Faust-Rezensionen der 13a
Transcription
Faust-Rezensionen der 13a
Faust-Rezensionen der 13a Benno Hinrichsmeyer Rezensionen zur und Auseinandersetzungen mit der „Faust I“-Inszenierung von Stemann am Hamburger Thalia-Theater im Okt. 2011 mit der 13a: Das unendlich lange Warten auf den Toilettengang, was sich im nachhinein doch als so kurz erwies. Am 29.Oktober 2011 gab es starkes Gedränge und Herumgeschubse vor dem Thaliatheater in Hamburg. Faust, der Tragödie erster Teil, wartete auf die Menschenmenge und ein jeder versuchte vorher noch einen Gang zur zu Toilette erledigen. Aufgrund des großen Toilettenzulaufs und des sich immer verringernden Zeitfensters beschloss ich, die Pause als Toilettengang zu nutzen. In diesem Kerker welche Fülle! Der Theatersaal war schon voll, und die Zuschauer bereiteten sich darauf vor, von dem Bühnengeschehen in den Bann gezogen zu werden. Außerdem ging ein Raunen durch die wartenden Zuschauer, da die Sätze „Oh weh, du hast sie zerstört, die schöne Welt.“, „Des Denkens Faden ist zerrissen.“ Und „Herrschaft gewinn ich, Eigentum.“ an der Innseite der Theaterränge prangten. Dann begann das Stück. Wer will mich wieder plagen? - Moin, moin. Frohe Ostern! Mein erster Eindruck ist der eines modernen Werkes mit moderner Musik, die von den Schauspielern selber ein- und ausgeschaltet, wenn nicht sogar live gespielt wurde. Die Tatsache, dass diese Theateraufführung „Faust I“ war, konnte nur wegen der Faustzitate und der andauernden Beschäftigung mit dem Reclambuch belegt werden. Das Bühnenbild und das Bühnengeschehen wichen so sehr von meinen Erwartungen ab, dass mir vor lauter Staunen meine Sitznachbarin sagte, ich möchte doch bitte den Mund schließen. Bei dem Geschehen spielten Requisiten keine große Rolle, alleine Stimme und Gestik verschlugen mir die Sprache. Einen derartigen Faust, der trotz voller Witz seine wissbegierige und hilflose Rolle spielte, der zwischen Rollen hin- und herspringen konnte, als wäre er dieser und jener Charakter; ein Faust, der ein Streitgespräch mit sich selber führen und sich auslachen konnte, – so etwas hatte ich bis gestern weder erlebt noch erwartet je zu erleben. Bis zur 5. Szene spielte Sebastian Rudolph alleine auf der Bühne. Mal ist er Faust, mal spielt er Gott, mal den Teufel selbst, mal den Theaterdirektor, ( usw.) und doch ist er so überzeugend in jeder Rolle wie modern und menschlich. Diese Exremfigur war der Superlativ meiner Erwartungen eines aktuellen, sich noch entwickelnden Fausts. Verpackt in einem selbst gemalten Werk, welches aus Verzweiflung und Wut angefertigt wurde, geht dieses über die Grenzen der Menschen hinaus und dient repräsentativ. Schließlich tritt ein zweiter „Mefausto“ auf, der vorerst parallel zu dem ersten „Mefausto“ spielt und ihn zeitweise ablöst, Philipp Hochmair. Beim Zusammenspiel kommen vor allem Liebe, Spaß und Leidenschaft zum Vorschein. Sie küssen sich und der Zuschauer ist sich gar nicht wirklich sicher, wer sich hier küsst. Ist es Faust, der sich selber küsst, Faust der von Mephisto hingerissen ist, Mephitso, der Faust verführt oder Mephisto, der sich selber küsst? Beim Auftreten von Patrycia Ziolkowska, die die weiblichen Rollen übernimmt und manchmal sogar Fausts Rolle spielt, also ein neuer Mefaustchen, kommt es auf der Bühne mit Frontalansicht richtig zur Sache.“ Auerbachs Kel- ler“ wird in Form von einer modernen Disco dargestellt, wo besonders die Triebe der Menschen zur Geltung kommen. Mephisto widmet sich diesen voller Leidenschaft und hat seinen Spaß. Faust hält sich zurück. Als Faust sich nach der Hexenküche voller Liebeslust auf Gretchen wirft, nimmt der Teil der Gretchentragödie Gestalt an. Abgesehen von einer neuen chronologischen Szenenabfolge und wenigen Szenen, welche nicht im Stück enthalten sind, hält Nicolas Stemann an der Grundidee fest und fängt sich so die volle Aufmerksamkeit der Zuschauer. Gretchen beendet das Stück und weckt die Zuschauer mit einem ganz ungewöhnlichen Ende, weswegen man das Theater nicht vorzeitig verlassen sollte. Endlich fertig? - Schade! Als das drei Stunden lange Stück nun zu einem Ende gekommen war, wurde mir bewusst, wie dringend ich eine Toilette aufsuchen musste. Diese Dringlichkeit habe ich während der Aufführung vor lauter Staunen gar nicht bemerkt. Lennart Wietzke Rezension zur Faust-Inszenierung von Nikolas Stemann Wir schreiben Samstag, den 29.10.2011, Thalia Theater, Hamburg. Es ist mal wieder an der Zeit seinen Horizont zu erweitern. An diesem Tag mit der „Faust“-Inszenierung von Nikolas Stemann, genauer gesagt, „Der Tragödie Erster Teil“. Nach Peter Stein wagt sich nun also auch Nikolas Stemann an den Faust, jedoch auf ganz andere Weise als bisher. Noch vor Beginn der Aufführung mit Proviant vollgestopft, mussten die Jacken und Taschen mit den restlichen, für die Pause vorgesehenen Vorräten, abgegeben werden. Nicht so schlimm, sollte man annehmen. Schon bald könnte man ja wieder etwas zu sich nehmen. Diese Annahme sollte sich jedoch als falsch entpuppen, doch dazu später mehr. Die meisten Besucher des an diesem Tag gut gefüllten Thalia Theaters sitzen bereits um viertel vor zwei ungeduldig und in voller Erwartung auf ein Riesenspektakel auf ihren Plätzen. Sie sollten nicht enttäuscht werden. Los geht’s, 14 Uhr, hinteres Parkett, rechte Seite. Die Bühne betritt Sebastian Rudolph in hellbrauner Jacke und blauer Hose, um den Hals ein kleines silbernes Kreuz. Einer für alle ! Die ersten paar Szenen wurden von ihm allein auf eine großartige, teilweise karikierende Art und Weise auf die Bühne gebracht. Stand er bei der Eröffnungsszene noch seitlich zum Publikum oder murmelte seinen Text wie einen ihm fremden vom hinteren Teil der Bühne, so vermochte er dennoch in der darauffolgenden Szene durch sein schauspielerisches Talent, seine Gestik, seine Mimik und seine Sprache die gesamte Bühne von vorne bis hinten, ja sogar das ganze Theater auszufüllen. Mal tat er dies als Gott, mal als Mephisto, mal als lustige Person, etc. Hierbei unterstützte ihn stets eine von ihm selbst durch ein MacBook abgespielte Musik. Ist das komisch!? Die Ansicht Gott als alten Mann darzustellen, teilen wohl viele. Ihn jedoch als alten, müden Lehrer darzustellen, der teilweise an Didi Hallervorden erinnerte, und ihm die Engel als aufgeweckte, strebsame Schüler entgegenzusetzen – ist das komisch? Meine Antwort ist: „Ja!“ Genau diese Antwort wird wohl auch, dem Gelächter entnehmend, der Hauptteil des Publikums geben. Diese übertriebene, aber dennoch einfache Darstellung von gesellschaftlich definierten Bildern ist komisch. So auch das Gespräch zwischen dem Herrn und Mephisto, welches Rudolph durch Auf- bzw. Absetzen zweier rot leuchtenden Teufelshörner verstärkt. Dieses Spiel mit typischen Bildern der Gesellschaft auf so deutliche Art und Weise ist komisch. Ist das Kunst oder kann das weg? Angefangen bei dem Versuch das Reclam-Heft „Faust“ zu verbrennen, über sämtliche, teilweise auf die Bühne geworfene Requisiten, bis hin zur wortwörtlichen Aneignung der Kunst, machen diese Aktionen die Szene „Nacht“ zu einem der Höhepunkte der Aufführung. Auch hier bietet Rudolph einen hervorragenden Auftritt, der teilweise wirklich nur staunen lässt. Sein in völliger Extase, durch Herumspritzen mit Farbe entstandenes Kunstwerk versucht sich der an diesem Abend blendend aufgelegte Künstler anzueignen. Hierbei beklebt und bemalt er nicht nur die gesamte Bühne, sondern auch sich selbst und wird zum lebenden Kunstwerk. Nichtsdestotrotz ist dieser Augenblick nur flüchtig, denn schon kippt dieses Ver- langen zu einem Zerstörungs- und Vernichtungsdrang. Dieser schnelle Umschwung ins Gegenteil bannt die Zuschauer und lässt sie gespannt auf das Geschehen blicken. Diese dramatische Szene wird nicht nur durch Musik, sondern zudem durch den Wechsel von Licht und Schatten bzw. Dunkelheit sowie das Sprechen mit oder ohne Mikrofon unterstützt. Obwohl diese Szene keineswegs einschläfernd war, lässt einen der laute Knall am Ende des Monologs doch hochschrecken. Moin Moin, ein neues Gesicht Begleitet von ruhigem Vogelgezwitscher vollzieht sich die nächste Szene „Osterspaziergang“. Auch hier wieder großes Gelächter über den Satz „Moin Moin, frohe Ostern“, der durch seinen Hamburger Akzent die Verse immer wieder unterbricht. Das Spiel mit Akzenten, wieder eines der komischen Elemente in Stemanns Aufführung. Nun endlich ein zweiter Schauspieler. Zunächst noch stumm dennoch mit sehr viel Lärm bewegt sich Philipp Hochmair auf der Bühne. Beide Schauspieler sprechen gleichzeitig versetzt oder auch unisono, mal nur der eine, mal nur der andere. Dieser dargestellte Kontrast von Gleichheit und Ungleichheit ist wieder eine der genialen Ideen Stemanns. Auch hier fehlt es natürlich wie eigentlich in keiner Szene an Medien. Sei es nur das Mikrofon oder aber auch die Projektion eines Pudels oder eines Pentagramms durch Beamer. Küsse, Goldketten – Chaos Ein erster Anschein von Chaos entwickelte sich das erste Mal in dem Studierzimmer durch die Vielzahl der Personen auf der Bühne. Auch hier spielt Stemann mit typischen Bildern z.B. dem Teufel als Vertreter des Materialismus mit Pelzmantel und Goldketten. Zwar stellt man sich den Teufel als eine listige Gestalt vor, aber diese Listigkeit, die Hochmair in seine Sprache legte, war atemberaubend glaubwürdig. Dazu noch seine kantigen Bewegungen machen das Bild des Teufels perfekt. Auch hier wurde mit Übertreibung nicht gespart. So führte nicht nur die volle Bühne und die Lautstärke, sondern auch die Übertreibung in allen anderen Belangen zu einen Chaos. Die ohnehin schon unübersichtliche Szene wurde gekrönt mit einem Kuss von Mephisto und Faust, der dann dieses Chaos auch ins Publikum übertrug. Sofort fingen alle an Blicke und Worte zu tauschen. Manche standen sogar auf und verließen den Raum. Als wäre das noch nicht genug, verstärkte sich das wenigstens noch räumlich getrennte Chaos mit dem Lied „Anotheroneplaysthe Faust“ eine abgewandelter Rocksong von Queen. Durch geschaffene Lichtverhältnisse sowie die ständige Bewegung war man nur noch gebannt von der Vorstellung, so dass Reihenweise die Kinnladen herunterklappten. Zeit für eine Pause? Nach diesem wirklich atemberaubenden Chaos wäre eine Pause vielleicht gut möglich gewesen. Vielleicht, um etwas Nervennahrung zu sich zu nehmen, um etwas Luft zu schnappen oder zum Verrichten anderer Geschäfte. Aber Stemann verfolgte wohl eine andere Intention und machte zunächst keine Pause, sondern fuhr weiter fort. Jeder ist Jeder Nun ist das Trio komplett, denn PatryciaZiolkowska betritt die Bühne. Durch Gefühl in Stimme und Sprache und das Wechseln und Kontrastieren meistert auch sie ihre Rolle mit Bra- vour. Alle drei gewinnen durch ihre unterschiedlichen, gut vermittelten Interpretationen der Situation eine Menge Authentizität. Chaos? – nicht schon wieder! Stemann hat aber offenbar immer noch nicht genug. Nun vertauscht er auch noch die Reihenfolge der Szenen, angepasst an seine eigene Interpretation. Aber er geht noch über die Grenze des Zumutbaren hinaus. So sind in dem Wirrwarr von tanzenden, singenden und redenden Personen, Beamerprojektionen und Personenspaltungen die Szenen nur wenige Sekunden lang, so dass man wirklich den Überblick verliert. „Stimme (von oben): Ist gerettet“ Auch in der Schlussszene ist natürlich eine Besonderheit zu finden. Wo man wunderbar mit Technik hätte arbeiten können, verzichtet Stemann dieses Mal jedoch darauf und lässt die Regieanweisung einfach mit vortragen, eine wirklich außergewöhnliche und interessante Idee. Nichtsdestotrotz ist mit dem letzten Vers nicht nur Gretchen gerettet, sondern auch das Publikum, erlöst von der Zumutung des Regisseurs. Dennoch überwiegt zunächst die sprachlose Begeisterung über eine völlig neue, moderne Auffassung des Faust-Stoffes. Langweilig ist anders Die Figurenspaltung, die Komik, aber auch die offene Sexualität machen diese Inszenierung zu einer der ganz besonderen Art. Vollgestopft mit Medien, an denen vielleicht an mancher Stelle auch gerne ein wenig hätte gespart werden können, vollzieht sich das Stück als ein sehr komplexes. Die letztendlich „fehlende“ Pause kann man als eine Zumutung an das Publikum verstehen. Der wirklich an manchen Stellen anstrengenden Vorstellung hätte eine Pause zum Verschnaufen ganz gut getan. Nichtsdestotrotz muss man sich darauf einlassen, vielleicht unter Einbüßen von ein wenig Aufmerksamkeit. Oder man lässt sich eben nicht darauf ein und verlässt den Saal, wie es auch der ein oder andere Zuschauer getan hat. Dass Stemann keine Pause vorgesehen hat, hält die ganze Inszenierung jedoch auch zusammen und hält die Spannung stets auf einem sehr hohen Niveau. Ein jeder kann seine ganz persönliche Meinung zum Stück bilden, denn erst danach hat man die Möglichkeit sich andere Meinungen und Ansichtsweisen einzuholen. Diese ganz persönlichen Interpretationen sind natürlich von Person zu Person unterschiedlich. Hierbei muss man zudem zwischen „Faust-Kennern“ und „Faust-Nichtkennern“ differenzieren. Der „Faust-Kenner“ hat zum Buch und zu den Figuren schon einmal eine Interpretation entworfen, welche er mit der neu gewonnenen nun abgleichen kann. Der „Faust-Nichtkenner“ entwickelt jedoch erst bei der Aufführung sein Bild und schaut somit unvoreingenommen auf das Geschehen. Hierbei zieht jeder seine ganz persönlichen Schlüsse. Ein großes Lob ist auch den Schauspielern zuzusprechen. Ihre perfekte Leistung wurde am Ende auch mit einem gebührenden Applaus geehrt. Gespielt haben sie alle die gleichen Figuren, jedoch auf die unterschiedlichste Art und Weise. Das Schöne daran ist, dass sie dabei wirklich authentisch wirken, als wären sie die Person selbst. All diese Kriterien machen die Faust-Inszenierung von Nikolas Stemann zu einem Kunstwerk, das seinesgleichen sucht. Das macht wirklich Laune auf den Teil II des FaustKomplexes, welcher hoffentlich genauso grandios sein wird. Ana Kolenda Der „Faust“ in Uns Nicolas Stemann setzt mit seiner Inszenierung im Hamburger Thalia Theater neue Maßstäbe „Wie machen wir’s, dass alles frisch und neu / Und mit Bedeutung auch gefällig sei?