Der Bund - Theater Gurten
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Der Bund - Theater Gurten
36 Donnerstag, 9. Juni 2016 — Der kleine Finale O-Ton «Wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht.» Eugène Ionesco Kulturnotizen Theater Harry-Potter-Stück in London begeistert Fans und Kritiker Mit enthusiastischen Kritiken und stehenden Ovationen ist die erste Vorpremiere des Theaterstücks «Harry Potter und das verwunschene Kind» in London aufgenommen worden. Das geheimnisumwitterte Drama von Erfolgsautorin J. K. Rowling am Londoner Palace Theater löste eine ähnliche Begeisterung aus wie zuvor die sieben Bände und acht Filme. Laut «Daily Telegraph»-Kritikerin Hannah Furness stellte das Stück auch eingefleischte Potter-Fans zufrieden. «Alle Ängste, dass die Welt von Hogwarts auf der Bühne mit der Konkurrenz der dollarmillionenteuren Spezialeffekte der Filme zu kämpfen haben würde, wurden schnell ausgeräumt.» Die offizielle Premiere des Stücks findet am 30. Juli statt, das Buch kommt einen Tag später in den britischen Handel. Der Bühnenplot spielt 19 Jahre nach dem letzten Band «Harry Potter und die Heiligtümer des Todes». Im Stück ist Harry längst erwachsen, verheiratet mit Ginny Weasley, der Schwester seines Freundes Ron, und Vater von drei Kindern. Zur Arbeit geht er ins Ministerium für Zauberei. Noch bevor der Vorhang sich zum ersten Mal öffnete, war das Theaterstück bereits ein kommerzieller Erfolg. Die ersten 175 000 Eintrittskarten waren im Oktober in weniger als 24 Stunden verkauft. Auch das Buch zum Bühnenstück ist jetzt schon ein Bestseller. (sda) Kunst Christoph Eisenring erhält Manor-Kunstpreis Der 33-jährige Winterthurer Künstler Christoph Eisenring erhält den ManorKunstpreis 2016 des Kantons Zürich. Verbunden mit der Auszeichnung ist eine Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur im September. Dann wird dem Künstler auch der mit 15 000 Franken dotierte Preis übergeben. Die Jury habe sich für einen Künstler ausgesprochen, der mittels minimaler Eingriffe in räumliche Situationen zu überraschenden plastischen Formulierungen gelange, schreibt das Kunstmuseum Winterthur in einer Mitteilung vom Mittwoch. Dabei arbeite Eisenring nicht allein mit Objekten, sondern bediene sich auch der Fotografie und der Zeichnung auf Papier und auf der Wand. (sda) «Ihr dürft es ruhig auf die Spitze treiben»: Livia Anne Richard choreografiert den Streit von Behringer (Fredi Stettler, links) und Hans (Markus Maria Enggist). Foto: Valérie Chételat Und plötzlich ist da diese Beule Wie verwandelt man einen Menschen auf der Bühne in ein Nashorn? Für die Freilicht-Inszenierung von Ionescos «Die Nashörner» setzt Regisseurin Livia Anne Richard ganz auf die Musik von Hank Shizzoe. Brigitta Niederhauser «Ich schaue nie in den Spiegel», sagt Fredi Stettler. Er braucht dort nicht nachzuschauen, ob ihm über der Nase ein Horn wächst. Stettler spielt den Behringer. Und mit seinem markanten Gesicht und seiner bedächtigen Art ist er eine ideale Besetzung für den letzten Menschen und Helden von Eugène Ionescos Theaterklassiker «Die Nashörner», der heuer als Freilichtspiel auf dem Gurten gezeigt wird. «Ein äusserlich und innerlich zerknitterter Typ», kommentiert Regisseurin Livia Anne Richard die Hauptfigur. Premiere ist in zwei Wochen, und minutiös wird auf der abschüssigen Bühne zum x-ten Mal die wohl schwierigste Szene des Stücks geprobt, die Verwandlung von Behringers Freund Hans in ein Nashorn. «Du darfst dich an Behringer abreagieren, aber nicht auf ihn eingehen», sagt Richard zu Markus Maria Enggist, der diesen Hans mit schwerem Gang und noch schwererem Atmen