kündigungsschutz und befristete

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kündigungsschutz und befristete
Kündigungsschutz
und befristete
Arbeitsverhältnisse:
Interviews und Erfahrungsberichte
aus der Arbeitswelt in Deutschland
Inhalt
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Vorwort
Kündigung und Befristung
– Zahlen, Fakten und Gesetze
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Kündigungsschutzgesetz ist keine Einstellungsbremse
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Befristungen am laufenden Band
Befristete ARbeit – erfahrungsberichte und Interviews aus
Deutschland
14 Hochqualifiziert, motiviert – befristet beschäftigt
16 Ständiger Druck und keinerlei Sicherheit
18 20 Befristungen in 27 Jahren
20 „Sachgrundlose Befristung streichen“
21 Schutz von Arbeitnehmer/Innen
– Die Politik in der Verantwortung
34 Regelungen zu befristeten Arbeitsverhältnissen in anderen europäischen Ländern
35 „Befristete Jobs sind Anti-Familien-Politik“
37 Parteienstimmen zu Kündigungsschutz und Befristungen
38 „Erheblich weniger Kündigungsschutzklagen“
39 „Änderungskündigungen überprüfen lassen!“
40 „Kündigungsschutz wurde systematisch ausgehöhlt“
Kündigungsschutz und
befristung – die Forderungen
der Gewerkschaften
44 Ohne Bestandsschutz verschlechtern sich Arbeitsbedingungen
45 Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern deshalb …
Klagen gegen Kettenbefristungen ohne Sachgrund
22 „Befristungen endlich reduzieren“
24 Von Vertrag zu Vertrag im Schuldienst
25 „Befristungen sind die Regel“
26 Die halbe Zeit für dieselben Aufgaben
27 Hochschulabschluss schützt nicht vor Befristung
28 Zweierlei Maßstab
29 Pläne schmieden? Fast unmöglich!
30 Postzustellung auf Abruf
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Vorwort
Der Kündigungsschutz ist 2003 im Rahmen der Umsetzung der Agenda 2010 deutlich
verschlechtert worden. Trotzdem hat die unbefristete, sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung mit angemessener Bezahlung nicht zugenommen. Im Gegenteil: befristete Beschäftigung ist für Viele und insbesondere für Berufsanfänger nicht mehr die
Ausnahme, sondern die Regel. Leiharbeit hat in vielen Betrieben und Unternehmen reguläre Beschäftigung ersetzt. Werkverträge nehmen zu und das sogenannte Jobwunder
bedeutet für Viele Minijobs und eine Bezahlung unter dem Existenzminimum.
Der Arbeitsmarkt ist so dereguliert wie noch nie!
Gleichwohl sind immer wieder Stimmen zu vernehmen, die fordern, den Kündigungsschutz weiter einzuschränken und befristete Beschäftigung noch weiter zu erleichtern.
Dies soll wegen der zu erwartenden Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt infolge
der Wirtschaftskrise in Europa notwendig sein, da Beschäftigung nur geschaffen würde,
wenn das Arbeitsverhältnis auch einfach wieder aufgelöst werden könne.
Einen Beleg für diese These bleiben ihre Befürworter, wie schon in der Vergangenheit,
schuldig.
Tatsache ist, dass Beschäftigung dann aufgebaut wird, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Beispiele aus anderen europäischen Ländern, die in der Wirtschaftskrise Beschäftigtenrechte abgebaut haben, zeigen, dass dies keineswegs zu
mehr Beschäftigung geführt hat. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rechtlos zu stellen, sie der Willkür von Entlassungen auszusetzen und damit auch den Druck auf alle
anderen Beschäftigungsbedingungen zu erhöhen, bringt nicht mehr Beschäftigung, sondern lediglich deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen. Wer wirtschaftlichen Erfolg
will, darf die Arbeitsbedingungen nicht verschlechtern. Nur sichere Arbeitsplätze mit einer
angemessenen Vergütung und guten Arbeitszeiten können Kreativität und Innovation
fördern. Der richtige Weg, den wir nachdrücklich unterstützen, sollte deshalb sein, den
Kündigungsschutz nicht ab-, sondern auszubauen und befristete Arbeitsverhältnisse
nicht zu erleichtern, sondern deutlich einzuschränken.
Michael Sommer
Vorsitzender des DGB
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Kündigung und Befristung
– Zahlen, Fakten und Gesetze
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Kündigungsschutzgesetz
ist keine Einstellungsbremse
Von Arbeitgebern wie auch ihnen nahestehenden Politiker/innen wird häufig das bundesdeutsche Kündigungsschutzrecht als Hindernis für – unbefristete – Einstellungen genannt.
Verschiedene Untersuchungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts
(WSI) der Hans-Böckler-Stiftung belegen jedoch etwas ganz anderes: Kündigungen und
Neueinstellungen hängen primär mit der wirtschaftlichen Situation eines Betriebes zusammen. Und für die Einstellungsentscheidung ist die Frage des Kündigungsschutzes von
verschwindend geringer Bedeutung.