“. Dieser Satz aus dem „Vorspiel auf dem Theater“ war die einleitende Frage von Faust I an das Publikum und wurde direkt durch Stemanns Inszenierung im Sinne der Zuschauer beantwortet. Bei dem ersten Teil der Faust-Tragödie von Stemann kam es zur Steigerung aller bisherigen Inszenierungen – nicht zuletzt auch der von Peter Stein im Jahre 2002. Der Grund dafür ist nicht nur das schlicht gehaltene Bühnenbild, sondern auch das Schauspieler-Trio, das alle Charaktere von „Faust I“ ausfüllt. Doch gerade durch eine solche Neuinterpretation stellt sich drängend die Frage über ihre „Werkadäquatheit“, mit welcher sich Gerhard Kaiser in Bezug auf die Faust-Tragödie befasst hat. Deshalb werde ich mich nun im folgenden Text, ausgehend von Kaisers Überlegungen, mit der Werkadäquatheit der Faust-Inszenierung Stemanns auseinandersetzen. Durch die folgende Betrachtung der Darbietung wird sich Stück für Stück auch sein Faust-Bildergeben. Zuerst also zur Kaisers Definition des Begriffs „Werkadäquatheit“. Hauptsächlich versteht er darunter, das Werk zum „Sprechen“ zu bringen, unabhängig von jeglicher Kürzung bzw. Umformung des Textes. Wichtig dabei ist allerdings, dass der Text als Ganzes gesehen wird. Und das unter Einbezug der geschichtlichen Ereignisse und des heutigen Blickpunkts. Um diese Definition nun auf die zu diskutierende Inszenierung anzuwenden, werde ich diese anfangs chronologisch durchgehen und dabei die wichtigsten Szenen hervorheben. Stemann hat sich bei seiner Inszenierung dafür entschieden, den ersten Teil von „Faust“ mit nur drei Schauspielern zu bestreiten. Sebastian Rudolph tritt der Herausforderung entgegen, die erste Stunde bis zur Szene „Studierzimmer I“ alle vorkommenden Rollen selbst zu verkörpern. Anfangs ist er noch er selbst, während er das Gedicht „Zuneigung“ im Reclamheft murmelnd vor sich hin liest, später beim „Vorspiel auf dem Theater“ ist Rudolph jedoch schon tiefer in seine Rolle als Direktor, Dichter und lustige Person eingetaucht und wendet sich ans Publikum. Diese Entwicklung erreicht im „Prolog des Himmels“ ihren Höhepunkt, der den Zuschauern als „Schulszene“ präsentiert wird. Gott als Lehrer bekommt hier durch Rudolph einen gelangweilten Ausdruck, der immer wieder am Dümmlichen schabt. Die drei Erzengel hingegen werden als Streber dargestellt, die um die Gunst Gottes kämpfen. Nur Mephistopheles, der durch Rudolph mit leuchtenden Hörnerhaarreifen verkörpert wird, scheint nicht nur sprachgewandt, sondern auch klug und aufgeweckt zu sein. Durch diese Überlegenheit Mephistopheles´ bekommt die Wette zwischen ihm und Gott einen vollkommen neuen Charakter zugeschrieben: Fausts Erlösung im zweiten Teil der Tragödie ist zweifelhaft. So kommt der Text ohne jegliche Änderung, nur durch Rudolphs schauspielerische Leistung, zu neuer Bedeutung. Die folgende Szene „Nacht“ wird anfangs von Rudolph als Faust trocken „vorgelesen“, zunehmend steigert er sich in den Text hinein und stolpert schließlich über die Worte „was die Welt im Innersten zusammenhält.“. Von hier an wird er vom Text, von Fausts Wut gegenüber Gott gesteuert. Das Reclamheft zerreißend wird die Bühne mit Farbe bedeckt und Waffen werden auf die Bühne geworfen. Der folgende Appell an Gott klingt wie eine Kampfansage, eine Kampfansage Fausts gegen seine Menschlichkeit, die nur durch die resignierende Begegnung mit dem Erdgeist getrübt wird. Die Kampfansage wird durch die willkürliche Ver- wüstung der Bühne unterstrichen, nicht zuletzt durch das ausgekippte Benzin, das nur Feuer bräuchte, um sich zu entzünden. Faust als Figur steht hier für den gemeinen Menschen und den Kampf um Selbstverwirklichung – Gott spielt dabei keine Rolle mehr. Es kommt zum „Osterspaziergang“, der eigentlich zuvor von Faust als „gestrichen“ proklamiert wurde und nach dem Scheitern seines Selbstmordes mit kleineren Unterbrechungen narrativ vorgelesen wird. Auch Schlüsselsätze wurden unterbrochen, z.B.: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich…“ „Gesundheit“. Auf diese Weise wird eine der berühmtesten Zeilen der Faust-Tragödie alle Wichtigkeit entzogen. Fausts Beziehung zur Natur verliert an jeglicher Bedeutung und im Laufe der Inszenierung wird auch nicht näher auf sie eingegangen. Die nächste Szene „Studierzimmer I“, in welcher sich Mephitopheles Faust offenbart, ist eine Schlüsselszene in Stemanns Inszenierung. Hier kommt es zu einem Schauspielerwechsel: Rudolph tauscht mit Philipp Hochmair, nachdem auch dieser sich mit unglaublicher Geschwindigkeit ins Reclamheft „eingelesen“ hat. Nach Rudolphs Abgang fängt er an die Szene zu spielen, spielt Mephisto und Faust. Die beiden Charaktere vereinigen sich und das zu Recht, denn die Zeile „Zwei Herzen wohnen ach in meiner Brust“ bescheinigen eine Textnähe bzw. eine Auslegung auf besondere Art und Weise. Mit diesem „role splitting“ kommen wir auf Kaisers Text zurück, der als ein Thema die Unteilbarkeit der Faust-Figur behandelt. Sein Standpunkt ist, dass die Spaltung Fausts als Extremfigur die anthropologische und historische Repräsentanz auflöse und dadurch die Leitlinie des Dramas verloren ginge. Wäre das der Fall, hätte Stemann alles falsch gemacht, was falsch zu machen ist. Denn auch Patrycia Ziolkowska, die zuletzt auftretende Schauspielerin des Trios, spricht und spielt Faust, Mephisto und Gretchen. Obwohl Kaisers Standpunkt zur Unteilbarkeit Fausts nachvollziehbar ist, ist es hier ein adäquat angewendetes Mittel Stemanns. Das geschlechterübergreifende „role splitting“ ist Mittel zum Zweck, nämlich dem Zuschauer vor Augen zu führen, dass jeder Mensch verschiedene Seiten bzw. ein inneres Team in sich vereint hat. Weil die Faust-Tragödie bekanntermaßen auch als innerer Monolog gesehen werden kann, ist es kein Wunder jeden Schauspieler jede Rolle spielen zu sehen. Die Männer finden ihre weibliche Seite, die Frauen ihre männliche. So durchreißt Stemann die vorherrschende patriarchalische Struktur mit seiner FaustInszenierung und auch Kaisers Behauptung über die Unteilbarkeit der Faust-Figur. Das Zusammenspiel der Schauspieler ist ebenso bemerkenswert. Bei dem Pakt zwischen Mephisopheles und Faust spielen Hochmair und Rudolph zusammen und nähern sich dem anderen immer drängender, so dass spätestens beim Kuss der beiden deutlich wird, dass Faust verführt und der Pakt besiegelt ist. Dafür bedarf man als Zuschauer nicht einmal des Textes, sondern ausschließlich der Handlung. Weitere Besonderheiten der Inszenierung Stemanns werde ich nun beleuchten, das sind zum einen die Textarbeit und zum anderen die Szenenarbeit. Denn Texte sind teilweise gekürzt, in Abständen wiederholt oder es sind sogar ganze Szenentexte gestrichen (Walpurgisnacht). Auch das hat eine Intention, nämlich auf bestimmte Aspekte des Werkes und Zeilen einen Focus zu setzten, die den Zuschauern als Anregung dienen. Auch die Szenenarbeit ist verblüffend, da zum Ende hin mehr und mehr Simultantechnik eingesetzt wird. So merkt der Zuschauer erst, dass teilweise Szenen gleichzeitig geschehen und nicht wie im Werk aufeinander folgen. Dadurch rücken die Aussagen der Szenen in den Vordergrund, der gemeine Text in den Hintergrund. Das ist in zwei Szenen der Hamburger Inszenierung der Fall. „Wald und Höhle“ wird mit „Gretchens Stube“ in Simultantechnik gesetzt und es wird rasch die Aussage dieser beiden Szenen deutlich: Die brennende Liebe zwischen Gretchen und Faust. Ebenso ist es mit den Szenen „Zwinger“ und „Walpurgisnacht“. Im Hintergrund sieht man in einer Filmsequenz zwei Menschen fliegen, es sind Mephisto und Faust. Im Vordergrund tanzt Gretchen und über Lautsprecher kann man ihre Unterhaltung mit Lieschen in der Szene „Am Brunnen“ hören. Es wird deutlich, dass Gretchen Reue an ihrer unehelichen Liebe empfindet und unter ihrer Schmach leidet, Faust hingegen weiter seinen Trieben folgt. Folglich ist es der erste Bruch des Liebespaares, der in der letzten Szene „Kerker“ seinen Höhepunkt erreicht: der Tod Gretchens. Die letzten Zeilen von „Faust. Der Tragödie Erster Teil.“ werden von Ziolkowska wie gelesen vorgetragen (beginnend bei: „Mephistopheles: Sie ist gerichtet…“). Ein erneuter Reiz von Stemann an die Zuschauer, denn es kommt einem durch die nüchterne Vortragsweise von Ziolkowska wie eine Frage vor, die der Regisseur offen lassen möchte, um uns Gedankenfreiräume für eigene Interpretationen zu schaffen. Nicolas Stemann hat mit seiner Inszenierung von „Faust“ eindeutig eine Steigerung zu vorhergehenden Inszenierungen geschaffen. Doch drängt sich nun die Frage auf, ob sie denn auch die „Werkadäquatheit“ von Gerhard Kaiser bestehen kann, oder ob auch diese Überlegung Kaisers hinfällig istsowie seine Ansicht über die Unteilbarkeit der Faust-Figur. Stemanns Inszenierung hat unter Einbezug des Publikums einen neuen Faust kreiert, der vom jeweiligen Betrachter abhängt. Trotz der neuen Auslegung von Szenen und der FaustFigur durch Stemann, garantiert sein Stück uns vollkommene Textnähe und gerade dadurch wird es zum „Sprechen“ gebracht. Kaiser versteht darunter, dass das Stück als Ganzes aufgefasst wird, was in Hamburg eindeutig der Fall ist. Dementsprechend hat das ThaliaTheater in Hamburg die Überlegungen zur „Werkadäquatheit“ erfüllt, das auch durch die vollkommen neuartige Auslegung von „Faust“. Denn das Werk wächst im Laufe der Zeit durch historische und gesellschaftliche Ereignisse sowie auch durch jede neue Inszenierung. Allerdings hatte ich besonders durch Stemanns Inszenierung das Gefühl vermittelt bekommen, dass Werkadäquatheit größtenteils von jedem Zuschauer als Individuum abhänge. Die Hamburger Inszenierung von „Faust I“ ist durch ihre dreistündige Dauer einmalig. Der Grund dafür ist die fehlende Pause. Als Regisseur tätigt Stemann so eine Auslese an seinem Publikum, sich auf das „Faust-Abenteuer“ einzulassen. Größtenteils spricht er so Menschen an, die mit der Faust-Tragödie vertraut sind und auch den Willen haben sich mit ihr zu beschäftigen. Das heißt freilich nicht, dass jedem das Stück zwangsläufig gefällt, aber als Regisseur kann er so von der Offenheit für Neues von Seiten des Publikums ausgehen. Und das weiß er zu schätzen, indem er es einbindet, durch die Schauspieler direkt anspricht, wie z.B. im „Vorspiel auf dem Theater“ oder aber auch das Ende für eigene Interpretationen offen lässt. Das Publikum muss die Auslegung lediglich zulassen und mit dem Werk in Verbindung bringen können. Ist das der Fall, kann man von Werkadäquatheit sprechen. Auf Stemanns Faust-Bild bezogen, ist es also das Zulassen der Ansicht, dass jeder mehrere Seiten in sich hat, die hier durch Faust, Mephistopheles und Gretchen dargestellt sind. Und weil die FaustTragödie auch als innerer Monolog ausgelegt werden kann, gibt es auch eine Verbindung von dieser Überlegung zum Werk. Deshalb sollte man auch den individuellen Standpunkt als einen Maßstab zu Kaisers Punkten hinzufügen. Dass er essentiell ist, sieht man schon allein an den Zuschauerkommentaren bezüglich der Hamburger „Faust“-Inszenierung. Alva Lütt Stemanns Faust ist grenzenlos „Another one plays Faust“ dröhnt aus den Lautsprechern, über die Wände flackern Bilder von exzessiven Partys und Sexszenen und (der erste) Faust-Darsteller Sebastian Rudolph steht mit einer Disco-Kugel über der Schulter überfordert mittendrin. Ein nachvollziehbares Gefühl. Denn Überforderung herrscht teilweise auch im Publikum, zu tief sitzt noch die Überraschung, dass Faust nicht Faust ist und bleibt, sondern plötzlich in mehreren Charakteren auftaucht. „Another one plays Faust“ also im doppelten Sinne. Zurück zum Anfang1: Sebastian Rudolph kommt auf die Bühne und beginnt mit dem Reclamheft in der Hand zu lesen, leise, unsicher, unfaustisch. Wie ein Faust sieht er auch nicht aus, er ist jung, sportlich und nicht der typische Gelehrte, den er die folgenden Stunden darstellen soll. Doch das soll und muss so sein, denn Rudolph ist nicht nur Faust, sondern auch Dichter, lustige Person, Erzengel, Gott, Wagner (…). Es ertönt ein faszinierendes Stimmenspiel, ein akustisches Meisterwerk, das die Zuschauer das Staunen lehrt. Als er allerdings zum zweiten Mal ein Faust-Reclamheft seiner Zerstörungswut aussetzt und in Fetzen über den Boden verteilt, taucht unvermeidbar der Gedanke auf: Wird hier das Werk auf die Schippe genommen? Die Erinnerung an Peter Steins werkgetreue Inszenierung sitzt noch in den Knochen und lässt die Geschehnisse auf der Bühne revolutionär erscheinen. Doch wie schon Gerhart Kaiser in seinem Text „Gibt es einen Faust nach Peter Stein“ feststellt, muss Werkadäquatheit nicht unbedingt heißen, dass alle 12111 Verse in der richtigen Reihenfolge mit der erwarteten Betonung vorgetragen werden. Und so ist es zwar erheiternd und aufregend neu, aber durchaus werkgetreu, als Sebastian Rudolph „Nicht schon wieder Wagner!“ stöhnt und den Rest der Szene aufgebracht wegfallen lässt. Auch die Inszenierung vom „Osterspaziergang“ bringt den Zuschauer zum Schmunzeln: Rudolph beginnt mit dem Vortrag („Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“ V.903) und unterbricht sich immer wieder, um im hamburgischen Dialekt allerlei Klönschnack einzuwerfen. Der fruchtbare Frühlingsbeginn wird hierbei durch eine Reihe von Topfpflanzen dargestellt, die er im Laufe der Szene auf seinen Tisch gestellt bekommt – sodass er am Ende zwischen all den Töpfen kaum mehr zu sehen ist. Während all dies schon ganz gewiss nicht verstaubt und traditionell wirkte, kommt mit dem Pudel eine überraschend neue Dimension der Inszenierung zum Vorschein. Bevor Faust „Das also war des Pudels Kern“ sagen kann, taucht unvermittelt eine zweite Person auf der Bühne auf, rückt sich geräuschvoll einen Schultisch an den linken Bühnenrand und beginnt mit dem Aufbau seines Mikrofons. Wie Rudolph ist er mittelgroß, hat braune Haare und trägt eine Jeans und ein Hemd. Als er sich dann neben ihn gesetzt hat und anfängt „Faust 1“ von vorn aus seinem Reclamheft vorzulesen, wird klar: den Ausruf „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,...