Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Transcription
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Medienutopien Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von Helen Rapp 1. Einleitung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ist eines von Walter Benjamins Hauptwerken, das zuerst 1936 in der Zeitschrift für Sozialforschung in einer gekürzten französischen Übersetzung publiziert wurde. Es liegen drei Fassungen der Schrift vor, die sich inhaltlich durch unterschiedliche publikationsbezogene Kürzungen unterscheiden (vgl. Lindner 2006, S. 321). Dieser Arbeit liegt die dritte Fassung zugrunde, die als kanonische Fassung gilt und erstmals 1963 als Einzeledition im Suhrkampverlag erschien. Um den angestellten Betrachtungen einen Rahmen zu geben, wird Benjamins Leben und sein Schaffen mit einem Fokus auf den hier betrachteten Aufsatz, kurz beschrieben. Benjamins Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit wird in den allgemeinen Diskurs eingeordnet, woraufhin eine spezifische Auseinandersetzung mit Benjamins Hauptthesen und Begriffen vorgenommen wird, die in diesem Aufsatz zu finden sind. Abschließend wird der Text von der Autorin aus heutiger Sicht bewertet. 2. Leben und Werk (vgl. Wikipedia) Der Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer, freier Schriftsteller und Publizist, Walter Benjamin, wurde 1892 in Berlin als Sohn einer jüdischen Familie geboren. 1940 starb er vermutlich durch Suizid auf der Flucht vor der Gestapo. Benjamin beschäftigte sich intensiv mit Kant und der Literatur der deutschen Romantik. In den 1920er-Jahren verschob sich die Thematik seiner Arbeit immer stärker von sprachphilosophischen Gegenständen (Erkenntnistheorie) auf Motive der Ästhetik, vorrangig auf literaturkritische Arbeiten. Benjamin positionierte sich im dialektischen Materialismus nach Hegel. (Anm.: Der dialektische Materialismus, den der deutsche Philosoph Hegel entwickelte, geht davon aus, dass die Realität aus Widersprüchen besteht, welche zwangsläufig ihre eigene Veränderung sowie die Zukunft erzeugen und bestimmen. Nach dieser Theorie gerät der Geist mit sich selbst in Widerspruch und generiert so das Werden der objektiven Wirklichkeit; In: Wikipedia). Trotz des Wandels von Methode und Gegenstand in Benjamins Schaffen bewahrte er sich eine Kontinuität. Er blieb immer bemüht, sich von der Vorherrschaft des Allgemeinbegriffs zu lösen, sich gegen die Vergötterung des Wesens gegenüber dem Unwesentlichen und des Bleibenden gegenüber dem Vergänglichen und Nichtigen zu wehren. Trotz einer zunehmenden Sympathie mit der kommunistischen Bewegung bewahrte sich Benjamin ein „linkes Außenseitertum“. 3. Benjamins Position im allgemeinen Diskurs Walter Benjamin kann nicht als Medienwissenschaftler im heutigen Sinne betrachtet werden. Vielmehr gehört er zu den Theoretikern, die den Diskurs neuerer medienwissenschaftlicher Reflexionen und Theoriebildungen begründet haben. Er verbindet mediale Fragen mit solchen der Kulturgeschichte, wenn er Sinnlichkeit und kollektive kulturelle Entwicklung mit der Entwicklung der menschlichen Sinneswahrnehmung verknüpft. (vgl. Lindner 2006) Den neuen Medien in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg näherte sich Benjamin neben seinen Theorien, wie Kleine Geschichte der Photographie und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auch praktisch: Er gestaltete zum Beispiel Rundfunksendungen (auch in Zusammenarbeit mit Berthold Brecht) für den Kinderfunk, die Bücherstunde sowie Erzählungen und Hörspiele. Der hier betrachtete Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entstand 1935 im Pariser Exil. Er gilt mit seinen 15 