Verantwortung übernommen, und zwar ganz bewusst für das
Ergebnis dieser Schule. Ich habe die Verantwortung für die Strategieentwicklung übernommen, für die Zielfindung und für die Führung der Schule. Es laufen keinerlei Strategien nicht
über meinen Tisch, und bevor ich mit meinem Kollegium in eine Sitzung gehe, habe ich im
Grunde genommen das Ergebnis schon vorher auf dem Blatt Papier zusammenkonstruiert,
und nur so hat es wirklich funktioniert.
Verantwortung übernehmen von Schulleitung: Ich wünsche mir – damit Sie auch ein bisschen
Potenzial für Fragen haben – kreative Teams, Schulleitungen, die sich in Berlin zusammentun – vielleicht ISS-Schulen, wie es sie auch bei den Gemeinschaftsschulen gibt –, ein Netzwerk, in dem wir mit kreativen Köpfen zusammensitzen und sagen: Wir lösen das Problem
gemeinsam. Es geht nicht darum, zu sagen, oh, ich bin eine übernachgefragte Schule – ich bin
es übrigens nicht, aber ich arbeite daran, dass ich es werde, auch mit dem Schülerklientel. Ich
bin nach etwa einem halben Jahr zur Schulaufsicht gegangen und habe ihr einen konkreten
Ziel- und Maßnahmenplan vorgelegt. Und das erwarte ich auch von Schulaufsicht. Meine
Schulaufsicht unterstützt mich da ganz hervorragend. Sie stärkt mir den Rücken, geht mit mir
in den Diskurs, und ich habe das von mir aus gemacht. Ich habe einfach gesagt: So, das ist
mein Plan, denn so kann es nicht weitergehen. Das ist mein Ergebnis. Ich habe die Verantwortung dafür, und natürlich auch das Kollegium und der Rest der Beteiligten.
Was mich ein bisschen ärgert, ist die Durchlässigkeit in der ISS. Das habe ich mehr oder weniger – na ja, ob das legal oder illegal ist, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren – aufgeweicht. Durchlässigkeit in der ISS bedeutet, auch im gesamten Schulsystem: Ich kann von
Klasse 1 bis 10 durchwandern, ohne auch nur irgendetwas von Bildungserfolg mitbekommen
zu haben. Das war bei mir der Fall. Ich habe das geändert und gesagt: Meine lieben Leute!
Wie kann es denn sein, dass ein Schüler in der 7. Klasse sitzt und dann mit fünf oder sechs
Fünfen oder einem noch schlechteren Zeugnis in die 8. Klasse aufrutscht? Wir werden jetzt
die Eltern dementsprechend beraten und ihnen sagen: Meine Lieben! So geht es nicht! a) Es
hat bitte ein ständiger Schulbesuch zu erfolgen. b) Wenn die Leistungen noch nicht entspre- stz/sth -
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chend sind, dann müssen wir sie einfach dorthin bringen, und dann muss das betreffende Kind
– von wegen heterogene Lerngruppen – eben ein Jahr länger verbleiben.
Weiterhin ist ein konsequenter Umgang mit Schuldistanz erforderlich – ich bitte Sie, ein bisschen darüber nachzudenken. Bei der dritten Schulversäumnisanzeige bekommen bei mir Eltern endlich mal den Brief, sie müssten finanziell bluten. Wenn Sie alle einen Parkplatz suchen, aber den falschen Parkplatz gewählt haben, dann bekommen Sie sofort ein Knöllchen,
für das Sie zwischen 10 und 30 Euro bezahlen müssen. Warum ist das bei Eltern, die ihre
Kinder nicht in die Schule schicken, nicht auch so? Wissen Sie, wie lange es braucht? Nach
meinen ersten Schülerakten, die ich aufgeschlagen habe, war es doch tatsächlich notwendig,
dass drei Schulversäumnisanzeigen erst einmal geschrieben worden sind, über eine Zeitspanne von zwei bis drei Jahren. Erst dann, in der 9. oder 10. Klasse, kam es dazu, dass die Eltern
das erste Mal tatsächlich ein Bußgeld aufgedrückt bekommen haben. Wenn meine Kinder und
meine Eltern dazu veranlasst werden, Bußgeld zu zahlen, dann können Sie sich bei 90 Prozent
Lmb vorstellen, wie viel die zahlen, nämlich so gut wie gar nichts.
Ich bin jetzt bereits eine halbe Minute über der Zeit. – Noch ganz kurz: Ich verstehe auch
nicht, warum Siebtklässler, die in der 7. Klasse am Gymnasium das Probejahr nicht schaffen,
für ihren Misserfolg im 7. Jahrgang des Gymnasiums belohnt werden und bei mir in die
8. Klasse kommen. Das ist mir ein Rätsel. Das würde ich gern verhindern, aber es ist, wie es
ist.
Ich komme eigentlich nicht aus der Schulleitung und war nicht schon jahrelang Schulleiterin,
was Sie sich vielleicht anhand meines Alters ausrechnen können. Ich komme eigentlich aus
der Unterrichtsentwicklung. Das bedeutet für mich: Es steht und fällt mit der Qualität des Unterrichts. Ich habe Doppelsteckungen und meinen Kollegen gesagt, dass ich ihnen auch vier
Kollegen in eine Gruppe von 25 Schülerinnen und Schülern gebe, aber ich garantiere ihnen
keinen höheren Bildungserfolg, und genauso ist es. Die Qualität des Unterrichts ist das absolute A und O. Ich gehe als Schulleiterin mittlerweile in die Klassenräume meiner Kollegen,
ich erwarte offene Türen, hospitiere, gehe mit ihnen in den Diskurs über guten Unterricht, und
sie müssen sich mit mir auseinandersetzen. Sie müssen mir Klassenarbeiten vorlegen und sagen, wenn die schlecht waren. Ich frage dann: Was ist denn Ihr nächster Schritt, um die Schüler zu mehr Lernkompetenz zu bringen? Sie können sich vorstellen, dass die das natürlich gar
nicht mögen, und Sie würden es mit Sicherheit auch nicht mögen, wenn man Sie vorladen und
Ihnen sagen würde: So, jetzt sagen Sie mal, was Sie jetzt weiter machen, damit das besser
wird! – Ich glaube, es steht und fällt mit guten Schulleitungen und Unterrichtsqualität, die –
so, wie die Lehrkräfte in Berlin ausgebildet werden – noch viel Entwicklungspotenzial hat. –
Danke! – [Beifall] –
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Frau Franke! Sie haben einige Abgeordnete direkt auf
ihr Lieblingsthema angesprochen. – Im Nachhinein begrüße ich Herrn Brunswicker! Schön,
dass Sie es noch geschafft haben. Wir haben schon mal angefangen, aber Sie haben jetzt die
Möglichkeit, Ihr Statement vorzutragen. Bitte schön!
Klaus Brunswicker (ehemals Sophie-Scholl-Schule): Schönen Dank! – Ich vermute, dass
viele Dinge bereits angesprochen worden sind und möchte mich jetzt nicht wiederholen. Ich
kann ein bisschen aus der Erfahrung von Schulentwicklungsbegleitung in einer ISS in Kreuzberg beisteuern. Das knüpft ein wenig an das an, was Frau Franke angesprochen hat. Es gibt
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das Projekt „Turnaround“, das gemeinsam mit der Robert-Bosch-Stiftung und der Senatsverwaltung läuft, das noch nicht abschließend ausgewertet ist. Dessen Ergebnis konnte zwar
noch nicht evaluiert werden, aber es lässt sich durchaus feststellen: Insgesamt sind damals
zehn Schulen identifiziert worden, die eine besondere Problemlage hatten. Die Schulentwicklungsbegleitungen treffen sich regelmäßig, tauschen sich aus, welche Entwicklung die Schulen genommen haben, sowohl was die positiven als auch die negativen und verharrenden
Entwicklungen angeht. Dabei ist eines deutlich geworden, nämlich die Rolle der Schulleitung,
die bereits von Frau Franke angesprochen worden ist. Wenn die Schulen eine neue – manchmal muss es eine neue sein, nicht immer –, engagierte und kreative Schulleitung hat, die das
Problem erkennt und nicht in Resignation verharrt, dann ist das ein großes Plus. Sie müssen
dazu aber auch teamfähige Schulleitungen haben, die tatsächlich die Verantwortung für die
Kinder übernehmen. Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, zu sagen, die Schüler sind so, und
wir können gar nicht – –, sondern man muss überlegen, ob an den Strukturen der Schule und
der Art des Unterrichts gearbeitet werden muss. Und man muss versuchen, das Kollegium ein
gutes Stück auf diesem Weg mitzunehmen, was ich für besonders wichtig halte. Das sind
zwar Allgemeinplätze, aber wir merken anhand der konkreten Analyse der Entwicklung an
den zehn Schulen, dass darin ein zentraler Punkt liegt.
Die Schulen müssen bei der Rekrutierung von erfahrenen Pädagogen unterstützt werden, die
unter Umständen auch schon an anderen Schulen Erfahrungen gesammelt haben. Es wäre
nicht so hilfreich, wenn an Schulen mit einer schwierigen Schülerschaft, mit einer schwierigen Schülerzusammensetzung nur Newcomer unterrichten. Es muss eine Offenheit für andere,
neue Lernformen entwickelt werden. Wenn eine Schule im Zuge der Schulstrukturreform aus
zwei Hauptschulen fusioniert worden ist, dann ist sicherlich auch bei der Lehrerschaft eine
gewisse Beharrungstendenz vorhanden, wenn es ältere Kolleginnen und Kollegen sind, was
die Unterrichtsformen anbelangt. Das kann man aber aufbrechen, wenn man als Schulleitung
Prozesse initiiert, wie zum Beispiel die Arbeit in Lernbüros oder im Bereich der MontessoriPädagogik und dergleichen mehr, da gibt es Ansätze. Das Ganze hängt damit zusammen, dass
man ein bisschen von einem defizitorientierten Blick auf die Schülerinnen und Schüler wegkommen, sondern gucken muss, was man aus diesem Potenzial noch herausholen kann, auch
wenn es schwierig ist.
Insbesondere finde ich es für die Schulen – darum geht es –, die am Abgrund stehen, wichtig,
dass sie offensiv an die Öffentlichkeit gehen, dass sie für ihre Schüler werben, ihre neuen
Schulkonzepte vorstellen und sich nicht zu schade sind, abends die Touren durch die Grundschulen zu machen. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, ohne Namensnennung: Es ist gelungen, eine
Schule, die zu Beginn dieses Prozesses nur noch 17 Anmeldungen hatte, inzwischen zu einer
übernachgefragten Schule zu machen, wo das erste Mal ein Auswahlverfahren stattfinden
musste. Das ist natürlich ein schöner Schnitt.
Jetzt komme ich auf eine Sache zu sprechen, die Herr Pawollek vorhin angesprochen hat,
nämlich auf die Oberstufe. Sie ist nicht allein seligmachend – auf gar keinen Fall! Es gibt ISS,
die auch ohne Oberstufe gute Arbeit leisten können, aber für die Herstellung der Heterogenität in der Schülerschaft und die Bereitstellung eines Klientels, das ein bisschen auch die anderen anspornt, müssen wir immer wieder die Frage diskutieren: Ist an diesen Schulen tatsächlich der Blick auf die mögliche Qualifizierung für das Abitur immer vorhanden? Daran wird
gearbeitet, da gibt es Konzeptionen, Vorstellungen und Modelle, aber das sollte man nicht als
Einziges in den Fokus nehmen, aber man sollte immer mitbedenken, dass das Auseinander- stz/sth -
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driften der ISS mit und ohne gymnasiale Oberstufe tatsächlich zu beobachten ist. – Damit
beende ich meine Ausführungen.
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Herr Brunswicker! – Bevor wir in die Fraktionsrunde
gehen, hat Herr Staatssekretär Rackles das Wort. – Bitte sehr!
Staatssekretär Mark Rackles (SenBildJugWiss): Vielen Dank! Ich mache es relativ kurz. –
Wichtig ist für uns als Senat – das hat Herr Pawollek zum Einstieg gesagt –, dass die Schulstrukturreform von dem Grundgedanken getragen wurde – das war das A und O –, dass sie
den Schulerfolg besser gewährleistet. Ich bin dankbar, dass der von der CDU benannte Sachverständige bestätigt, dass diese Entscheidung richtig war und wir keine Rückkehr zur Hauptschule wollen. Dass es innerhalb dieses Systems noch Probleme, notleidende Schulen, gibt, ist
völlig unstrittig. Nur das, was hier in einer Tonlage von den Grünen gefordert wurde, nämlich
„Schulen vor dem Scheitern, wie lässt sich das Ruder herumreißen?“, suggeriert sehr stark,
dass es die eine Lösung gibt, einen Knopf, ein Ruder, das man einmal dreht, und dann ist es
gut. Unsere Erfahrung ist – das zeigen auch die Stellungnahmen: Es gibt nicht das eine Rezept. Wir haben Schulen – Treptow-Köpenick ist ein Beispiel dafür –, wo wir mal in die Listen hineingeschaut haben: Da sind von den neun ISS fünf bei null bis ein Prozent Schulabbrecher, also ohne Schulabschluss. Das heißt, dort ist es fast perfekt, um nicht zu sagen perfekt.
Dann ist eine Schule dabei, die mit 23 Prozent ausreißt, und die beiden anderen Schulen haben fünf Prozent. Da stellt sich die Frage: Sind diese null, ein Prozent vom ndH-Faktor abhängig? – Frau Franke hat es als ersten Einstieg für Mitte betont. – Ist das der kausale Zusammenhang?
Die andere Frage ist: Warum gibt es trotzdem in Treptow-Köpenick Schulen, bei denen deutlich über 20 Prozent der Schüler/innen keinen Schulabschluss haben? Umgekehrt gibt es
Schulen, die eine hohe Anzahl von Willkommensklassen und eine hohe Anzahl von Kindern
mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben, die direkt in die Quote einfließen und die,
wenn Sie sie isoliert betrachten, zu 80, 90 Prozent keinen Abschluss machen. Also, es sind
mehrere Prozesse unterwegs, die man relativ differenziert beobachten muss. Es gibt keine
pauschale Antwort, und es gibt auch nicht das Ruder, das man in eine Richtung umwerfen
kann. Deswegen glaube ich trotzdem, dass es Sinn macht, sich mit dem Thema zu beschäftigen.