“ darf man bei Stemann wörtlich nehmen. Es beginnt ein Kampf der zwei Seiten, der sich über das gesamte Stück ziehen wird und nicht nur an dieser Stelle vom „Mephistophelischen“ erfolgreich ausgefochten wird. Denn 1 Es erschien mir nach diesem Theater-Abend sinnvoll, meinen Aufsatz dem Stil einer Rezension in einer Zeitung anzupassen. Daher habe ich auf Formulierungen wie „Meiner Meinung nach“ oder „Meiner Ansicht nach“ verzichtet und mich an einigen Stellen etwas plakativer ausgedrückt, als ich es vielleicht sonst getan hätte. dass es nicht nur der „Mephistopheles“ aus Goethes Tragödie ist, wird schnell klar, als Darsteller Philipp Hochmair den ursprünglichen Faust von der Bühne verdrängt und in der folgenden Szene selbst beide Rollen übernimmt, Faust ins Publikum gesprochen, Mephisto durch das Mikrofon und mit dem Hintern Richtung Publikum – auch ein aussagekräftiges Bild. Dass dieser Faust aber mehr Mephisto als Faust ist, merkt man schon an seiner Mimik, seiner Gebärdensprache und seinem Tonfall. Er ist mehr der Draufgänger, ein hinterlistiger, kecker Bursche, der die Kunst der Verführung zu seinem Lebenswerk gemacht hat. Und dieses beherrscht er anscheinend perfekt, denn zum „Die Wette biet ich. Topp!“, sprechen schon beide im Einklang die Verse, tanzen einen symbolischen Ringelreihen und küssen sich sogar. „Auerbachs Keller“ mit seinen Disco-Einlagen und einem „Kannibalismus-Lied“, was auf die Selbstzerfleischung der Menschheit hindeutet, endet wegen der schon erwähnten Überforderung Fausts und seinem Wunsch, diesen Ort zu verlassen. Während die ersten ein bis zwei Stunden vor allem von Rudolph und Hochmair ausgefochten wurden, taucht jetzt die weibliche Komponente des Stückes auf: Patrycia Ziolkowska, zunächst als moderne Hexe in einem dünnen, silbernen Kleid und mit Highheels. Inzwischen liegt die Vermutung nicht mehr fern, dass sie auch den Rollenpart von Gretchen übernehmen wird, doch dass sie dafür kein anderes Kostüm anzieht, ist wirklich erstaunlich, stellt man sich Gretchen nach der Lektüre von „Faust“ doch als ein 14-jähriges, schüchternes Mädchen vor. Die Unschuld in Person ist Ziolkoweska aber nicht eben. Vielleicht will einem die Laszivität und Hinterhältigkeit der Hexe nicht aus dem Kopf gehen, aber auch als Gretchen bleibt sie sehr reif und divenhaft, mehr Hexe oder auch Schauspielerin als unerfahrenes Kind. Zeigt uns Stemann hier, was er hinter der Unschuld, die Faust in seiner Liebsten sieht, vermutet? Doch eine weitaus überraschendere Tatsache lässt einem kaum Zeit über die Bedeutung eines solchen Gretchens zu grübeln: Ziolkowska ist nicht nur Hexe und Gretchen, sie ist auch Faust und Mephisto und Marthe. Und nun wechseln sie, Rudolph und Hochmair sich mit den Rollen ab, ein jeder hat einen anderen Faust in sich versteckt. Teuflisch, verführerisch, verzweifelt tauchen seine Worte in ihren beeindruckenden Monologen auf, teilweise erst, nachdem sie geklärt haben, wer jetzt dran ist. Stemanns Faust ist Gretchen ist Hexe ist Gott ist Erdgeist ist Teufel...ist Faust in seinem Streben nach dem Ganzen. Er ist eine Extremfigur durch seinen übermäßigen Drang, alles zu besitzen, alles zu wissen, alles in sich zu vereinen – und dabei wird er selbst als Einzelfigur zerstückelt und auf drei Schauspieler verteilt. Kann das noch „werkadäquat“ sein? Gerhart Kaiser behauptet in seinem oben erwähnten Text, die Stein-Inszenierung fordere einen stärker vereinheitlichenden „Faust“ heraus. Stemann war anscheinend anderer Meinung und setzt uns einen noch weiter aufgespaltenen vor. Sein Faust ist eine gespaltene und zusammengesetzte Persönlichkeit, eine unstete Person, die überall und in jedem steckt. Was Kaiser als „Unverbindlichkeit des Bilderbogens“ bei Stein beklagt, kann man auch auf diesen Faust beziehen. Eine visionäre Kritik, die Goethe zu Beginn der Moderne mit ihren Katastrophen der Menschheit literarisch verpackte, kann man hier kaum erkennen. Zu unstet und gebrochen ist die Figur Faust, als dass man seine Handlungen auch als Konsequenzen und seine Tragödie als Lehre für die Menschheit ohne weiteres erkennen kann. Doch zum Glück ist das Werk Goethes nicht nur auf eine Interpretation festzulegen, sondern vielmehr so zeitlos und vielschichtig, dass Stemann scherzhaft auf ein Video zurückgreift, in dem Interpretationsansätze von einem Germanisten entfaltet werden. Daher kann man auch dieser Inszenierung nicht voreilig attestieren nicht werkgetreu zu sein. „Auerbachs Keller“ endet in einem Menschenhaufen, jeder treibt es mit jedem. Hochmair als Mephisto küsst erst Faust, später Gretchen, zwischendurch wird er zum Faust und verführt Gretchen. Die Verführung ist überall und die Depersonalisierung, auf die das Rollen-Splitting auch hinweist, macht sie zu etwas Ehrenrührigem. Vielleicht eine leise Kritik an der Massengesellschaft, die der Zuschauer nicht hören muss, aber kann, denn die Inszenierung lässt Freiräume zum Denken und Interpretieren. Das Teuflische im Faust ist bei Stemann kein Pudel oder Mephisto, der hereinspaziert kommt. Es ist eine Entscheidung, die am Anfang des Stückes getroffen wird und die mit den Versen „Es möcht kein Hund so länger leben, drum hab ich mich der Magie ergeben.“(V.376/377), zwischendurch immer wieder begründet wird. Dass Faust hier eine Art multiple Persönlichkeit und das Teuflische in ihm eine konkurrierende Kraft ist, kann man also durchaus als folgerichtig bezeichnen. Und weiterhin kann man daraus schließen, dass Stemann einen Faust und sicherlich auch einen Mephistopheles in jedem von uns sieht. Vor allem bewirkt die Durchlässigkeit der Charaktere und das Verschwimmen ihrer Identitätsgrenzen, dass der Zuschauer selbst ins Grübeln gerät. Verstehen kann man nicht alles, aber es ist eine ungeheure Energie zu spüren, die von dem Bühnengeschehen ausgeht und das Publikum fesselt. Werkadäquat im Sinne der Szenenreihenfolge wird es immer weniger, denn mit der Vermischung und Kürzung zentraler Szenen, wie z.B. der Walpurgisnacht, fehlen dem Zuschauer einige Elemente, um das Ende der Tragödie ganz zu begreifen. Die Magie, die auch in der „Walpurgisnacht“ eine Hauptrolle spielt, wird zwar durch die ständige Wiederholung der Verse 376 und 377 das Stück hindurch aufrechterhalten und betont, ein bisschen unerwartet ist die Ausführung der Szene dann aber doch. Doch die Intensität des Schauspiels hilft darüber hinweg und lässt einen nicht los, auf einer Art „Rausch-Welle“ wird man drei Stunden lang durch immer schneller in einander übergehende Szenen getragen und erwacht erst bei Gretchens letzten Worten. Letztendlich gelingt es dem Regisseur nämlich auch zum Ende noch eine Überraschung einzubauen, die allerdings im Nachhinein betrachtet an den Prolog im Himmel anschließt. Während bei Goethe die göttliche Liebe Gretchen rettet und zugleich eine Rettungsmöglichkeit Fausts andeutet, zieht Stemann die metaphysische Kraft der Liebe ins Lächerliche, indem er Ziolkowska die letzten Verse trocken und ohne Betonung geradezu „runterrasseln“ lässt. Schon im Prolog hatte Rudolph einen senilen, vergesslichen Gottvater gezeigt, der einem kecken Mephisto gegenüber beschämend unterlegen wirkte. Nun führt Stemann diesen Faden weiter und findet sinnvollerweise eine andere Lösung, als Inszenierungen vor hundert Jahren sie gefunden haben. Denn „Faust“ kann nicht der Alte bleiben; wie sich die Welt ändert, so ändert sich auch unsere Lesart. Stemanns Lesart ist sicherlich sehr eigen und nicht das, was man auf den ersten Blick als „werkadäquat“ bezeichnen würde. Doch auch Werkadäquatheit ist ein schwer zu definierender Begriff: „...nicht den Text als museale Instanz festzuhalten, sondern ihn als Ganzes aufzufassen und dabei zuzulassen, dass alles Geschichtliche, auch das Kunstwerk, perspektivisch in den Blick kommt“, das ist Kaisers Ansicht nach werkgetreu. Zweifelsohne hat Stemann den Text als Ganzes aufgefasst, wenn auch (vielleicht) auf eine andere Weise als z.B. Peter Stein. Er beschränkt sich nicht wie er durch maximale Deutungsaskese, bietet dem Zuschauer aber viele Bilder, die er (oder sie) selber deuten muss. Und zwischendrin hat er, zu unauffällig und diskret, als dass man es als „Regietheater“ bezeichnen könnte, seine eigenen Deutungen versteckt. Sein Werk basiert auf Goethes Werk und seiner Lesart von diesem. Da er den „Faust“ aber nicht sinnlos zusammen- streicht, sondern in weitgehend nachvollziehbaren Bildern darstellt, kann man nicht von der hemmungslosen Unterwerfung sprechen, die Kaiser in seinem Text kritisiert. Seine Ansprüche ans Publikum, das drei Stunden lang gefesselt wird, beinhalten auch die Aufforderung zum Selber-Denken. Die Inszenierung ist kein fertiges Gericht, was dem brav schluckenden Zuschauer vorgesetzt wird. Es ist ein lebendiges Gebilde, das vom Mitwirken des Publikums ausgeht und auf gewisse Weise auch darauf angewiesen ist. Alles in allem also ein „Faust“, der die Grenzen der Figuren überschreitet, die Grenzen der Menschheit in Frage stellt, die Grenzen der Werktreue in manchen Aspekten torpediert, sich aber auch eindeutig nicht innerhalb der Grenzen des Regietheaters befindet – einfach grenzenlos. Schriftliche Hausarbeit über Nicolas Stemanns „Faust I“ Im folgenden Text werde ich die Inszenierung „Faust I“ von Nicolas Stemann am 29.10.2011 im Thalia-Theater Hamburg inhaltlich begründet würdigen, in dem ich die Überlegungen von Gerhard Kaiser bezüglich des Themas „Werkadäquatheit“ mit einbeziehe und erläutere, wie Stemann den „Faust“ meiner Meinung nach liest beziehungsweise sieht. Was bedeutet die nicht eindeutige Rollenzuteilung in der Inszenierung Stemanns? Warum genügen ihm für die Tragödie erster Teil lediglich drei Akteure? Ist Goethes „Faust“ auch als großer innerer Monolog funktionstüchtig? Das Stück beginnt mit Sebastian Rudolph, der zunächst die erste Stunde alleine meistert und dabei facettenreich die unterschiedlichen Rollen verkörpert. Sei es mit verschiedenen Dialekten oder verstellter Stimme, das „Ein-Mann-Theater“ hinterlässt Eindruck. Vor allem aber werden viele Szenen geboten, an denen losgelöst gelacht werden darf, dies spätestens, als derzeitig kommunalpolitische, aktuelle Themen in der Szene (Osterspaziergang) vor dem Tor aufgegriffen werden. Die darauffolgende Erscheinung Mephistos, verkörpert durch Phillip Hochmair, lässt weitere Spekulationen aufkommen, denn der Regisseur Nicolas Stemann lässt ihn als Fausts zweites Ich auftreten. Folglich ist Mephisto also die schwarze Seele in der Brust des strebenden Zweiflers, ein verführerischer, satirischer, angsteinflößender Teufel, der die von Trieben gesteuerte Seite des Fausts zeigt. Sofort mit seinem ersten Auftreten zieht er die volle Aufmerksamkeit des Publikums und des verwirrten Fausts auf sich. Das Auftreten der dritten und damit letzten Schauspielerin Patrycia Ziolkowska verwundert. Sie strahlt nicht nur gefestigtes Selbstbewusstsein aus, auch sie spricht neben der Rolle des Gretchens geschlechterübergreifend Texte anderer Figuren, darunter auch die des Mephistopheles und Fausts. Diese Art der Inszenierung lässt noch eine weitere Frage im Publikum aufkommen: Was möchte der Regisseur Nicolas Stemann uns weitergehend damit zeigen? Stemann sendet meiner Meinung nach mit seiner Inszenierung „Faust- der Tragödie erster Teil“ eine klare Botschaft, die er mit Hilfe der nicht vorhandenen Rollenzuteilung und die Reduzierung der Schauspieler ausdrückt. Faust stellt einen jungen, verzweifelten Mann dar, in dem viele Seelen wohnen. Die dunkle von diesen Seelen und damit eine laute auffordernde Stimme ist durch die Figur des Mephistopheles verkörpert. Küssen sich die Schauspieler Phillip Hochmair und Sebastian Rudolph zur Bekräftigung des Paktes, so ist das keinerlei Anzeichen von Homosexualität. Es bedeutet lediglich, dass die verführerische Kraft den Faust küsst, er diese Kraft zulässt und die beiden eins sind. Dies wird unterstrichen, wenn sie mit einer Stimme den Pakt sprechen. Gretchen ist ebenfalls ein Teil dieses Menschen, des Menschen, der eine multiple Seele zu haben scheint. Sie verkörpert das „ewig Weibliche“ der erkenntniswilligen und gleichzeitig verzweifelten und energiegeladenen Seele. Dies bedeutet also, in jedem von uns steckt ein inneres Team, in jedem steckt ein Teil Fausts, Mephistos und Gretchens, ausschlaggebend ist nur, wie ausgeprägt diese Seiten bei jedem einzelnen von uns sind. Dies wird besonders in der Szene Wald und Höhle deutlich. Die Schauspieler stehen in einem Dreieck angeordnet auf der Bühne und sprechen Teile des Textes gleichzeitig wie ein einzelner Mensch. Je nachdem, wer von ihnen am Kopf des Dreiecks steht, scheint die Oberhand zu haben. Besonders interessant ist es, dass Stemann diese Szene wählte, um die „Dreieinigkeit“ der Figuren zu zeigen, da Goethe nur Mephisto und Faust vorsah. In der darauffolgenden Szene Marthens Garten (Gretchens-Frage) wird das Motiv der multiplen Seele noch einmal sehr deutlich, als Patrycia Ziolkowska in der Rolle des Gretchen nicht mehr zwischen Faust und Mephisto unterscheiden kann. Sie steht inmitten von ihnen und fühlt sich sichtlich hin- und hergerissen. Als wäre sie sich nicht sicher, wer wer ist, irrt sie herum und küsst nicht nur den verführerischen und dominanten Mephisto, sondern auch Faust. Beide probieren, sie zu locken. Es gibt somit also mehrere Schauspieler, die den Faust darstellen, ohne dass „[eine] Verteilung der Faustrolle auf zwei Schauspieler [erfolgt]“, wie es bei Stein der Fall ist. Denn wie Gerhard Kaiser kritisiert, scheint es zwar „das Theaterproblem der Verjüngung des alten Gelehrten in den jungen Liebhaber der Gretchentragödie im Geniestreich zu lösen, tatsächlich aber spaltet die Rollenteilung die Einheit der Figur in der Tiefe auf […]“. (S.317, Mitte) Dies umgeht Steinmann geschickt mit der Einheit der Schauspieler, es ändern sich dadurch lediglich Charaktereigenschaften des gesamten Faustbildes, es wird beispielsweise triebhafter. Goethes Faust ist auch als Monolog noch funktionstüchtig, wie uns Stemann mit seiner Inszenierung vor Augen hält. Dies wird vor allem in der Szene Hexenküche deutlich, in der Patrycia Ziolkowska alle Rollen übernimmt. Es führt zu dramatischer Intensität. Die Reduktion der Schauspieler ist ein Nutzen für das Stück und reflektiert die durch Gerhard Kaiser bekannte, „Werkadäquatheit“. Schließlich bedeutet „Werkadäquatheit […] nicht, den Text als museale Instanz festzuhalten, sondern ihn als Ganzes aufzufassen und dabei zuzulassen, da[ss] alles Geschichtliche, auch das Kunstwerk, perspektivisch in den Blick kommt. Jede Wahrnehmung, auch die Wahrnehmung durch Inszenierung, kann und mu[ss] mit dem Wandel des historischen Blickpunkts auch neue Aspekte hervor- und geläufige zurücktreten lassen.