Kapiteln als eine dichte und einprägsam illustrierte Kritik des technischen Fortschritts. Benjamin beschäftigte sich darin mit der politischen Bedeutung von Kunst und den Entwicklungstendenzen der Kunst unter den damaligen Produktionsbedingungen. Von der 1963 veröffentlichten Fassung, die im Folgenden die Grundlage der Betrachtung bildet, ging über die 1960er-Jahre hinaus seine enorme Wirkungsgeschichte aus: Der Aufsatz wurde als endlich eingetroffene Botschaft der Politisierung der Kunst, sozusagen als kulturrevolutionäre Bombe gefeiert (oder befehdet). (vgl. Lindner 2006, S. 232) 4. Spezifische Auseinandersetzung mit Benjamins Thesen 4.1 Begriffe Mit der spezifischen Nennung des Kunstwerks weist Benjamin im Titel seines Aufsatzes darauf hin, dass es ihm nicht um die Betrachtung der Kunst im Allgemeinen, sondern um die in ihr hervorgebrachten Werke geht. Benjamin spezifiziert das Kunstwerk durch den Begriff seiner technischen Reproduzierbarkeit, womit er die Bedingungen der Möglichkeiten der Reproduktion beschreibt. Benjamin sieht die Fotografie als erstes wirklich revolutionäres Reproduktionsmittel. Sie bringe in der Geschichte als erste bildende Kunst reproduzierbare Kunstwerke hervor. Ihr Erschaffungsprozess ist auf die Reproduktion angelegt. Die konstruierende Hand, die bisher für die Echtheit eines Kunstwerks entscheidend war, erfährt eine apparative Ablösung (vgl. Benjamin 1963, S. 10f). Gegenüber der manuellen Reproduktion kann sich das Echte seine volle Autorität bewahren. Bei der technischen Reproduktion geht diese Autorität verloren. Das Hier und Jetzt eines Originals macht nach Benjamin den Begriff seiner Echtheit aus. Er beschreibt die Echtheit einer Sache als den Innbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbaren. Diese Tradierbarkeit reicht von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. In der Reproduktion spiele die materielle Dauer keine Rolle mehr und so tritt auch die Bedeutung der geschichtlichen Zeugenschaft in den Hintergrund. Die Autorität einer Sache gerate dadurch ins Wanken. (vgl. ebd., S. 11f) Eng verknüpft mit dem Begriff der Echtheit ist nach Benjamin die „Aura“ eines Kunstwerks, die die Autorität einer Sache ausmacht. Unter dem Begriff Aura versteht Benjamin das Innerste eines Kunstwerks: Das alte Kunstwerk war durch sein Hier und Jetzt (Bindung an einen Ort und Einbettung in einen Traditionszusammenhang/Ritual) in seiner Echtheit bestimmt, was auch seine Einmaligkeit ausmachte. Das technisch reproduzierbare Kunstwerk hat dagegen keinen festen Ort mehr. Durch diese nicht gegebene Einmaligkeit erfährt die Aura eines Werks Entwertung. Es gebe nämlich kein Abbild der Aura (vgl. ebd., S. 25). Die unbegrenzten Vervielfältigungsmöglichkeiten führen nach Benjamin also zum Verlust der Aura eines Kunstwerks, weil das Reproduzierbare aus dem Bereich der Tradition gelöst wird. Die technische Reproduzierbarkeit emanzipiere das Kunstwerk von seinem parasitären Dasein am Ritual. (vgl. ebd., S. 17) In diesem Zusammenhang geht Benjamin auf sich verändernde Rezeptionszusammenhänge ein: Die Ausstellbarkeit wachse enorm mit der Loslösung des Kunstwerks vom Ritual. Ein Kunstwerk erhält demnach sein absolutes Gewicht nun durch seinen Ausstellungswert und nicht mehr durch seine traditionelle Verknüpfung. (vgl. ebd., S. 20) Das Reproduzierbare setzt an die Stelle des einmaligen Vorkommens eines Kunstwerks ein massenweises. Reproduktionen kommen den Aufnehmenden in ihrer jeweiligen Situation entgegen. Das reproduzierbare Kunstwerk erfährt demnach eine ständige Aktualisierung mittels seines Reprodukts (vgl. ebd., S. 13). Dies kommt dem leidenschaftlichen Ziel der Massen entgegen, sich