Was wir als Verwaltung machen? – Seit November letzten Jahres gibt es einen Prozess, bei
dem sich die Schulaufsichten und einige Schulleitungen in einem Arbeitsbündnis sind, bei
dem es darum geht, speziell diese Frage noch einmal quantitativ und qualitativ aufzubereiten
und die verschiedenen Facetten zu isolieren. Wir haben von allen ISS ungefähr zwei Dutzend
im Blick, wo wir sagen, da gibt es hohe Auffälligkeiten. Dabei liegt die Kepler-Schule ganz
oben. Die ist bekannt und hat eine relativ stabile Abbruchquote von fast 40 Prozent. Das ist
eine der Turnaround-Schulen. Andere Schulen konnten in kürzester Zeit erheblichere Veränderungen bewirken, das ist zum Teil Schulentwicklung, das ist zum Teil dem Neueinstieg von
Schulleitungen, der da zu beobachten ist, geschuldet, aber zum Teil liegt es auch an externen
Impulsen. Ich hatte am Montag ein Gespräch in der Gustav-Falke-Schule, die innerhalb von
wenigen Jahren über ein von vielen kritisch gesehenes Projekt zumindest einen Motivationsschub hatte. Sie ist von einer stark unternachgefragten Schule und einer Schule, die wir
schließen wollten, zu einer Schule geworden, die jetzt hochmotiviert arbeitet. Ich möchte Sie
nur dafür sensibilisieren: Das eine Rezept gibt es nicht! Wir werden uns die verschiedenen
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Phänomene jeweils ansehen müssen, aber ein tragender Faktor ist das, was Herr Pawollek am
Anfang sagte, nämlich, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die hier hineinragen,
zumindest jeweils mitbedacht werden müssen. Deswegen besagt die Fixierung auf die abstrakten Zahlen – 11 Prozent Schulabbrecher, 19 Prozent Schulabbrecher – für sich genommen noch nicht besonders viel. Jeder Prozentpunkt und jeder konkrete Fall ist ein Testat für
den Misserfolg des Schulsystems, das will ich nicht negieren. Die Aufgabe der Schule ist, die
Kinder zu einem Schulabschluss zu bringen. Aber wie schon gesagt: Manchmal hat es auch
seine Grenzen in einem bestimmten familiären Umfeld oder in bestimmten Quartieren. Da ist
es schon ein großer Erfolg, von 30 auf 20 Prozent herunterzukommen.
Umgekehrt ist es inakzeptabel, wenn wir Effekte haben, bei denen ein Anstieg von 20 Prozent
auf 40 Prozent zu beobachten ist. Das kann man dann allerdings nur zum Teil mit dem Zuzug
entweder von Flüchtlingen, Willkommensklassen oder mit einer erhöhten – diesen Effekt
wollen wir – Inklusion erklären. Eine erhöhte Inklusion bedeutet, dass wir vermehrt auch
Kinder mit GE, geistiger Entwicklung, und sonstigen Förderbedarf haben, die wir auch mit in
die Quote hineinnehmen. Das machen andere Länder zum Teil anders, ich finde es vertretbar,
das muss man machen. Statistisch gesehen hat das gewisse Effekte, die dieses Ergebnis nicht
weichspülen sollen, man muss es nur berücksichtigen. Bei bestimmten Schulen macht das
durchaus eine Quantität aus.
Insgesamt bin ich für jede Anregung dankbar, hier kamen wieder einige aus der Praxis heraus,
wobei es teilweise um die Lern- und Schulform ging. Den Schultyp kann man ein bisschen als
sekundär betrachten, aber wie man intern aufgestellt ist, die Fragen der Differenzierung, der
Ansprache der Kinder und des Elternhauses und auf eine gewisse Weise auch die Konsequenz, die Frau Franke noch einmal herausgestellt hat, sind definitiv – auch nach unserer Erfahrung – die Stellschrauben, die man mindestens drehen muss, um in die richtige Richtung
zu gehen. Aber die konkrete Antwort ist von Schule zu Schule und von Quartier zu Quartier
immer ein kleines bisschen anders.
Vorsitzende Renate Harant: Ich habe schon eine längere Redeliste. – Bitte, Herr Oberg, Sie
haben das Wort!
Lars Oberg (SPD): Vielen Dank! – Zunächst einmal möchte ich mich für die erfrischenden
Einlassungen bedanken, denn die schieren Zahlen sind groß und schwierig. Ich freue mich
sehr, dass Sie sich nicht hinter diesen großen Zahlen verstecken und einfach nur ein großes
Problem benennen, sondern dieses auch anpacken. Diese Haltung, die deutlich wurde, macht
es aus, ob es gelingt, ein solches Problem vor Ort zu lösen, um dann irgendwann einen statistischen Effekt zu erzeugen. Das ist auch der Ansatzpunkt, den wir politisch diskutieren wollen, nämlich, was man dafür tun kann, dass diejenigen, die vor Ort solche Wege gehen müssen und wollen, so unterstützt werden, dass es ihnen leichter fällt. Ich glaube nicht, dass da
die Systemfrage zu stellen ist, denn es ist nicht so, dass man durch ein anderes bzw. neues
System – egal auf welcher Ebene man das Bildungssystem betrachtet – diese Probleme gelöst
bekommt, sondern man bekommt sie tatsächlich nur vor Ort gelöst.
Die Rolle der Schulleitung ist in dieser Legislaturperiode sehr oft in diesem Raum und im
Plenum diskutiert worden, und dazu liegt auch ein Antrag vor. Ich nehme für heute mit, dass
die Meinung, das hänge zentral von den Schulleitungen ab, eine ist, die man nicht hoch genug
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gewichten kann. Deshalb ist das für uns hinsichtlich der Auswahl und der Unterstützung der
Schulleitungen ein wichtiges Thema.
Eine zweite wichtige Instanz – neben den Lehrerinnen und Lehrern, die wir nicht unmittelbar
beeinflussen können, sondern die Sie als Schulleitungen ansprechen müssen – scheint mir die
Schulaufsicht zu sein. Wir müssen genau darüber nachdenken, wie sich die Schulaufsicht auf
die Heterogenität der Probleme einstellt. Klar ist, dass eine Schulaufsicht viele Dinge auf
einmal tun muss, aber sie hat es auch mit den Schulen zu tun, bei denen viele Probleme besonders kulminieren. Vielleicht können wir mal darüber nachdenken, wie wir die Schulaufsichten so aufstellen, ausstatten und justieren könnten, dass sie den Schulen noch schneller
und gezielter helfen können, bevor mit großen und negativen statistischen Zahlen für jeden
das Problem sichtbar wird. Mein Verständnis von Schulaufsicht ist es, frühzeitig herauszufinden, wenn es an Schulen zu Prozessen kommt, die dazu führen, dass man irgendwann einmal
solche Zustände hat, wie sie von Frau Franke beschrieben wurden. Diese sind nicht von einem
auf den anderen Tag entstanden, sondern es muss auf allen Ebenen lange genug zugeschaut
worden sein, damit es so geworden ist. Dieses Zuschauen wäre zu unterbinden, und deswegen
müsste man auch die Schulaufsicht hinterfragen.
Es ist der Gedanke eines Netzwerks angedeutet worden. Den würde ich gern aufgreifen, und
zwar nicht nur die Vernetzung unter den Schulleiterinnen und Schulleitern, die in ähnlichen
Problemlagen arbeiten, sondern auch eine Vernetzung der Unterstützungsleistungen. Natürlich haben Sie in jeder Schule andere Probleme, und auch wenn man statistisch ähnliche
Schülerschaften hat, dann heißt das nicht, dass man vor Ort immer die gleichen Bedingungen
hat. Aber ganz oft sind ähnliche Kriterien oder Voraussetzungen zu schaffen, um am Ende
dann erfolgreich sein zu können. Ob man es dann wirklich ist, ist eine andere Frage, aber man
hat zumindest die Chance. Es erschiene mir sinnvoll, wenn es uns gelänge, ein Unterstützungssystem aufzubauen, das sich aus den Erfahrungen der Schulen speist, die sich auf den
harten, aber hoffentlich erfolgreichen Weg gemacht haben, die Dinge anders zu machen. Das
Turnaround-Programm ist so angelegt, aber nicht alle Schulen, die diese Probleme haben,
sind in diesem Programm. Es wäre eine Blödheit sondergleichen, wenn wir nicht das, was
zum Beispiel Sie, Frau Franke, bei sich erleben, erlernen und erleiden, auch für alle anderen
Schulen mit nutzbar machten. Wir sollten also eine Stelle finden, die das in geeigneter Weise
so bündelt, dass andere darauf zurückgreifen können oder dazu verpflichtet werden, darauf
zurückzugreifen. Wenn man zum Beispiel eine Schulleitung hat, die an einer schwierigen
Schule neu besetzt wird, dann darf diese nicht das Rad neu erfinden, sondern muss auf jeden
Fall das mit berücksichtigen, was Sie schon mal gelernt haben, es dann auf die Situation vor
Ort anwendet, auch manches verwerfen kann. Ich habe zu oft das Gefühl, dass die Dinge allein nebeneinanderstehen. Das ist traurig, denn es gibt eine Menge Schulen, die interessante
Wege hingelegt haben, aber schon die Nachbarschule weiß nichts davon. Deswegen wäre die
Vernetzung etwas, zu der ich von Ihnen gern wissen würde: Was bräuchten Sie eigentlich, um
eine solche Vernetzung im Alltag hinzubekommen? Denn das wäre noch einmal mehr Arbeit,
die die Schulleitung auch noch irgendwie zu bewältigen hätte.
Vorsitzende Renate Harant: Bitte, Frau Bentele, Sie haben das Wort!
Hildegard Bentele (CDU): Ich möchte mich auch ganz herzlich bei den Anzuhörenden bedanken. Aus Ihren konkreten Ausführungen können wir schließen, dass wir mit den Maßnahmen, die wir in den letzten viereinhalb Jahren schon besprochen haben, auf dem richtigen
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Weg waren. Wir haben bereits die Themen Stärkung der Schulleitungen und Sanktionen bei
Schuldistanz diskutiert, wir haben das Bonusprogramm aufgelegt. Ich glaube, dass wir mit
den Maßnahmen, die wir in den letzten vier Jahren eingeleitet haben, schon dazu beigetragen
haben, dass Sie Unterstützung bekommen.
Herr Oberg sprach das Thema Schulaufsicht an, und Frau Franke erwähnte die Unterrichtsqualität. Sie sagten, Sie hätten sich eng mit Ihrer Schulaufsicht zusammengeschlossen und
sich Rückhalt geholt. Das finde ich relevant, denn – soweit ich weiß – die Schulaufsicht von
Tempelhof-Kreuzberg ist auf eine Zahl gestoßen, nach der eine Person für 26 Grundschulen
zuständig ist, was ein bisschen schwierig ist, wenn es um diese Beratung geht, die Sie brauchen. Wir müssen also beim Thema Schulaufsicht noch einmal gucken, ob diese personell so
breit aufgestellt ist, dass sie sich mit Ihnen so intensiv auseinandersetzen kann, wie Sie es
brauchen.
Die angesprochenen Maßnahmen sind breit gefächert. Sie sprechen von der Schulqualität,
andere haben klare Regeln für ihre Schüler entwickelt. Für den Austausch gibt es wahrscheinlich nicht nur ein Konzept, sondern wichtig wird sein, wie Sie sich untereinander austauschen.
Sie sagten, Sie übernehmen Verantwortung. Ziehen Sie da irgendwann einen Strich und sagen, okay, nach fünf Jahren möchte ich da und da angekommen sein, und wenn nicht, dann
trete ich zurück, oder wie wollen Sie das handhaben? Sie haben das sehr mit sich verbunden.
Wo legen Sie die Marke? Denn das ist auch ein Thema, das wir im Rahmen unseres Schulleiterantrags diskutiert haben, nämlich die konkreten Vorgaben und Qualitätskriterien für Schulleiter. Was ist dann die Konsequenz? Würden Sie da eine ziehen? Wahrscheinlich wird das
unterschiedlich gesehen.
Zum anderen würde mich interessieren, weil Frau Jurczyk die soziale Ausgangslage ihrer
Schülerschaft erwähnte: Ist das eine gemischte Ausgangslage? Ist das eine besonders schwierige Ausgangslage? Wie Herr Pawollek eben darstellte, ist das doch sehr relevant dafür, was
man da erreichen kann.
Dann habe ich noch eine Frage an den Senat. Sie sagten, die Flüchtlinge hätten die Schulabbrecherergebnisse so massiv beeinflusst. Ist es sinnvoll, die Flüchtlinge da schon mit einzuberechnen? Müssen diejenigen, die vielleicht aus der Willkommensklasse kommend ein Jahr
an der Regelschule verbracht haben, sofort in Prüfungen einsteigen, und werden sie dann bei
Nichtbestehen als Abbrecher gerechnet? Müssten wir die nicht vielleicht extra in der Statistik
führen, um das Ergebnis nicht zu verfälschen? Mir erscheint das ein bisschen unrealistisch.
Frau Franke! Sie hatten mehr Lernzeit angesprochen. Wenn also ein Lernziel nicht erreicht
wurde, dann sollte noch einmal zurückgestellt werden, um die Klasse zu wiederholen. Das
halte ich für einen wichtigen Punkt, den wir auch immer wieder ins Spiel bringen.
Vorsitzende Renate Harant: Frau Remlinger hat das Wort.
Stefanie Remlinger (GRÜNE): Ich muss mich erst einmal beim Herrn Staatssekretär entschuldigen, wenn unsere Übersetzung des Begriffs Turnaround im Deutschen zu radikal
klingt. Ansonsten bedauere ich wie immer, wenn Unterschiede konstruiert werden sollen, wo
keine großen vorhanden sind. Wir hatten eingangs betont, dass wir mitnichten einen monokausalen Zusammenhang an irgendeiner Stelle sehen.