Bereits 2005 legte das WSI die Ergebnisse des Projektes „Regulierung des Arbeitsmarktes“ (REGAM) vor, in das eine Vielzahl von Untersuchungen und Befragungen Eingang gefunden hatten. Das eindeutige Fazit lautete: „Der Einfluss des Kündigungsschutzgesetzes auf die Arbeitsmarktdynamik ist statistisch nicht nachzuweisen. Die Annahme, der Arbeitsmarkt sei aufgrund des KSchG unnötig starr und rigide, ist falsch: Jährlich werden
ca. fünf bis sieben Millionen Arbeitsverhältnisse beendet. Den größten Teil hieran machen
arbeitnehmerseitige Kündigungen aus.“
Nur bei jeder achten Kündigung wird geklagt
Lediglich rund ein Drittel aller Kündigungen werde von den Arbeitgebern ausgesprochen;
zwei Drittel davon seien wiederum betriebsbedingt, das heißt, in aller Regel ökonomisch
begründet. Kündigungsschutzklage werde nur bei jeder achten vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung eingelegt, Abfindungszahlungen würden ähnlich selten vereinbart. „Die Daten belegen auch nicht, dass das KSchG Kündigungen verhindert und notwendigen Personalabbau stört.“ (Heide Pfarr/Karen Ullmann/Marcus Bradtke/Julia Schneider/
Martin Kimmich/Silke Bothfeld, Der Kündigungsschutz zwischen Wahrnehmung und
Wirklichkeit: Betriebliche Erfahrungen mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen, München und Mering 2005).
2007 untersuchte das WSI neuerlich die Beendigung von Arbeitsverhältnissen in der Pra-
xis, wobei sich die Zahlen der vorangegangenen Untersuchungen weitgehend bestätigten.
Wiederum machten die arbeitgeberseitigen Kündigungen etwa ein Drittel aller Kündigungen aus; zu 62 Prozent waren sie betriebsbedingt, was konkret bedeutete, dass es
im Unternehmen nicht mehr genug Arbeit für die vorhandene Zahl an Beschäftigten
gab. Lediglich in zehn Prozent aller beendeten Arbeitsverhältnisse wurden Abfindungen
gezahlt, und zwar überwiegend in Großbetrieben, an Beschäftigte mit langer Betriebszugehörigkeit, dort, wo der Betriebsrat/Personalrat Widerspruch gegen die Kündigung eingelegt hatte und dort, wo Klage eingelegt worden war. Allerdings erhoben 2007 nur
12 Prozent der Gekündigten überhaupt Kündigungsschutzklage (Miriam Gensicke/Heide
Pfarr/Nikolai Tschersich/Karen Ullmann/Nadine Zeibig, Neue Erkenntnisse über die Beendigung von Arbeitsverhältnissen in der Praxis, in: AuR 12/2008).
„Arbeitsrecht und Kündigungsschutz scheinen also bei der Gestaltung der betrieblichen
Arbeitsbeziehungen keine so große Rolle zu spielen, wie man vermuten könnte“, schreiben
Michael Schlese und Florian Schramm in ihrem Aufsatz „Die Rolle des Kündigungsschutzes: Ergebnisse der qualitativen Analyse“. Für das Einstellungsverhalten und die innerbetrieblichen Beziehungen sei beides wenig bedeutsam. Jedoch bestätige sich das allgemeine Vorurteil gegen den bestehenden Kündigungsschutz. „Die Kritik am Kündigungsschutz nimmt wenig Bezug zu eigenen betrieblichen Erfahrungen und wenn ja, dann
eher generalisierend.“ (in: Florian Schramm/Ulrich Zachert, Hg., Arbeitsrecht in der betrieblichen Anwendung, München und Mering 2008).
Kündigungsschutz ist kein Einstellungshindernis
Gleichwohl blieb es auf Arbeitgeberseite lange bei der gebetsmühlenhaft vorgetragenen
Behauptung, der Kündigungsschutz in Deutschland verhindere Einstellungen und sei rechtlich problematisch. So wurde etwa in einem vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag beim IZA in Auftrag gegebenen Gutachten postuliert, dass der „Kündigungsschutz
(…) eine der umstrittensten Arbeitsmarktinstitutionen, in Deutschland wie auch in anderen Ländern“ sei. Das Papier wandte sich insbesondere gegen die im Kündigungsschutzgesetz geregelten Vorgaben der Betriebsratsanhörung im Fall von Kündigungen und der
Sozialauswahl. Stattdessen solle die Beteiligung des Betriebsrates bei Kündigungen eingeschränkt werden, die Sozialauswahl entfallen und eine „freiwillige Abfindungsoption“
eingeführt werden (Werner Eichhorst/Paul Marx, Zur Reform des deutschen Kündigungsschutzes, Gutachten im Auftrag des DIHK , IZA Research Report No. 36, Juni 2011).
Dass dies unzutreffend ist, belegt eine Ifo-Umfrage vom August 2012 im Auftrag der
Wirtschaftswoche. Bei der Befragung von etwas mehr als 600 Unternehmen kam heraus,
dass „arbeitsmarktpolitische Aspekte wie Kündigungsschutz oder hohe Lohnkosten“
kein Einstellungshindernis seien. Allerdings gaben mehr als 50 Prozent der Befragten an,
Minijobber und Leiharbeitnehmer zu beschäftigen. Nach der Anzahl der befristeten
Arbeitsverhältnisse im Betrieb wurde nicht gefragt, aber vermutlich wäre auch hier ein
hoher Anstieg zu registrieren gewesen, so dass faktisch ein immer größerer Anteil der
Belegschaften überhaupt nicht unter das Kündigungsschutzgesetz fällt (Wirtschafts-Woche Nr. 33, 13.8.2012).
Zudem fällt auch eine Gruppe von fest Beschäftigten aus dem Kündigungsschutz heraus:
die in Kleinbetrieben. Mit der Änderung des Gesetzes vom 23. Dezember 2003 im Rahmen
der „Agenda 2010 im Arbeitsrecht“ wurde die Anzahl der Beschäftigten, die in einem
Betrieb beschäftigt sein müssen, damit der Kündigungsschutz greift, von fünf auf zehn
heraufgesetzt. Nach dem IAB-Betriebspanel von 2010 haben 71 Prozent der bundesdeutschen Betriebe weniger als zehn Beschäftigte (das entspricht 18 Prozent an der Gesamtbeschäftigung), so dass hier das Kündigungsschutzgesetz nicht greifen kann.