die Dinge räumlich näher zu bringen und das Einmalige jeder Gelegenheit durch ihre Reproduktion zu überwinden. Die Entschälung des Kunstwerks aus dieser Hülle, in der Einmaligkeit und Dauer ebenso verschränkt sind wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit (das Hier und Jetzt), beschreibt Benjamin außerdem als die Zertrümmerung der Aura. (vgl. ebd., S. 15) Benjamin misst dieser Entwicklung zur Reproduzierbarkeit die „Entwertung des Originals“ bei. Trotz des negativ erscheinenden Begriffs der Entwertung, begreift Benjamin diesen Vorgang als etwas Positives: Im massenhaften Auftreten und in der durch die massenhafte Rezeption bedingten situativen Aktualisierungen von Kunstwerken sieht er die Erschütterung des Tradierten. Diese Erschütterung bewertet er aber als Kehrseite der gegenwärtigen Krise und der Erneuerung der Menschheit. Daraus ergibt sich, dass die Veränderung der Daseinsweise der menschlichen Kollektiva einhergeht mit der sich verändernden Art und Weise der Sinneswahrnehmung der Menschen (vgl. ebd., S. 14). Auf welche Art sich dies vollzieht, beschreibt Benjamin wie folgt: „Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite sowohl für das Denken wie für die Anschauung.“ (ebd., S. 16). Die simultane Betrachtung von Gemälden durch ein großes Publikum, die im 19. Jahrhundert beginnt, nennt Benjamin das frühe Symptom der Krise der Malerei, die durch den Anspruch des Kunstwerks auf die Masse ausgelöst wurde. Das Neue an der Massenrezeption sei die selbstständige Organisation der Rezeption durch die Masse (vgl. ebd., S. 33f). So werde aus der Masse heraus das Verhalten gegenüber Kunstwerken neu geboren: Quantität werde zu Qualität (vgl. ebd., S. 39). Der neue Standard der technische Reproduzierbarkeit mache diese Veränderung des Verhältnisses von Masse und Kunst sichtbar. (vgl. ebd., S. 32) 4.2 Die Fotografie Aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung des Films begreift Benjamin ihn als machtvollsten Agent der Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe. Damit meint er die Loslösung des Kunstwerks von der bisherigen Einbettung in der Tradition. Ausgehend von der Fotografie, in der der Tonfilm bereits verborgen sei, erweitert Benjamin seine Beobachtungen auf ebendiesen. Er wertet die Erfindung der Fotografie (des Films) als historischen Einschnitt. In dieser Erfindung sei der Ursprung der Konzeption einer Ästhetiktransformation der Kunst zu finden. Mit ihr komme das erste wirklich revolutionäre Reproduktionsmittel auf. Benjamin entdeckt ein Versäumnis der Kunst- und Kulturkritik, die das neue Medium verteufelt: Vor der Frage, ob die Fotografie Kunst sei, hätte erst die Frage geprüft werden müssen, ob die Kunst nicht bereits durch die Fotografie verändert wurde (vgl. ebd., S. 22). Die Beantwortung der Frage hätte der Bewertung des neuen Mediums Film einen realistischeren Status bescheren können. Es sei schon immer die wichtigste Aufgabe der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, dessen volle Befriedigung erst in einem technisch veränderten Standard (neue Kunstform) erreichbar wird. Der Dadaismus beispielsweise hatte versucht die Effekte, die das Publikum damals im Film gesucht habe, mittels Malerei und Literatur zu erzeugen. Denn auch die Dadaisten ließen die Aura ihrer eingesetzten Materialien verfallen, indem sie zum Beispiel einem Fahrschein, den sie in ihr Kunstwerk klebten, den Stempel der Reproduktion aufdrückten (vgl. ebd., S. 36f). Im Dadaismus „wurde mit allen (handwerklichen!) Mitteln versucht, dem Kunstwerk den Charakter eines Originals zu nehmen und eine physischmoralische ‚Chockwirkung’ beim Publikum zu erzeugen.