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Wir sehen es ähnlich wie Sie das Thema an dem Punkt, wo man nach der Schulstrukturreform
sehr stark zu sehen begonnen hat, dass es – wie Herr Pawollek auch sagte – eine begrenzte
Zahl an Schulen gibt, die in einer großen Bredouille sind. Über die genaue Zahl, ob es nun 15,
18 oder 20 sind, müssen wir uns nicht streiten, aber dass die Robert-Bosch-Stiftung mit ihrem
Turnaround-Programm jetzt ein Allgemeinbegriff ist – als wir das angemeldet haben, war das
zweifelsohne der Inspirator dafür, dass wir die Frage hochspannend finden, warum die Überschrift, die Herr Pawollek gewählt hat, eine Schule kann nicht besser sein als ihr Umfeld, oder
kann sie es eben doch, ein gewisses Spannungsfeld ist, ohne dass wir – das betone ich noch
einmal ausdrücklich – damit implizieren wollen, dass das soziale Umfeld überhaupt keinen
Einfluss hat. Nur sind wir der Schulausschuss und werden nicht die Alimentierungen – wie
Sie das nennen –, die Transferzahlungen regulieren können, unabhängig davon, ob wir das
wollen. Wir können die Faktoren betrachten, die mit Schule im engeren Sinn, aber auch mit
den angrenzenden Unterstützungssystemen, den Reaktionsketten und auch den gesetzlichen
Reaktionsketten zu tun haben.
Ich möchte deshalb noch ein paar konkrete Nachfragen stellen. Herr Pawollek! Ich habe Ihre
Zusendungen vorab mit Interesse und Ernsthaftigkeit gelesen. Sie haben geschrieben – wenn
ich Sie zitieren darf:
Das Unternehmen Schule benötigt Entscheidungsfreiheit, Planungssicherheit und eine solide finanzielle Grundausstattung.
Sie erwähnen explizit das Konzept der Bürgerschule für alle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Weil ich schön öfter Schulleitungen gefragt habe, was sie denn bräuchten, um ihre
Schule umzubauen, aber oft keine konkreten Antworten bekommen habe: Könnten Sie mir
aus Ihrer Sicht etwas genauer darstellen, dass das und das getan werden sollte bzw. dass Sie
dieses oder jenes gern tun würden, es aber nicht können? – Oder wie darf ich sonst diese Passage verstehen? Wir würden gern weiter darüber nachdenken.
Was das Thema Unterstützungssysteme insgesamt angeht, die Schulaufsicht, aber auch die
Schulinspektionen und die sonstigen Unterstützungssysteme, würde mich interessieren, was
Sie davon hilfreich bzw. nicht hilfreich finden. Ist die Schulinspektion ein Instrument, das aus
Ihrer Sicht weiterentwickelt werden sollte, auch im Hinblick auf das, was Sie sagten, Frau
Franke? Wo fängt eine Schule an, um als Team auf solche Rückmeldungen, aber auch auf
verschiedene Arten von Daten und Rückmeldungen zu reagieren?
Mich würde auch Ihrer aller Erfahrung zu der Frage interessieren, wie ich ein Team mitnehmen kann. Oder anders herum gesagt: Frau Jurczyk! Wenn man über Sie eine ganz andere
Schule setzen würde: Wie würden Sie da anfangen? Welche Haltung hätten Sie zum Beispiel
gegenüber den Kindern, was dieses Wohlfühlen angeht, dieses Sich-aufgehoben-Fühlen, diese
Zusage, ihr seid die Richtigen, die hier bei mir sind, und mit euch will ich arbeiten? Wie kann
man das im Team vermitteln?
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Auch noch interessieren würde mich Ihre Erfahrung – ich habe versucht, ein paar Schulen, die
Turn-around-Schulen sind, zu besuchen, im Unterricht zu hospitieren –, inwieweit Sie sagen
würden: Nicht nur schlechter Unterricht, sondern gerade die Frage der Unterforderung ist ein
Problem der Schule, gerade in den Innenstadtgebieten. Herr Brunswicker, weil Sie das Wort
Potenzialorientierung erwähnt hatten, das würde mich interessieren, und gerade auch Ihr
Blick, weil ich weiß, dass Sie viele Schulen schon begleitet haben, dieses Zusammenspiel von
Haltung, und wie kann ich die entwickeln. Kann ich – das frage ich auch noch einmal explizit
– mit einer heterogenen Schülerschaft, mit gewissen Gepäckstücken, die sie dabeihaben, kann
ich das ohne Teamarbeit, kann ich das ohne unterschiedliche Formen von Teamarbeit schaffen? So sehr wir alle übereinstimmen in der großen Bedeutung der Schulleitung, lieber Herr
Oberg, glaube ich schon, dass es auch einen Punkt gibt, wo man das wieder übertreiben kann,
weil es schon um das ganze pädagogische Team und alle Beschäftigten geht, für die die
Schulleitung eine Verantwortung hat, aber Akzeptanz muss man herstellen im Team, würde
ich denken, aber Sie dürfen mich eines Besseren belehren. – Vielen Dank!
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Frau Remlinger! – Herr Delius, bitte!
Martin Delius (PIRATEN): Vielen Dank, Frau Vorsitzende! – Vielen Dank auch für die Stellungnahmen der Anzuhörenden! Ich freue mich sehr, dass wir ein bisschen davon weg sind,
so wie es manchmal klingt, vor allen Dingen das soziale Umfeld und die sozialen Probleme
der Stadt dafür verantwortlich zu machen, dass es an Schulen mitunter nicht funktioniert bzw.
mit den Schülerinnen und Schülern vielleicht nicht in dem Maß umgegangen wird, wie sie es
brauchen. Insofern finde ich das gut, was hier gesagt wurde.
Ich will gleich zu Anfang auf Herrn Pawollek eingehen, ähnlich wie Frau Remlinger, um es
noch einmal konkreter zu machen. Sie beschweren sich in Ihrer Stellungnahme über die verwaltete Schule und sind der Meinung, das könnte alles besser gehen. Da will ich einmal ganz
konkret wissen, wie. 20 000 Euro-Programm pro Schule, Verwaltungsleiterstellen, die dann
mehr Autonomie umsetzen können sollen usw., das wird hier in diesem Haus, in diesem
Raum regelmäßig diskutiert. Was stellen Sie sich denn vor? In Ihrer Stellungnahme stehen
auch ein paar Annahmen bzw. Aussagen, ich will jetzt nicht in der Tiefe darauf eingehen,
aber Sie machen vor allen Dingen eine mangelnde Erziehungskompetenz der Eltern dafür
verantwortlich, dass es nicht funktioniert. Sie weisen darauf hin, dass vor allen Dingen ein
osteuropäischer Zuzug dafür verantwortlich ist, dass es in einzelnen Teilen der Stadt und
wahrscheinlich auch in Ihrem Umfeld schlechte Ergebnisse gibt. Sie sind sich auch sicher, um
das einmal indirekt zu zitieren, dass eine Mehrheit der Schülerinnen und Schüler, die aus
Willkommensklassen an die Schulen kommen, den Bildungsabschluss nicht schafft. Da würde
ich einfach einmal fragen, woher Sie diese Annahmen und diese Aussagen nehmen und welche Grundlage diese Aussagen bei Ihnen haben. So unbegründet kann man die nicht stehenlassen.
Ich bin selber der Meinung, dass es, wie der Staatssekretär völlig richtig ausgedrückt hat, ein
schulscharfes Problem, möglicherweise noch ein kiezscharfes ist, und natürlich darf man die
sozioökonomischen Rahmenbedingungen, die rundum existieren, nicht außer Acht lassen. Die
sind extrem wichtig, um maßgeschneiderte Maßnahmen und Bedarfe zu erkennen für die
Schulen, die Probleme haben, und Schulen, bei denen es gut läuft, und auch herauszufinden,
warum es möglicherweise gut läuft, und ob das etwas damit zu tun hat. Da sind wir uns völlig
einig. Aber ich will auf ein paar schul- und unterrichtsstrukturrelevante Dinge eingehen. Wir
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fragen insbesondere Herrn Joschka Langenbrinck, der gerade auch so frenetisch geklopft hat
bei der Stellungnahme von Frau – – Nicht? – [Lars Oberg (SPD): Der Tisch ist noch heil!] –
Der Tisch ist noch heil. Ja, das war sehr deutlich. – Wir schreiben regelmäßig Schriftliche
Anfragen zu dem Thema, und da antwortet uns der Senat mit Maßnahmen, die ich von Ihnen
gerne einmal bewertet haben möchte.
Zum einen möchte ich auf das individuelle Lernen als Unterrichtsprinzip gerade an den ISSen
eingehen. Frau Franke, dazu können Sie sicherlich, aber wahrscheinlich alle Anzuhörenden,
etwas sagen. Dann auf die Förderung von Motivation gerade bei der Berufsfeldorientierung
bzw. der Berufs- und Studienorientierung im Zusammenhang mit der Einführung bzw. der
Priorität auf das duale Lernen. Bringen diese Maßnahmen was? – ist die allgemeine Frage.
Und wenn ja, wie sehr bringen sie was? Wann bringen sie was? Was brauchen Sie, damit sie
was bringen? Das sind Sachen, die wir schulnah auch diskutieren können. Dazu natürlich
auch die Frage der Kooperation mit den Betrieben, wenn es um Berufsorientierung geht, um
die Motivation von Schülerinnen und Schülern. Jetzt haben wir schon das Thema mit der
Ausstattung. Ich glaube auch nicht, dass es unbedingt an der Ausstattung liegt. Eine Ausstattung kann natürlich, wenn es eine Unterausstattung gibt, ein Problem darstellen, und dann
kann man auch nicht individuell auf Schülerinnen und Schüler eingehen bzw. die Probleme
erkennen. Aber ich glaube, es liegt eher an der Frage: Passt die Schule zu dem Umfeld und zu
den Schülerinnen und Schülern? Sind die Lehrerinnen und Lehrer in der Lage, möglicherweise auch die Schulleitungen – ich finde es immer gut, wenn die Schulleitungen sich intensiv um das Schulkonzept kümmern –, damit umzugehen?
Insofern, Frau Franke, was ich nicht ganz verstanden habe: Konsequenz ist super, finde ich
toll. Ich bin kein großer Fan der Maßnahmen der Koalition, mehr Druck auszuüben. – [Lars
Oberg (SPD): Frau Franke schon!] – Ich bin eher an der Schuldistanzierung oder der Bekämpfung der Schuldistanzierung im Dialogkonzept interessiert. Wir hatten auch, das hat die Koalition aufgenommen in ihrem damaligen Antrag, die Schulwegpatenschaften eingebracht als
eine Maßnahme zur Prävention. Aber was ich nicht ganz verstanden habe, ist: Finden Sie jetzt
die Bußgelder gut oder nicht? – [Lars Oberg (SPD): Finden Sie gut, oder?] – Herr Oberg! Ich
bin absolut sicher, dass Frau Franke selbst auf meine Frage antworten kann. – Ich erkläre
Ihnen, warum ich das nicht verstanden habe, weil es dann um die Auswirkungen geht. Sie
haben gesagt, Sie haben viel ndH, und Sie haben vor allen Dingen auch viel lmb-Schülerinnen
und Schüler, und für die ist das Bußgeld – – Für die Eltern ist das Bußgeld eigentlich kaum
relevant, weil es möglicherweise zu gering ist. Ist jetzt Ihre Konsequenz, Sie brauchen mehr
Bußgeld? Oder ist es nicht möglicherweise so, dass es gar nicht so sehr um das Bußgeld geht,
sondern um das frühe Anklopfen? Können wir uns darauf einigen, dass es vor allem darum
geht, frühzeitig, jetzt vielleicht nicht unbedingt monetären oder autoritären Druck auf die Eltern auszuüben, sondern einfach nicht lockerzulassen und frühzeitig anzufangen mit Familien,
deren Kinder von Schuldistanz betroffen sind, ins Gespräch zu kommen? Dann die Frage:
Funktioniert in diesem Sinne das System? Funktioniert das für Sie jetzt besser als noch vor
drei Jahren?
Zu den Statistiken: Das sehe ich auch so wie Herr Rackles. Es ist schon auffällig, wenn man
sich die Zahlen des Schuljahres 2007/2008 bis jetzt die letzten offiziellen von 2014/2015 anguckt, dann haben wir bis 2012 einen stetigen Rückgang der Kennzahlen im Mittel der Schulabgänger oder der Schulentlassenen ohne Abschluss in den verschiedenen Bereichen, für alle
Unterteilungen, die wir da haben. Ab dann geht es teilweise massiv bergauf. Das interessiert
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natürlich, das sehen wir dann hier akkumuliert. Vielleicht haben Sie dafür auch eine Erklärung, die ich bisher noch nicht gehört habe. Das würde ich auch gerne von Ihnen wissen. –
Danke!
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Herr Delius! – Sie haben die Systemfrage gestellt. Wir
sind gespannt auf die Antwort. – Herr Schlede, bitte!
Stefan Schlede (CDU): Ich habe ein bisschen das Problem, dass ich gar nicht weiß, wo ich
anfangen soll bei dem bunten Strauß, den Sie hier entfaltet haben. Als Erstes möchte ich zwei
Dinge feststellen: Sie arbeiten schulisch in sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen und Feldern. Sie haben zum Teil eine sehr unterschiedliche Struktur von der Vergangenheit her oder jetzt nicht vergleichbar. Ich darf die vier, die hier vortreten, bei denen ich
mich herzlich bedanke für ihre sehr plastische Darstellung der Probleme, ganz kurz darstellen.
