Gender und Pixel

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Gender und Pixel
Gender und Pixel
von Bojan Peric
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(15. Dezember 2014)
Gender und Pixel: Damsel in Distress, Gender und
Gaming
Die Gaming-Community ist ein „boy’s club“. 1 Infantil-misogyne Inzidente wie das aktuelle
„#Gamergate“ 2 lassen hieran keinen Zweifel zu. Angesichts dessen ist die Frage mehr als
berechtigt, wer oder was den entsprechenden Diskurs initiiert bzw. aufrechterhält.
Mögliche Ursachen gibt es viele; dies liegt bei einem so komplexen und vielschichtigen
Diskurs in der Natur der Sache. So wurde bereits erforscht, inwiefern die Darstellungen von
Frauen in unterschiedlichen Medien mit Gaming-Bezug mit gängigen misogynen Vorurteilen
einhergeht, beispielsweise mit Blick auf Computerspielmagazine 3 oder auf Spielverpackungen
4
. Obgleich zweifellos Korrelationen zwischen den abgebildeten weiblichen Figuren und
misogynen Stereotypen bestehen, handelt es sich jedoch sowohl bei Magazinen wie auch bei
Verpackungen um Medien, die sich vom eigentlichen Spiel klar unterscheiden. Die Einflüsse
auf entsprechende Darstellungen stammen vermutlich nicht ausschließlich von Spielinhalten,
sondern müssen in spielexternen Diskursen gesucht werden.
Damsel in Distress
Die Teilnahme der eigentlichen Computerspiele an der Bildung frauenfeindlicher Stereotype
rückte zum ersten Mal mit den „Damsel in Distress“Videos von Anita Sarkeesian ins Licht der
breiten Öffentlichkeit. 5 Die dreiteilige Videoreihe greift ein Thema auf, das in den Video Game
Studies nicht zuletzt seit der Publikation von Dietz 6 intensiv diskutiert wird. Dietz übertrug
auch den Begriff „Damsel in Distress“ (dt. „Jungfrau in Nöten“) aus anderen Kunst- und
Kulturwissenschaften ins neue Medium. Der Terminus bezeichnet das insbesondere im Film
und im Computerspiel häufig reproduzierte Setting, in welchem eine weibliche und häufig auf
ihr Äußeres reduzierte Figur von einem männlichen Antagonisten gefangengenommen oder
sonst wie in Bedrängnis gebracht wird und von einem – wiederum männlichen, aber vor allem
starken und tapferen – Protagonisten gerettet werden muss, was diskriminierenden
Stereotypen entspricht, weil es allein männlichen Protagonisten Handlungsmacht zuschreibt.
Es kann gegen die Versuchsanordnung von Dietz vorgebracht werden, dass sie Spiele
analysiert, in denen eine Untersuchung von Gender-Aspekten keinen Sinn ergibt, wie
beispielsweise Sportspiele, die eine ausschließlich männliche Sportliga darstellen. Darüber
hinaus sind bestimmte Konklusionen, z.B. diejenige, dass Frauen im Spiel bisweilen als „evil
or as obstacles to the goal of the game“ 7 vorkommen, nicht aussagekräftig, da ein Großteil
der Widersacher in den untersuchten Werken entweder männlich oder androgyn bzw.
nicht-humanoid ist. Nichtsdestotrotz ist die Tatsache nicht von der Hand zu weisen, dass die
Damsel in Distress insbesondere in Spielen für ein jüngeres Zielpublikum seit dem Siegeszug
der Videospielkonsolen in den 80er Jahren durchgehend prominent ist. Im Folgenden soll
jedoch versucht werden, aufzuzeigen, dass das vermeintlich simpel gestrickte
Damsel-in-Distress-Setting nicht per se misogyn ist und sein Beitrag zur Stereotypisierung der
Frau vielmehr aus einer simplifizierenden Interpretation desselben entsteht. Dies soll auf Basis
von drei Argumenten dargelegt werden:
1) Das Damsel-in-Distress-Setting ist komplexer als von der Forschung häufig
angenommen.