“ (Pflug). Man könne die Filmbilder mit Geschossen gleichsetzen, die dem Zuschauer nach einem kurzen Moment der Konfrontation gleich wieder entrissen werden. Benjamin definiert die Chockwirkung des Films noch genauer. Aufgrund der schnell wechselnden Bildfolgen habe der Zuschauer nicht mehr die Möglichkeit sich auf seine Assoziationen einzulassen, weil er direkt mit einer neuen Situation und den sich daraus ergebenden Assoziationen konfrontiert wird. Diese ständige Unterbrechung des Assoziationsvorgangs sei eine Chockwirkung. (vgl. Benjamin, S. 38) 4.3 Das Kunstwerk Film als Ware Neue Techniken der Reproduktion, wie die Fotografie, ermöglichten erst die massenhafte Verbreitung ihrer Produkte. Um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten, verlange die Kunst im Allgemeinen nach neuen Verfahrensweisen. Die Fotografie (der Film) trage dieser Forderung Rechnung, da sie ein elementar auf Reproduzierbarkeit angelegtes Kunstwerk sei (vgl. ebd., S. 17). In der Fotografie beginne der Ausstellungswert den Kultwert auf ganzer Linie zurückzudrängen, sobald sich der Mensch aus der Aufnahme zurückziehe (vgl. ebd., S. 21). Als Kultwert versteht Benjamin das ursprünglich untrennbare Erscheinen von Kunstwerken in ihrem rituellen, also kultischen Zweck. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks lösen sich die Kunstwerke aus diesem Abhängigkeitsverhältnis und werden in ein neues vom (Massen-)Markt bestimmtes gedrängt. Bei der Entwicklung zur massenhaften Rezeption der Werke, die den simultanen und kollektiven Wahrnehmungsprozess ermöglicht (vgl. ebd. S. 34), entsteht der Ausstellungswert. Benjamin nennt diesen Prozess „Säkularisierung der Kunst“. (ebd., S. 17, Note 8) Der Film verändere auch die Art, wie Menschen die Welt sehen und sich in ihr bewegen. Das Abgebildete scheint zwar die Realität wiederzuspiegeln, welche Realität aber wie abgebildet wird, werde kontrolliert durch die eingeschränkten Verteilungskanäle, die in den Händen der Wohlhabenden und somit der Mächtigen liege (vgl. Monaco 2004, S. 262). Benjamin ist mit seiner Forderung nach Enteignung des Filmkapitals wesentlich absoluter und unvermittelter als Monaco. Solange das Filmkapital den Ton angebe, schreibt er, ließe sich dem Film im Allgemeinen kein anderes revolutionäres Verdienst zuschreiben, als eine revolutionäre Kritik der überkommenen Vorstellungen von Kunst zu befördern (vgl. Benjamin 1963, S. 28). Mit seinem Hinweis, die Filmindustrie habe alles Interesse, die Anteilnahme der Massen durch illusionäre Vorstellungen und durch zweideutige Spekulationen zu stacheln (vgl. ebd., S. 30), kritisiert Benjamin die Zensur des Films zu Gunsten der Mächtigen. Film bedeute Rezeption in der Verstreuung, die sich auf alle Kunstgebiete ausbreite und das Symptom tief greifender Veränderungen der Apperzeption sei. (Anm.: Apperzeption [lat. u. franz. von ad und perceptio = das Innewerden] heißt im Allgemeinen das aktive Denken im Gegensatz zu der passiven Perzeption, die spontane und bewusste Denktätigkeit im Gegensatz zu der rezeptiven sinnlichen Wahrnehmung. Im speziellen hat der Begriff der Apperzeption vielfach geschwankt. Leibniz [1646 - 1716] verstand unter Apperzeption die Aufnahme einer Vorstellung in das Selbstbewusstsein, das über einen Zustand der Seele nachdenkende Bewusstsein. Kant [1724 - 1804] fasst die Apperzeption schlechthin als das Bewusstsein und schied die reine transscendentale oder ursprüngliche Apperzeption, das Selbstbewusstsein, das: »Ich denke«, das alle Vorstellungen des einzelnen begleitet und in allem Wechsel des Bewusstseins ein und dasselbe ist, von der empirischen Apperzeption, dem Bewusstsein des Menschen von seinem jedesmaligen Zustande (vgl. Kirchner 