Und auch eine weitere, auf Befragungen basierende Untersuchung zeigt auf, dass es
sich bei der Behauptung, das Kündigungsschutzgesetz verhindere Einstellungen, eher um
eine „gefühlte Wahrheit“ handelt als um eine gesicherte Erkenntnis.
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Befristungen
am laufenden Band
Da aber eine Absenkung der allgemeinen Arbeitsbedingungen, insbesondere der Vergütung, in engem Zusammenhang mit fehlendem oder eingeschränktem Bestandsschutz
steht, diese Entwicklung aber weder sozial noch volkswirtschaftlich sinnvoll ist und hingenommen werden kann, ist es zwingend notwendig, den Kündigungsschutz zu stärken
und seine Umgehung effektiv zu verhindern.
Teilzeit- und Befristungsgesetz
§ 14 Zulässigkeit der Befristung
(1) Die Befristung eines Arbeitsvertrages ist zulässig,
Die Zahl der befristet Beschäftigten nimmt stetig zu. So hat nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2010 jeder fünfte Arbeitnehmer unter 35 Jahren
(exakt: 21 Prozent) einen befristeten Arbeitsvertrag. In den ostdeutschen Bundesländern
liegt der Anteil sogar bei 28 Prozent, während es im Westen „nur“ 19 Prozent sind.
wenn sie durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt
ist. Ein sachlicher Grund liegt insbesondere vor,
wenn
1.der betriebliche Bedarf an der Arbeitsleistung nur
Über alle Altersgruppen hinweg erhielt nach Angaben des IAB fast jeder zweite neu eingestellte Beschäftigte (46 Prozent) lediglich einen befristeten Vertrag. 2001 lag der Anteil
der auf Zeit Eingestellten bei 32 Prozent.
vorübergehend besteht,
2.die Befristung im Anschluss an eine Ausbildung
oder ein Studium erfolgt, um den Übergang des Arbeitnehmers in eine Anschlussbeschäftigung zu
erleichtern,
3.der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen
Arbeitnehmers beschäftigt wird,
4.die Eigenart der Arbeitsleistung die Befristung
rechtfertigt,
5. die Befristung zur Erprobung erfolgt,
6.in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe
die Befristung rechtfertigen,
7.der Arbeitnehmer aus Haushaltsmitteln vergütet
wird, die haushaltsrechtlich für eine befristete Be-
In absoluten Zahlen stiegen die befristeten Arbeitsverträge nach Hochrechnungen auf der
Basis des IAB-Betriebspanels von etwa 1,7 auf 2,7 Millionen zwischen 2001 und 2011. Damit
liegt der Anteil derzeit bei 9,5 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse, während er 2001 bei 6,1 Prozent lag, wie Christian Hohendanner vom Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Anfang 2012 darlegte. In seinem Aufsatz „Befristete Arbeitsverhältnisse – Auch Mann trägt kurz“ für das IAB-Forum 1/2012 kam er zu
dem Ergebnis, dass bei Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages „mittlerweile fast jeder
zweite Beschäftigte befristet eingestellt“ werde. Dabei seien „Frauen insgesamt häufiger
befristet beschäftigt als Männer“, stünden aber nicht systematisch schlechter da, da sie
in Branchen und Berufen mit besonders häufiger Befristung überproportional vertreten seien. „Generell gilt: Befristete Arbeitsverträge haben auch im Jahr 2011 weiter zugenommen – sowohl bei Männern als auch bei Frauen“, schreibt Hohendanner, der wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich „Betriebe und Beschäftigung“ am IAB ist.
schäftigung bestimmt sind, und er entsprechend
beschäftigt wird oder
Bundesarbeitsgericht dereguliert sachgrundlose Befristung
8.die Befristung auf einem gerichtlichen Vergleich
beruht.
(2) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsver-
trages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist
bis zur Dauer von zwei Jahren zulässig; bis zu dieser
Gesamtdauer von zwei Jahren ist auch die höchstens
dreimalige Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages zulässig. Eine Befristung
nach Satz 1 ist nicht zulässig, wenn mit demselben
Arbeitgeber bereits zuvor ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat. Durch Tarifvertrag kann die Anzahl der Verlängerungen oder
die Höchstdauer der Befristung abweichend von
Satz 1 festgelegt werden. Im Geltungsbereich eines
2001 schrieb die damalige Bundesregierung im Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG)
fest, dass ein Arbeitnehmer nicht ohne Sachgrund mehrfach hintereinander bei einem Arbeitgeber befristet beschäftigt werden konnte. Allerdings kann bis zur Höchstdauer von
zwei Jahren der sachgrundlos befristete Vertrag dreimal verlängert werden (§ 14 Abs. 2
TzBfG). Eine solche Befristung ist nur möglich, wenn mit demselben Arbeitgeber nicht
vorher schon ein befristetes oder unbefristetes Arbeitsverhältnis bestanden hat – so die
gesetzliche Regelung. Mit dieser Regelung sollten Befristungsketten ohne Sachgrund
verhindert werden. Das hat das BAG inzwischen geändert. Im April 2011 hat der 7. Senat
des Bundesarbeitsgerichts entschieden, dass in Zukunft ein Arbeitsvertrag auch dann
ohne Sachgrund befristet abgeschlossen werden kann, wenn bereits vorher ein Vertrag
mit dem gleichen Arbeitgeber bestanden hat (BAG v. 6.4.2011 – Az. 7 AZR 716/09, Vorinstanz Sächsisches LAG v. 15.9.2009 – Az. 7 Sa 13/09). Voraussetzung soll lediglich sein,
dass zwischen dem früheren und dem neuen sachgrundlos befristeten Vertrag ein Zeitraum von mindestens drei Jahren verstrichen ist.
solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung
der tariflichen Regelungen vereinbaren.