Herr Pawollek hat vorher die Kurt-Löwenstein-Hauptschule geführt und ist dann zusammengeführt worden mit einer Realschule und als solche ISS heute an einem anderen Ort. Frau
Jurczyk leitet eine Schule von 1 bis 13, auf jeden Fall auch den Bereich von 1 bis 10 sehr intensiv. Das hat erhebliche strukturelle Vorteile, die Sie auch betont haben. Ich habe auch noch
einmal die Frage, die Frau Bentele schon gestellt hat, auch Frau Remlinger, glaube ich: Wie
sieht es aus mit der finanziellen bzw. personellen Ausstattung? Sie sprachen vor allen Dingen
von den Teams, die Sie einsetzen. Das ist schon einmal eine sehr schöne Angelegenheit. Die
müsste man natürlich auch entsprechend personell unterfüttern. Frau Franke! Sie kommen
offensichtlich aus einem ganz anderen Hintergrund, mit einem eindeutigen Hintergrund, so
wie er etwa bei Herrn Pawollek einmal war, und zwar 7 bis 10 ohne Oberstufe. Herr Brunswicker ist der erfolgreiche Schulleiter einer sehr erfolgreichen Schule, die ehemals ein Gymnasium war. Dann war sie eine Gesamtschule, und heute ist sie eine ISS mit gymnasialer Oberstufe, wenn ich das richtig definiere. Das sind sehr unterschiedliche Hintergründe.
Ich komme auf ein paar Punkte, die Sie angesprochen haben. Ich greife ein paar Punkte heraus. Frau Franke! Was mich überzeugt hat, weil hier immer und auch heute wieder in der
Diskussion, und das ist ein Teil auch Verblendung, sage ich einmal ganz bewusst, der Begriff
der Heterogenität ins Feld geführt wird. Was glauben Sie, Herr Delius, wie etwa an der Schule von Frau Franke, Frau Franke im Dialogverfahren mit den Schülern und eventuell auch
Eltern, falls erreichbar, die waren, um Schüler, die in der 8. oder 9. Klasse mit fünf Fünfen
gesegnet waren, 8. Klasse, und dann in die 9. Klasse weitergeschoben werden sollten, wie oft
man mit denen geredet hat? Offensichtlich teilweise erfolglos. Nun stelle ich mir die transportierte Heterogenität vor. Was macht denn ein derartiger, schon seit Ewigkeiten erfolgloser
Schüler als neues, kreatives, heterogenes Element in der 9. Klasse? Der wird mit sich nicht
fertig und die Schüler, die Gemeinschaft mit ihm auch nicht. Das ist ein Weg, da trete ich
doch keinem Schüler zu nahe. Im Sinne seiner positiven Entwicklung muss ich doch auch mal
von 1 bis 10 irgendwo eine Warnboje setzen und sagen: So geht es in deinem Sinne, in deinem ureigensten Interesse nicht weiter. – Und das versuchen Sie zu tun, wie Sie sagen,
manchmal halb so am Rande der Legalität. Es ist nicht am Rande der Legalität, wenn man
über Klassenkonferenzbeschluss die Empfehlung ausspricht, doch eventuell noch ein Jahr
dranzuhängen, und zwar im Sinne des eigenen Erfolgs. Das sollten wir uns einmal bewusst
vor Augen führen.
Da ist nicht alles so glanzvoll, wie bei Ihnen Frau Jurczyk, wozu ich Sie nur beglückwünschen kann, dass Sie praktisch in der 10. Klasse niemanden ohne Abschluss haben, von der
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einfachen Berufsschulreife über MSA bis zur Versetzung in die Oberstufe. Das finde ich hervorragend. Aber man muss natürlich auch dazu sagen, Sie haben einen Vorteil, den viele
strukturell gar nicht haben. Sie haben die Eltern, wenn sie denn kommen, ab der 1. Klasse,
und Sie können eine entsprechende intensive Elternberatung dann weiter fortführen, während
sie beispielsweise in den 7. Klassen oftmals gar nicht mehr erscheinen. Sie sind gar nicht
mehr da. Ich weiß beispielsweise in Neukölln eine Grundschule, die größte, da sagte mir dann
die Grundschulleiterin in der 6. Klasse: Bei der Gesamtelternversammlung waren überhaupt
nur 16 Prozent der Eltern da. Da ist gar keine Ansprache mehr möglich. Wie will ich denn da
den Dialog führen? Das ist höchst problematisch.
Ich komme auf weitere Punkte: Es wurden erwähnt, bei allen schien es durch, die alten Lehrer, die nichts mehr bringen, die nach dem alten Stiefel weiterarbeiten. Das sehe ich ganz genauso nicht. Ich habe festgestellt, bei Herrn Pawollek sind Lehrer, die ich nur bewundert habe, wie sie jeden Tag von Neuem, jeden Tag, den der Herr werden ließ, mit Elan in die Klassen gegangen sind, und am Ende des Tages sind sie nach Hause gegangen mit ähnlichen Ergebnissen. Da fehlt es nicht an Motivation. Da fehlt es auch nicht an inhaltlichen Aspekten, an
didaktischen Aspekten, aber irgendwo ist dann manchmal auch das Erlahmen da, wenn ich
nicht zum Ergebnis komme, auch in Ihrem Kollegium. Und da immer wieder neu anzufangen
und sich neu zu motivieren im Team, in der Rücksprache, das ist eine Aufgabe, die für jede
effektive Schulleitung, und das scheinen Sie mir zu sein, aus meiner Sicht, mit Sicherheit
vonnöten ist. Da braucht es aber auch die Schulaufsicht und übrigens auch die Schulinspektion. Aber dass wir es uns in Berlin leisten, dass Schulen zweimal durch die Schulinspektion
gefallen sind und ein drittes Mal durchzufallen drohen, da brauchen die gar nicht erst hinzugehen, das dürfen wir eigentlich nicht tun. Das können wir nicht zulassen.
Und dann komme ich noch einmal zur Schulaufsicht. Mit denen hatten ich mal ein Hühnchen
zu rupfen, als ich noch Stadtrat war. Da habe ich gesagt, da gibt es Leute, die sind für das
Gymnasium zuständig, für die Realschule war es damals noch, für die Hauptschule und für
die Grundschule. Warum setze ich die betreffende – – Ich habe gerade von einer Steglitzer
Schule gehört. Da war 15 Jahre lang kein Schulrat im Haus. Die sind sozusagen nicht mal
angesprochen worden. Das kann so nicht sein. Warum nicht beispielsweise die Schulaufsicht
im Land Berlin regional verteilen? Es gibt einen Schulrat, der hat sein Büro in der Grundschule, und er hat täglich das Erlebnis des Umgangs in den Schulen mit Schülern, mit Eltern, mit
Lehrern, mit Schulleitung. Er kriegt jeden Tag neue Informationen. Das ist der angemessene
Partner. Warum nicht auch jemand, der für ein Gymnasium zuständig ist, in ein Gymnasium
stecken? Genauso wie die ISS. Warum müssen die denn alle zusammensitzen, an einem Ort
zentralisiert? Das macht für mich überhaupt keinen Sinn. Es reicht, wenn die Landesschulaufsicht an einem Ort konzentriert ist, aber die Regionalen sollen doch für die Regionen zuständig sein. Dann also ran an den Speck in diesem Zusammenhang!
Und einen letzten Aspekt: Wir haben damals das zweigliedrige Schulsystem unter dem Gesichtspunkt eingeführt, die ISS muss auch den Weg zum Abitur bringen. Es wird heute kein
bewusstes Elternteil mehr sein Kind gerne und motiviert in eine Schulform schicken, wo es
das Ende nicht erreicht, im Sinne von Abitur. Und je nachdem, wie die Entwicklung auch
ganz konkret eingeschätzt wird, aber man hat die Hoffnung, man schafft das. Deswegen glaube ich, dass letztlich, Herr Brunswicker ist da auch tätig geworden in einer Kommission, wir
alle ISS-Schulen mit einer Oberstufe und konkreten Verbindungen zur Oberstufe darstellen
müssen, dass die Eltern wissen: Wenn es hier noch nicht klappt, haben wir noch einen Um- stz/ur -
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weg, aber wir kommen hin, wir kommen zu diesem Ziel. Das ist noch nicht kreativ bisher
verkündet. Es gibt nach wie vor, und das ist leider eine ganz bittere Erfahrung, im Land Berlin mit hunderten von Schülern bestückt noch immer sogenannte, wie wir damals zu den
Hauptschulen gesagt haben, Restschulen, die es immer noch sind und noch nicht aus diesem
Trauma heraus sind. Daran, denke ich, müssen wir gemeinsam arbeiten, und zwar nicht nur
durch gute Lehrer und Ausbildung, sondern durch die Organisation der Schulaufsicht, durch
die Vorgaben der Schulverwaltung, wo schon viel geschieht. Daran müssen wir noch erheblich weiterarbeiten. – Herzlichen Dank für Ihre Darlegung!
Vorsitzende Renate Harant: Jetzt haben wir die Redeliste fast abgearbeitet. – Frau Kittler!
Regina Kittler (LINKE): Erst einmal vielen Dank, Herr Schlede, für die flammende Rede für
die Gemeinschaftsschule und die Entwicklung, die notwendig ist für die Sekundarstufe II.
Aber vielleicht doch noch mal zu einigen Fragen: Erst einmal ist sehr deutlich geworden aus
allen Äußerungen, dass der Bildungserfolg sehr stark abhängig ist, erstens, vom sozialen Status der Eltern, zweitens davon: Wo kommen die Eltern her? Waren das eventuell Migranten,
oder sind sie es gerade frisch, weil sie Geflüchtete sind, die nach Berlin gekommen sind? –
aber, und das möchte ich gleich mal dazu sagen, offensichtlich auch von der Art und Weise,
wie in der Schule gearbeitet wird, und die ist sehr unterschiedlich. Ich war ein bisschen erschrocken von der starken Hand, die von Frau Franke in den Vordergrund gestellt wurde. Ich
weiß nicht, ob das Ihre Absicht war. Ich bin Lehrerin von der Ausbildung her, und ich habe
auch sehr lange in meinem Beruf gearbeitet, aber nur die starke Hand in den Vordergrund zu
stellen, da bin ich etwas zusammengezuckt, als Sie hier erklärt haben, wie Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen bei sich antreten lassen. Aber gut! Das ist jetzt Ihr Ansatz, aber sicherlich
auch nicht nur, denke ich. Ich kann mit dem Ansatz, welch Wunder, wie wir ihn jetzt von der
Anna-Seghers-Schule gehört haben, also praktisch die Art und Weise des Unterrichts zu verändern, also die Art und Weise, wie in der Schule gearbeitet wird, das in den Vordergrund zu
stellen, viel eher mitgehen.
Die Förderschülerinnen und Förderschüler, Herr Rackles hatte es unter anderem erwähnt, die
jetzt mitgezählt werden und verstärkt in den ISSen sind, verändern natürlich auch den Durchschnittswert von Schülerinnen und Schülern, die einen Abschluss erhalten oder eben auch
nicht, und natürlich auch die Schülerinnen und Schüler, die mit ihren Eltern hierher geflüchtet
sind. Insofern möchte ich noch einmal auf den ersten Punkt zurückkommen, den Herr Pawollek angeführt hat, nämlich auf die Rahmenbedingungen. Ich möchte gerne die Frage an alle
vier stellen. Was denken Sie denn, welche Rahmenbedingungen müssten denn verändert werden in der Bildung in Berlin? Darüber müssten wir uns hier verständigen. Das ist unsere Aufgabe, dass wir uns gemeinsam mit dem Senat darum kümmern. Was erwarten Sie eigentlich
von uns, was wir an den Rahmenbedingungen verändern müssen? Sie haben unterschiedlich
auch auf die Schülerschaft abgehoben. Herr Schlede! Wer an der Willy-Brandt-Schule eine
Heterogenität sieht, da weiß ich nicht, ob Sie richtig zugehört haben. Ich habe verstanden,
90 Prozent Ihrer Schülerinnen und Schüler sind von Lernmittelzuzahlung befreit. Da kann ich
von Heterogenität nicht wirklich viel ablesen. Da schließt sich bei mir sofort die Frage an: Sie
sagen, Bußgeld ist ganz wichtig – nach dreimal Schulversäumnisanzeige Bußgeld. 90 Prozent
müssen das dann gar nicht zahlen. Woher sollen die das Geld nehmen? Insofern ist die Frage,
wenn die das erste Mal den Bußgeldbescheid bekommen haben, wirkt das vielleicht noch.
Wenn sie ihn das zweite Mal bekommen, werden sie merken, Konsequenz ist da nicht. Inso-
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fern frage ich natürlich: Was machen Sie denn ansonsten, außer Bußgeldbescheide auszureichen?
An Frau Jurczyk hätte ich noch die Frage: Was denken Sie denn, welche Bedeutung hat es,
dass Ihre Schule eine Gemeinschaftsschule ist, für die Erreichung dieses Ergebnisses, dass Sie
über Jahre schon alle Schülerinnen und Schüler zu Abschlüssen führen? Wie machen Sie das
denn mit der Elternarbeit? Sie haben ganz deutlich gesagt, Sie haben den Vorteil, dass Sie
schon in der Grundstufe die Probleme angehen können, die eventuell auch mit Eltern auftreten und mit der Erziehung zu Hause. Wie machen Sie diese Elternarbeit, und wie arbeiten Sie
da mit dem Jugendamt zusammen? Sie hatten auch auf verschiedene Institutionen abgezielt.
Dann würden mich natürlich auch interessieren: Welchen Anteil – das würde z. B. Herrn Pawollek und Frau Franke betreffen – bringen die geflüchteten Schülerinnen und Schüler bei
Ihnen zu den Schülerinnen und Schülern, die keinen Abschluss erhalten? Was müsste man
hier verändern? Für mich gibt es da ein Beispiel, das ich heute erst gehört habe – jetzt ist der
Staatssekretär leider draußen –, dass wir in Lichtenberg das Problem haben, gerade wieder,
dass 400 Kinder und Jugendliche im schulfähigen Alter, die in der Ruschestraße untergebracht sind, keinen Schulplatz haben. Ist das vielleicht auch so eine unterbrochene Schulausbildung? Welchen Einfluss hat so etwas?
Ansonsten wollte ich noch von Ihnen wissen, Sie sind ja alle aus der Praxis: Sind die Lehrerinnen und Lehrer, insgesamt die Pädagoginnen und Pädagogen eigentlich genügend qualifiziert für diese Aufgaben? Gibt es genügend Zeit für die Qualifikation und genügend Angebote
für Weiterqualifizierungen? Oder was würden Sie sich hier wünschen?