1907, S. 56). Aufgrund Benjamins Kant-Studien, ist davon auszugehen, dass er sich an der Kant’schen Begrifflichkeit orientierte.) Benjamin sieht im Film das Übungsinstrument der beschriebenen Wandlungen. (vgl. ebd., S. 41) Seinen Begriff der Aura und dessen Wandlung in den sich verändernden Medien wendet Benjamin speziell auf Filmschauspieler an. Er untersucht die Möglichkeit der Übermittlung der Aura des Filmschauspielers an das Publikum. Der Film als ein auf Reproduzierbarkeit angelegtes Kunstwerk schafft es nicht, die Aura der Schauspieler an das Publikum zu vermitteln. Der Grund läge in der apparativen Übermittlung des Gefilmten. Die Apparatur (Kamera) und auch das Eingreifen des Cutters nehmen stetig Stellung zur Leistung des Schauspielers. Das Publikum fühlt sich bei der Vorführung nur mittels der Apparatur in den Schauspieler ein und übernimmt die im Produktionsprozess vorgeformte Haltung zum Geschehen (vgl. ebd., S. 24). Genauso wenig erreicht die Aura des dargestellten Charakters die Zuschauer, aufgrund der apparativen Vermittlung des Films (vgl. ebd., S. 25). Außerdem sei dem Schauspieler die Identifikation mit der dargestellten Rolle, bedingt durch die Zerstückelung der Szenen und ihrer nichtchronologischen Abfilmung, versagt. Damit zeigt Benjamin, dass die Kunst aus dem „Reich des schönen Scheins“ entwichen sei, das bisher als das einzige galt, in der sie gedeihen konnte (vgl. ebd., S. 27). Dem Verlust der Aura versuche das Filmkapital durch den Aufbau eines Starkults (konstruierte Aura) entgegenzusteuern. Diese Ersatz-Aura bestehe schon längst nur aus dem fauligen Geruch ihres Warencharakters. (vgl. ebd., S. 28) 4.4 Kunst und Politik (vgl. Benjamin 1963, S. 42f) Im Nachwort stellt Benjamin fest, dass der Faschismus auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinauslaufe. Die Vergewaltigung der Masse durch den Faschismus entspreche der Vergewaltigung der Kamera, die sich der Faschismus zur Konstruktion von Kultwerten dienstbar macht. Durch nichts seien Massenbewegungen deutlicher einfangbar als durch eine Kamera. Über diesen Weg erfahre der Krieg eine Ästhetisierung in seiner Abbildung im Kunstwerk Film, wie zum Beispiel in Wochenschauen, die als nicht zu unterschätzendes Propagandamittel zu bewerten seien. In seiner abschließenden Formulierung bezieht Benjamin klar Stellung: „Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“ (Benjamin 1963, S. 44) 5. Fazit: Eigene Bewertung Benjamins dichter Aufsatz verlangt eine innige Beschäftigung, um in seiner Gesamtheit verständlich und nachvollziehbar werden zu können. Nach einer gründlichen Lektüre aber verdeutlicht sich dem Leser die Aktualität seiner Beobachtungen. Der Verlust der Distanz der Massen zu massentauglichen Medien und ihren Inhalten ist noch nicht abgeschlossen. Er vollzieht sich weiterhin zum Beispiel durch die massenhafte und ständige Nutzung audiovisueller Medien, die ich als moderne Multiplikatoren von Kunstwerken bezeichnen möchte. Am Beispiel des Films und seiner Chockwirkung, die Benjamin den schnell wechselnden und bewegten Bildern zuschreibt, lässt sich aufzeigen, dass die die Veränderung der Daseinsweise der menschlichen Kollektiva einhergeht mit der sich verändernden Art und Weise der Sinneswahrnehmung der Menschen. Die Zuschauer sind durchaus in der Lage ihr Rezeptionsvermögen an die Ästhetik des schnellen Bilderwechsels anzupassen. Moderne Filme weisen meist schnelle Schnitte auf und die Bewegtheit der Objekte im Bild wird durch die immer schneller und ausgefeilter werdenden Kamerabewegungen potenziert. Momentan werden diese gerne durch die Bildästhetik der Handkamera übersteigert. An diese Darstellungen gewöhnen