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Neben dieser grundsätzlichen Regelung zur sachgrundlosen Befristung dürfen nach
der Gründung eines Unternehmens ohne Sachgrund sogar bis zu vier Jahre befristete
Arbeitsverträge abgeschlossen werden.
Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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(2a) In den ersten vier Jahren nach der Gründung
eines Unternehmens ist die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsvertrages ohne Vorliegen eines
sachlichen Grundes bis zur Dauer von vier Jahren zulässig; bis zu dieser Gesamtdauer von vier Jahren
ist auch die mehrfache Verlängerung eines kalendermäßig befristeten Arbeitsvertrages zulässig. Dies
gilt nicht für Neugründungen im Zusammenhang mit
der rechtlichen Umstrukturierung von Unternehmen
Und auf fünf Jahre kann die sachgrundlose Befristung bei Arbeitnehmern ausgedehnt
werden, die bei Beginn ihrer Tätigkeit 52 Jahre alt sind und zuvor mindestens vier Monate
arbeitslos waren. Allerdings ergab die Auswertung einer Befragung des IAB-Betriebspanels, dass Befristungen mit Sachgrund häufiger sind. In den westlichen Bundesländern
wurden 48,6 Prozent auf der Basis eines sachlichen Grundes abgeschlossen, 44,3 Prozent ohne Sachgrund und 7,3 Prozent aufgrund einer öffentlichen Förderung. In Ostdeutschland lag der Anteil der Befristungen mit Sachgrund bei 44,7 Prozent. Eine öffentliche
Förderung war Grund für 36,2 Prozent der Befristungen, während nur 18,9 Prozent sachgrundlos befristet angestellt waren.
und Konzernen. Maßgebend für den Zeitpunkt der
Gründung des Unternehmens ist die Aufnahme
Missbrauch von mehrfachen Befristungen zulässig
einer Erwerbstätigkeit, die nach § 138 der Abgabenordnung der Gemeinde oder dem Finanzamt mitzuteilen ist. Auf die Befristung eines Arbeitsvertrages
nach Satz 1 findet Absatz 2 Satz 2 bis 4 entsprechende Anwendung.
(3) Die kalendermäßige Befristung eines Arbeitsver-
trages ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes ist
bis zu einer Dauer von fünf Jahren zulässig, wenn
der Arbeitnehmer bei Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr vollendet hat und
Und auch bei Befristungen mit Sachgrund ist Missbrauch nicht ausgeschlossen: einen
traurigen Rekord hält eine Justizangestellte in Nordrhein-Westfalen. Innerhalb von elf Jahren wurde ihr befristeter Arbeitsvertrag 13-mal verlängert. Als ihr 2007 keine weitere
Verlängerung angeboten wurde, zog die Frau vor Gericht. Anfang 2012 entschied schließlich in dieser Angelegenheit der Europäische Gerichtshof, dass die mehrfache Befristung
von Arbeitsverträgen zulässig sei – da jeweils Sachgründe vorlagen – und die deutsche Regelung nicht gegen europäisches Recht verstoße. Es sei jedoch Aufgabe der Gerichte,
darauf zu achten, dass die Befristungsmöglichkeiten nicht ausgenutzt würden. Gebe es
dauerhaft einen Mehrbedarf an Arbeitskräften, bedeute die weitere Einstellung von befristeten Beschäftigten einen Missbrauch (EuGH, 26.1.2012, Az.: C-586/10).
unmittelbar vor Beginn des befristeten Arbeitsverhältnisses mindestens vier Monate beschäftigungslos
im Sinne des § 119 Abs. 1 Nr. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch gewesen ist, Transferkurzarbeitergeld bezogen an einer öffentlich geförderten Beschäf-
Nach dieser Entscheidung des EuGHs ist die Rechtslage aber nicht klarer geworden. Das
BAG hat am 18.7.2012 sowohl in dem vom EuGH anhängigen Verfahren als auch in einem
weiteren Verfahren, in dem es ebenfalls um mehrere befristete Verträge zur Vertretung
ging (7 AZR 443/09 und 7 AZR 783/10) unterschiedlich entschieden.
tigungsmaßnahme nach dem Zweiten oder Dritten
Buch Sozialgesetzbuch teilgenommen hat. Bis zu der
Gesamtdauer von fünf Jahren ist auch die mehrfache Verlängerung des Arbeitsvertrages zulässig.
(4) Die Befristung eines Arbeitsvertrages bedarf
In dem ersten Verfahren (das vorab dem EuGH vorgelegt worden war) hat das BAG die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen, da es bei dreizehn Befristungen innerhalb
von elfeinhalb Jahren aufgrund der Anzahl und Dauer der befristeten Arbeitsverträge einen möglichen Missbrauch gesehen hat. Der Beklagte sollte aber die Gelegenheit bekommen,
besondere Umstände vorzutragen, die der Annahme des Missbrauchs entgegenstehen.
zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform.