2) Die Identifikation insbesondere junger Spielender mit dem Geschlecht der Spielfigur
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wird jeweils präsupponiert, aber nicht begründet.
3) Die artifizielle Verfremdung des Inhalts spielt eine entscheidende Rolle bei dessen
Perzeption, wird aber ausgeblendet.
Abschließend soll dargelegt und begründet werden, welche Arten von Spielinhalten den
frauenfeindlichen Diskurs tatsächlich negativ zu beeinflussen vermögen. Darüber hinaus wird
darauf verwiesen, dass eine nicht aus dem Spielen resultierende negative Beeinflussung der
Diskursteilnehmer, die zu einem bestimmten Verhalten innerhalb der Gaming-Community
führt, wahrscheinlicher ist, als eine Beeinflussung seitens der Spielinhalte selbst.
Die Komplexität des Damsel-in-Distress-Settings
Die „Jungfrau in Nöten“ wird in der Diskussion häufig pauschal abgehandelt, was der
Mehrschichtigkeit des Phänomens nicht gerecht wird. Wie unschwer zu erkennen ist, handelt
es sich bei dieser Konstellation um ein beinahe vollständiges Strukturanalogon zur Situation
der hohen Minne, wie sie aus dem mittelalterlichen Minnesang bekannt ist – zumindest wenn
man der Situation im Spiel eine darunterliegende Liebeshoffnung des männlichen
Protagonisten unterstellt. Hier wie dort, und insbesondere im von Sarkeesian häufig
genannten Beispiel, des Super Mario-Franchise, 8 ist das
„Subjekt der Liebeserfahrung […] ein männliches Ich, Voraussetzung des Sprechens
die Situation eines Mannes, der außerhalb der gesellschaftlich sanktionierten Form der
Ehe eine Frau begehrt. Die Geschlechterbeziehung ist nach dem sozialen
Interaktionsmuster der Vasallität modelliert: In der Rolle eines ,Vasallen‘ bemüht sich
der Mann durch seinen ,Dienst‘, die Zuneigung seiner ,Herrin‘, seiner ,Dame‘, zu
erlangen. Der aus dem Begehren resultierende Spannungszustand bleibt unaufgelöst
[…].“ 9
Ebenso wie in der hohen Minne bemüht sich der Klempner Mario um die Gunst seiner Herrin.
Einzig sein Dienst besteht nicht lediglich im Liederträllern, sondern in knochenharter und der
Gesundheit meist abträglicher Arbeit. Dies konnotiert ihn jedoch nicht nur – wenn überhaupt –
als heldenhaften Vertreter des vermeintlich stärkeren Geschlechts, sondern als bestenfalls
entbehrlichen Vasallen, der sein(e) virtuellen Leben aufs Spiel zu setzen bereit ist, um die
sozial höher gestellte Frau zu retten. Das in den jugendfreien Computerspielen freilich rein
platonisch dargestellte Begehren des Protagonisten bleibt, im Computerzeit- wie im Mittelalter,
unerfüllt. Mario muss sich meist mit einem Schmatzer auf die Knollennase zufrieden geben,
was ihm jedoch bereits die Schamesröte ins Gesicht steigen lässt, wodurch er seine Inferiorität
der Herrin gegenüber auch in der das Spiel abschließenden Sequenz firmiert. In anderen
Titeln, insbesondere solchen, die nicht auf ein junges Publikum zugeschnitten sind, ist eine
erotische Absicht der Protagonisten zwar vorhanden und wird auch als Belohnung in Aussicht
gestellt. Dies schmälert jedoch nicht die Tatsache, dass die zu rettenden Personen einen
höheren Status aufweisen als die vermeintlich superioren Protagonisten.