spielt. «Warum söui nid Nashorn sy, i ha gärn Verän- derige», schnaubt Hans. Verständigung ist keine mehr möglich, die Beule wächst, Hans wird zum Tier, will Nashorn sein wie alle anderen, die Wirtin, die Krämersfrau oder der Logiker Richard ist begeistert: «Ihr könnt es ruhig auf die Spitze treiben.» «Auf Papphörner verzichten wir», sagt Richard. Zwar hat Ionesco solche bei der Uraufführung von 1960 empfohlen, doch die Regisseurin, die bereits zum achten Mal auf dem Gurten inszeniert, setzt statt auf aufwendige Requisiten und Kostüme ganz auf die Musik. Nicht nur bei der Verwandlung. «Sie ist der Motor des Stücks, sie soll beim Publikum das Kopfkino in Gang setzen.» Bedrohlich ist denn auch die sparsame Tonspur, mit der Hank Shizzoe Hans’ Verwandlung unterlegt. Auch auf Nashornmasken wird verzichtet. «Die sorgen gern für unfreiwillige Komik, und die will ich auf jeden Fall vermeiden», sagt Richard. Zwar fange das Stück ganz heiter an, doch dann passiere die schlimmstmögliche Wendung. «Da ist Ionesco wie Dürrenmatt.» Und die Stücke des rumänisch-französischen Dramatikers brauche man so wenig zu entstauben wie jene des Berner Schriftstellers. «Sie sind zeitlos und aktuell.» Pegida und Facebook Eine eigene, verstörende Erfahrung soll Ionesco (1909–1994) zu den «Nashörnern» inspiriert haben: Angewidert verliess er 1938 Rumänien, als so viele seiner Bekannten sich der Eisernen Garde, einer faschistischen Bewegung, anschlossen. Bei den «Nashörnern» denkt Livia Anne Richard aber nicht nur an Pegida und andere Bewegungen, die rechtes Gedankengut salonfähig machen wollen. Auch das eigene Verhalten wird kritisch wahrgenommen. So habe sie sich lange um Facebook foutiert. «Aber dann musste ich realisieren, dass ich einiges nicht mehr mitbekomme.» Sie habe aber dazugehören wollen. «Und jetzt trample ich halt mit.» Auf Facebook wird im Stück denn auch das erste Foto eines Nashorns gepostet. Das ist eine der wenigen Änderungen am leicht gestrafften Text, die Richard für ihre berndeutsche Fassung vorgenommen hat. Auch sind ein paar der Figuren nun Frauen statt Männer. «Frauen sind heute viel pragmatischer», hat die 47-Jährige beobachtet. Für die Besetzung der 13 Rollen konnte sie auf einen Pool von rund 150 Laienschauspielerinnen und -spieler zurückgreifen. «Schon bei der ersten Durchsicht eines Stücks habe ich dann jeweils sofort die richtige Besetzung vor Augen.» Ganz verschiedene Persönlichkeiten waren für die aktuelle Produktion gefragt. Für die Rollen der kleinen Leute und der grossen intellektuellen Schwätzer, die es alle plötzlich so schick finden, graue, rücksichtslose Dickhäuter zu sein. «Sogar deren Schnauben finden sie lieblich», sagt Richard. «Sie singen, heisst es dann.» Ein Prozess, der aktuell ja auch in Amerika zu beobachten sei. «Für viele Republikaner, die den polternden Trump für unwählbar hielten, singt er nun plötzlich.» Premiere: 23. Juni, bis 19. August. www.theatergurten.ch, Espacecard. Tagestipp Doppellesung Die Wahrheit über Johnny, den Deppen Johnny, dieser tolle Mensch, dieser grossartige Schauspieler, diese edle Seele, die sogar das Pferd aus dem Film «Sleepy Hollow» adoptierte, weil es eingeschläfert werden sollte, Johnny, diese originelle Seele, die Käfer sammelt, Pistolen und falsche Schnurrbärte, Johnny, dieser treue Freund, der die Beerdigung für den Autor Hunter S. Thompson aus dem eigenen Sack bezahlte und sicherstellte, dass dessen Asche, wie vom Verstorbenen gewünscht, aus einer Kanone ins Weltall geschossen wurde. Johnny, oh Johnnny. Ich glaube, es reicht jetzt mit den Huldigungen. Wer in einem Haushalt leben muss, in dem der unvergleichliche