Auch vier befristete Arbeitsverhältnisse hintereinander werden legalisiert
Im zweiten Verfahren sah das BAG bei einer Gesamtdauer von fast acht Jahren und vier
befristeten Arbeitsverhältnissen keinen Anhaltspunkt für Missbrauch. Es ist also nicht davon auszugehen, dass sich an der grundsätzlichen Haltung des BAG etwas ändern wird,
nur den letzten befristeten Vertrag zu überprüfen und nur in äußersten Extremfällen (Gesamtbefristungsdauer mehr als zehn Jahre und mehr als zehn befristete Arbeitsverhältnisse etwa als Grenze) einen Missbrauch anzunehmen. Aber selbst in den Fällen, in denen
ein Missbrauch indiziert ist, soll dem Arbeitgeber die Möglichkeit eingeräumt werden zu
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begründen, warum tatsächlich kein Missbrauch vorliegt. Generell werde durch die Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse der Kündigungsschutz „in unangemessener Art
und Weise umgangen“, befürchtet Dr. Nadine Zeibig, Leiterin des Referats Arbeits- und
Sozialrecht beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-BöcklerStiftung. „Der Intention des Gesetzgebers werden die Regelungen der sachgrundlosen
Befristung nicht gerecht. Sie führen nicht zu mehr Beschäftigung, sondern sie ersetzen unbefristete Beschäftigung, sie integrieren auch nicht die benachteiligten Beschäftigtengruppen in den ersten Arbeitsmarkt“, führt die Arbeitsrechtsexpertin weiter aus.
Außerdem verweist sie auf weitergehende negative Folgen für die von Befristungen Betroffenen: „Sie beeinträchtigen die Gesundheit und die Lebensqualität der Beschäftigten;
sie entziehen jegliche Lebensplanung, führen zu prekärer, existenzbedrohender Beschäftigung und sind aus Sicht der Beschäftigten nicht erwünscht.“ Tatsächlich erhöht befristete
Beschäftigung das Risiko, arbeitslos zu werden. Zwischen 10 und 15 Prozent der befristet Beschäftigten stehen ein Jahr später ohne Arbeit da bzw. sind nicht erwerbstätig. In
der Gruppe der unbefristet Beschäftigten liegt dieser Anteil nur bei fünf Prozent. Dies
belegt eine Studie des ZEW aus dem Jahr 2006. Der DGB fordert deshalb seit langem die
Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen.
Strenger Kündigungsschutz ist kein Risiko für Unternehmen
Vielfach wird als Begründung für die erhebliche Zunahme der befristeten Arbeitsverhältnisse darauf verwiesen, dass wegen des strengen Kündigungsschutzes die Einstellung gerade für kleinere Unternehmen zu einem unkalkulierbaren Risiko werde. Deshalb stelle
man nur noch befristet ein. Da aber in Betrieben mit bis zu zehn Beschäftigten, bei denen
das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung findet, die Zahl der befristet Beschäftigten nicht signifikant niedriger ist, als in denen mit einer Beschäftigtenzahl knapp über zehn
kann dieses Argument nicht überzeugen. Und: bei nur zehn Prozent Klagen gegen eine
Kündigung und nur zehn Prozent Abfindungszahlungen bei Kündigungen (einschließlich
solcher auf Grund eines Sozialplanes!) stellen Kündigungen ein durchaus kalkulierbares
Risiko dar. Im Übrigen werden auch in vielen Großbetrieben mit eigenen (Arbeits-) Rechtsabteilungen grundsätzlich Arbeitsverhältnisse erst einmal befristet.
Fakt ist: Arbeitgeber bevorzugen deshalb befristete Beschäftigung, weil ohne Bestandsschutz für die Betroffenen die konkreten Arbeitsbedingungen zweitrangig sind. Wegen der
Hoffnung auf eine Festanstellung ist es dem Arbeitgeber ein leichtes, Bezahlung, Arbeitszeit, Urlaub und alle weiteren Beschäftigungsbedingungen zu seinem Vorteil zu diktieren.
Bemerkenswert dabei ist, dass die gesetzlichen Regelungen zu befristeten Arbeitsverhältnissen auf der europäischen Befristungsrichtlinie beruhen. Diese Richtlinie ist beschlossen
worden, um zu verhindern, dass mit befristeter Beschäftigung der Bestandsschutz umgangen und das unbefristete Beschäftigungsverhältnis ausgehöhlt wird. Angesichts der
Praxis in vielen Unternehmen hat der deutsche Gesetzgeber dieses Ziel weit verfehlt.
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Befristete ARbeit
– erfahrungsberichte und Interviews
aus Deutschland
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Hochqualifiziert, motiviert –
befristet beschäftigt
Promovierter Historiker,
privates wissenschaftliches
Forschungsinstitut,
Brandenburg
Michael W. (Name geändert) ist promovierter Historiker und arbeitet an einem privaten
wissenschaftlichen Forschungsinstitut in Brandenburg. Seine Arbeit füllt ihn vollständig
aus, und er sagt: „Ich würde nichts anderes arbeiten wollen, mir gefallen die Themen,
auch weil ich jetzt die Formen erforsche, in denen ich früher selbst studiert und gearbeitet habe. Jedes Partygespräch mit Wissenschaftlern wird zur Feldforschung.“ Doch es
gibt einen nicht ganz kleinen Wermutstropfen, der W. die Arbeit zeitweise vergällt: Seine
Stelle ist projektbezogen, mit dem Ende des Projekts endet auch sein Beschäftigungsverhältnis.
dieser ominösen Mitte. Ich möchte kein schlechtes Leben haben und noch über Handlungsoptionen verfügen, egal ob ich nun in der Mitte oder am Rand lebe. Dass dies am
Rand kaum möglich ist, ist der Skandal. Das muss sich ändern.“
Die Fallgeschichte ist eine Zusammenfassung eines längeren Interviews mit Michael W.,
das am 29. August 2012 in der Tageszeitung im Rahmen der Serie „(Über)Leben in Berlin“
erschienen ist.