Zurück zu Mario: Die Vernachlässigung der unvereinbaren Gegensätze zwischen diesem und
der zu rettenden Peach erstaunt. Besonders auffällig sind die sozialen Differenzen – Mario ist
schließlich Klempner und Peach immerhin eine Prinzessin (!). Dass sie kein Einzelfall ist,
bestätigt auch Dietz: „Women were portrayed in this manner [i.e. as Damsel in Distress, BP]
21% of the time (N=7). In three of these cases, the female victim was the princess of a
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kingdom.“ 10 Doch dieses Faktum wird mehr als häufig ausgeklammert, ebenso wie die
Tatsache, dass die Prinzessin – oder die begehrte Dame im Allgemeinen – ausnahmslos als
attraktiv, der scheinbare Held jedoch, insbesondere in auf jüngeres Publikum adressierten
Spielen, häufig als objektiv hässlich und bestenfalls als bemitleidenswert niedlich porträtiert
wird. Mario ist verhältnismäßig alt, adipös, schlecht angezogen und entspricht auch sonst
keinem ästhetischen Ideal. Peach hingegen ist jung, schlank, perfekt gekleidet und auch sonst
in jedem Belang ihres Prinzessinnenstatus würdig. Es ist entsprechend nur folgerichtig, wenn
das unangemessene Begehren des alternden Handwerkers am Spielende sozial wieder
zurechtgerückt wird.
Es zeigt sich, dass die Damsel-in-Distress-Situation komplexer ist, als sie zunächst zu sein
scheint. Wenn jemand befreit werden muss, dann muss sie bzw. er zunächst die
Voraussetzung erfüllen, überhaupt befreienswert zu sein. Dies degradiert den Befreienden
zum Minnenden, der seinen aussichtslosen Dienst zu leisten sich verpflichtet fühlt,
wohlwissend, dass ihn hierfür kein Lohn erwarten wird und kann. Der Protagonist, der vordergründig als Held erscheint, erweist sich als zwar liebenswertes, aber im Grunde
austauschbares Mittel zum Zweck.
Gegen dieses Argument ließe sich einwenden, dass die Komplexität des Settings von
Spielenden, auch und insbesondere von denjenigen jüngerer Jahrgänge, nicht erfasst wird,
was zur Folge hat, dass sie dieses ebenso unterkomplex wie die Forschung interpretieren.
Dies ist aus zwei Gründen problematisch; einerseits, weil sich die Identifikation zwischen
Spielenden und Spielfiguren nicht in erster Linie aufgrund des Geschlechtes der Spielfigur
einstellt, andererseits, weil die artifizielle Verfremdung im Videospiel eine Gleich- oder
Ähnlichsetzung der dargestellten Inhalte mit der Lebenswelt unterminiert.
Die Geschlechterrolle im Identifikationsprozess
Die Behauptung, dass Computerspiele, welche die Damsel-in-Distress-Situation zum
Ausgangspunkt haben, Spielende hinsichtlich ihrer Genderperzeption negativ beeinflussen
könnten, setzt implizit – und häufig auch unausgesprochen – voraus, dass die Identifikation mit
der Spielfigur zu einem entscheidenden Teil über das Geschlecht letzterer stattfindet. Dies ist,
wenn nicht empirisch unhaltbar, so doch zumindest stark zu bezweifeln. Zunächst ist
anzumerken, dass Identifikation – analog zum oben besprochenen Setting per se –
bidirektional funktioniert. Es werden zwar durchaus Charakteristika des gespielten Avatars,
oder zumindest gewisse Verhaltensweisen, die man für typische Charakteristika desselben
hält, übernommen; vice versa werden jedoch auch persönliche Eigenschaften in die Spielfigur
projiziert. Martey et al. weisen nach, dass männliche Spieler, die in einem MMORPG (Massive
Multiplayer Online Role-Playing Game) für ihren Avatar das nicht korrespondierende, i.e.