Zur Schulaufsicht: Ich sehe im Gegensatz zu Herrn Oberg und auch zu Frau Bentele hier nicht
in erster Linie die Kontrolle der Schule als Aufgabe, sondern eher, dass – – [Lars Oberg
(SPD): Unterstützung!] – Da können wir uns sofort treffen. Wir können dann ja im Wortprotokoll nachgucken. Auch wenn das Wort vielleicht nicht gefallen ist, aber wissen Sie – –
[Lars Oberg (SPD): Dann steht´s nicht im Wortprotokoll!] – Ja, ja! – Wenn Sie sich mal angucken, wie viele Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren Überlastungsanzeigen gestellt haben. Die landen bei der Schulaufsicht. Und was passiert? – Es kommt eine Rückmeldung, zwar nicht öffentlich, aber unter der Hand: Das bringt sowieso nichts. Warum machen
Sie überhaupt Überlastungsanzeigen? – Unterstützungsangebote bleiben häufig aus. Sie können gerne sagen, dass das nicht so ist. Ich weiß das jedenfalls aus meinem Bezirk von vielen,
die sich da auch an mich gewandt haben oder aus meiner Zeit als Personalrätin. Da ist doch
die Frage: Wenn ich so etwas mitkriege, z. B. die Mozart-Schule, wo sogar die Schulleiterin
eine Überlastungsanzeige gestellt hat, weil sie genau solche Probleme hatte offensichtlich wie
in der Willy-Brandt-Schule, was passiert da? – Nichts. Und da wäre die Frage zu stellen:
Wieso organisiert denn die Schulaufsicht nicht eine Vernetzung der Schulen? Wir haben
überall Schulen, in allen Bezirken, die mit besonderen Problemlagen besonders gut umgehen
können. Die müssen doch ihre Erfahrungen weitergeben können. Wenn da keine Eigeninitiative kommt, wie bei den Gemeinschaftsschulen, da gibt es ja auch keine Vernetzung, die über
das Land Berlin organisiert wird oder über den Senat, dann schließen die sich selber zusammen. Und da frage ich mal: Wieso ist das denn so? Ich finde es toll, dass sie das machen, aber
eigentlich müsste das doch eine Aufgabe des Senats bzw. der Schulaufsichten in den Bezirken
sein. Dann möchte ich noch einmal sagen: Es ist an der Zeit, dass wir an der Art und Weise,
wie in Berliner Schulen unterrichtet wird, etwas verändern, und nicht einen Schwerpunkt auf
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Kontrolle zu legen und das hier noch ganz deutlich zu machen, wie der Kollege Langenbrinck
nicht nur in seinen Anfragen, sondern auch hier in seiner Reaktion.
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Frau Kittler! – Ich habe noch eine Verständnisfrage, die
würde ich an Sie weitergeben, weil hier einerseits von „harter Hand“ die Rede ist, bei mir ist
aber mehr „Konsequenz“ angekommen. Vielleicht können Sie darauf noch einmal eingehen,
wie Sie das meinen oder wie Ihr Verfahren da ist. Es gab auch den Hinweis, dass es zu wenig
Beachtung der Leistungsnachweise gibt. Das hat Frau Franke gesagt. Gleichzeitig kommt von
Frau Kittler: Es ist zu viel Kontrolle. Vielleicht können Sie in Ihrer Antwort darauf noch einmal eingehen. – Es gab noch eine Wortmeldung, sogar zwei Wortmeldungen, zum einen von
Herrn Eggert und zum anderen von Herrn Oberg. Ich denke, das sind kurze Nachfragen. –
Herr Eggert!
Björn Eggert (SPD): Für Herrn Oberg kann ich nicht sprechen, aber meine ist wirklich sehr
kurz. – Ich habe eine ganz konkrete Frage. Es ist mehrfach zur Sprache gekommen, dass
Schuldistanz, aufkommende Schuldistanz weder von den anderen Mitschülerinnen und Mitschülern akzeptiert, sondern auch für den Abschluss faktisch nicht förderlich ist, was relativ
logisch ist. Welche Mittel, wenn wir mal so ein bisschen Wünsch-dir-was machen, bräuchten
Sie an der Schule, um konkret aktiv etwas dagegen zu tun, wenn das aufkommt? Wenn wir
wissen, dass Bußgelder, schriftliche Anmahnungen und sonstige Sachen vielleicht nicht ihre
Wirkung erzielen, was wären die ganz konkreten Maßnahmen, wo Sie sagen würden: Hätte
ich hier fünf Stadtteilmütter oder drei Sozialarbeiter – – Was wollen Sie haben?
Vorsitzende Renate Harant: Herr Oberg!
Lars Oberg (SPD): Ich glaube, die Frage, die Frau Kittler sehr umtreibt, ist tatsächlich eine
zentrale, weil wir mit der politischen Diskussion, die wir hier führen, natürlich auch in gewisser Weise eine Orientierung vorgeben für das, was wir für gut und nicht gut an Schulen halten
und worin wir Lehrerinnen und Lehrer und Schulleiterinnen und Schulleiter im täglichen Tun
unterstützen. Das Thema starke Hand ist da etwas, was thematisiert werden muss. Deswegen
stimme ich Ihnen zu, wenn Sie das hier sensibel aufgreifen. Es gab eine Zeit, in der die starke
Hand ein Selbstzweck war im System Schule, und zwar sowohl in der eher militärisch anmutenden hierarchischen Organisation von Kollegien als auch im Umgang mit Schülerinnen und
Schülern. Das war Selbstzweck und in der Regel sehr unangenehm und auch nicht förderlich
im Sinne einer vernünftigen Zusammenarbeit, im Sinne starker Lehrerinnen und Lehrer und
auch nicht autonom denkender Schülerinnen und Schüler.
Dann ist allerdings etwas passiert, worüber man doch auch nachdenken muss. Das Bild und
das Idealbild, das ich teile, von der sich selbst organisierenden Gruppe reflektierter, selbstbewusster, verantwortlicher Persönlichkeiten, hat als Führungsideal dazu geführt, dass Verantwortung und Führung oft nicht mehr wahrgenommen wurden. Ich habe Frau Franke so verstanden, und das finde ich ausdrücklich gut, dazu bekenne ich mich auch, dass sie sich zu ihrer eigenen Verantwortung bekennt und dass sie von ihren Lehrerinnen- und Lehrerkollegen
Verantwortung einfordert. Das finde ich richtig, und da hat sie dann auch die politische Unterstützung der Sozialdemokratie. Wenn wir von Lehrerinnen und Lehrern viel erwarten, dann
erwarten wir auch, dass sie Verantwortung übernehmen, und zwar für sich, für die Ergebnisse
ihres Tuns und für ihre Schülerinnen und Schüler.
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Es kann nicht mit dem Argument des Verzichts oder mit der Angst vor dieser ehemaligen
harten Hand als Selbstzweck der Lehrerin und dem Lehrer überlassen werden, ob er dieser
Verantwortung gerecht werden möchte oder nicht. Wir haben Lehrerinnen und Lehrer eingestellt, damit sie dieser Verantwortung gerecht werden. Deswegen geben wir ihnen übrigens
auch viel Geld, weil sie einen verantwortlichen und wichtigen Beruf haben. Es ist nicht die
Alternative, die Menschen in der inneren Emigration und der Ohnmacht zu lassen, und wenn
jemand mit dem Anspruch der Eigenverantwortung andere anspricht und ihnen sagt: Was tust
du denn zur Erreichung der gemeinsamen Ziele? –, dann ist das keine Kontrolle, sondern das,
was wir von Schulleitung erwarten. Das ist übrigens auch etwas, was ich in allen Bereichen
öffentlicher Verwaltung erwarte, ansonsten entstehen nämlich gerne mal Verwaltungsbiotope,
wo die Pflege der Grünpflanze höher gewichtet wird als das, wofür man eigentlich bezahlt
wird, und glauben Sie mir, ich spreche aus eigener Anschauung, und das hat nichts mit dem
Abgeordnetenhaus oder dem Land Berlin zu tun. Deswegen wäre das Signal, das von einer
solchen Ausschusssitzung ausgehen sollte, falsch, wenn wir sagten, dass wir aus Angst vor
einer starken Hand der Vergangenheit vor Verantwortung scheuen und auch vor Ansprache,
die sich auf Verantwortung bezieht. Das wäre auch nicht ganz im Interesse dessen, was wir
bei der Qualifikation von künftigen Schulleiterinnen und Schulleitern tun, denn wir haben
mittlerweile Weiterbildungstools, die dazu dienen, Lehrerinnen und Lehrer in die Lage zu
versetzen, gute Schulleiter zu werden, und da spielen Verantwortung und Führung eine ganz
zentrale Rolle. Deswegen finde ich es richtig, dass wir alle ermutigen, genau das auch zu tun,
solange das nicht zu einem stumpfen Nutzen von Machtasymmetrien wird, aber den Eindruck
habe ich nicht. Da ist übrigens auch wieder die Schulaufsicht gefragt.
Frau Kittler! Sie werden sicherlich eine intensive Exegese des Wortprotokolls betreiben. Aber
auch hier geht es darum, Verantwortung wahrzunehmen, und das bedeutet in dem Fall auch
Unterstützung. Es geht nicht darum, zu kontrollieren, ob der Schulleiter morgens um acht an
seinem Schreibtisch sitzt, sondern es geht darum, ihn mit seinen vielen Herausforderungen
nicht alleinzulassen. Es gibt Schulleiterinnen und Schulleiter, die mir immer wieder sagen,
dass sie genau das nicht erleben, dass sie Schwierigkeiten haben, mit der Schulaufsicht in
Kontakt zu kommen, und dass sie dann, wenn sie ein Anliegen haben, zu dem sie um aktive
Unterstützung bitten, das nicht erleben. Das ist eine Situation, die wir nicht akzeptieren können. Das hat nichts mit Kontrolle zu tun, sondern mit Verantwortung. Das ist die Überschrift,
die wir über dieser ganzen Veranstaltung hier sehen.
Vorsitzende Renate Harant: Jetzt sind wir sehr grundsätzlich geworden, aber wir erwarten
natürlich von Ihnen auch ganz viele Antworten auf die gestellten Fragen. Ich würde jetzt die
Reihenfolge verändern und bei Herrn Brunswicker anfangen. – Bitte!
Klaus Brunswicker (ehemals Sophie-Scholl-Schule): Dann nehme ich zu der Frage Schulaufsicht und ihre Funktion in dem Prozess der Rettung von Schulen, die auf einem schwierigen Weg sind, welche Rolle die Schulaufsicht spielt, Stellung. Da ist ganz klar, dass es nicht
um die Frage des Obrigkeitsstaates und Aufsichtsverhaltens geht, sondern es geht um die Unterstützung. Ich habe das auch im Rahmen des Turnaround-Prozesses in Kreuzberg erlebt,
dass durch eine unglaublich kooperative Schulaufsicht mit der Unterstützung der Schulleitung, der Zurverfügungstellung der personellen Ressourcen, der Unterstützung auch der Elternarbeit in dieser Schule tatsächlich sehr viel bewegt werden konnte. Insofern würde ich
sagen, dass man in Berlin sicherlich – und da ist auch ein Diskussionsprozess in Gang gekommen – die Rolle der Schulaufsicht noch einmal sehr genau klären muss, dass sie weg- stz/ur -
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kommt von diesem Beobachten und Kontrollieren, das tun auch nicht mehr so viele – Herr
Schlede hat erzählt, dass es Schulen gibt, die 15 Jahre lang keine Schulaufsicht gesehen haben
– dass es die Aufgabe der Schulaufsicht ist, auch diese Schulen, die auf einem schwierigen
oder problematischen Weg sind, früh zu identifizieren und früh zu intervenieren. Ich denke,
dass z. B. die Inspektionsberichte, aber auch die Anmeldedaten an Schulen und die Ergebnisse, die sehr frühzeitig auch Hinweise darauf geben, ob die Schule auf einem problematischen
Weg ist, und da frühzeitig intervenieren, nicht im Sinne von Zusammenstauchen und strammstehen lassen, sondern: Welche Angebote können wir machen? Was können wir tatsächlich
tun innerhalb der Schule, aber auch in der Arbeit mit dem Schulamt? Es gibt auch bauliche
Fragen. Es gibt so viele Aspekte, die geklärt werden müssen, dass ich denke, da kann man
sicherlich eine sehr kreative und sehr förderliche Entwicklung der Schulaufsicht einfordern.
Das ist für die Schulen sehr wichtig. – Ich denke, das war der Punkt, zu dem ich etwas sagen
wollte. Zu den anderen Punkten sagen sicherlich meine Kolleginnen und Kollegen etwas.
Vorsitzende Renate Harant: Denken Sie an unser Thema. Da brauchen wir auch Hilfe und
erwarten Antworten. – Frau Franke, bitte!
Andrea Franke (Willy-Brandt-Oberschule): Um vielleicht ganz kurz eingangs auf das
Statement einzugehen: Natürlich bin ich keine rigide Schulleitung, die jetzt sagt: So, übrigens
alle im Gleichschritt – Marsch, Marsch. Die Schule hatte lange Zeit keine Schulleitung, aber
das lag mit Sicherheit nicht an einer nachlässigen Schulaufsicht, sondern daran, dass sich keiner mehr da herangetraut hat. Man muss da mit ganz viel Mut und ganz viel Engagement und
auch zeitlichem Engagement rangehen, um etwas herumzureißen.