sich die Rezipienten, sie lernen die Bildsprache zu lesen und zu interpretieren. Die von Benjamin beschriebene Chockwirkung tritt meiner Meinung nach nur während der Einführungsphase einer solchen neuen Ästhetik auf. Ältere Filme werden von vielen Rezipienten im Vergleich zu neueren als langatmig, wenn nicht sogar langweilig empfunden. Die Veränderung der Daseinsweise und diese Entwicklung bedingen sich gegenseitig. Die Menschen wollen immer mehr in immer kürzeren Zeiträumen erleben. Eine weitere Steigerung des Distanzverlustes zwischen Rezipient und Medien wäre heute nur noch durch das völlige Eintauchen des Publikums in das medial vertriebene Kunstwerk möglich. Aktuell wird die Thematik der Abhängigkeit von Echtzeit-Computerspielen, die in konstruierten virtuellen Welten stattfinden, diskutiert. Diese Spiele werden über das Internet vertrieben und bieten vielen Menschen eine Parallelwelt zur Realität, in der es ihnen ermöglicht wir eine gewünschte Phantasie-Identität anzunehmen, die sie selbst kreieren können. Die Spielwelt verstehe ich in diesem Zusammenhang als Kunstwerk. Seine technische Reproduzierbarkeit findet auf den heimischen Computerbildschirmen statt. Das Massenpublikum wächst in seiner Rezeptionsmöglichkeit über die Position des Zuschauers hinaus. Jeder einzelne Rezipient wird zum aktiven und kreativen Bestandteil der konstruierten Wirklichkeit der Online-Games. Diese Verschmelzung und Machtverkehrung wird in modernen Utopien, wie zum Beispiel im Science-Fiction-Film Matrix, weiter ausdekliniert. Der Film erzählt, dass die Menschen in Behältern liegen und von Maschinen an einen Computer angeschlossen werden, in dessen Programm sie ihr Leben in einer virtuell simulierten Realität verbringen. Beschrieben wird ein Szenario, das die Umkehrung des Machtverhältnisses zwischen Mensch und Computer annimmt. Benjamin liefert bereits die Ideen zu dieser und ähnlichen Entwicklung, deren Realwerdung uns heute zwar schockieren würde, aber dennoch denkbar sein könnte? 6. Quellenhinweise Literatur: 1. Benjamin, Walter (2001): Das Kunstwerk in seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt/Main. 2. Kirchner, Friedrich; Michaelis, Carl (Hrsg.; 1907): Friedrich Kirchner's Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig. 3. Lindner, Burkhardt (2006): Benjamin-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart [u.a.]. 4. Monaco, James (2004): Film verstehen. Reinbek bei Hamburg. 5. Opitz, Michael; Wizisla, Erdmut (Hrsg.; 2000): Benjamins Begriffe. Band 1. Frankfurt/Main. 6. Opitz, Michael; Wizisla, Erdmut (Hrsg.; 2000): Benjamins Begriffe. Band 2. Frankfurt/Main. 7. Schöttker, Detlev (1999): Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt/Main. Internet: 8. Internationale Walter Benjamin Gesellschaft (IWBG): Homepage. Online unter: http://www.walter-benjamin.org/ (Zugriff 02.04.2007) 9. Pflug: Walter Benjamin. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Online unter: http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/ausblick/benjkunstwerk.htm (Zugriff 02.04.2007) 10. Steiner, Uwe C.: Eine gelungene Anmaßung? Die Aura der Reproduktion und die Religion des Medialen bei Walter Benjamin und Patrick Roth. Online unter: http://www.iwbg.uni-duesseldorf.de/Pdf/Steiner11.pdf (Zugriff 02.04.2007) 11. Wikipedia: Apperzeption. Online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Apperzeption (Zugriff 02.04.2007) 12. Wikipedia: Dialektischer Materialismus. Online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Dialektischer_ Materialismus (Zugriff 02.04.2007) 13. Wikipedia: Walter Benjamin. Online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Benjamin (Zugriff 02.04.2007)