weibliche, Geschlecht wählen, zwar gewisse Verhaltensweisen, die für weibliche Spielende
typisch sind, partiell übernehmen, andere hingegen überhaupt nicht. 11
Beinahe wichtiger scheint jedoch die Tatsache, dass das Geschlecht zwar mit bestimmten
Verhaltensweisen im Spiel korreliert, vermeintliche Geschlechterrollen jedoch keineswegs,
was wiederum die partielle Verhaltensanpassung einiger Spielender zu reiner Koinzidenz
reduzieren könnte. Es besteht also ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Geschlecht
der Spielenden und deren Spielverhalten, die Genderrollen sowie das Geschlecht des Avatars
hingegen sind den Spielenden mehrheitlich herzlich egal. Martey et al. resümieren, die Wahl
des Avatargeschlechts „may be less a matter of identity expression, and more a strategic
selection of available multi-modal codes that players take up in their navigation of this digital
space.“ 12 Es spricht folglich wenig dagegen, dass sich Mädchen, die als Mario spielen, mit
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Dies liegt nicht zuletzt daran, dass ein weitaus wichtigerer Faktor existiert, der die Identifikation
mit der Spielfigur determiniert, namentlich die Interaktion mit der Spielfigur an sich. Bereits in
den frühen Anfängen der Video Game Studies identifiziert Turkle eines der wichtigsten Alleinstellungsmerkmale des Computerspiels gegenüber anderen Medien:
„When you play a video game you enter into the world of the programmers who made
it. You have to do more than identify with a character on the screen. You must act for it.
Identification through action has a special kind of hold. […] For many people, what is
being pursued in the video game is not just a score, but an altered state.“ 13
Sowohl die Mächtigkeit der Interaktion als auch den veränderten Zustand, in den man beim
Spielen übergeht (dazu weiter unten mehr), können wohl die meisten Gamerinnen und Gamer
ohne Weiteres nachvollziehen. Wenn ein männlicher Spieler als Lara Croft spielt, dann ist er
Lara Croft, wenn er als Bayonetta spielt, ist er Bayonetta, wenn er als Faith spielt, ist er Faith.
14
Es gibt, trotz der häufig anders lautenden opinio communis, keinen nachvollziehbaren
Grund, warum dies bei weiblichen Spielern anders sein sollte.
Neben der eigentlichen Interaktion kommt darüber hinaus der narrativen Identität eine
besondere Rolle zu. Wie in Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“ 15 exemplifiziert
und von Paul Ricoeur theoretisch erläutert, 16 vollzieht sich der Identifikationsprozess, also die
Findung der Einheit mit sich selbst, in erster Linie mittels narrativer Strukturen. Erzählungen,
sei es aus Literatur oder Computerspiel, werden in persönliche, individuelle Geschichten
transformiert, die zu einem Teil, wenn nicht gar zum entscheidenden Definiens, des Selbst
werden: „Jeder Mensch, nicht nur der Dichter, erfindet seine Geschichten – nur daß er sie, im
Gegensatz zum Dichter, für sein Leben hält – anders bekommen wir unsere Erlebnismuster,
unsere Ich-Erfahrung nicht zu Gesicht.“ 17 Dies gilt bereits für die einfachen Narrative früher
bzw. an ein jüngeres Publikum gerichteter Spiele, insbesondere aber für die teilweise
hochkomplexen Erzählstrukturen moderner Titel. Es dürfte nachvollziehbar sein, dass gerade
die Mischung von Interaktion und Narration, also zweier besonders starker
Identifikationsfaktoren, von weitaus größerer Bedeutung ist als eine Identifikation rein auf
Basis des Avatargeschlechts. 18
Artifizielle Verfremdung
Auch wenn die Identifikation über das Geschlecht der Spielfigur stärker ausgeprägt wäre, als
sie es anzunehmenderweise
ist, ließe sich das Argument, dass sich das
Damsel-in-Distress-Setting auf die Geschlechterwahrnehmung im Allgemeinen auswirkt, nur
mit Mühe aufrechterhalten. Studien auf diesem Gebiet tendieren häufig dazu, die Möglichkeit –
wenn nicht gar die Zwangsläufigkeit – einer entsprechenden Beeinflussung durch
Computerspiele unhinterfragt als gegeben hinzunehmen. Diese Präsupposition ist jedoch
grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.