Bei uns laufen die Prozesse alle sehr demokratisch ab. Ich binde das gesamte Kollegium in
jeden einzelnen Schritt ein, ob es über Abstimmung ist, über bestimmte Gremien. Wir arbeiten in Teamstrukturen, genau wie es bei der Anna-Seghers-Schule der Fall ist, nur diese
Teamstrukturen haben bei uns nicht unbedingt zur Verbesserung beigetragen, weil sie von
oben strukturiert und auch in gewissem Sinne in ihrer Tätigkeit ganz klar dargestellt werden
müssen. Ich habe innerhalb kurzer Zeit, innerhalb eines halben Jahres, dadurch das Ruder
herumreißen können, das wird man nicht an Anmeldezahlen sehen, weil ich gesagt habe: So,
liebes Kollegium, diejenigen, die an unserer Schule interessiert sind, kommen zusammen. Es
gibt keine feste Zeitstruktur, wo sie mit mir zusammensitzen, alle gemeinsam, und hier etwas
Neues und Produktives für die Schüler – – Das sind unsere Mandanten, und die liegen mir
am Herzen. Die laufen mir übrigens mit meiner unnachahmlichen Art auf dem Schulhof hinterher, weil sie wissen, sie haben jetzt einen Ansprechpartner. Das zu meiner undemokratischen Art und Weise, zu agieren. Ich habe ein Kreativthema auf die Beine gestellt. Das sind
Leute, die an meiner Schule etwas bewegen wollen. Die müssen gar nicht zu bestimmten
Terminen kommen, aber sie laufen mir die Bude ein und kommen tatsächlich zu diesen Terminen, weil sie wissen, dass ich mit Leib und Seele dabei bin und dass ich da etwas herumreißen möchte. Das meinte ich mit Führung und Verantwortung dafür.
Zur Schulaufsicht: Meine Schulaufsicht, muss ich gestehen, in Mitte – Hut ab! Die unterstützen mich so sehr in meinen Tätigkeiten, dass sie mir schon Wünsche erfüllen, wo ich nur ganz
leise angeklopft habe. Es gibt ein Unterstützungsprogramm für neue Schulleiter. Das nennt
sich Mentorenprogramm. Da habe ich mich auch angemeldet und einen ganz tollen Mentor
gefunden und gehe da in Supervision und Austausch usw.
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Zur Schulinspektion an sich: Ich finde, das ist ein unglaublich probates und sehr gutes Mittel,
denn es muss von extern jemand auf eine Situation, auf ein System schauen. Und wenn ich
dieses externe Instrument nutze, dann nutze ich es als meinen Freund und nicht als meinen
Feind. Mein Kollegium hat es als seinen Feind benutzt, und deshalb stehen sie da, wo sie stehen. Ich habe gesagt, es ist wichtig, dass man mit einem Ziel in eine Sitzung geht. Ich muss
nicht so breit diskutieren mit meinem Kollegium, weil die genau wissen: Sie übernimmt die
Verantwortung, und dann vertrauen wir ihr. Ich bin mit dem Ziel reingegangen: Wir haben
den Inspektionsbericht bekommen, und innerhalb des nächsten Jahres wird die Inspektion
wieder bei uns erscheinen. Ich habe die Probleme aufgelistet. Ich habe es den Kollegen mitgeteilt und gesagt: Das ist mein Plan, wie wir vorgehen. Was meinen Sie? Haben Sie noch andere Ideen? – Wir haben alle Ideen zusammengetragen, und es ist denen unglaublich schwergefallen, denn ihr Statement zum letzten Inspektionsbericht war: Wir können nur nicht, weil die
Schüler alle nicht so funktionieren – und das stimmt einfach nicht. Im ersten Moment erwartet
kein Lehrer, der an meine Schule geht: Oh Gott! Eine solche Heterogenität. Ich habe ein
Sprachniveau von A 1 angefangen – obwohl Schüler schon vier Jahre in der Grundschule als
Schüler tätig waren – bis hin zu B 2, und da reden Sie dann von nicht vorhandener Heterogenität aufgrund der Anzahl an ndH oder des Anteils an ndH. Dann schauen sie vielleicht ins
Wortprotokoll hinein. – Ich befürworte die Schulinspektion. Ich finde das Mentorenprogramm
wunderbar. Meine Schulaufsicht unterstützt mich hervorragend. Ich kann überhaupt keinen
Mangel darin sehen. Ich wünsche mir nur kreative Teams, die als Schulleitung das Rad nicht
neu erfinden müssen, sondern gemeinsam arbeiten, vielleicht auch in der Kombination mit
übernachgefragten Schulen usw.
Teamstrukturen habe ich an meiner Schule auch. Das haben Sie mitbekommen. Ich habe allerdings, als ich angefangen habe, die Schulleitung dort zu übernehmen, alle externen Hilfestellungen rausgeworfen. Aus welchem Grund habe ich sie rausgeworfen? – Weil ganz viele
externe Systeme von außen eingewirkt haben, und keiner hatte dieses System, die Gesamtstruktur im Blick, und die müssen wir als Schulleitung im Blick haben; und damit ist das
so, und es läuft seitdem viel besser.
Willkommensklassen – schädlich oder nicht schädlich? – Willkommensklassen sind bei mir
überhaupt nicht schädlich. Nun können Sie sagen, mein Lernniveau ist sowieso am Boden,
aber das sind Schüler, die unsere Klassen bereichern, die unglaublich engagiert und nur in
Einzelfällen schwerer zu handhaben sind, schwerer auf sie einzugehen ist. Da kann ich mich
natürlich nicht mit den anderen Schulen vergleichen, denn wenn sie bei uns mit einem A 1Sprachniveau ankommen, dann freue ich mich, wenn sie nach einem dreiviertel Jahr mit B 1
aus meinen Willkommensklassen herauskommen.
Was mache ich nach drei Jahren? – Nach drei oder auch nach fünf Jahren wird es sich an
meiner Schule ganz anders darstellen. Erst nach einem solchen Zeitraum werden Sie die ersten Erfolge in Form von Zahlen verspüren können. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass
ich in drei bis fünf Jahren mit der Schule ganz woanders stehe, auch in der Entwicklung des
Sozialraums usw. Mein Wunsch ist, die Schule nach unten zu öffnen, und da würde ich den
Erfahrungen der Anna-Seghers-Schule tatsächlich zustimmen. Ich brauche die Eltern schon
frühzeitig. Sie sind früh, in der 1., 2., 3. Klasse, noch da. Sie sind wenigstens teilweise noch
engagiert. Dann könnte ich deutlich mehr Eltern da haben. Sie haben recht, in meinem 9.
Jahrgang sitzen Klassenlehrer beim Elternabend mit einem oder vielleicht zwei Eltern da, und
das ist eine Farce.
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Unterrichtsstruktur, individuelles Lernen, Motivation, duales Lernen: Ich sage Ihnen eines,
die Willy-Brandt-Oberschule hat das Lernbüro in Berlin mit ins Leben gerufen. Lernbüro an
sich ist Sprachlabor 2.0. Lernbüro ist an sich, wie es bei mir durchgeführt wird, eine absolute
Nullnummer. Die Kinder gehen genauso unbeschadet da hinein wie sie herauskommen, ich
würde sagen, mit kaum einem Lernzuwachs. In dem Moment, wo Lernbüro anders durchgeführt wird, funktioniert es, die grundlegenden Strukturen, individuelles Lernen. Ein Schüler,
der eine Fünf oder Sechs in Mathe hat, soll der sich individuell den Pythagoras entwickeln? –
Entschuldigung! Das kann nicht sein. Das zeigt mir die Unterrichtserfahrung aus den unglaublich vielen Hospitationen, die ich gemacht habe, nicht nur an meiner Schule als böse
Schulleiterin. Übrigens, mein Kollegium hat das gewollt. Sie haben das anerkannt. Sie haben
gesagt: Ja, Sie sind kompetent in Unterrichtsentwicklung. Ich möchte, dass Sie zu mir in den
Unterricht kommen. Es ist hilfreich. – Wir kommen ins Gespräch über Unterricht, über Unterrichtsentwicklung, und nur dahingehend kann sich Unterricht entwickeln, nicht in dem Moment, dass drei Kollegen zur Fortbildung gehen und diese Fortbildung außerhalb meines Instituts, meiner Schule verbleibt. Ich habe Folgendes gemacht, ich kann es Ihnen einmal schildern, da werden Sie mich vielleicht auch wieder als rigide und böse einstufen, aber ich habe
gesagt: Jeder, der Fortbildung macht, ich begrüße und unterstütze es. Ich ziehe diese Person
komplett aus dem Unterricht heraus, wenn sie zur Fortbildung geht. Aber wenn die Person zur
Fortbildung geht, verpflichtet sie sich dazu, ein einseitiges Skript zu verfassen, wo drinsteht,
was inhaltlich bei dieser Fortbildung war und was die Person aus dieser Fortbildung mit in
den Unterricht hineinbringt. Jeder Lehrer hat bei mir vier Stunden im Jahr, das ist eine ganze
Menge, an Zeit, an Stundenkontingent, wo sie dann intern in meiner Schule sich den Hefter
anschauen können: Wo war denn der und der Kollege? Was brauche ich persönlich? – und sie
dürfen bei demjenigen hospitieren. Das ist das, was immer so schwierig erscheint, wo die
Schulleitung sagt: Mensch, das geht nicht. – Ich habe das kraft meiner Wassersuppe einfach
einmal entschieden, um den Lehrern etwas Gutes zu tun. Soll ich Ihnen sagen, was passiert
ist? – Ich habe kaum mehr Anmeldungen für Fortbildungen. Das ist passiert. Deshalb habe ich
alle Fortbildungen nur noch intern in meinem Haus organisiert. Alle Fortbildungen bleiben im
Haus, und zwar am gesamten Kollegium hängen diese Fortbildungen. Wir organisieren zusammen die Fortbildungen. Ich hole mir extern jemanden. Ich weiß genau, was ich brauche,
und das Kollegium findet das klasse. Plötzlich geht keiner mehr zu irgendeiner externen Fortbildung.
Kooperationen mit Betrieben brauche ich nicht, muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen, aus dem
einfachen Grund, weil meine Schülerinnen und Schüler noch nicht fähig sind, überhaupt
kompetent und selbstbewusst in Betriebe hineinzugehen. Das sind sie einfach noch nicht. Wir
müssen das im Rahmen von Schule machen mit Präsentationen, darstellendem Spiel, Theater
usw.
Ich stimme Ihnen zu: Frühes Anklopfen bei den Eltern und dann aber konsequentes Durchführen von Bußgeld, aus dem einfachen Grund: weil es wehtun muss. Ich erlebe Eltern und
Schüler, die mir sagen, es geht ihnen doch hier wunderbar. Sie müssen nicht arbeiten. Sie
kommen trotzdem super über die Runden. Und wenn Kinder das miterleben, dann haben sie
oft dieses Gefühl: Das ist ja schon erfolgreich. Das ist doch gar nicht so schlimm. – Wir haben ein Sozialsystem, das uns extrem schützt, und in dem Moment muss es mal wehtun. Ich
kann Ihnen ein Beispiel nennen: Ein Schulleiter aus einer anderen Schule hat mir einen brennenden, heißen Tipp gegeben, und er funktioniert. Das war eine Kifferschule, hieß es, und er
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wollte unbedingt, dass nicht mehr gekifft wird. Er hat sich mit dem Ordnungsamt zusammengetan, und jedes Mal, wenn er einen Schüler erwischt hat, der geraucht oder in irgendeiner Art
und Weise etwas anderes genommen hat, sprich: in der Öffentlichkeit, auf dem Schulhof,
dann hat er das Ordnungsamt gerufen bzw. eingeschaltet. Spätestens nachdem das fünfte
Knöllchen vom Ordnungsamt an die Eltern gekommen ist, hat der Schüler aufgehört, in der
Schule zu rauchen. Er hat dadurch eine fast rauchfreie Schule entwickelt, und warum sollte
das mit dem Rauchen nicht auch mit der Schuldistanz funktionieren, frage ich Sie. Aber die
Lösung muss ich glücklicherweise nicht schaffen. – Danke schön!
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Frau Franke! – Frau Jurczyk, bitte!
Angelika Jurczyk (Anna-Seghers-Schule): Es ist relativ schwer, nach all den Wortmeldungen und Beiträgen, die Sie gebracht haben, irgendwie ein System reinzukriegen, um zu antworten, denn es waren viele Statements dabei. Man konnte manchmal nicht unterscheiden, ist
es eine Frage oder ist es eine Darstellung. Ich versuche einmal zu sortieren, was mir aufgefallen ist. Es ist nach der Ausgangslage gefragt worden. Ich verstehe Ausgangslage so: Was
kommt bei mir in Klasse 1 an? – Wir als Gemeinschaftsschule haben kein Einzugsgebiet in
dem Sinne, das heißt, die Schülerinnen und Schüler, die zu uns kommen, müssen sich erst an
einer Grundschule ihres Einzugsgebiets anmelden und dann einen Antrag auf Umschulung an
eine andere Schule stellen. Das müssen die Eltern machen, das heißt, der Bezirk legt dann
fest: Es gibt ein definiertes, jedes Jahr anderes Einzugsgebiet, und dazu kommen dann die
entsprechenden anderen Bedingungen. Die Eltern müssen sich dazu äußern, ob sie sich mit
dem Schulversuch Gemeinschaftsschule identifizieren, ob Sie sich mit dem Schulprogramm
identifiziert haben. Das sind Randkriterien, die dabei eine Rolle spielen. Insofern haben wir
als Schule oder ich als Schulleiterin überhaupt keinen Einfluss in irgendeiner Form auf die
Schülerinnen und Schüler, die zu uns kommen. Das ist eine Frage der Zusammenarbeit zum
einen mit den Kindergärten, aber auch – in Adlershof ist so ein bisschen wie ein Dorf – der
Mundpropaganda, also wie wir arbeiten, das spricht sich herum, und dementsprechend ist
dann auch die Nachfrage. Das zur Ausgangslage. – [Hildegard Bentele (CDU): Sehr informierte Eltern?] – Davon gehe ich aus, dass die Eltern sich, wenn sie die Schule wählen, natürlich im Vorfeld informieren.