“ (Gibt es einen ‚Faust‘ nach Peter Stein?/ Seite 320, Zeile 25-29) Bis zur Ermüdung werktreu war die Inszenierung Steins, doch wie ich feststelle kann auch das Gegenteil, nämlich die Inszenierung Stemanns auf „Werkadäquatheit“ schließen lassen. Schließlich kann das, was auf die Bühne gebracht wurde, im Werk widergefunden werden, ohne dass es als „museale Instanz“ festgehalten wird. Der Text wurde originalgetreu übernommen und an manchen Stellen gekürzt. Die Kostüme der Schauspieler sind zeitgemäß, Patrycia Ziolkowska trägt beispielsweise fast ausschließlich hohe Schuhe und moderne Kleider. Es ist also gelungen, den Text als „Ganzes“ aufzufassen, ihn als Gleichnis zu betrachten und seine eigenen Schlüsse aus der Moral Goethes zu ziehen. Stemann zeigt uns mit seiner Inszenierung eine völlig neue Interpretation der Tragödie. Die Inszenierung wirkt durch die Reduzierung zunächst verwirrend, ist jedoch gleichzeitig auch packend und lässt den Facettenreichtum der Schauspieler zur Geltung kommen. Das Bühnenbild ist schlicht gehalten. Deswegen lässt Nicolas Stemann die Textpartitur auf der Klaviatur aller modernen, darstellenden Künste ausspielen: Film, Gesang, Malerei, Rezitation, Schauspiel und Tanz. Durch diese Mittel hat er es geschafft, seine Inszenierung an den Wandel der Zeit anzupassen und hat sie sinnlich gemacht. All die restliche Nüchternheit im Kontrast lässt Handlungsstränge klar und schnell nachvollziehbar werden, der Zuschauer kommt plötzlich in eine Art Rauschzustand und wenn er dies zulässt, öffnet sich ihm eine neue Dimension „Faust“. Am deutlichsten wird die Reduzierung des Textes in der Walpurgisnacht, die simultan zu den darauffolgenden Szenen verläuft. Bei dieser Szene wird fast ganz auf den Text verzichtet, meine Vorfreude jedoch nicht ernüchtert, obwohl statt erwarteten, bunten, lauten Schreien und einem wildem Durcheinander lediglich in einem schnellen, fließendem Übergang an der Rückwand der Bühne durch einen Beamer ein fliegender Faust und Mephisto gezeigt wurden. Sie fliegen im Hintergrund pausenlos weiter und scheinen nicht ankommen zu können. Abgewechselt wurden ihre fliegenden Gestalten von angsteinflößendem Stimmengewirr und Bildern von hexenähnlichen Frauengestalten. Bevor man sich jedoch zurechtfindet, ist die Szene schon vorbei und es wird in einem fließenden Übergang angezeigt, dass wir uns mitten in der Szene Nacht Straße, vor Gretchens Türe befinden. Dennoch, die Walpurgisnacht wirkt mit ihrer Einzigartigkeit nach und hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Dies geschieht vor allem dadurch, dass die wenigsten der Zuschauer die Reduktion an einer solchen Stelle erwartet hätten, nachdem man zuvor Auerbachs Keller gesehen hat. In dieser Szene wurde nämlich an keinerlei Mitteln gespart. Der Text ist zugunsten packender Musikeinlagen eliminiert, die Bühne ist brechend voll. Sebastian Rudolph befindet sich in ihrer Mitte und trägt eine große Discokugel wie eine Last an Problemen mit sich. Alle anderen Schauspieler tanzen und singen ausgelassen zu „another one plays the Faust“, der Hintergrund ist geschmückt durch Bilder wilder Feiern. „So[mit] wird verzichtet auf die Wörtlichkeit des Textes zugunsten aggressiver Verdeutlichung seiner Bewegungsrichtung.“ (S.319, Ende) Ich werde nun noch einen weiteren Aspekt aufführen, der die „Werkadäquatheit“ der Inszenierung widerspiegelt. In der Szene Prolog im Himmel bringt Sebastian Rudolph Teile des Publikums herzlich zum Lachen, denn er imitiert Gott und Mephisto abwechselnd. Dabei stellt er den Herrn lediglich mit Hilfe seiner Stimme als alt, senil und gutherzig dar. Trotz dieser Darstellung, gelingt es die Autorität Gottes nicht in Frage zu stellen, denn er behält während des Stücks auch in dieser Inszenierung die ganze Zeit die Oberhand. Somit kann die Komik vom Publikum ohne schlechtes Gewissen angenommen werden. Nicolas Stemann gelingt es, die Handlung immer wieder mit erstaunlich ruhigem, besonnenem Ernst zu zeigen. Die Frage die Sebastian Rudolf zu Beginn des Stücks während des Vorspiel auf den Theater als Theaterdirektor stellt, „[…] wie machen wir’s, dass alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?“, beantwortet der Regisseur mit seiner „werkadäquaten“ Inszenierung. Kim Paschke Aufgabe zur schriftlichen Hausarbeit über Klaus Stemanns "Faust I" im Thalia-HH am 29.10.11 „Langweilig wird es nie, auf- und anregend intensiv dagegen oft." Im folgenden Text werde ich inhaltlich begründet Nicolas Stemanns Inszenierung von Goethes „Faust I" unter Einbeziehung der Überlegungen Gehard Kaisers zum Thema „Werkadäquatheit" würdigen. Gelingt es Stemann wirklich, ein Texttheater mit einer Masse von 4612 Versen so lebhaft, berührend und interessant darzustellen? Darüber hinaus werde ich darauf eingehen, wie dieser den „Faust" liest bzw. sieht. Zu Beginn fällt mir sofort eine Leuchtreklame direkt über der Bühne auf, die in feuerroten Buchstaben angibt, um welche Szene es sich gerade handelt. Dies ist nicht nur ein äußerst modernes, sondern auch sinnvolles Hilfsmittel, um dem Zuschauer die Struktur der Handlung während der Inszenierung zu verdeutlichen und buchstäblich den "roten Faden" verfolgen lassen zu können. Insgesamt hat sich der Regisseur für ein verhältnismäßig reduziertes sowie pragmatisches Bühnenbild entschieden. Dieses wird viel mehr durch das weitläufige Schauspiel und die Nutzung der gesamten Bühne sowie durch bewusst eingesetzte Projektionen an verschiedenen Flächen des Theaters und das Einsetzen von Helfern, die, für den Zuschauer deutlich sichtbar Requisiten in der Handlung platzieren und auch wieder entfernen. Interessant ist, dass diese auch in das Schauspiel mit einbezogen werden, welches am Beispiel Gretchens besonders anschaulich wird, als sie von fünf Männern in einem Bett über die Bühne getragen wird, oder auch als der Klavierspieler mit seinem Klavier seine Ausgangsposition langsam verlässt. Auch die Schauspieler selbst wirken auf das Bühnenbild ein. Faust tut dies besonders aktiv, er verändert nicht nur die Position von Tisch und Stuhl, sondern bemalt eine Leinwand, wirft mit Gegenständen, knallt eine Tür. Nicht ausschließlich durch diese Aktionen wird Bewegung und Tiefe des Raumes erzeugt, sondern auch durch akustische Effekte. Anfangs werden die Dialoge mit Musik untermalt, die der Schauspieler mit Hilfe eines, auf der Bühne deutlich sichtbaren Computers abspielt und auch wieder stoppt. Im Laufe der Inszenierung wird erneut Musik eingespielt, später auch in Form einer Solistin und eines Chors traditioneller und auch visuell greifbarer eingesetzt. Als sehr wirkungs- und eindrucksvoll habe ich einen Monolog des Faust empfunden, an dem dessen zwei Akteure beteiligt waren. Dieser wurde parallel, jedoch teilweise zeitversetzt und unterschiedlich betont geführt. Auch die Kostümierung der einzelnen Personen ist wenig traditionell gehalten, dennoch passend ausgewählt. Die beiden Schauspieler des zwischen den Extremen seiner eigenen Persönlichkeit schwankenden Faust tragen beide ein gleiches Hemd und eine ähnliche Hose. Ein Akteur der Szene „Auerbachs Keller in Leipzig" überrascht mit seiner, zur Rolle der Diskokugel passenden Glitzerhose, der Mephisto zeitweise mit einem Bündel von Goldketten und einem Pelzmantel. Darüber hinaus verzichtet Stemann auf die Besetzung jeder einzelnen Rolle mit jeweils einem Schauspieler, so spielt Sebastian Rudolph alle Beteiligten des „Vorspiels auf dem Theater", des „Prologs im Himmel" und die der „Nacht". Auch die Art dieses Fausts, seine Verzweiflung über die Eingeschränktheit des Wissens und seine Situation am Anfang der Inszenierung auszudrücken, ist durch die Form seines angedeuteten Selbstmordversuches mit Hilfe von Benzin und Feuerzeug sehr auf die heutige Zeit bezogen. Des Weiteren bin ich sehr überrascht und etwas schockiert, bzw. erstaunt über die Umsetzung eines Momentes der Schülerszene. Die beiden Akteure des Faust geben sich einen langen Kuss. Mit dieser Verkörperung der Selbstverliebtheit, sowie mit einer homosexuellen Komponente, habe ich auf Grund des Werkes „Faust" und seiner Entstehungszeit nicht gerechnet. Dennoch bin ich der Meinung, dass diese wiederum sehr stimmig mit der Umsetzung der darauf folgenden Szene „Auerbachs Keller in Leipzig" wirkt. Mir erscheint diese wie ein fast radikaler Bruch des vorher gesehenen Schauspiels, der durch den Kuss eingeleitet wird. Die gesamte Inszenierung war bereits zuvor auf ihre Art und Weise, mehr oder weniger merklich, durch die heutige Zeit geprägt. Dennoch ist die Engführung von Schauspiel und Text sehr stark, zeigt weist also ebenso dominante Züge von der Entstehungszeit auf. „Auerbachs Keller" ist eine eindrucksvolle Abwechslung. Es ist laute Popmusik zu hören, an allen Projektionsflächen wurden Mitschnitte von Feten, singenden und tanzenden Leuten gezeigt und auf der Bühne befanden sich viele Schauspieler, auch welche, die vorher noch nicht aufgetreten waren und tanzten. Als sehr innovativ empfinde ich die Idee des Regisseurs, einen Akteur mit einer großen Diskokugel und dazu passender Hose einzusetzen. Auch die Tatsache, dass die Kugel nach einiger Zeit an Faust übergeben wird, während alle Beteiligten außer ihm ausgelassen feiern, zeigt dessen Unbehagen und seine Distanz zu dem Geschehen auf der Bühne auf eine spezielle Art und Weise. Er ist nicht Teil des Ganzen, obwohl er sich direkt in der Mitte befindet. Da Stemann nun bewiesen hat, dass das Werk „Faust" nicht eintönig sein muss, ohne eine Reizüberflutung darzustellen, erwarte ich ähnliches von der „Walpurgisnacht". Das Gegenteil ist der Fall, sie kommt mir kurz und vergleichsweise unspektakulär vor. Insgesamt wird die Inszenierung nach "Auerbachs Keller" viel minimalistischer. Ein buchstäbliches „Highlight" ist jedoch die Darstellung des Schmucks für Gretchen, welcher entgegen jeder Erwartung in Form von von der Decke hängenden Lichtschläuchen den Glanz und Intensität dessen Wirkung verkörpert. Zuletzt möchte ich noch auf die Umsetzung der Simultanszene eingehen. Zu sehen sind Philipp Hochmaier und Sebastian Rudolph, die beide sowohl den Faust als auch den Mephisto verkörpern und Patrycia Ziolkowska, welche die Rolle des Gretchen und der Marthe übernimmt. Durch ihr hin- und herlaufen zwischen Mephisto und Faust, die sich während der gesamten Szene beide gegenüber voneinander auf der Bühne befinden, wird die Szene simultan dargestellt, ohne unübersichtlich zu werden. Unter Einbeziehung G. Kaisers Aussage „Werkadäquatheit potenzierend wirkt der radikale Bruch mit Gewohntem", sowie seiner Definition "Werkadäquatheit heiß nicht, den Text als museale Instanz festzuhalten, sondern ihn als Ganzes aufzufassen [...]. Jede Wahrnehmung, auch die Wahrnehmung durch Inszenierung, kann und muss mit dem Wandel des historischen Blickpunkts auch neue Aspekte hervor- und geläufige zurücktreten lassen" beurteile ich die Werkadäquatheit von Klaus Stemanns „Faust I" aufgrund meiner genannten Beobachtungen und Eindrücke als sehr zeitgemäß, einzigartig und gelungen. Auch die, zu Anfang meines Textes gestellte Frage nach der Lebendigkeit und Attraktivität Niclas Stemanns Inszenierung kann ich eindeutig mit „Ja“ beantworten. Abschließend möchte ich noch darauf eingehen, wie Stemann den „Faust“ liest bzw. sieht. Gemessen an dem Schauspiel des „Faust“ im Thalia Theater Hamburg empfindet der Regisseur ihn als eine unermüdlich strebende Figur. Des Weiteren stellt er Goethes Faust als eine Extremfigur dar, die die eigenen Grenzen des Wissens und der eigenen Möglichkeiten zu handeln, zu entscheiden und Einfluss auf bestimmte Dinge zu nehmen, verzweifelt versucht zu entkommen und kläglich daran scheitert. Außerdem sieht er in ihm selbstverliebte Züge, aber auch die unkontrollierte, maßlose Liebe zu Gretchen. Auffällig zeigt sich besonders durch die Doppelbesetzung, dass Stemann die zwei gegensätzlichen Seiten des Faust als sehr dominant auffasst. Auf der einen Seite steht der Absolutheitsanspruch, sowie das ständige Streben, egal um welchen Preis, die Lebensverzweiflung und der Gelehrte als solcher, auf der anderen der junge, unerfahrene, vitale und etwas törichte Faust. Die Dynamik der aus beiden Teilen bestehenden Extremfigur stellt sich sowohl in der Bewegung der beiden Schauspieler dar, die den Raum der Bühne großzügig ausnutzen und eine Vielzahl von Bewegungsabläufen abliefern, als auch in ihrer Art zu sprechen, Fausts Emotionen und Reaktionen authentisch zu präsentieren und seine permanent anhaltende innere Unruhe, Verzweiflung und Hilflosigkeit zu verkörpern. Florian Krebl Einwürfe zu Faust - das Leben erleben Kann Werkadäquatheit in einer Zeit, die vom Wandel bestimmt genauso viele Geschichten schreibt, wie sie beendet, dahingehend bewahrt werden, dass sowohl juveniler als auch betagter Konsument aus dem rauschenden Erlebnis einer Inszenierung das Werk und seinen Geist herausschmeckt? Nikolas Stemann findet Antworten jenseits von Negation und Affirmation und führt den Faust weg vom Bild des ewiglich, mit loderndem Herzen strebenden Universalgelehrten hin zur Interpretation als verwegenes Selbstverständnis einer Generation. So sehen wir bei Stein den Faust als einzelnen, in sich besonderen Greis, der nur zu gerne dem Schicksal sein persönliches Glück abnötigen würde. Er ist so eigenwillig, so wider seine gegenwärtige Existenz, dass ihm gerne das Prädikat "Extremfigur" verliehen wird. Was dem Faust bei Stemann nun zur Werksadäquatheit gereicht, ist von abgewandeltem Charakter. Allein aufgrund der Tatsache, dass Stemann Fausts Verse auf die verschiedenen Schauspieler verteilt, schwächt