Und damit gehört der 41-Jährige zu einer wachsenden Gruppe. Immer mehr Geisteswissenschaftler/innen finden nach ihrem Studienabschluss zunächst keine Festanstellung. Nach
einer Studie des Hochschul-Informations-System (HIS) sind davon derzeit etwa 78 Prozent betroffen. In einem befristeten wissenschaftlichen Projekt zu arbeiten, wie Michael W.
es tut, gehört für viele zu den obligatorischen Beschäftigungsformen. An staatlichen
Hochschulen sind sachgrundlose Befristungen aufgrund einer eigenständigen gesetzlichen
Vorschrift (Wissenschaftszeitvertragsgesetz) die Regel. Der Historiker empfindet sich sogar als privilegiert, denn sein zunächst auf drei Jahre befristetes Projekt wurde 2010 um
dieselbe Zeitspanne verlängert. „Im Vergleich zu anderen sind wir mit unserer Laufzeit
sogar noch sehr gut dran, denn es gibt durchaus Projekte, die nur ein paar Monate laufen.
Eine unbefristete Stelle kann es unter den derzeitigen Umständen bei uns nicht geben.
Im besten Fall kommt nach meinem jetzigen Projekt ein neues Projekt, meine Kollegen
und ich arbeiten daran.“
„Ich kämpfe seit Jahren für Verbesserungen im Wissenschaftsbereich“
Obwohl er weiß, dass er besser gestellt ist als so manch anderer Wissenschaftskollege,
ist Michael W. mit seinem Beschäftigungsstatus nicht zufrieden. „Dass mein Vertrag befristet ist, belastet mich. Unbefristete Arbeitsverhältnisse sind im Wissenschaftsbetrieb
selten geworden, sie sind außerhalb der Professur eigentlich gar nicht vorgesehen.“ Der
Wissenschaftler schaut weit über den Tellerrand seiner eigenen Situation hinaus und
kritisiert den vorherrschenden Trend, Lehre und Forschung zunehmend in befristete Beschäftigungsverhältnisse zu verlagern. Michael W. versucht, aktiv etwas zu verändern:
„Ich engagiere mich in der Gewerkschaft und kämpfe seit Jahren auf verschiedenen Ebenen für Verbesserungen im Wissenschaftsbereich. Was hier allerdings das Streiken angeht: Wissenschaftler könnten Monate streiken, niemand würde es merken. Andererseits
sind es in meinem engeren Umfeld überraschend viele, die sich in der Gewerkschaft engagieren. Wenn wir diesen Organisationsgrad überall im Hochschul- und Wissenschaftsbereich hätten, wäre mehr möglich.“
Seine eigene soziale Position schätzt Michael W. realistisch ein: „Prekär beschäftigte
Mittelschicht mit realer Abstiegsoption.“ Laufe es gut für ihn, könne er aufsteigen und
„in der Mitte der Gesellschaft“ ankommen. „Wenn nicht, dann ist das nicht so gut, für
mich oder auch für die Gesellschaft, das wird sich herausstellen. Ich hänge aber nicht an
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Ständiger Druck und
keinerlei Sicherheit
Postzusteller,
Deutsche Post ag,
Berlin
Robert F. (Name geändert) gehört zu den Menschen, die eher das Gute als das Negative
an einer Situation sehen. Und so konnte der junge Berliner seinem Job als Postzusteller eine
Menge abgewinnen. Doch allmählich vergehen ihm Freude und Engagement.
„Demnächst werde ich meinen dreißigsten befristeten Vertrag unterschreiben – und das
innerhalb von drei Jahren“, berichtet er. Zwischen einem und sechs Monaten beträgt die
Laufzeit – und da gilt es, nicht unangenehm aufzufallen. „Sonst kommt sofort die Drohung mit dem Ende der Tätigkeit.“ Robert F. wurde so „bestraft“, nachdem er den ihm
zustehenden Urlaub nehmen wollte. Er erhielt erst einen Monat später einen neuen Vertrag, wodurch ihm nicht nur die reguläre Bezahlung während des Urlaubs, sondern auch
das tarifvertraglich gesicherte Urlaubsgeld und das 13. Monatsgehalt für dieses Jahr
entgingen.
fest oder befristet eingestellt – eine Prämie von etwa 400 Euro erhalten, weil der Gewinn so gut ausgefallen war.“ Kurz danach verkündete das Unternehmen einen Einstellungsstopp.
Robert F. hat inzwischen genug von unberechenbaren Vorgesetzten, ständigem Druck
und fehlender Zukunftsperspektive. „Ich arbeite nach wie vor gerne in der Zustellung, schlechtes Wetter macht mir nichts aus, aber ohne Wertschätzung und ein gewisses Maß
an Sicherheit geht es nicht.“ Deshalb hat sich der Berliner inzwischen entschlossen, demnächst seine Sachen zu packen und ins Ausland zu gehen.
„Es wird enorm viel Druck auf die befristet Eingestellten ausgeübt“, berichtet der 28-Jährige. Bei Bedarf sollen sie auf freie Tage verzichten, Mehrarbeit in nicht besetzten Zustellbezirken mit erledigen und gegebenenfalls den Urlaub abbrechen. Dass viele der befristeten Beschäftigten sich Hoffnung auf Übernahme in den Postdienst machen, wissen die
Vorgesetzten zu nutzen. Tatsächlich gibt es jedoch so gut wie keine Festeinstellungen
in diesem Bereich.