Dann ging es darum, dass alle Schülerinnen und Schüler einen Abschluss schaffen. Die Schülerinnen und Schüler in den letzten zwei, drei, vier Jahren sind noch keine Schülerinnen und
Schüler, die durch die Gemeinschaftsschule gegangen sind. Das sind noch Schülerinnen und
Schüler, die erst in Klasse 7 – – Da waren wir zwar Gemeinschaftsschule, aber es sind noch
nicht unsere eigenen Grundschüler, sondern die sind jetzt erst in der 8. Klasse, das heißt, die,
die durch unsere eigene Grundschule gegangen sind. Die, die wir jetzt in den Abschlussklassen haben, sind also Schülerinnen und Schüler, die in Klasse 7 zu uns gekommen sind, und da
war natürlich im Vorfeld der Einfluss in der Grundschule auf die Eltern noch gar nicht da. Da
ist die veränderte Arbeit, die wir in Klasse 7 begonnen haben mit der Gemeinschaftsschule,
diese Veränderung innerhalb der Struktur der Schule, die Bildung von Jahrgangsteams, sogenannte Flure für die Jahrgänge, die Klassen sehr eng beieinander, ohne dass es irgendwelche
zusätzliche personelle Ausstattung gibt – – Nicht, dass wir hier über 100 Prozent ausgestattet
werden. Wir haben am Anfang des Schulversuches finanzielle Unterstützung gehabt. Wir haben etwas mehr Personal gehabt, das ist aber im Laufe der Jahre im Prinzip ausgelaufen, das
heißt, wir haben die ganz normale Ausstattung wie alle anderen. Man muss einfach gucken:
Wie kriegt man das gut hin? Wer passt wozu? Die Teambildung hat etwas damit zu tun und
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auch das Wohlfühlen der Lehrerinnen und Lehrer an der Schule, das heißt, man muss auch da
gucken: Wie kriegt man die Arbeitsbedingungen an der Schule so hin, dass der Lehrer, dessen
Arbeitstag sich verlängert, das ist gar keine Frage, mit einer teilgebundenen Ganztagsschule
verlängert sich auch die Arbeitszeit der Lehrer, und mit der Teamarbeit, dieses ständige, sehr
häufig miteinander zu arbeiten, verändere ich auch den Tagesablauf, und da zu gucken, dass
der Lehrer einen ordentlichen Arbeitsplatz hat. Da muss man einfach einmal innerschulisch
Strukturen schaffen, die dem entgegenkommen, sodass der Lehrer zwar sagt: Ich war heute
zwei Stunden länger da als sonst, aber ich gehe hier raus und habe mich ausgetauscht und
nehme nicht mehr so viel mit nach Hause, sondern ich habe die Möglichkeit, innerhalb meines Teams, mich mit den Kollegen, die relativ viel die gleichen Kinder immer wieder haben,
über die Probleme, die es gibt, auszutauschen.
Es wurde danach gefragt, was wir uns als Schule wünschen. – Ich habe schon ganz viele Vorteile gehabt. Ich habe also diesen Verwaltungsleiter, weil ich an einer großen Schule bin. Ich
habe lange gebraucht, bis ich den richtigen gefunden habe. Ich habe ihn jetzt. Er nimmt mir
ganz viele organisatorische Dinge ab. Er ist ein Verwaltungsmensch. Er hat von diesen Dingen Ahnung, und er kann sie gut umsetzen. Ich finde auch, diesen Verfügungsfonds, den wir
dieses Jahr das erste Mal zur Verfügung gestellt bekommen haben – – Ich habe 20 000 Euro,
weil ich eine große Schule bin. Vorhin hatte ich den Eindruck, dass man sagt: Jede Schule
kriegt 20 000 Euro. Das ist nicht so. Das ist abhängig von der Größe der Schule. Je größer ich
bin, desto mehr Geld habe ich zur Verfügung. Ich habe damit ein relativ großes Spektrum und
relativ viel Freiheit, damit umzugehen. Das muss ich gut besprechen. Dann muss ich gut auch
mit den Kolleginnen und Kollegen und auch mit den Eltern im Gespräch sein. Wie setze ich
es sinnvoll ein? Das ist dieses Jahr erstmalig. Da guckt man erst einmal: Was kann ich damit
machen? Aber es gibt Möglichkeiten, es auf verschiedenen Gebieten einzusetzen.
Was ich mir wünschen würde, ist Zeit, mehr Zeit für bestimmte Dinge. Der Tag hat nur
24 Stunden, und Schule braucht auch mal eine Zeit, wo man sie – in Anführungsstrichen –
zufriedenlässt, sie arbeiten lässt. Wenn ich immer wieder hinterfragt werde, wenn immer wieder Dinge, die ich gerade angeschoben habe, mit denen ich begonnen habe, in die Diskussion
geraten – das mache ich intern. Ich evaluiere mich intern und gucke natürlich darauf. Aber
wenn ich immer wieder damit in der Öffentlichkeit stehe, mich vielleicht auch rechtfertigen
muss, dann macht es die Arbeit einfach schwierig. Auch der Stand des Lehrers in der Öffentlichkeit ist schwierig. Dieses immer wieder öffentlich bloßgestellt zu werden, dargestellt zu
werden, für Dinge verantwortlich gemacht zu werden, für die man nur bedingt etwas kann, ist
schwer. Dieses Berufsbild Lehrer in eine Situation zu bringen, dass man sich darin auch wohl
fühlt und nicht immer das Gefühl hat: Lehrer, Ferien. Dafür muss ich mich dann auch noch
rechtfertigen, denn ich bin eigentlich nur ständig zu Hause. Das ist also dieser Prozess, dass
man zur Ruhe kommen kann als Schule, diese Verlässlichkeit, auch zu sagen: Okay, das ist
jetzt Gesetz, so sollen wir es jetzt machen, und ich warte nicht darauf, dass in ein, zwei, drei
Jahren das alles wieder gekippt wird und fange wieder bei null an oder muss mich wieder auf
neue Situationen einstellen. Das ist das, was die Arbeit schwierig macht. Was ich als Schulleitung brauche, ist eine Vision. Ohne Vision, ohne Schulleitungen, die eine Vision haben von
dem, wo es hingehen soll, funktioniert es nicht. Da hat man auch die Lehrer relativ gut mit im
Boot, wenn man ihnen einfach auch die Perspektive zeigt, wo es hingehen soll. Das gelingt
sicherlich unterschiedlich gut. Erstens sind wir unterschiedliche Menschen. Der eine ist eine
solche Führungspersönlichkeit, der andere ist eine andere. Ich denke, auch das spielt eine Rolle, aber insgesamt ist es wichtig, dass man sich darauf verlassen kann.
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Die personelle Ausstattung ist eine ganz schwierige Situation. Man versucht, neue Leute einzustellen. Ich habe das über mehrere Jahre immer mit durchlaufen, dieses sogenannte Casting.
Ich finde es gut, dass man das ein Stück weit in den Bezirken verändert hat, dass man im Vorfeld sehr genau gucken kann, welche Referendare werden in den Bezirken ausgebildet? Welche Schule würde gerne welchen Referendar behalten? Wer passt zu wem? In anderthalb Jahren kann ich Ihnen relativ gut sagen: Diesen Referendar habe ich ausgebildet. Der passt gut zu
mir. Der passt zu meinen Strukturen. Der hat sich mit der Schule identifiziert. Und wenn derjenige dann auch sagt: Ich würde gerne bleiben, dann ist das im Vorfeld auch eine gute Kombination. In einem Vorstellungsgespräch von fünf Minuten kann ich es überhaupt nicht einschätzen: Passt er, passt er nicht. Man kann sich wunderbar verkaufen, und dann fällt es den
anderen schwer zu sagen: Das ist derjenige, der passt. Auch dieses Sich-Öffnen – – Ich habe
mittlerweile zehn Referendare im Halbjahr ausgebildet, die auch an der Schule bleiben können, das heißt, dieser Wandel von Alt und Jung, diese Durchmischung funktioniert gut, wenn
ich die ausgebildeten Referendare dann auch an der Schule behalten kann. Das hat auch ein
bisschen was damit zu tun: Was traue ich mich als Schulleitung? Wie kommuniziere ich mit
Schulaufsicht? Sage ich auch mal, ich fahre mal ein Stück weit unterfrequentiert, weil ich
weiß, ich bilde jemanden aus, den würde ich gerne haben wollen, und versuche dann, über die
Möglichkeiten, die Schule hat, in der Eigeninitiative oder auch der Eigenverantwortlichkeit zu
sagen: Das kann ich. Das kann ich ganz gut abdecken, ohne dass ich jammere und sage: Ich
bin unter 100 Prozent ausgestattet, sondern ich sage: Die Zeit überbrücke ich, und dann habe
ich einen guten Menschen an meiner Seite, der auch mit der Schule und mit uns gut zusammenarbeitet.
Vorsitzende Renate Harant: Vielen Dank! – Es ist unheimlich spannend, was wir hier zu
hören kriegen, aber wir haben auch noch etwas anderes auf der Tagesordnung, darum muss
ich ein bisschen zur Eile mahnen, Herr Pawollek. Das soll aber nicht heißen, dass Sie uns
nicht auch Ihre Gedanken nahebringen können.
Detlef Pawollek (Röntgen-Schule): Ich folge Ihrer Bitte. Fluch und Segen des Redners, der
zuletzt dran ist. – Was mir auffällt ist, das Thema Schule ist ganz schwer zu beleuchten, und
vor allem ist es ganz schwer auf den Punkt zu bringen. Das sehe ich an den Kolleginnen und
Kollegen, die neben mir sitzen. Jeder hat einen persönlichen Blick auf die Dinge. Jeder hat
unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Und wenn ich sehe, was Sie alles in Ihren Statements gesagt haben, dann hat jeder auch von Ihnen ein ganz persönliches Weltbild, und man
merkt, welche Dinge bevorzugt und welche abgelehnt werden. Das ist aber auch das, was die
Diskussion um diese Frage so schwer macht, weil es ganz viele Sichtweisen gibt, ganz viele
Informationen, wo es aber sehr schwer ist, das Wissen daraus zu generieren und dann zu Lösungen zu kommen, die auch tragfähig sind. Was auch in dieser Situation deutlich wird, ist, es
sind sehr punktuelle Betrachtungen. Da wird Unterricht betrachtet, ein bisschen die Schulaufsicht. Dann wird ein bisschen die Senatsverwaltung kritisiert. Dann wird gefragt, wie man es
bessermachen kann. Ich stelle aber fest, dass es sicherlich keine allgemeingültige Formel hier
geben wird, die alle befriedigt. Aber dennoch will ich die Antwort nicht schuldig bleiben,
wenn auch ich gefragt bin, was ich mir wünsche. Wenn Sie sagen, einen Schulsozialpädagogen mehr, sage ich: Klar, nehme ich mit. Sie können mir auch drei geben. Wollen Sie noch
100 000 Euro? – würde ich sagen: Warum nicht? 200 000 Euro wären auch gut. Das ist aber
aus meiner Sicht nicht die Frage, denn ich stelle immer wieder etwas ganz anderes in meiner
alltäglichen Arbeit fest. Es fehlt in Berlin an verlässlichen Strukturen. Jetzt wird sich jeder
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Fragen: Was meine ich damit? – Ich stelle fest, in der alltäglichen Arbeit hängt sehr viel von
persönlicher Beziehung ab. Gibt es einen guten Schulrat, funktioniert es gut. Gibt es einen
schlechten Schulrat, einen kränklichen Schulrat, einen fehlenden Schulrat, funktioniert es gar
nicht. Gibt es eine gute Zusammenarbeit im Bezirk mit Jugend, kommt man zu guten Ergebnissen. Mauert Jugend, weil die Jugendamtsleitung das nicht will, weil die Zusammenarbeit
als zu schulnah betrachtet wird, läuft gar nichts.
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Ich stelle fest, dass die Senatsverwaltung – vorne sitzen ja Herr Rackles und Frau Klebba –
auch die Schwierigkeit hat, die Dinge, die programmatisch durchaus gut auf den Weg gebracht werden, in die Bezirke hineinzutragen. Da komme ich zu einem entscheidenden Punkt.
Wir reden hier, wenn wir über Strukturen und über Schule reden, inzwischen immer über
mindestens drei Partner: Schule, Senatsverwaltung, insbesondere Schulaufsicht, und Jugend.
Alles, worüber wir heute diskutiert haben, betrifft auch die in einem ganz besonderen Maße.
Dann haben wir noch verschiedene Bezirke, und jeder Bezirk hat seine eigene Handschrift
und seine eigenen Geschmäcker. Somit können wir uns ganz lange über ganz tolle Leuchttürme unterhalten, wir werden aber nie dahin kommen, diese flächendeckend einzuführen,
wenn wir nicht verstehen, dass wir innerhalb Berlins Strukturen brauchen, die nicht von persönlichen Beziehungen abhängig sind, sondern auf der Arbeits- und Sachebene Verlässlichkeit herausbilden. Daran mangelt es aus meiner Sicht ganz entscheidend.
Ich würde gern noch auf die Frage eingehen, was ich unter Eigenverantwortlichkeit verstehe.