die Position Fausts als Ideal, von dem sich jeder seinen Teil abzuleiten habe. So ist Sebastian Rudolf zwar Faust und Patrycia Ziolkowka Gretchen, jedoch zeigen sie durch den Vortrag der Verse des jeweils anderen, dass der Mensch er selbst, in ihm aber immer auch etwas der Sünde und der Fehler der anderen zu finden ist. Faust ist also nicht mehr die extreme Person, aus der der Mensch Erklärungen für sein Befinden zieht. Er ist vielmehr das abstrakte Extremum, welches sich in jedem von uns wiederfindet. Von diesem Abstraktum ausgehend manifestiert Stemann das für Faust typische, schöpferische Grenzensprengertum in seiner "Künstler-Szene", wie ich "Nacht" kurzerhand umtaufte. Faust kommt hier als künstlerischer Terrorist daher, der seinen Trieben frönt, indem er sich intellektuell enthemmt der Kunst hingibt und sie schlußendlich im Beriff ist zu zerstören. Auch hier ist Faust nicht mehr der verbitterte Akademiker, sondern eine gegenstandslose Form der Rebellion , die sich in unserer heutigen Zeit in Graffitis und brennenden Autos wiederfinden lässt. Als werksadäquat lässt sich also der unbändige Antrieb zur Veränderung des Gegenwärtigen festhalten. Teilt Stein die Figur noch in alten und jungen Faust, erübrigt sich bei Stemann die Aufteilung der Rolle nach dem Alter. Hier beginnt die Teilung des Faust viel früher mit dem Auftritt des Mephisto, der einerseits durch seine triebhafte Erscheinung sowie durch die Tatsache, dass er mehrmals die Aussagen Fausts wiederholt, ihnen vorgreift oder sie einfach selbst spricht, eindeutig seine Funktion als treibende Kraft in Fausts Psyche einnimmt. Er ist also visuell erkennbar, de facto jedoch nur ein Teil des Protagonisten. Die von Kaiser geforderte "Selbstübersteigerungsenergie" ist dem Faust nun gegeben und es ist klar ersichtlich, dass der teuflische Faust die Abgründe kennt, die ein verjüngter Faust nach Stemanns Inszenierung niemals gesehen hätte. Folglich ist uns klar zu verstehen gegeben, dass die Bereitschaft zur Sünde nicht zwingend mit dem Alter verknüpft ist. Sie entspringt eher dem Wandel des Gegenwärtigen. Bei Stein ist Faust auf die Verjüngung angewiesen, da sein hohes Alter ein unüberbrückbares Hindernis für sein Streben darstellt. Stemanns Faust und der moderne Mensch sind jedoch Gefangene ihrer Psychen, an denen es mit dem Vorschlaghammer in Form des tollen Mephisto und seiner Wirkungskraft anzusetzen gilt. Nah am Werk befinden wir uns vor allem als der Faust in einem homoerotischen Moment dem Charme des Teufels erliegt, in "Auerbachs Keller" jedoch von der bestialisch anrüchigen Schlechtigkeit des Me- phisto überfordert wirkt und das Verlassen der Einrichtung erbittet. So Führen das Gefühl der Ekstase und der Nüchternheit im Kopf des Stemannschen Faust einen Krieg von vernichtendem Ausmaß. Am weitesten entfernt vom Originaltext befindet sich Stemann wohl auf der formalen Ebene. Das Regietheater kürzt und tauscht gerne, wo es nur kann. Brachten uns Gründgens und Stein zum Beispiel noch groß angelegte Walpurgisnachten näher, die vor Schwefel nur so strotzten, müssen wir uns nun mit zwei Minuten Schatten an der Wand begnügen. Dies mag zuerst im Auge des Zuschauers befremdlich wirken. Doch erwirkt diese Szene in dieser Form im nächsten Augenblick absolute Daseinsberechtigung. Denn die Tragödie des Faust und somit unserer Art Mensch ist kein visuelles Schauspiel. Seine Probleme sind weit leiser und viel gefährlicher als eine Explosion im Rahmen der Walpurgisnacht. In der Moderne wird der Exzess nicht mehr gelebt, er wird gedacht und wieder verworfen. So ballen sich Gier und Wolllust in der unerfüllten Brust des Menschen, ohne ihnen ein Ventil zu geben. Die einzigen Augenblicke, in denen sich der Mensch Befriedigung verschafft, sind jene, in denen man sich alleine mit seinen Trieben wähnt und darüber sinniert, was einem doch möglich wäre. So erklärte sich zum Beispiel die erotische Anziehung Fausts durch seine teuflische Seite. Die fehlerhafte Realisierung des Triebs und das damit verbundene Leid können im Orginalwerk der Unmöglichkeit der Verwirklichung der Liebe zu Gretchen entsprechen, da er zu anhaltendem Streben gezwungen ist. Zudem vermag das Regietheater besonders im Bereich des Bühnenbildes und der Kleidung der Protagonisten anzusetzen. Stein, der noch auf historische Authentizität setzte, wird durch den Gedanken Stemanns abgelöst, eine Art aktuelle Authentizität zu schaffen, welche den Zuschauer durch freiere Gestaltungsmittel noch eher zur eigenen Erkenntnis führt. In diesem Sinne ist das Bühnenbild oftmals minimalistisch konzipiert, da wir uns nicht zwingend an dem Ort zu befinden müssen, an dem sich die Szene im Buch zuträgt. Beinhaltet sie also großes Leid, dann hängt es davon ab,wohin sich der Zuschauer nach Beeinflussung durch einzelne Reizpunkte, die sein Textverständnis anzuregen suchen, hindenkt. Diese liberale Gestaltungsweise verhindert außerdem sich in der Tragödie des Faust aufgrund der historisch authentischen Darstellung zu verlieren und ermöglicht es, die Probleme des Faust und seiner Umgebung als die Probleme des Menschen von 2011 zu fühlen, da wir durch die Abstraktion des Faust, welche wir auf der Bühne wahrnehmen, im Zusammenspiel mit dem, was wir über unser und die vorigen Zeitalter wissen, Erklärungen finden, Begriffe schaffen und Verbesserungen möglich machen können. Demzufolge ist diese Art der Bühnen-und Kostümgestaltung notwendig, um die Gültigkeit des Faust für unsere heutige Zeit werksnah auszudrücken und unseren Verstand in die vermeintlich rechten Bahnen zu lenken. Abschließend beurteilt liest Stemann den Faust als die urgewaltige Geschichte der Triebe aller Menschen. Der Mephisto findet sich in Faust, in Gretchen und in jedem von uns. So fokussiert sich der Regisseur vor allem auf die Gefühle der Menschen, welche er sie an die Wände schreien und manchmal schweigen lässt. Unter Stemann ist der Faust nicht mehr der literarische Nationalheld. Vielmehr ist sein Faust der heldenhafte Versuch, unserer Nation auf literarischer Basis Teile ihres öffentlichen NichtSeins zu zeigen. Benni Scheikholeslami Schriftliche Hausarbeit über Klaus Stemanns „Faust 1“ im Thalia- Theater Im folgenden Text werde ich zunächst auf Nicolas Stemanns Inszenierung von „Faust 1“ im Thalia-Theater eingehen und versuchen sie inhaltlich begründet würdigen. Daraufhin werde ich die Überlegungen Georg Kaisers zum Thema „Werkadäquatheit“ explizit untersuchen und Stemanns Bild von Faust erläutert darstellen. Die am 29.10.2011 stattgefundene Vorstellung von „Faust 1“ im Thalia-Theater hat mich in einigen Szenen sowohl positiv überrascht als auch ein wenig enttäuscht, sodass meine Erwartungen bezüglich Stemanns Inszenierung nur teilweise erfüllt worden sind. Meiner Meinung nach war die Rollenverteilung während des gesamten Theaterstücks nicht ganz zufriedenstellend, da ein ständiger Wechsel der Charaktere stattfand und besonders die Rolle des Faustens im Laufe der Inszenierung oft von unterschiedlichen Personen besetzt wurde und keinen klaren „festen Platz“ auf der Bühne hatte. Jedoch muss ich auch zugeben, dass es von den jeweiligen Schauspielern elegant durchgeführt und auf diese Weise das moderne Theaterspielen beeindruckend in Szene gesetzt wurde. Die Tatsache, dass die Faustrolle nicht permanent von einem Schauspieler gespielt worden ist, hat nach meinem Empfinden teilweise für Verwirrung und Ungewissheit gesorgt. Im Allgemeinen musste ich enttäuschend feststellen, dass überhaupt recht wenige Schauspieler mitgewirkt haben und vor allem in einem Werk wie „Faust“, wo eine Komplexität und Individualität an Charakteren herrscht, erwartet man durchaus eine größere Anzahl und Vielfalt an Schauspielern. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die Walpurgisnachtszene erwähnen, die ich mir ernsthaft umfangreicher, origineller und wahrhaftig unterhaltsamer vorgestellt habe. Paradox zu dieser Szene war meiner Meinung nach „Auerbachs Keller“, in der mit moderner Musik, einem berauschten und triebhaften Verhalten der Charaktere, einem disco-nahen Bühnenbild und Kannibalismus nicht nur Goethes Text überspielt, sondern auch für pure Unterhaltung und Extravaganz gesorgt wurde, die das Gefühl von einer modernen Welt widerspiegelte. Auch schien diese Szene großartig auf das Publikum gewirkt zu haben, welches mit Gelächter und Beifall seine Zufriedenheit offenbarte. Beeindruckt von „Auerbachs Keller“ wartete ich voller Erwartung und Vorfreude auf die Walpurgisnachtszene, die jedoch letztlich mit sehr geringer theatralischer „Leistung“ ihren Lauf nahm. Im Gegensatz dazu wurde vermehrt auf eine Leinwand im Hintergrund projiziert, was zwar einerseits recht spektakulär umgesetzt wurde, andererseits jedoch nicht meiner Erwartung von einer vollen Bühne mit unterschiedlichster Besetzung und großartigem Schauspiel entsprach. Ein weiterer Kritikpunkt war meines Erachtens nach das Nichtvorhandensein einer Pause, die ganz gut für eine Erholung und Regeneration gepasst hätte, da bei einem solch inhaltsreichen und komplexen Theater- stück es eine enorme Zumutung ist, drei Stunden am Stück mit voller Konzentration aufzupassen. Selbstverständlicherweise hat die Inszenierung auch sehr viele positive Seiten, welche ich nun aufführen möchte. Besonders eindrucksvoll war für mich die Szene „Studierzimmer 2“, in der Mephisto und Faust den Paktschwur synchron gesprochen schließen und kurz danach ein älterer, weiser Mann auf die Leinwand projiziert wird, der durch sein total rationales Verhalten im kompletten Gegensatz zur darauf folgenden „Auerbachs Keller – Szene“ steht. Dieser Mann, der ständig philosophisch alles zu hinterfragen scheint – so fragt er zum Beispiel am Ende, was die Existenz nun wirklich sei – stellt den Repräsentanten der Vernunft beziehungsweise der Rationalität dar und steht automatischer Weise im Widerspruch zu dem triebhaften Verhalten in der darauf folgenden Szene. Dieser Gegensatz hat mir besonders gut gefallen. Des Weiteren ist mir die „Nachtszene“ in guter Erinnerung verblieben, die die begrenzte Erkenntnis Faustens und die damit verbundene Bedrückung und Verzweiflung auf der Bühne wunderbar zur Schau stellt. Die ganze Wut, die in Faust steckt, da er seinen Erkenntnisdrang nicht „sättigen“ kann, wird auf der Bühne Schritt für Schritt immer intensiver dargestellt. Die von Faust unmöglich akzeptierte Tatsache, dass das Wissen auf der Welt stets begrenzt ist und auch nicht durch eine Erdgeistbeschwörung erweitert werden kann, wird auf der Bühne durch sein aggressives und zerstörerisches Verhalten schön gespielt. Folge dieses Verhaltens ist gewiss ein Befreiungsgefühl aus der seelischen Bedrückung, das außerdem theatralisch noch damit unterstrichen wurde, indem er seine Jacke auszog und mit nacktem Oberteil auf der Bühne stand, um diesem ständigen Druck entgegenzuwirken. Durch das Beschmieren der Bühne mit Farbe, den Einsatz des Mikrofons und das Wechseln der Lichthelligkeit wirkte die Szene noch dramatischer und energischer und fand ihren Höhepunkt, als Faust mit einem Schwert Suizid begehen wollte. Im weiteren Verlauf möchte ich nun auf Kaisers Überlegungen zum Thema Werkadäquatheit eingehen und dies in Bezug auf Stemanns Inszenierung setzen. Gerhard Kaiser ist der festen Überzeugung, dass keine Inszenierung, selbst die Steinsche nicht, ihr Endziel und ihre Hauptintention in Werkvergegenwärtigung hat. So ist er der Meinung, dass die jeweiligen Werke immer einen Gegenwartsbezug aufweisen und durch einen sogenannten „up-to-date-Ehrgeiz“ ihre ursprüngliche Form abgewandelt wird zu einer Inszenierung, die nicht mit dem Werk identisch ist. Somit wird immer dem Zuschauer durch eine nicht dem ursprünglichen Werk entsprechende Inszenierung etwas Neues geschaffen, das sich stets um einen Bezug zur Moderne bemüht und eher die Aktualität in den Vordergrund stellt. Auch wenn ein Theaterstück durch „sprachliche Pointierung“ und einen „über- wältigenden Facettenreichtum der Figuren“ sehr werkadäquat zu scheinen versucht, hat jede Inszenierung nicht die Werkvergegenwärtigung als primäres Ziel, denn selbst der Steinsche streichungslose Faust verändert das Werk an einigen wesentlichen Stellen. Ein derartiges Beispiel liefert die Aufteilung der Faustrolle auf zwei Schauspieler. In diesem Sinne kann man zurecht einen Bezug zu Stemanns Inszenierung aufstellen, welcher auch die Rolle Faustens auf mehrere, selbst geschlechterübergreifende Schauspieler aufteilte. Auf diese Weise können Theaterprobleme wie zum Beispiel die Verjüngung Fausts in den jugendlichen Liebhaber der Gretchentragödie geschickt beseitigt werden, während jedoch gleichzeitig die Werkadäquatheit nicht berücksichtigt wird und diese Aufteilung als Mittel zum Zweck instrumentalisiert wird. Die Tatsache, dass die Faustrolle nicht von einer, sondern von zwei, bei Stemann sogar mehreren, Schauspielern besetzt wird, erzeugt Verwirrung und die Unfähigkeit des Zuschauers, einen logisch-strukturierten Ablauf der Inszenierung zu verfolgen. Durch das Aufteilen der Extremfigur löst sich laut Kaiser auch ihre „anthropologische und historische Repräsentanz“, was die eigentliche Leitlinie des Dramas ist. Eine wesentliche Feststellung Kaisers bezüglich der Steinischen Inszenierung ist das Missachten, ja sogar in vielen Stellen „Eliminieren“, des Goethischen Textes, um mit neuzeitlichen Musikeinlagen zu imponieren. Somit wird auf eine dem Werk Goethes entsprechende Szene verzichtet und stattdessen die Aktualität durch moderne Musik in den Vordergrund gestellt, sodass auch hier wieder die Werkadäquatheit nicht gewährleistet wird. Auch in der Szene „Auerbachs Keller“ von Stein wird absolut nicht werktreu theatralisch gespielt und rigoros auf die Wörtlichkeit des Textes verzichtet. Hardrock, Neonazismus, Gewalt- und Sexsymbolik und das Gröllen von Strophen im Kollektivrausch sind Schlagwörter und ist gleichzeitig der Inhalt der Szene, die man aktueller nicht hätte gestalten können. So sehr man auch einen gewissen Aktualitätsbezug zu erkennen vermag, so bleibt der Kern von Goethes und Steins „Auerbachs Keller“ unverändert, da in