Johnny Depp das Mass aller Dinge ist und nahezu einen gottgleichen Status geniesst, der hätte dieser Tage Grund zur Schadenfreude. Sie wissen schon, die Geschichte mit seiner 23 Jahre jüngeren Frau Amber Heard, die angeblich von einem betrunkenen und zugedröhnten Depp mit einem fliegenden Smartphone traktiert worden ist und sich nun nach 15 Monaten Ehe scheiden lassen will. (Allerdings tauchte Heard erst ein paar Tage nach dem Vorfall mit einem blauen Fleck auf der Wange auf dem Polizeirevier auf.) Heard verlangte ein Kontaktverbot: Depp darf ihr nur mehr auf 30 Meter nahekommen und das gemeinsame Haus nicht mehr betreten. Ein kleiner Trost für Johnny mag der Entscheid des Richters sein, dem Alleinerziehungsgesuch von Amber Heard für die beiden Yorkshire Terrier Pistol und Boo zumindest vorerst nicht stattzugeben. Ja, es wird wohl hässlich werden, giftig und richtig unappetitlich: In diesem beginnenden Rosenkrieg der besonders populären Kategorie «Reifer Mann und junge Frau» (Stichwort: Jungbrunnen zwecks Bluttransfusion) beziehen auch zugewandte Orte der beiden Parteien dezidiert Stellung. Johnny Depp darf auf seine Bodyguards zählen (die in Heard die Gewalttätige in der Beziehung sehen), auch seine Ex-Frau Vanessa Paradis und die gemeinsame Tochter haben sich für ihn ausgesprochen, dieses «sanfteste, liebenswürdigste Wesen». Ein enger Freund Depps, der Komiker Doug Stanhope, sprach von «Erpressung» und wurde postwendend von Amber Heard verklagt. Diese wiederum erhielt Unterstützung von einer engen Freundin, der New Yorker Fotografin io Tillett Wright (sic!), die das alles gar nicht i. O. findet und in der Vergangenheit sehr oft Verletzungen an Amber Heard (Lippe, Schnittverletzungen am Kopf ) gesehen haben will. Und es kursieren SMS-Messages von Heard und einem Assistenten des Schauspielers, die dessen Aggressionen belegen sollen. Johnny Depp selber schweigt sich aus und ist stattdessen mit seiner Band The Hollywood Vampires auf Tournee. Ach, Johnny, lass dir von einem fast gleich alten Geschlechtsgenossen aus der Schweiz kurz die Kappe waschen. Natürlich prädestiniert uns rein gar nichts dazu, dir irgendwelche wohlfeilen Ratschläge zu erteilen – wir tun es trotzdem. Dieser ganze Schlamassel, in den du da reingerutscht bist, und alles nur wegen des Gefühls von neuer Lebenskraft, das eine junge Frau dem Mann einhaucht. Dabei wollte sie nur von deinem Namen, deinem Ruhm, deinem Geld profitieren. In den 90ern warst du mit Kate Moss zusammen, toll, ihr wart auf Augenhöhe, habt zusammen oder einzeln Hotelzimmer aus einandergenommen und euch nichts geschenkt. Dann aber kam Vanessa, le paradis, mit ihr hast du zwei Kinder. Was hat dich von ihr weggetrieben, lieber Johnny? Mir kommt Kurt Tucholsky in den Sinn, der kurz vor seinem Tod, an seine grosse Liebe gerichtet, bitter konstatierte, er habe «einen Goldklumpen in der Hand gehabt und sich nach Rechenpfennigen gebückt». Johnny, du Goldjunge, wach auf und mach das Richtige, dann ertrage ich dich weiter klaglos als glorifizierten Herrn in meinem Haus. Alexander Sury Unser Umgang mit Dämonen Was mit einem kurzen Nekrolog an der Abdankungsfeier für den pädophilen Vater im Januar 2014 begann, führte zum Buch «Nur das Leben war dann anders». Der Text des Freiburgers Dominik Riedo (Bild) weitet sich aus zu einem Bild der Gesellschaft und ihres Umgangs mit Dämonen. Die Bernerin Sabine Hunziker rückt in ihrem Romandebüt «Flieger stören Langschläfer» eine ungewöhnliche Dreierkonstellation ins Zentrum, die den Rahmen der bürgerlichen Vorstellungswelt sprengt. (klb) Münstergassbuchhandlung Bern, Münstergasse 33, heute, 20 Uhr