Allen Bemühungen der Spieleentwickler zum Trotz, ihre Titel so fotorealistisch wie möglich
aussehen zu lassen, ist dem Medium Computerspiel eigen, dass es größtenteils mit
künstlerisch verfremdeten Inhalten operiert. Die visuellen Darstellungen unterscheiden sich
deutlich von Wahrnehmungen der Lebenswelt. Es handelt sich, wie oben erwähnt, um einen
„altered state“ 19, der in den allermeisten Fällen auch als solcher wahrgenommen wird. Die
Annahme, dass ein Großteil der Spielenden zwischen vermittelter Spielwelt und echter Welt
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nicht unterscheiden kann, erfreut sich zwar erstaunlicher Beliebtheit, wird aber kontinuierlich
von der Wissenschaft verneint. Die Diskussion entbrennt insbesondere, wenn es sich um das
Thema Gewalt in Computerspielen handelt. In Gewalt darstellenden Spielen wird häufig die
Ursache für gewalttätiges lebensweltliches Verhalten gesucht; Befürworter dieser These
verfallen jedoch, wie zuletzt von Markey et al. aufgezeigt, 20 dem klassischen „post hoc ergo
propter hoc“-Fehlschluss und wandelt Koinzidenz in Kausalität um. Markey et al. legen dar,
dass keinerlei Korrelation zwischen aggressivem Verhalten und dem Spielen von vermeintlich
gewalttätigen Spielen besteht. Erstaunlicherweise konnte bei denjenigen Probanden, welche
entsprechende Spiele konsumieren, sogar eine leichte Tendenz zu verminderter Aggressionsbereitschaft nachgewiesen werden. Angesichts der wiederholten diesbezüglichen
Erkenntnisse der Forschung ist es in der Tat rätselhaft, wieso eine Möglichkeit der negativen
Beeinflussung in Genderfragen seitens der Computerspiele nicht intensiver diskutiert wird.
Der falsche Sündenbock
Es gilt jedoch einschränkend festzuhalten, dass die Trennung zwischen Spiel und Realität
nicht a priori ausgeschlossen werden kann. Für gewöhnlich ist infolge bestimmter
Darstellungskonventionen der Anteil an artifizieller Verfremdung, sowohl der Gewalt wie auch
der Gender-Stereotype, hoch genug, damit das Spiel als solches erkannt werden kann.
Computerspiel-Gewalt ist in diesen Fällen keine echte Gewalt und Computerspiel-Gender kein
echtes Gender, unabhängig von der vordergründig realistisch scheinenden Darstellung in
modernen Titeln. Problematischer wird es, wenn bestimmte Spiele die Grenze zwischen
verfremdeter und nicht-verfremdeter Darstellung zu verschieben oder zu überschreiten
suchen. Entsprechende Vorfälle haben meist eine starke soziale Gegenwehr zur Folge, die
sich deutlich von ‚gewöhnlichen‘ Debatten über gewalttätige oder sexuell anstößige Inhalte;
das jüngste Beispiel hierfür wäre wohl die Kontroverse über das noch nicht erschienene
Massenmörder-Spiel Hatred. 21 Nicht zu vergessen sind allerdings auch bestimmte
Eroge-Spiele, d.i. größtenteils japanische Spiele mit expliziten sexuellen Inhalten. So löste das
Vergewaltigungsspiel RapeLay einen Sturm der Entrüstung aus und wurde in diversen
Ländern, inklusive Japan, verboten. 22 Es scheint demzufolge eine intuitiv spürbare Barriere
zwischen tolerierbaren, weil verfremdeten, und nicht-tolerierbaren, weil die Realität allzu
genau nachahmenden Darstellungen zu geben. Es ist jedoch gegenwärtig noch nicht
erforscht, was diese ‚Genauigkeit der Darstellung‘ oder ‚Verfremdung‘ eigentlich sind; mit
ästhetischem Realismus sind sie jedoch offensichtlich nicht gleichzusetzen. Und obwohl die
intuitive Akzeptanz bzw. Abwehr zwar erstaunlich gut funktioniert, ist sie wissenschaftlich nicht
fundiert – ein Desiderat, das ungleich wichtiger scheint als die Stigmatisierung von
Damsel-Darstellungen.