beiden Versionen sinngemäß der Rausch im Vordergrund steht, nur in der jeweiligen Form in unterschiedlicher Weise und Ausprägung. Daher kann man paradoxerweise, so sehr sich die Szene inhaltlich auch vom eigentlichen Werk unterscheidet, von gewisser Textnähe beziehungsweise von Werkadäquatheit sprechen. Bezüglich Stemanns Inszenierung kann man allgemein gesehen in „Auerbachs-Keller“ dieselbe Beobachtung feststellen. Laute Musik, das Tanzen, Singen, sprich der „Beginn der triebhaften Welt“ voller Begierde dient als Mittel zur Überspielung des Textes von Goethe und ist repräsentativ für die moderne Welt. Der Kern jedoch bleibt derselbe, denn der sich im Werk Goethes wiederfindende Rausch ist auch in dieser Szene vorhanden, bloß in abgewandelter und aktualisierender Verfassung. So beobachtet Kaiser in der Inszenierung einen Faust, der sich auf dem Rücken windet, am Boden wälzt und in einer Wolke von Kreidestaub taumelt. Was auf dem ersten Blick nicht gewöhnliche Bilder sind und primär absolut nicht werktreu scheint, ist in Wirklichkeit sehr wohl von Textnähe. Den Beweis dafür liefert folgende Textstelle: „Den Göttern gleich' ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;/ Dem Wurm gleich' ich, der den Staub durchwühlt' (V.652 f.). Gerhard Kaiser ist der Auffassung, dass man Werkadäquatheit als Ganzes aufzufassen hat und die jeweilige Szene im Kern mit dem Werk übereinstimmen sollte. Faust und das Thema allgemein sollten demnach in der Inszenierung stets wiederzufinden sein, auch wenn in abgewandelter Form präsentiert, damit die Werkauthentizität gewährleistet ist. Idealerweise findet sich dies auch in Stemanns Inszenierung wieder, der die jeweiligen Szenen äußerlich teilweise so dermaßen verändert, dass sie kaum wiedererkennbar sind in Goethes Werk. Das, was im Stück passiert, findet sich aber in abgewandelter Form wieder und bleibt im groben Inhalt gleich. Er sorgt für einen „roten Faden“ in seiner Inszenierung und bleibt dem Werk thematisch treu, sodass die Authentizität keineswegs abhanden kommt, was beeindruckend auf der Bühne veranschaulicht wird. Im weiteren Verlauf möchte ich abschließend auf Stemanns Bild von Faust eingehen. Stemann hat ein recht bemerkenswertes Bild von Faust, welches in seiner Inszenierung schön zum Ausdruck kommt. So findet während des gesamten Theaterstücks die von mir bereits angesprochene Aufspaltung der Faustrolle statt, welche dazu führt, dass vom Zuschauer keine eindeutige Personenzuordnung wahrgenommen werden kann und die von mir bereits erwähnte Verwirrung zustande kommt. Dieses von Stemann absichtliche „Aufsplitten“ des Protagonisten kann man jedoch damit begründen, dass es gerade seine Absicht war, die Faustrolle auf mehrere Schauspieler aufzuteilen, um zu demonstrieren, dass jeder Charakter etwas „Faustisches“ innehat. Ihm war es wichtig, das Publikum auf diese Weise aufzuklären, welches Bild er von Faust hat und wie sehr es sich vom herkömmlichen Theater unterscheidet. Die Tatsache, dass die Faustrolle auch geschlechterübergreifend besetzt wird, kann man anhand dieser Beobachtung erklären. Jeder Charakter, ob männlich oder weiblich, gut oder böse, weist „Faustische“ Charakteristika auf, was zu der Annahme führt, dass Faust „überall ist“. Des Weiteren wird in Stemanns Inszenierung die Zusammengehörigkeit von Faust und Mephisto sehr stark zum Ausdruck gebracht. So zeigt er die Verbundenheit dieser beiden Charaktere durch einen Kuss. Auch das gleichzeitige Wiederholen des Textes durch mehrere Schauspieler auf der Bühne, was sich des Öfteren abspielte, soll einerseits auf die Zusammengehörigkeit der Charaktere hindeuten und andererseits das Gefühl evozieren, dass Faust ein Teil von jedem ist. Sein Bild von Faust ist aber in vielerlei Hinsicht mit Goethes Faust sehr vergleichbar. Er lässt ihn auf der Bühne als einen hervorragenden Universalgelehrten erscheinen, der seine Jahre der Wissenschaft geweiht hat und nun daran zu zerbrechen droht, was an seinem exzessiven Verhalten in der Nachtszene zum Vorschein kommt. So erkennt man auch bei Stemann einen Faust, dem es zwei Eigenschaften angetan haben: das „Streben“ und das „Genießen“, wobei letzteres erst durch Mephisto in Gang gesetzt beziehungsweise ermöglicht wird. Abschließend kann man sagen, dass der Faust in Goethes Werk viel mit Stemanns Faust gemeinsam hat und man daher von einem recht werkadäquaten Theaterstück sprechen kann. Gleichzeitig instrumentalisiert er Faust auch, um seine Vision von einem „ubiquitären Faust“ zu verwirklichen, wobei er zwar nicht werktreu agiert, aber dadurch dem Publikum sein Bild von Faust präsentiert. Julia Jänisch Aufgabe: Würdige inhaltlich begründet die Inszenierung Stemanns unter Einbeziehung der Überlegungen G. Kaisers zum Thema „Werkadäquatheit“: Wie liest/sieht Stemann „Faust“? In seiner Inszenierung des „Faust I“ am Thalia Theater in Hamburg zeigt der Regisseur Nicolas Stemann eindeutig, wie aktuell der Inhalt von Goethes 200 Jahre altem Werk noch heute ist. Dabei setzt er Kontraste zu bisherigen Aufführungen wie der von Peter Stein im Jahre 2000 oder der von Gustav Gründgens 1960. Seine Ansicht von Textverarbeitung, Bühnenbild, Szenenschwerpunkt und nicht zuletzt der Faust-Figur selbst unterscheiden sich deutlich von dem bisherigen allgemeinen Faustverständinis. Moderne Techniken und schlichte Requisiten formen den einfachen Rahmen um die Tragödie. Dadurch wird seine differenzierte Aussageabsicht unmissverständlich deutlich, die die Erwartungen der textkundigen Zuschauer nicht erfüllt, sie aber doch zufrieden stellt. Der Protagonist Faust (Philipp Hochmair) ist ein junger Student, der durchaus mit dem Freudschen „Ich“ interpretiert werden kann. Er ist unzufrieden mit seinem bisherigen Leben und kritisiert das religiöse Verständnis (Prolog im Himmel), die aktuelle Politik und die Scheinwahrung des Weltfriedens (Osterspaziergang). Stemann verjüngt also das klassische Bild des Faust von Beginn an und übt so eine Kritik an der heutigen Gesellschaft und dem Verständnis von Bildung. Er macht deutlich, wie überfordert, „unwissend“ und hilflos junge Menschen heutzutage angesichts der hohen gesellschaftlichen Erwartungen und der Reizüberflutung mit Informationen aller Art sind. So wird die Faust-Tragödie von einem Einzelschicksal zu einem generellen Gesellschaftsphänomen. Um aus seinem Alltag auszubrechen, gibt sich Faust oft verzweifelt seinen Trieben, seinem „Es“, hin (Nacht, Auerbachs Keller). Dabei begibt er sich zwischen exzentrisches Farbgekleckse, Geschrei, Kampf und animalische Orgien. Doch diese Art von Veränderung scheint ihn nicht zu befriedigen, und er lässt sich auf das Verhältnis mit der „anderen Seite“ seiner Persönlichkeit, Mephisto, ein. Diese „andere Seite“ ist durch keine klare Person definiert, da die drei HauptdarstellerInnen alle Rollen spielen. Somit ist der Träger der Verantwortung für spätere Ereignisse nicht erkennbar. Die „andere Seite“ bildet die Verführung, Abhängigkeit und (Des)orientierung, der Faust untersteht. Symbolisch dafür steht das homosexuelle Treiben der beiden männlichen Hauptdarsteller. So stürzt sich Faust mit seinem Mephisto in die Tiefen der Gretchentragödie und schwebt damit zwischen diesem und seinen eigenen Trieben. Das moderne Gretchen Stemanns ist geplagt von Selbstzweifeln und ihrem Leben aus Verpflichtungen, in dem kein Platz für eine Beziehung mit Faust oder einem Kind ist. Auch Faust sieht sich diesen Verantwortungen nicht gewachsen und gibt damit den Anstoß für die Tragödie, die inhaltlich kaum vom Original abweicht. Stemann setzt jedoch Prioritäten in dieser Tragödie, indem er ab Szene 14 „Der Nachbarin Haus“ jede zweite Szene auslässt. Nun bekommt die vorher überflüssig erschienene Leuchtanzeige oben im Raum einen Sinn, da es nun mühselig ist, einem Ablauf zu folgen, den man nicht erwartet hat. Die Verwirrung ist perfekt, als die sonst in vorherigen Inszenierungen immer so fokussierte „Walpurgisnacht“ nur als ein Wimpernschlag im Gesamtzusammenhang abgehandelt wird. Dieser Schwebezustand wird aber durch die Kerker-Szene am Schluss beendet, da dort wieder viele Parallelen zur Schriftvorlage erkennbar sind. Somit geht es nun darum, auf die Werkadäquatheit dieser Inszenierung einzugehen. Laut Gerhard Kaiser bedeute Werkadäquatheit nicht, den Text als museale Instanz festzuhalten, sondern ihn als Ganzes aufzufassen und dabei zuzulassen, dass alles Geschichtliche, auch das Kunsthandwerk, perspektivisch in den Blick kommt. Jede Wahrnehmung, auch die Wahrnehmung durch Inszenierung, könne und müsse mit dem Wandel des historischen Blickpunkts auch neue Aspekte hervor- und geläufige zurücktreten lassen. Bezüglich dieser Definition ist die Werkadäquatheit dieser Inszenierung durchaus diskutabel. Nicht nur der Text ist beachtlich gekürzt, auch ganze Szenen wurden entfernt und die Reihenfolge verändert. Das „Grundgerüst“ der Inszenierung hat sich also von Goethes Faust entfernt und bildet einen neuen Rahmen, basierend auf dem Urtext. Dieser bleibt in Originalsprache, wird aber so vorgetragen, dass die Reimschemata kaum zu bemerken sind. Dies ist das einzige Historische in Stemanns Inszenierung, die sonst nur moderne Themen des 21. Jahrhunderts behandelt. Erkennbar ist dieser Aspekt auch durch das schlichte Bühnenbild, welches es möglich macht durch moderne Technik, wie Beamer und Laptops sowie einfache Requisiten, wie Tische, Stühle und Topfpflanzen, „Faust I“ innerhalb von 3 Stunden aufzuführen. Durch Grafiken und Kurzfilme werden einzelne Szenen im Hintergrund abgehandelt. Stemann weist also den einzelnen Szenen der Tragödie unterschiedliche Wichtigkeit zu und wertet damit gleichzeitig den Urtext. Weiterhin ist durch die Rollenbesetzung die Verantwortung einzelner Personen für bestimmte Ereignisse nicht erkennbar und wird somit auf das Kollektiv übertragen. Stemann verdeutlicht damit einheutiges gesellschaftliches Problem: Verantwortliche sind nicht klar zu erfassen oder, wenn sie es doch sind, werden sie nicht angemessen bestraft. Seine Inszenierung von „Faust I“ ist also eher eine Abhandlung von modernen Problemen und Zuständen, die er auf der Basis von Goethes Faust darstellt, und ist somit nach den Ausführungen von Gerhard Kaiser nicht werkadäquat, da vor allem historische Ereignisse zu wenig berücksichtigt werden. Finja Schubert Schriftliche Hausarbeit zu Klaus Stemanns “Faust I” im Thalia-HH am 29.10.2011 Würdige inhaltlich begründet die Inszenierung unter Einbeziehung der Überlegungen Gerhard Kaisers zum Thema “Werkadäquatheit”: Wie liest/ sieht Nicolas Stemann den “Faust”? Nach Gerhard Kaisers „Gibt es einen Faust nach Peter Stein?“ aus dem Jahre 2001 muss bei einer Inszenierung des Stückes „Faust“ das Gesamtwerk betrachtet werden. Seiner Meinung nach ist es nicht möglich, nur einzelne Teile des Werkes aufzugreifen und diese in eine neue Zeit zu transponieren (S.320). Entweder alles oder nichts! Bei der Inszenierung müssen neue Aspekte eingebracht werden. Somit ist die Modernisierung des Stückes erlaubt und zugleich eine Voraussetzung. Es ist die Aufgabe des Regisseurs, die Aufführung so zu gestalten, dass sie die Erwartungen des Publikums erfüllt. Und diese Erwartungen sind nach Gerhard Kaiser die Transformation des ursprünglichen Werkes in das moderne Zeitalter. Peter Stein hat mit seiner Inszenierung von „Faust“ im Jahre 2001 sein Endziel nicht in der Werkvergegenwärtigung. Auch ältere, wie die von Gustav Gründgens, haben dies, Steins Beurteilung nach, nicht erreicht. Die Inszenierung, im Thalia-Theater von Nicolas Stemann zeigt deutlich, dass dieser sich mit dem gesamten Werk auseinandergesetzt hat. Szene für Szene hat er analysiert und für das Publikum ansprechend gestaltet. Den Zuschauer erwartet gleich beim ersten Auftreten von Faust ein Angriff auf die Lachmuskeln. So macht der Schauspieler Späße mit dem Publikum und lässt die eher leere Bühne doch lebendig erscheinen. Beim Vorspiel auf dem Theater zerreißt der Direktor, welcher vom späteren Faustdarsteller gespielt wird, das Buch, welches den Dichter darstellt und signalisiert somit deutlich die bevorstehende Veränderung des Werkes. Auch in die folgenden Szenen, wie Prolog im Himmel, oder Vor dem Tor/Osterspaziergang, sind humorvoll gestaltet und ernten immer wieder Lacher von den Zuschauern. Zwar hält sich Nicolas Stemann sehr getreu an den Text, zeigt jedoch oft die Loslösung von diesem. In der Schülerszene wird eine Feier zur Gewinnung von Fausts neuem Leben veranstaltet. Diese ist sogar als eine „Party“ zu beschreiben. Zu moderner Musik tanzt eine Bühne voller junger fröhlicher Schauspieler. Nachdem Mephistopheles die Bühne betrat und sich als Teufel bekannt gab, küsst er Faust bei ihrer zweiten Begegnung. Dies wiederholt sich im Verlauf des gesamten Stückes mehrmals. Zwischen den drei Hauptfiguren, kommt es des öfteren zum Körperkontakt. In der Szene Dom liegt Valentin, Gretchens Bruder, am Boden. Gretchen liegt auf diesem, wälzt sich mit ihm gemeinsam über die Bühne, wird von ihm weggestoßen und bleibt schließlich alleine liegen. Während sie sich über den Boden rollt, gerät ihre Kleidung in Unordnung und erlaubt somit tiefere Einblicke. Nach dem ersten Auftritt Gretchens, in langem Gewand, wird ihre Kleidung von Mal zu Mal weniger. So wird sie auch von Faust und Mephistopheles auf der Bühne entkleidet. Schließlich liegt sie in der Domszene nur noch in einem dünnen Nachtkleidchen da. Die Kleidung seiner Schauspieler und ihr vieler Körperkontakt ist von Stemann beabsichtigt, um das Werk zeitgenössisch zu gestalten. Ein Grund dafür, wieso Gründgens und Stein eine derartige Inszenierung nicht umsetzten, könnte die Kritik der Gesellschaft zu diesem Thema gewesen sein. Gerade zu der Zeit, als Gründgens sein Werk uraufführte, galt dieses Thema noch als ein „Tabuthema“. Nicolas Stemann hat in seiner Inszenierung von „Faust“ die Ansprüche an das Publikum durchaus erfüllt. Er hat das Werk adäquat gestaltet und zugleich Humor eingebracht. Mit seiner Inszenierung spricht er nicht nur „Faust belesene“ Menschen an, sondern auch all jene, die Goethes Werk nicht gelesen haben. Eine Kritik Gerhard Kaisers an Nicolas' Stemanns „Faust“ könnte die Besetzung der Rolle sein. In Peter Steins Inszenierung kritisierte er die doppelte Besetzung des Protagonisten Faust. In gewissen Szenen, bei Stemanns Aufführung, wird Faust, durch den Schauspieler des Mephistopheles ersetzt (Studierzimmer I, der Mephistopheles-Schauspieler, tritt auf die Bühne, unterbricht Faust und beginnt mit der ersten Szene Nacht) und später auch durch die Schauspielerin der Gretchenfigur (Hexenküche, Patrycia Ziolkowska, spielt die Szene und somit alle darin vorkommenden Charaktere). Die Mehrfachbesetzung bei Peter Stein und Nicolas Stemann unterscheidet sich jedoch in zwei Punkten. Stein besetzte die Rolle des Faust doppelt. Der alte Faust, weise, mit Falten, der Schauspieler Bruno Ganz. Und die zweite Erscheinung, ein junger, starker Mann, lebendig, das absolute Gegenteil zum erfahrenen „Faust“ und Goethes Darstellung. Dies ist auch der Grund von Kaisers seiner Kritik am Austausch Fausts. Da er durch einen Trank zwar verjüngt wird, jedoch so das Bild des erfahrenen Fausts, mit Sorgenfalten und der nachdenklichen Art verschwindet und der Eindruck eines völlig unerfahrenen, ungezähmten, drängerischen Mannes erscheint, welchen eigentlich der alte Faust verkörpern soll. Anders als Stein hat Stemann nicht die Rolle des Fausts in andere Charaktere übergehen lassen. Vielmehr wollte er die Figur Mephistopheles mit den anderen Personen vereinen. Das Verwirrspiel und der Austausch der Charaktere spitzt sich zum Ende der Inszenierung von Nicolas Stemanns Faust – Der Tragödie Erster Teil immer weiter zu. Auch zum Schluß spricht Gretchen den Text von Mephistopheles „Sie ist gerichtet!