Ich verstehe darunter, dass wir als Schule z. B. die Möglichkeit haben – auch ich als Schulleitung –, Entwicklungsvorhaben in einem Rahmen voranzubringen, der organisatorisch über
das Gewöhnliche hinausgeht. Ich nenne Ihnen das Beispiel, das wir gerade an der Schule diskutieren: Ich versuche, das zu machen, was viele andere auch machen, ich versuche, die Aufgaben zu verteilen. Schule muss Ganztag organisieren, Kooperationspartner haben, duale Bildung bevorzugen und befördern, das Gemeinwesen im Blick haben, die Elternarbeit und, und,
und. Hinzu kommen die Aufgabenbereiche, die rein unterrichtlich zu betrachten und eigentlich in der sehr preußischen zentralen Betrachtungsweise von den Strukturen her – 45 Minuten Unterricht, 5 Minuten Pause – nicht mehr zu bewältigen sind. Unser Entwicklungsvorhaben geht dahin, dass wir sagen: Wir wollen auf Jahrgangsebene eine Autonomie erreichen, die
nicht nur darin zum Ausdruck kommt, dass wir ein Lernbüro einführen, sondern auch
dadurch, dass in den Jahrgängen entschieden wird, wie gearbeitet wird, bis hin dazu, dass
Vertretung organisiert wird und es ein flexibles Arbeitszeitmodell gibt – Kernarbeitszeit, Präsenz an der Schule, ein aus meiner Sicht sehr wichtiges Thema. Weitere Aspekte der Eigenverantwortlichkeit sind der Umgang mit Schuldistanz und Schulversäumnisanzeigen. Es ist
hier immer so vehement darüber gesprochen worden, wie hart man damit umgehen muss. Das
Einfordern von Anwesenheit oder aber Bußgelder scheitern an administrativen Einschränkungen. Wir können die zehn Fehltage gar nicht umgehend in der Art und Weise einführen, weil
es juristisch betrachtet Fristen gibt, die eingehalten werden müssen. Es werden also weiterhin
Kinder ohne Weiteres ein halbes Jahr die Schule nicht besuchen müssen – die können das
aussitzen, wenn die Familien das mitmachen –, bevor die Schule überhaupt in der Lage ist,
darauf einzugehen und ihrer habhaft zu werden. Das ist aus meiner Sicht gut gemeint, es ist
am Ende die Pflicht der Schule, dieses zu erfüllen, aber es ist nicht so, dass die Schule
dadurch mit viel mehr Nachdruck, rein juristisch oder formell betrachtet, agieren kann. Das ist
ein Papiertiger.
Auf Ihre Frage, woher ich das mit den Willkommensklassen weiß: Ich habe die Erfahrung.
Die Kinder, die zu uns kamen und keine Deutschkenntnisse hatten – wir hatten Kinder aus
Osteuropa, die nicht alphabetisiert waren –, führe ich in vier Jahren nicht zum Abschluss. Das
geht gar nicht. Alles, was ich machen kann, ist, sie in der deutschen Sprache so fit zu machen,
dass sie ihren weiteren Lebensweg gehen, und wenn sie 16, 17, 18 Jahre sind, dann verlassen
sie meinen Schultyp. Aber ich finde, wir haben viel geleistet. Wenn der Abschluss im Vordergrund steht, dann kann ich nur sagen, es war eine viel zu hohe Erwartung. Wenn Sie mir
die Frage stellen, woher ich weiß, dass immer mehr Eltern nicht mehr die Erziehungsgewalt
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und die Erziehungskompetenz haben, dann sage ich: Das ist meine Erfahrung. Wir hatten gestern ein Beispiel – ohne dass ich sie damit noch langweilen möchte –, wo im Rahmen der Elternarbeit eine arabische Frau zu unserer Mitarbeiterin kam und sagte, dass sie jetzt Anzeige
gegen ihren Sohn erstattet hat, weil sie schon seit längerer Zeit in Trennung lebt und der Sohn
sie schlägt. Es herrscht häusliche Gewalt. Die jüngeren Brüder sehen, wie die älteren mit ihrer
Mutter umgehen – kein Respekt, keine Erziehungskompetenz, sondern Gewalt. Das ist kein
Vorwurf, das ist ein Phänomen, das sind Tatsachen. Das heißt, mit diesen Fragen gilt es umzugehen, und gerade in dem Milieu, von dem ich spreche, ist dieses nicht selten anzutreffen.
Schulinspektion ist nicht per se schlecht. Wenn es aber dazu kommt, dass ich in zehn Jahren
jetzt meinen sechsten Schulaufsichtsbeamten habe, dann ist das nicht Ausdruck von Kontinuität. Wer das zu verantworten hat – ich will jetzt nicht in die Richtung von Herrn Rackles blicken, ich kann es auch wirklich nicht, ich meine es auch nicht so –, weiß ich nicht. Aber es ist
letztlich trotzdem schlecht, weil das keine kontinuierliche Arbeit zulässt. In Neukölln war die
Schulpsychologie zwei Jahre lang nicht existent, weil es keine Mitarbeiter gab.
Sie haben die Fortbildung und Vernetzung von Schulleitern angesprochen. Die ist von der
Senatsverwaltung, wie ich finde, ausgesprochen gut initiiert worden, noch von Herrn Stryck.
Es gab ein Fortbildungsangebot, an dem viele Schulleiter sich rege beteiligten. Hintergrund ist
ein Mentorenprojekt gewesen, bei dem erfahrene Schulleiter sich in den Dienst von jüngeren
stellen, um diese in ihrer Arbeit zu begleiten. Dieses fand seine Umsetzung, soweit ich weiß
auch seine Fortführung. Woran es aber mangelt – da gebe ich meiner Kollegin recht –, ist
wieder an Zeit. Ich habe persönlich an diesem Angebot teilgenommen, es hat mir sehr viel
gebracht. Ich hatte die ernste Absicht, auch ein Mentor zu sein. Ich habe es letztlich gelassen,
weil die Arbeit, die ich innerhalb der Schule habe, für mich Vorrang hat und sich das also
nicht mehr ermöglichen ließ. Es ist nicht alles schlecht, aber ich sehe, es lässt sich in dem
Umfang – da haben wir uns alle überfordert –, von den Inhalten und Aufgaben im Rahmen
der Ganztagsschule her weder steuern noch bewältigen. Von daher muss ich wiederum der
Kollegin recht geben: Es wäre manchmal gut, wenn wir Zeit zum Durchatmen hätten, die Sache sacken lassen und sagen, wir schütteln uns ein bisschen, gucken, wo wir sind, machen
eine Bestandsaufnahme und gucken, wie es weitergeht, aber nicht in der Hetze, nicht mit der
Geschwindigkeit, nicht mit dem Druck, mit dem wir im Moment arbeiten müssen. – Vielen
Dank!
Vorsitzende Renate Harant: Danke, Herr Pawollek! – Als Letztes hat nun die Senatsverwaltung das Wort. – Herr Rackles, bitte!
Staatssekretär Mark Rackles (SenBildJugWiss): Die letzten Worten von Herrn Pawollek
würde ich teilen. Es wäre schön, wenn man gelegentlich mal durchatmen könnte, aber leider
ist es in Berlin nicht so. Das kann man nur zur Kenntnis nehmen. Eine Frage von Frau Bentele war, ob man die Willkommensklassen nicht aus den Statistiken rausnehmen könnte. Das ist
durchaus etwas, was wir erwägen, auch wegen der Sprachförderung für diejenigen, die aus
den Willkommensklassen rausgehen. Im Moment gehen die Kinder aus den Willkommensklassen ohne ein Merkmal in die Regelklassen. Deswegen können wir auch die Frage nicht
beantworten, wie viele Flüchtlingskinder im Moment in den Regelklassen sind. Das ist ein
Problem für uns. Das würden wir gern ändern. Da müssen noch ein paar Klärungen mit dem
Datenschutz erfolgen, wir gehen aber in diese Richtung. Für uns ist es wichtig, einmal aus
Fördergründen und zum anderen aus Gründen, die Prüfungen betreffen, Stichwort: Nachteils- stz/vo -
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ausgleich. Wenn man so etwas gewähren will, muss man wissen, was der Hintergrund ist. Wir
sind an dem Thema dran. Im Moment ist es so, dass die Kinder in die Prüfung gehen, weil sie
ganz normale Schulkinder in bestimmten Jahrgangsgruppen sind und dann eben in die Prüfung gehen. Natürlich führt das zwangsläufig dazu, dass bestimmte – – Die Zahlen kommen
ja jetzt erst langsam in Quantitäten rein, das wird schon eine relevante Rolle spielen. Aber das
soll nicht das Phänomen kleinreden, das wir unabhängig von den Flüchtlingskindern bei den
Schulabschlüssen haben.
Von Herrn Delius wurde gefragt, ob duales Lernen überhaupt etwas bringt. Wir sagen, ja. Im
Bereich produktives Lernen haben wir eine Abschlussquote von 70,8 Prozent, alles schwierige, schwierigste Kinder. Im Bereich Praxislerngruppen, wo die Kinder grundsätzlich die
Prognose haben, keinen Abschluss zu schaffen, haben wir eine Abschlussquote von 60,2 Prozent. Es ist also immer noch ein relevanter Anteil von Kindern, die ohne Abschluss da rausgehen, aber wenn man bedenkt, all diese Kinder haben das Testat: Schaffen’s nicht! –, ist das
eine relativ erfolgreiche Unterrichtsform, sodass wir sagen, produktives Lernen und Praxislerngruppen machen weiterhin Sinn. Stichwort Flüchtlinge: Wir glauben sogar, dass das auch
für die Flüchtlinge ein interessantes Angebot ist, um in dem Bereich noch mal intensiver beschult zu werden.
Der Behauptung, dass sich die Statistiken nach 2011dramatisch verschlechtert hätten, möchte
ich widersprechen. Wir haben 2014/15 – letzte verfügbare Zahlen, die nächsten kommen jetzt
erst – 3 009 Kinder ohne Schulabschluss bei den Schulentlassenen. Es waren vor fünf Jahren
2 487, also etwa 500 weniger. Bei einer erhöhten Zahl von Kindern im Schulsystem ist das
nicht dramatisch. Es sind 3 000 zu viel, richtig, aber in der Zeitreihe würde ich jetzt nicht sagen, dass es eine dramatische Zuspitzung in den letzten fünf Jahren gegeben hat. Es ist relativ
stabil von der Quote her. Die liegt bekanntlich um die 11, 12 Prozent in diesem Bereich.
Herr Pawollek, nur an einem Punkt würde ich widersprechen, nämlich dass der Umgang mit
Schuldistanz ein Papiertiger ist. Die Schulaufsicht Mitte – das war schon mal Thema hier –
hat mit dem Familiengericht, mit dem Jugendamt und der Polizei eine sehr enge Kooperation,
die ausgesprochen erfolgreich ist. Wenn man will – das hängt immer am Willen der Schulleitung und auch der Akteure –, kann man diese vermeintlichen Fristen stark verkürzen. Sie
können als klassenleitende Lehrkraft – auch als Schulleitung, aber wir haben Fälle, wo Klassenleitungen das selber machen – direkt ans Familiengericht gehen, wenn Sie das Gefühl haben, durch eine gehäufte Form von Schuldistanz oder Fehlzeiten, die übrigens fünf Tage und
nicht zehn Tage sind, ist das Kindeswohl gefährdet, und unmittelbar die Kindeswohlgefährdung geltend machen. Das ist eine Vereinbarung, die wir mit den Familiengerichten haben.
Das wird dann auch geprüft. Unsere Erfahrung ist: Diese Vorladung mit dem Jugendamt und
dem Familiengericht hat einen entscheidenden Effekt auf diese Familien. Das löst nicht alle
Probleme, aber das geht so ein bisschen in Richtung Konsequenz. Das ist tatsächlich etwas,
wo ich sagen würde, da kann man noch deutlich mehr rausholen. Dass wir bestimmte Regularien haben, auch zum Schutz vor einem überstarken Staat, ist völlig richtig, aber ich glaube,
da beweisen einzelne Regionen, dass man durchaus noch mehr machen kann. Es geht ja in die
Richtung, die Sie genannt haben, enge Abstimmung aller Akteure, die dann auch funktionieren muss. Wir hätten großes Interesse daran, dass diese Kooperation aus Mitte sich in weiteren Regionen verbreitet. Das sind konkrete Antworten auf Schuldistanz, wo man tatsächlich
mit der Konsequenz, die Frau Franke auch angedeutet hat, durchaus noch mehr machen kann.
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Vorsitzende Renate Harant: Jetzt bleibt mir nur noch, mich zu bedanken bei den Anzuhörenden für die sehr interessanten Ausführungen, die sie gemacht haben. Wir werden die Tagesordnungspunkte vertagen, bis das Wortprotokoll vorliegt, und dann sollten eigentlich die
Konsequenzen aus diesem Wortprotokoll erfolgen. Ich bedanke mich und wünsche einen guten Heimweg. – [Beifall] –
Punkt 3 der Tagesordnung
Stellungnahmeersuchen des Hauptausschusses Bericht
SenBildJugWiss – II D (V) – vom 17.2.2016
Rote Nummer 2668
7. Klassen der Gymnasien
Angleichung der Ausstattung an die der ISS zum
neuen Schuljahr
0387
BildJugFam
Siehe Inhaltsprotokoll.
Punkt 4 der Tagesordnung
Vorlage – zur Beschlussfassung –
Drucksache 17/2696
Gesetz über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei
psychischen Krankheiten (PsychKG)
0383
BildJugFam
GesSoz(f)
Haupt
Recht
Siehe Inhaltsprotokoll.
Punkt 5 der Tagesordnung
a) Besprechung gemäß § 21 Abs. 3 GO Abghs
Situation wohnungsloser Familien und Kinder in
Berlin
(auf Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU, Bündnis
90/Die Grünen, Die Linke und der Piratenfraktion)
0361
BildJugFam
Hierzu: Auswertung der Anhörung vom 03.12.2015
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b) Antrag der Fraktion Die Linke
Drucksache 17/2759
Jedes Kind braucht ein Zuhause! Wohnungs- und
Obdachlosigkeit von Familien mit Kindern
verhindern
0392
BildJugFam(f)
GesSoz
Hinweis: Eine Beschlussfassung über den Antrag ist
noch nicht möglich.
c) Antrag der Piratenfraktion
Drucksache 17/2778
Leitlinien zur Wohnungslosenhilfe und -politik
familiengerecht fortschreiben!
0393
BildJugFam
GesSoz(f)
d) Besprechung gemäß § 21 Abs. 3 GO Abghs
Versorgung junger Menschen mit geeignetem und
bezahlbarem Wohnraum im Bereich HzE (z. B.
betreutes Einzelwohnen), im Prozess der
Verselbständigung und nach Beendigung der HzE –
Probleme und mögliche Lösungsansätze
(auf Antrag der Fraktion Die Linke)
0107
BildJugFam
Vertagt.
Punkt 6 der Tagesordnung
Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der CDU
Drucksache 17/1001
Sprachlerntagebuch
0133
BildJugFam
Hierzu: Änderungsantrag der Piratenfraktion
Siehe Inhaltsprotokoll.
Punkt 7 der Tagesordnung
Verschiedenes
Siehe Beschlussprotokoll.
- stz/vo -