Es zeigt sich, dass die Diskussion um die Damsel in Distress keine Probleme löst, sondern nur
erzeugt. Sie muss zwangsläufig in einer Sackgasse enden, da sie empirischen Erkenntnissen
schlicht nicht standhalten kann. Das Setting ist einerseits viel komplexer, als es die gängige
Interpretation desselben zugestehen möchte, andererseits findet die Identifikation mit der
gespielten Figur nicht auf der Basis ihres Geschlechts statt. Schließlich – und besonders
wichtig – operiert das Medium Computerspiel mit künstlerisch verfremdeten Darstellungen, die
von Spielern entweder explizit als solche erkannt oder zumindest intuitiv von der realen Welt
getrennt werden.
Dies soll jedoch das Problem der Misogynie in der Gaming-Community weder negieren noch
schönreden. Es existiert und ist gegenwärtig aktueller denn je. Sarkeesian sah sich gar
gezwungen, eine öffentliche Rede aufgrund einer Terrordrohung abzusagen. 23 Die Suche
nach den Ursachen dieses Verhaltens sollte entsprechend weiterhin im Fokus der Forschung
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stehen; nur wird man mit der „Jungfrau in Nöten“ voraussichtlich keine passende Antwort
finden. Vielmehr gilt es zu untersuchen, ob und inwiefern spielexterne Diskurse Anteil an
dieser Entwicklung haben. 24 Darüber hinaus wäre es wünschenswert, die bis anhin nur intuitiv
erfahrene, wissenschaftlich aber nicht fundierte Grenze zwischen der akzeptablen Verfremdung und der – zu Recht – anstößigen Darstellung so genau als möglich zu definieren, um
genuin diskriminierenden Inhalten angemessen begegnen zu können.
Quellenverzeichnis
Spiele
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Max Frisch: „Mein Name sei Gantenbein“. In: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge.
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von Bojan Peric
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425-442.
Internetquellen
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15.10.2014.
(Zuletzt aufgerufen: 13.11.2014).
Anita Sarkeesian: Damsel in Distress: Part 1 – Tropes vs Women in Video Games. 2013.
https://www.youtube.com/watch?v=X6p5AZp7r_Q (Zuletzt aufgerufen: 13.11.2014).
Brian Ashcraft: Rape Games Officially Banned in Japan.
http://kotaku.com/5275409/rape-games-officially-banned-in-japan
13.11.2014).
In: Kotaku, 2.6.2009.
(Zuletzt
aufgerufen:
Morten Friedel: Wenn Kritik kommt, hört das Spiel auf. In: Frankfurter Allgemeine online,
28.10.2014.
(Zuletzt aufgerufen: 13.11.2014).
Robin Schwarz: Kontroverse um den Massenmörder-Simulator. In: combobreaker.ch,
17.10.2014.
http://combobreaker.ch/2014/10/17/kontroverse-um-den-massenmoerder-simulator/ (Zuletzt
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aufgerufen: 13.11.2014).
Anmerkungen
1
Anastasia Salter und Bridget Blodgett: Hypermasculinity & Dickwolves: The Contentious Role of Women in the
New Gaming Public. In: Journal of Bradcasting & Electronic Media, 56(3), 2012, S. 401-416. Hier: S. 402.
2
vgl. Morten Friedel: Wenn Kritik kommt, hört das Spiel auf. In: Frankfurter Allgemeine online, 28.10.2014.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/gamergate-wenn-kritik-kommt-hoert-das-spiel-auf-13232818.html (Zuletzt
aufgerufen: 13.11.2014).
3
vgl. hierzu Monica K. Miller und Alicia Summers: Gender Differences in Video Game Characters‘ Roles,
Appearances, and Attire as Portrayed in Video Game Magazines. In: Sex Roles, 57, 2007, S. 733-742; Karen E. Dill
und Kathryn P. Thill: Video Game Characters and the Socialization of Gender Roles: Young People’s Perceptions
Mirror Sexist Media Depictions. In: Sex Roles, 57, 2007, S. 851-864.