“ und auch die Stimme (von oben) „Ist gerettet!“. Nicolas Stemann beschreibt mit der Rollenverteilung sein Faustbild. Er sagt, dass Mephistopheles in jedem von uns stecke. Faust ist nur ein Beispiel von vielen für die Leichtigkeit der Verführung. Jeder Mensch ist verführbar. Sogar jene, welche sich bereits mit allem beschäftigt haben. Selbst ein Gelehrter wie Faust, der wahrscheinlich in seiner Zeit des Studierens auch die Verführung hinterfragte, wurde in der Praxis von ihr gefesselt. Goethe beschreibt Faust als einen universal Gelehrten, welcher aus der Menge heraussticht, auf Grund seiner Lebenserfahrung und seiner Unruhe. Er soll ein Beispiel sein für all jene, die beruhigt auf dem Faulbett liegen (Z.1692). Stemann sieht den Faust jedoch nicht als den einen, welcher hervorsticht. Er sieht ihn als einen von Vielen. Nur einer, welcher wie alle anderen, den Teufel in sich trägt. Friederike Gut G. Kaiser – Gibt es einen „Faust“ nach Peter Stein? Wie sieht Stemann den „Faust“? Im Gegensatz zu dem Sprichwort „Aller Anfang hat ein Ende – nur die Wurst hat zwei“ scheint Goethes „Faust“ seit der Veröffentlichung ‘der Tragödie erster Teil‘ im Jahre 1808 kein Ende zu finden; sei es die Aufführung durch Gustav Gründgens, Peter Stein oder Nicolas Stemann, sie sind ‚nur‘ Höhepunkte in der Geschichte der Vielzahl und Vielfalt an Interpretationen und Aufführungen des Faust-Dramas der letzten zwei Jahrhunderte. Angesichts einer solch immensen Popularität und Wichtigkeit des Faust-Mephisto-Gretchen Dreiergespanns wirft sich die Frage nach dem Grund für diese zeitlose Aktualität der FaustFigur auf. Sein unermüdliches Streben scheint die Menschen stets zu beschäftigen und es bietet viel Diskussionsstoff über die Art und Weise der Inszenierungen. So beschäftigten sich auch Gerhard Kaiser als Rezensent der Peter Stein-Aufführung und Nicolas Stemann als Regisseur der diesjährigen Faust Aufführung am Hamburger Thaliatheater mit der Gretchenfrage – bzw. in diesem Fall der Faustfrage, nach dem wahren Kern des Faust. Gerhard Kaiser sieht den Faust als eine historisch wertvolle Figur, welche die Menschen mit seinem ‚Streben‘ über die Jahre hinweg immer weiter begleitet und ihnen als Vorbild dient. Durch seine Selbstvergötterung und die Rolle als Leitfigur der damaligen bürgerlichen Gesellschaft scheint sich Faust, unter der Brille unserer modernen Zeit gefangen, vom literarischen Nationalhelden der Deutschen zu einer visionären Kritik Goethes an der Gesellschaft zu entwickeln (S.1). Im Laufe der Zeit hat sich der historische Faust in den vielen verschiedenen Inszenierungen immer wieder gewandelt, eine Inszenierung schien die vorherige übertrumpfen zu müssen. Stein scheint mit seiner modernen und doch traditionellen Aufführung in gewisser Weise aus diesem Kreis auszubrechen. Traditionell insofern, als dass Stein ‚Faust‘ ohne Streichungen, komplett auf die Bühne brachte. Laut Kaiser wirkt diese Art der Inszenierung wie ein „Paukenschlag gegen das exzessive Regietheater“ (S.2,Z.29), welche die Lebendigkeit des Textes (S.2,Z.32) wieder aufleben lässt. Die moderne Aufteilung der Faust Figur auf zwei verschiedene Rollen, einen ‚alten‘ und einen ‚jungen‘ Faust, hingegen missfällt Kaiser scheinbar. Er sieht die Figur als unteilbar. Die Kontinuität der Figur trotz seiner Verjüngung scheint ihm von immenser Bedeutung zu sein. Der ‚alte‘ Faust, gespielt von Bruno Ganz, beschäftige sich intensiv mit der jeweiligen szenischen Präsenz (S.3). Der ‚junge‘ Faust hingegen habe zudem allein aufgrund seines Alters noch keinen ähnlichen Hintergrund an Erlebnissen wie ihn ein Faust haben müsse. Kaiser ist der Auffassung, dass die Verjüngung des Faust nicht durch eine Teilung der Rollen, sondern durch die spielerische Leistung des Schauspielers auf der Bühne geschehen müsse. Im Kontrast zur Stein-Inszenierung nennt Kaiser die Aufführung im Weimarer Nationaltheater, welche Gegensätze aufweist: Anstelle von zwei Faustdarstellern gibt es nur einen, anstelle des ungekürzten Textes gibt es eine gekürzte Fassung. Kaiser kommt zu dem Schluss, dass „Werkadäquatheit“ nicht von Faktoren wie der gesamten Textlänge bestimmt werde. Vielmehr soll der Text als Ganzes aufgefasst und dabei das zugelassen werden, was die Sichtweise der Zeit fordert und die aktuelle Interpretation fördert. Das in der Inszenierung gezeigte Geschehen, also nicht der reine Text, sondern auch und vor allem die vom Zuschauer erlebten Eindrücke, müssen im übertragenen Sinne im Werk wiedergefunden werden können. Nicolas Stemann geht mit seiner aktuellen Inszenierung noch einige Schritte weiter als Stein. In Faust 1 gibt es nur drei Protagonisten: die Schauspieler des Faust, Mephisto und Gretchen. Die anderen Charaktere werden nicht weggelassen, sondern von den drei Hauptdarstellern mit übernommen. So steht der eigentliche Faust-Darsteller Sebastian Rudolf während der ersten Stunde der Vorführung hauptsächlich allein auf der Bühne und parodiert und spielt alle Figuren. Als ‚des Pudels Kern‘ zum Vorschein und damit auch Philipp Hochmair als Mephisto auf die Bühne kommt, wird schnell klar, dass Mephisto und Faust miteinander verschmelzen. Die sexuelle Spannung zwischen ihnen verdeutlicht die Versuchung, das ‚Es‘ in Fausts Innerem, welchem er sich hingibt. Die Aufteilung und Wiederholung des Textes zeigt wiederum die Einheit der Charaktere. Die Interpretation, dass Mephisto möglicherweise auch nur ein Teil Fausts anstelle einer eigenständigen Person ist, war schon bekannt. Die Figurenspaltung von dem selbstbewusst weiblichen Gretchen, gespielt von Patrycia Ziolkowska, Mephisto und Faust, gleichmäßig auf alle drei Personen verteilt, ist jedoch neu. Durch diese Figurenspaltung scheinen die drei Hauptfiguren als eine Einzelne einen inneren Monolog zu führen. Das ewig Weibliche lässt sich immer wieder in der Inszenierung finden; alle Personen scheinen eine Art Dreierbeziehung zu führen und wirken folglich wie ein inneres Team. Dies lässt darauf schließen, dass Stemann in jedem Menschen ein Stückchen Faust, Mephisto und Gretchen sieht. Durch die Wandelbarkeit und Spaltbarkeit der Figur Faust scheint Stemann ihn als eine multiple Persönlichkeit zu sehen, welche in sich selbst durch ihr Streben und Handeln facettenreich gespalten ist. Stemanns „Faust“ ist nicht wie eine herkömmliche Aufführunginszeniert. Szenen wie der „Prolog im Himmel“ und der „Osterspaziergang“ werden nur von einer Person gespielt. Besonderheiten wie ein ‚schwächlicher‘ Gott, welcher trotzdem seine Autorität während des Stückes nicht verliert, und die durch Dialekte karikierten Personen Wagner und Marthe verleihen der Inszenierung Modernität und Witz. Auch der Einsatz moderner Elemente wie Musik, Tanz und Video lockern das Stück auf. Die Reduktion des Textes erzeugt statt Verwirrung mehr Aufmerksamkeit für das Wort und die Handlung. So stimmen Kaiser und Stemann in vielen der in G. Kaisers Rezension genannten Kriterien überein. Mit der Inszenierung wird ein gewisser Anspruch an die Zuschauer gestellt und Faust wird in seiner Vielfältigkeit dargestellt. Die Aufführung profitiert dabei von modernen Elementen und der Text wird zugunsten der Inszenierung frei behandelt und gekürzt. Da jeder Mensch in seiner Individualität gewisse Gegebenheiten anders als andere Menschen aufnimmt, ist es schwierig, Werke wie „Faust“ allgemeingültig zu inszenieren und zu interpretieren. Goethe selbst sagte am 6.5.1827 über Faust: „Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! – Sie machen sich durch ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall hineinlegen, das Leben schwerer als billig. – Ei! so habt doch endlich einmal die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassen, Euch rühren zu lassen, Euch erheben zu lassen, ja Euch belehren und zu etwas Großem entflammen und ermutigen zu lassen; aber denkt nur nicht immer, es wäre Alles eitel, wenn es nicht irgend abstrakter Gedanke und Idee wäre! Da kommen sie und fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? – Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte. […] Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.“ So ist vielleicht nicht immer alles im allgemeinen Sinne ‚richtig‘, was man als Zuschauer oder Leser von einem Werk empfängt oder versteht, denn es gibt in der Literatur genauso wenig wie in der Musik oder Kunst ein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Es wird für den „Faust“ immer neue Inszenierungen und auch immer wieder Interpretationen und Rezensionen geben. Jeder Mensch kann sich stets neu eine Meinung über den „Faust“ bilden und unzensiert von ihm in seinem Streben und von anderen in ihren Interpretationsansätzen lernen und profitieren. Ich denke, dass G. Kaiser und N. Stemann auch in diesem Punkt übereinstimmen. Marlene Günther Würdige inhaltlich begründet die Inszenierung unter Einbeziehung der Überlegungen G. Kaisers zum Thema „Werkadäquatheit“: Wie liest/ sieht Stemann den „Faust“? Die Inszenierung des „Faust I“ Nicolas Stemanns hat mein Faustbild zuerst einmal komplett verrückt. Nachdem ich mich jedoch auf das Stück mit seiner Auslegungsart eingelassen hatte, bemerkte ich, dass sich mein Faustbild vielmehr um neue Aspekte ergänzt und sich mein Blickwinkel verändert hat. Der Theaterbesuch hat mir gezeigt, dass und vor allem wie modernes Theater eine Perspektive auf ein Stück ermöglichen kann, ohne es in seinen Grundfesten zu verändern. Im Folgenden werde ich prüfen, ob und wie sich die Perspektiven und Möglichkeiten, die in Nicolas Stemanns Inszenierung deutlich werden, also das Faustbild Nicolas Stemanns, in dem Stück „Faust I“ wiederfinden lassen. Folgende Möglichkeiten der Auslegung eines Stückes nennt Gerhard Kaiser in seinem Diskussionsbeitrag „Gibt es einen ‚Faust’ nach Peter Stein? “ Werkadäquatheit: Für ihn bedeutet dies, den Text „als Ganzes aufzufassen und dabei zuzulassen, dass alles geschichtliche, auch das Kunstwerk, perspektivisch in den Blick kommt. Jede Wahrnehmung, auch die Wahrnehmung durch Inszenierung, kann und muss mit dem Wandel des historischen Blickpunktes auch neue Aspekt hervor- und geläufige zurücktreten lassen.“ (S.320) Laut Gerhard Kaiser sollte der Text nicht als „museale Instanz“ festgehalten werden, vielmehr sei es seiner Meinung nach eine „Kategorie der Intensität“. (S.321) Ich denke, es ist wichtig, dass die ‚Werkadäquatheit’ subjektiv ist, da sie bis auf offensichtliche Überschreitungen des Werkrahmens keine Kriterien bietet, die belegen, dass ein Stück werkadäquat ist oder eben nicht. Nach dem Brockhaus bezeichnet ‚Adäquat’ die ‚Übereinstimmung der Urteilsaussage mit dem Sachverhalt’. Adäquatheit ist somit objektiv. Ich denke, dass dieser Sachverhalt, oder wie Kaiser es ausdrückt, das Ganze und die Intensität des Stückes in der Inszenierung von Stemann gewahrt werden. Es wird der Originaltext (teils gekürzt) behandelt und die Kernfragen und Kernaussagen Goethes durch seinen Faust finden in dieser Inszenierung ihren Ausdruck. Faust mit seinem Erkenntnisdrang, der nur durch die Erfahrung des Glücks befriedigt werden kann: „ Werd ich zum Augenblicke sagen:/ Verweile doch! Du bist so schön!/ Dann magst du mich in Fesseln schlagen,/ Dann will ich gern zugrunde gehn!