„Planen ist unmöglich, wir sollen jederzeit abrufbar sein“
Selbstverständlich verdient Robert F. deutlich weniger als altgediente Postler. „Das geht
auch in Ordnung. Nur dass ich nach dem nicht gegebenen Urlaub im neuen Vertrag auch
gleich auf das niedrigste Gehalt zurückgestuft wurde, regt mich dann doch auf.“ Ebenso
unbefriedigend ist für ihn, praktisch nie zu wissen, welcher Zustellbezirk ihm zugeteilt wird
und wie in der Folgewoche die Einsatzzeiten sind. „Planen ist fast unmöglich, weil wir
praktisch jederzeit abrufbereit sein sollen. Wer sich dem widersetzt, bekommt verstärkt
Druck zu spüren und die Drohung, dass der laufende Vertrag der letzte sein könnte.“
Interessant ist auch der Trick, mit dessen Hilfe die Post befristete Verträge fortlaufend
verlängert: Da das Teilzeit- und Befristungsgesetz diese Möglichkeit nur vorsieht, wenn ein
„Sachgrund“ vorliegt, werden solche Gründe konstruiert. „In jedem Vertrag steht der
Name eines Beschäftigten, den ich angeblich vertreten muss“, erzählt Robert F. Ob diese
Beschäftigten tatsächlich existieren, weiß keiner der Betroffenen. Stutzig wurde eine
befristet Eingestellte, als sie einen Vertrag unterschrieb, in dem ihr eigener Name als zu
vertretende Stammkraft eingesetzt war.
Jeden Tag bleibe Post liegen, weil die Zusteller nicht noch mehr Briefe ausliefern könnten. „Es ist offensichtlich, dass es an Personal fehlt und längst Neueinstellungen fällig
wären.“ Doch das schenkt sich das ehemals bundeseigene Unternehmen, hält die Personalkosten dank der schlechter bezahlten befristeten Kräfte niedrig und fährt im Gegenzug gute Gewinne ein. „Immerhin hat Anfang des Jahres jeder Beschäftigte – egal ob
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20 Befristungen in
27 Jahren
Gymnasiallehrerin,
latein und französisch,
Oberpfalz
Es klingt rekordverdächtig, doch auch wenn Sabine W. (Name geändert) tatsächlich
einen „Spitzenplatz“ bei der Zahl ihrer befristeten Verträge einnehmen sollte, könnte sie
auf einen solchen Rekord gut verzichten. Zwischen 1985 und 2009 arbeitete die Gymnasiallehrerin für Latein und Französisch an verschiedenen Schulen in der nördlichen Oberpfalz – mit nicht weniger als 20 Verträgen!
„Darunter waren Jahresverträge, aber auch auf drei oder sechs Monate befristete Beschäftigungsverhältnisse, manche mit, die meisten ohne Sachgrund“, berichtet die 56 -Jährige,
die inzwischen – unfreiwillig – aus dem Schuldienst ausgeschieden ist und stattdessen
seit zwei Jahren in einer Nachmittagsbetreuung für Kinder arbeitet.
ihr ganz offen gesagt, sie werde in der Region keine Lehrerstelle mehr bekommen. Der
Schulleiter des Gymnasiums, an dem sie zuletzt unterrichtet hatte, habe sich dafür stark
gemacht.
„Lange Zeit habe ich unter starkem psychischen Druck gestanden. Erst die Befristungen,
die Ungewissheit, ob es nach dem Ende eines Vertrages weitergeht. Und später die unerfreuliche Situation mit dem Schulleiter bis hin zu dem verkappten Berufsverbot.“ Inzwischen hat Sabine W. sich stabilisiert. Sie würde immer noch gerne als Lehrerin arbeiten,
doch den dafür erforderlichen Umzug in eine andere Region oder am besten in ein anderes Bundesland erwägt sie mit Rücksicht auf ihre Familie nicht.
1985 begann Sabine W. ihre Lehrerinnenlaufbahn mit einem ersten befristeten Vertrag.
Den zweiten Vertrag dieser Art brach sie nach ein paar Monaten ab, weil sie eine ABM-Stel-
le an einer Fachhochschule bekam. In den folgenden Jahren ging es dann weiter mit
der befristeten Arbeit an verschiedenen Gymnasien in ihrer Heimatstadt. Dabei wurde ihr
Vertrag in einem Fall nach der vierten Verlängerung beendet, da sie nach damals geltendem Recht sonst Anspruch auf eine Dauerbeschäftigung gehabt hätte.
Nach einer Phase der Arbeitslosigkeit ging es weiter mit den Verträgen auf Zeit.
Gemobbt auf grund einer Klage
Und obwohl an bayerischen Schulen seit langem Mangel an Lateinlehrer/innen besteht,
waren ihre Chancen auf eine Festanstellung gleichbleibend schlecht. Der Grund? „Ich habe
in Tübingen studiert und dort meinen Abschluss gemacht, so dass ich in Bayern quasi
als ‚Ausländerin’ gelte, die sich immer wieder neu bewerben muss. Und in den Auswahlverfahren wird Absolventen bayerischer Universitäten durchgehend der Vorzug gegeben.“
An dem Gymnasium, das sie von 2003 bis 2009 durchgehend befristet beschäftigt, kam
es schließlich zum Eklat: Sabine W., die aktive Gewerkschafterin ist, klagte wegen der Kettenbefristungen – und wurde fortan vom Schulleiter gemobbt. „Selbstverständlich hat
er die Klage nicht erwähnt, aber der zeitliche Zusammenhang war unübersehbar.“ Und
Sabine W. verlor ihren Rechtsstreit, da ihre befristeten Verträge jeweils einen Sachgrund hatten. Das heißt, sie vertrat andere Kollegen/innen, die krank oder im Mutterschutz waren.