4
vgl. hierzu Melinda C. R. Burgess et al.: Sex, Lies, and Video Games: The Portrayal of Male and Female
Characters on Video Game Covers. In: Sex Roles, 57, 2007, S. 419-433; Christopher E. Near: Selling Gender:
Associations of Box Art Representation of Female Characters With Sales for Teen- and Mature-rated Video Games.
In: Sex Roles, 68, 2013, S. 252-269.
5
Anita Sarkeesian: Damsel in Distress: Part 1 – Tropes vs Women in Video Games. 2013.
https://www.youtube.com/watch?v=X6p5AZp7r_Q (Zuletzt aufgerufen: 13.11.2014). Der Übersichtlichkeit halber wird
hier nur der erste der drei Teile der Reihe aufgeführt.
6
Tracy L. Dietz: An Examination of Violence and Gender Role Portrayals in Video Games: Implications for Gender
Socialization and Aggressive Behavior. In: Sex Roles, 38, 1998, S. 425-442.
7
Ebd., S. 435.
8
Angefangen mit Nintendo: Donkey Kong. 1981; der prominenteste Vertreter der Reihe ist wohl Nintendo: Super
Mario Bros. 1985.
9
Ingrid Kasten: Minnesang. In: Georg Braungart et al. (Hrsg.): Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft. Berlin: De Gruyter 2007. Bd. I, S. 604-608. Hier: S. 604f.
10
Tracy L. Dietz: An Examination of Violence and Gender Role Portrayals in Video Games, S. 435.
11
Rosa M. Martey et al.: The strategic female: Gender-Switching and Player Behavior in Online Games. In:
Information, Communication & Society, 17:3, 2014, S. 286-300.
12
Ebd., S. 298.
13
Sherry Turkle: The second self: Computers and the human spirit. New York: Simon and Schuster, 1984, S. 83.
14
Core Design/Crystal Dynamics: Tomb Raider. 1996-2013; Platinum Games: Bayonetta. 2009-2014; DICE:
Mirror’s Edge. 2009.
15
Max Frisch: „Mein Name sei Gantenbein“. In: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1998, Bd. V, S. 5-320.
16
Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit. München: Wilhelm Fink 1985.
17
Max Frisch: Unsere Gier nach Geschichten. In: ders.: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Frankfurt a. M.:
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(15. Dezember 2014)
Suhrkamp 1998, Bd. IV, S. 262-264, hier S. 263.
18
Vgl. hierzu Jos de Mul: The Game of Life. Narrative and Ludic Identity Formation in Computer Games. In: J.
Goldstein und J. Raessens (Hrsg.): Handbook of Computer Games Studies. Cambridge MA: MIT Press 2005, S.
251-266.
19
Sherry Turkle: The second self: Computers and the human spirit. New York: Simon and Schuster, 1984, S. 83.
20
Patrick M. Markey et al.: Violent Video Games and Real-World Violence: Rhetoric Versus Data. In: Psychology of
Popular Media Culture. Advance online publication, 2014.
21
Vgl. Robin Schwarz: Kontroverse um den Massenmörder-Simulator. In: combobreaker.ch, 17.10.2014.
http://combobreaker.ch/2014/10/17/kontroverse-um-den-massenmoerder-simulator/ (Zuletzt aufgerufen: 13.11.2014).
22
vgl. Brian Ashcraft: Rape Games Officially Banned in Japan. In: Kotaku, 2.6.2009.
http://kotaku.com/5275409/rape-games-officially-banned-in-japan (Zuletzt aufgerufen: 13.11.2014).
23
Alex Hern: Feminist games critic cancels talk after terror threat. In: The Guardian online, 15.10.2014.
http://www.theguardian.com/technology/2014/oct/15/anita-sarkeesian-feminist-games-critic-cancels-talk (Zuletzt
aufgerufen: 13.11.2014).
24
Vgl. Jesse Fox und Wai Yen Tang: Sexism in online video games: The role of conformity to masculine norms and
social dominance orientation. In: Computers in Human Behavior, 33, 2014. S. 314-320.
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