“ (Vers 1699 ff.). Faust ist sich schon zu Anfang des Stückes des Tragischen des Menschen bewusst, er will die Grenzen der Menschen nicht anerkennen und möchte sich deshalb umbringen. (Vers 652ff.) Im Vergleich zu Stemanns Aufführung ist Peter Steins Inszenierung aus heutiger Sicht eine „museale Instanz“, wie Kaiser sie in seinem Diskussionsbeitrag nennt. Das Bühnenbild, die Requisiten und Kostüme, aber vor allem die Mimik und Gestik der Figuren spiegeln die zeitgenössischen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen der Zeit Goethes wider. Die zeitlichen Umstände des Stemannschen Bühnenbildes sind dagegen sehr modern. Es wird viel mit großflächigen Projektionen, Musik und Tanz sowie mit wenigen Requisiten gearbeitet. So wird zum Beispiel das Studierzimmer nur durch eine alte Tür, sowie einem minimalistischen Tisch und Stuhl dargestellt. Auch Gretchens Zimmer wird ebenfalls reduziert durch ein weißes Bett gestaltet. Dieses Bühnenbild ist allerdings nicht bloß als Übertragung des Stückes auf die Gegenwart zu betrachten, vielmehr vermittelt es dem Zuschauer eine gewisse Zeitlosigkeit. Die Bühne von Stemann zeigt genug Requisiten etc., um das Stück nach seinen Auffassungen zu zeigen, sie lässt aber auch viel Freiraum für eigenes Verständnis. So reicht in der Studierzimmerszene eine Holztür, um es als solches identifizierbar zu machen und für die Beschränktheit und die Enge desselben reichen die Linien aus roter und grüner Farbe, die Faust vor seinem Suizidversuch an den imaginären Wänden entlang zieht. Das Bühnenbild zeigt außerdem bewusst die Unfertigkeit des Stückes, da es immer wieder mit neuen kulturellem, historischem und vor allem politischem Hintergrund inszeniert und verstanden wird. Die Bühnenbildner vermitteln dem Zuschauer somit offensichtlich, dass die Inszenierung und das Verständnis von „Faust“ nicht endgültig ist, sondern sich fortlaufend in einem Prozess befindet. Sicher ist, dass viele gestalterische Mittel der Inszenierung wie Laptops, Beamer, Feuerzeuge usw. der heutigen Zeit angehören und es sie zu Goethes Zeit noch nicht gab. Sie sind Teil des Bühnenbildes und so werden die Beamer zum Beispiel geschwenkt, um Faust und Mephisto durch die Walpurgisnacht fliegen zu lassen. Sie sind jedoch nicht Teil der Handlung, also des Inhalts an und für sich und ändern meiner Meinung nach nichts an der Zeitlosigkeit dieser Inszenierung. Die Inszenierung von Stemann zeigt definitiv auch einen wichtigen Aspekt, den Kaiser in Bezug auf Steins Inszenierung genannt hat, nämlich die ‚innere Lebendigkeit des Textes, wenn man sich auf ihn einlässt’. Die unterschiedlichen Dialekte, die an verschiedenen Stellen des Textes eingesetzt wurden, zeigen, dass auch alte Texte sehr modern sein können, wenn man die Sprache lebendig macht zum Beispiel durch angemessene Betonung und Kürzungen an den richtigen Stellen. Die drei Hauptdarsteller Philipp Hochmair, Sebastian Rudolph und Patrycia Ziolkowska besetzen mehrere verschiedene Rollen und bewegen sich zwischen ihnen und damit auch den Geschlechtern. So spielt Rudolph in den ersten Szenen alle Figuren, wie Gott und den Teufel, den Dichter, den lustigen Gesellen und den Theaterdirektoren sowie im restlichen Stück hauptsächlich den Faust. Hochmair kommt in der ersten Studierzimmerszene als Mephisto hinzu, spricht jedoch auch den Fausttext, sodass ein Verwechslungsspiel entsteht und klar wird: Faust ist auch Mephisto und Mephisto auch Faust. In der Hexenküche betritt dann Ziolkowska die Bühne und ist gleichzeitig das Bildnis der Helena, als Projektion an der hinteren Bühnenwand, sowie die Hexe, das Gretchen, die Marthe, der Faust und der Mephisto. Durch Mimik und Gestik, vor allem aber durch Verändern der Stimme spielen, parodieren und zitieren die Drei die verschiedenen Figuren. So stellen sich dem Zuschauer unweigerlich folgende Fragen: Kann Faust I insgesamt als Gleichnis angesehen werden und Faust als Figur alle anderen Figuren vereinen? Oder kann Faust mit feststehenden Schauspielern aufgeführt werden, wie in Steins Inszenierung? Schlüssiger erscheint mir die Stemannsche Inszenierung, da in Goethes Faust viele verschiedene Wahrheiten vereint werden. Der folgende Teil meines Textes versucht, diese Fragen zu beantworten. Die Thalia- Inszenierung bricht die klassische Figurenkonstellation komplett auf. Die drei Hauptdarsteller verkörpern und sprechen die verschiedenen Figuren und verschmelzen damit zu einer Gesamtkomposition. Das ganze Fauststück kann nach Kaiser auch als Monolog verstanden werden. Die FAZ schreibt: „ Stemann liest Faust I als inneren Monolog einer sehr einsamen Person mit einer sehr breiten Brust.“ Somit stellen die drei Protagonisten des Werkes verschiedene menschliche Pole dar. Mephisto kann als ein Teil Fausts angesehen werden. Er ist das Böse in Faust und verkörpert die Verführbarkeit. Deutlich wird dieses in der Szene in Marthes Garten, in der Gretchen nicht zwischen Faust und Mephisto unterscheiden kann, sie ist hin- und hergerissen, bis sie sich für beide entscheidet und alle drei küssend und umarmend zu einem werden. Auch der Zeitpunkt, an dem Mephisto zum ersten Mal die Bühne betritt, verstärkt meine Annahme, Mephisto sei nur Fausts böser Teil. Er erscheint zum Zeitpunkt der Resignation Fausts nach dem Osterspaziergang. Die Stadt und die Menschen erwachen aus ihrem ‚Winterschlaf’, aber das bringt Faust trotzdem nicht weiter, es bessert sich nur seine Laune. Auch Faust und Mephisto lässt die Inszenierung Stemanns mehrmals sich küssend zusammenkommen, während sie die Worte des Paktes vor sich hin murmeln: „M: Topp! /F: Und Schlag auf Schlag!/ Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön!/ Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehen!“ usw. Dies soll meiner Ansicht nach nicht als homosexuelle Interpretation verstanden werden, sondern als Zusammenkommen der beiden in ihrem Pakt und somit auch der beiden Seiten Fausts. In seinem Text kritisiert Kaiser, dass durch den Einsatz des jungen Fausts in Steins Inszenierung ein Bruch entstünde, der „die Einheit der Figur in der Tiefe“ aufspalte. Dieser junge Faust habe „keinen Hintergrund und wisse [weiß] von solchen Abgründen wenig“. Kaisers Kritik an der Figurenspaltung des Fausts ‚dem jungen Faust fehle die Tiefe’, kann jedoch nicht auf Stemanns Inszenierung angewendet werden, obwohl Faust auch hier von verschiedenen Schauspielern dargestellt wird. In der Stemannschen Inszenierung bleiben die Schauspieler dieselben, es verändert sich nur ihr Verhalten. Faust wirkt ab der Szene in Auerbachs Keller naiver und frischer. Er behält jedoch die Tiefe und Intensität, d.h. seine Weisheit, sein universales Wissen, sein strebendes ‚Erfassenwollen’, die nach Kaiser so wichtig für die adäquate Adaption des Fausts sind. Ich denke, in diesem Punkt ist Stemann trotz modernem Verständnis ohne augenmerkliche Verjüngung bzw. Verwandlung des Fausts insgesamt werkadäquater als die Inszenierung Steins. Ganz am Ende der Kerkerszene, sind nur noch Gretchen, Faust und im Hintergrund Mephisto auf der Bühne, der sich vorher leise ‚angeschlichen’ hat. Nachdem Gretchen den Schlussteil gesprochen hat, geht sie als Erste von der Bühne. Nach ihr verlässt Mephisto die Bühne und Faust bleibt allein zurück. Teile von ihm ziehen ab, sodass nur der eine Faust zurückbleibt. In dieser Inszenierung spielen die Schauspieler den Text, nicht die Rollen. Somit bleibt die Inszenierung nah am Werk, ohne über Grenzen des Stückes zu treten. All die Möglichkeiten der Auslegung lassen sich meiner Meinung nach im Werk Goethes wiederfinden. Aufgabe: Würdige inhaltlich begründet die Inszenierung unter Einbeziehung der Überlegungen G. Kaisers zum Thema „Werkadäquatheit“: Wie liest/ sieht Stemann den „Faust“? „Werkadäquatheit heißt nicht, den Text als museale Instanz festzuhalten, sondern ihn als Ganzes aufzufassen und dabei zuzulassen, dass alles Geschichtliche, auch das Kunstwerk, perspektivisch in den Blick kommt.“ So beschreibt Gerhard Kaiser seine Definition des Wortes „Werkadäquatheit“. Ein Werk muss also nicht so dargestellt werden, wie es zur Entstehungszeit passend gewesen wäre, sondern es soll aktuell sein und gleichzeitig seiner Botschaft entsprechen. Dabei werden auch neue Blickwinkel hinzugezogen und alte aussortiert. Allerdings muss dafür nicht das gesamte Werk mit jedem seiner Verse aufgeführt werden. Eine gut gewählte Auslese des Textes ist vollkommen ausreichend. Letzteres hat auch Nicolas Stemann in seiner Inszenierung des ersten Teils von der Tragödie Faust am 29. November 2011 angewendet. In gekürzter Version der einzelnen Szenen ist es ihm gelungen, dieses bedeutende Werk Goethes hervorragend aufzuführen. Drei Stunden lang bringt es Nicolas Stemann fertig, das Publikum für Faust zu begeistern. Zu Beginn der Aufführung unterhält ein einzelner Schauspieler, Sebastian Rudolph, mit einem gelben Reclamheftchen ungefähr eine Stunde lang das gesamte Publikum, bis er von Philip Hochmair, der Mephistopheles verkörpert, abgelöst wird. Dabei ist ein roter Faden zu erkennen. Die gesamte Zeitspanne hindurch gelingt es ihm, das Publikum in seinem Bann zu halten, sodass diesem gar nicht bewusst wird, wie die Zeit verstreicht. Er arbeitet sozusagen mit dem Publikum und zerrupft das Buch während der Szene „Vorspiel auf dem Theater“, als er erwähnt, dass das Publikum das Werk zerpflücken werde. Mit ironischen Elementen wird diese Ein-Mann-Szene lebendig und fesselnd gestaltet. Nach der Zerpflückung des Buches lässt der Darsteller, der den alten Faust verkörpern soll, den Bucheinband sprechen. An dieser Stelle hört man Gelächter im Publikum, welches schon längst nicht mehr angespannt da sitzt, sondern die Worte und Handlungen des Schauspielers aufsaugt mit der Angst, dass es irgendetwas verpassen könnte. Die Figurenspaltung der einzelnen Personen ist ein wesentliches Element in dieser Inszenierung. Darauf reagiert das Publikum anfangs verwirrt, jedoch verwandelt sich diese Ratlosigkeit schnell in ein gespanntes Interesse. Dass eine Person zum Teil drei Rollen darstellt, verdeutlicht den inneren Konflikt der einzelnen Charaktere. Faust und Mephistopheles waren schon in Peter Steins Inszenierung eine Person, sodass man als Zuschauer nicht wirklich überrascht ist, wenn Mephistopheles auf einmal die Verse von Faust aufsagt und andersherum. Jedoch ist es eine fremdartige Interpretation, dass beide Charaktere auch Gretchen verkörpern und diese auch erstere beiden. Patrycia Ziolkowska als Gretchen repräsentiert nicht nur an einigen Stellen Faust und Mephistopheles, sie tritt auch in der Szene „Hexenküche“ als Hexe auf. Die Figurenaufspaltung ist in dieser Inszenierung somit auf zwei Geschlechter verteilt. So etwas gab es noch nie. Mephistopheles, der den Teufel verkörpern soll, wird als lustig, komische Person mit roten Hörnern, die man normalerweise nur aus dem Fasching kennt, abgebildet. Als Zuschauer bekommt man den Eindruck, dass das gesamte Stück eigentlich als Monolog von Faust zu verstehen ist, so dass Mephistopheles als Stimme von Faust agiert. Gleichzeitig bekommt man während des gesamten Stückes immer wieder den Eindruck, dass er homosexuell und Faust bisexuell orientiert ist, da ersterer beispielsweise in der Szene „Auerbachs Keller“ eine Perücke mit langen Haaren aufsetzt und goldene Ketten und einen Pelzschal trägt. Somit ist er geprägt von weiblichen Merkmalen und der Höhepunkt seiner sexuellen Orientierung wird mit dem Kuss mit Faust in der Szene „Marthens Garten“ deutlich. Faust, der gleichzeitig auch eine Vorliebe für Gretchen empfindet, interessiert sich somit für beide Geschlechter. Auch die Sexualität dieser beiden Personen demons- triert den inneren Konflikt der Charaktere. Dieser Zwiespalt der Personen geht sogar so weit, dass Gretchen am Ende in der Kerkerszene nicht mehr zwischen Faust und Mephistopheles unterscheiden kann. Die Struktur des Stückes wird ab jetzt nicht mehr eingehalten. Selbst das Publikum kann Faust am Ende nicht mehr von Mephistopheles abgrenzen. Dadurch wird verdeutlicht, dass in jedem ein bisschen von Faust, Mephistopheles und Gretchen wiederzufinden ist. Die berühmten Schlussverse von Goethes Faust heißen nicht umsonst „Das ewig Weibliche zieht uns hinan.“. Dieses ist nämlich überall und in jedem zu finden und zwar auch in dem männlichen Geschlecht, wie Mephistopheles und Faust verdeutlichen. Gretchen, die die Unschuld verkörpert, wendet sich, als sie nicht mehr zwischen Mephistopheles und Faust unterscheiden kann, von ihren Trieben gelenkt ersterem zu, obwohl sie ihm gegenüber eigentlich die ganze Zeit eine abneigende Haltung einnahm. Die Dauer des Stückes, die man anfangs als Zumutung bezeichnete, rückt ab dem ersten Moment in den Hintergrund. Drei Stunden berühmtes Theater ohne Pause muss das Publikum bewältigen. Das ist eindeutig doppelt so lang, als man normalerweise als Theaterbesucher gewohnt ist. Doch dies ist nicht als Dreistigkeit Stemanns zu deuten, sondern eher als Geschenk. Man hätte keine Pause einfügen können, ohne dass man die Zuschauer aus ihrer gefesselten Aufmerksamkeit gerissen hätte. Somit kann man das Werk als Ganzes betrachten und für sich interpretieren. Das individuell geschaffene Bild wird zusätzlich nicht von einer in der Pause stattfindenden Unterhaltung mit einer anderen Person zerstört, da man nicht die Möglichkeit bekommt, sich mit seinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen auszutauschen. Natürlich findet dadurch auch eine Auslese des Publikums statt, denn dieses Szenario ist nur für diejenigen nachvollziehbar, die die einmalige Gelegenheit nutzen, sich auf das gesamte Stück einzulassen und drei Stunden mit sich alleine klarkommen können. Diejenigen, die damit zufrieden sind, was sie zu sehen bekommen, verfallen in einen Rausch. Die Spannung im Publikum ist in den stillen Momenten förmlich zu spüren. Nicolas Stemann hat mit seiner Inszenierung also alles richtig gemacht. Er hat nicht nur mithilfe des zwar gekürzten, aber inhaltlich unveränderten Textes das Stück werkadäquat aufgeführt, sondern er hat auch Faust als Extremfigur erhalten. Die ungebrochene Aktualität des Stückes kommt mithilfe der Figurenspaltung deutlich zum Vorschein und zusätzlich arbeitet Stemann mit dem komplexen Werkganzen und nicht nur mit einer willkürlichen Faustfigur. Auch die innere Dramatik wird mit dem Aufbau von Spannung und der Rollenspaltung erhalten. Die Teilung der Figuren führt in dieser Inszenierung jedoch nicht zum Verfall des roten Fadens in der Tragödie, sondern beleuchtet erst das Innere des Dramas, welches für Kaiser von großer Bedeutung ist. Der Regisseur lässt im Sinne von Gerhard Kaiser die Figur des Faust bestehen und weist auf seine Neigungen und deren Folgen hin. Somit komme ich zu dem Schluss, dass Nicolas Stemann seine Inszenierung werkadäquat im Hinblick auf Gerhard Kaisers Definition von Werkadäquatheit gestaltet hat. Er ist nicht gescheitert an der Aufgabe, dass sich das Publikum als beschenkt fühlen soll, und lässt den Text des Werkes bedeutungsvoll in seiner Aktualität wirken, da er den Fokus auf die einzelnen Personen lenkt und man die Details wahrnimmt. Stemann hat es geschafft, das Stück werkadäquat zu gestalten und gleichzeitig die Zuschauer damit in seinen Bann zu ziehen und das Ganze mit einem gekürzten Faust.