„Lange Zeit habe ich unter starkem psychischen Druck gestanden“
Nach der verlorenen Klage erhielt sie keinen neuen Vertrag mehr an der Schule. Und,
schlimmer noch, sie fand auch keine neue Stelle. „Ich habe mich an vielen Gymnasien
im näheren und weiteren Umkreis beworben. Doch obwohl mir einige Male Interesse
an einer Anstellung signalisiert wurde, scheiterte der Vertragsabschluss an der zuständigen Bezirksregierung.“ Als Sabine W. schließlich dort das Gespräch suchte, wurde
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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„Sachgrundlose Befristung
streichen“
Karl-Friedrich Sude,
Betriebsratsvorsitzender
bei der Deutschen Post AG,
Niederlassung Brief Kassel,
im Interview
Wer früher für die Deutsche Bundespost Briefe und Päckchen zustellte, musste zwar
früh aufstehen und bei jedem Wetter raus. Doch der Arbeitsplatz war sicher, das Entgelt
anständig, und der Feierabend begann am frühen Nachmittag. All das ist längst Geschichte. Das Privatunternehmen Deutsche Post AG knappst beim Personal und setzt verstärkt auf befristete Beschäftigungsverhältnisse, wie Karl-Friedrich Sude, Betriebsratsvorsitzender in der Kasseler Niederlassung Brief, im Interview berichtet.
Klagen gegen Kettenbefristungen ohne Sachgrund
Beschäftigter in der
Automobilindustrie,
Ruhrgebiet
Martin B. (Name geändert) und Enver C. haben lange Zeit bei einem Automobilzulieferer
im Ruhrgebiet gearbeitet – mit befristeten Arbeitsverträgen, die mehrfach verlängert wurden. „Ich hatte immer die Hoffnung, dauerhaft übernommen zu werden“, sagt Martin B.
Nachdem er bereits von 1998 bis 2004 bei der Firma gewesen war, bekam er dort im
Frühjahr 2011 wiederum einen befristeten Vertrag, der zweimal verlängert wurde. „Ende
September hieß es dann jedoch, dass nun Schluss sei. Ich denke aber, ich hätte Anspruch
auf Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.“
Wie hoch ist in Ihrem Zuständigkeitsbereich die Anzahl der befristet Beschäftigten?
Karl-Friedrich Sude: Zurzeit arbeiten in unserer Niederlassung rund 3.000 Menschen.
Davon sind ungefähr 400 befristet beschäftigt. Mehr als 15 Prozent beträgt der Anteil bei
der Postverteilung in den Verteilzentren, mehr als 10 Prozent im Bereich der Zustellung.
Inzwischen ist jede Neueinstellung befristet. Lediglich die „geeigneten“ Auszubildenden
wurden in den letzten Jahren dauerhaft übernommen.
Gibt es bei Ihnen vorwiegend Befristungen mit oder ohne Sachgrund?
Sude: Genau das hat sich geändert. In der Vergangenheit hatten wir viele Beschäftigte,
die über Jahre hinweg einen befristeten Vertrag nach dem nächsten erhielten, zwar jeweils
mit einem Sachgrund, der aber zumeist fingiert war. 2007 und 2008 haben wir als Betriebsrat verstärkt Druck gemacht, dass die Verträge dieser Kolleginnen und Kollegen entfristet werden sollten. Das verweigerte der Arbeitgeber und wollte alle Verträge auslaufen lassen. Die Betroffenen, die Mitglied der Gewerkschaft ver.di waren, haben dann den
Klageweg beschritten. Für mehr als 90 Prozent stand am Ende ein unbefristeter Vertrag.
Seitdem ist es aber gängige Praxis in unserer Niederlassung, befristete Verträge in der Regel nur noch ohne Sachgrund abzuschließen, die dann mit bis zu vier Einzelverträgen für
zwei Jahre laufen.
Ganz ähnlich geht es Enver C. Erstmals arbeitete er von 1995 bis 1997 befristet für den
Automobilzulieferer; 2011 erhielt er einen neuen Vertrag, der ebenfalls zweimal verlängert
wurde. „Da ich insgesamt mehr als 24 Monate für die Firma gearbeitet habe und für die
Befristungen kein Sachgrund vorlag, hätte man mich dauerhaft übernehmen müssen.“
Mit Unterstützung der IG Metall und vertreten durch den DGB-Rechtsschutz klagen beide Männer nun vor dem Arbeitsgericht auf Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Die Gütetermine in beiden Fällen gingen Ende November 2012 ohne Einigung aus,
der Arbeitgeber argumentierte dabei mit der schlechten Wirtschaftslage und Produktionsrückgängen, die einer Festanstellung entgegenstünden. Damit ist aber nichts über den
möglichen Rechtsanspruch der beiden Männer auf dauerhafte Übernahme gesagt. Da sie
befristete Verträge erhielten, ohne dass ein Sachgrund für die Befristung genannt wurde
und außerdem bereits vorher ein Arbeitsvertrag mit dem gleichen Arbeitgeber bestand, war
nach dem Wortlaut von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG die erneute Befristung unwirksam und es
könnte durchaus eine unbefristete Anstellung entstanden sein. Darüber wird das angerufene Arbeitsgericht nun im Lauf des Jahres 2013 zu entscheiden haben.
Wie groß sind die Chancen für die befristet Beschäftigten, nach zwei Jahren dauerhaft
übernommen zu werden?
Sude: In den letzten beiden Jahren hatten wir eine hohe Übernahmequote, für dieses
Jahr sieht es nicht gut aus. Generell zeigt sich aber, dass in unserer Niederlassung mit der
gesetzlichen Regelung zu den sachgrundlosen Befristungen keine dauerhaften Arbeitsplätze geschaffen werden. Stattdessen nutzt der Arbeitgeber die ungesicherte Situation
der befristet Beschäftigten aus, um von ihnen Mehrarbeit und Unterordnung zu erzwingen. Und wir als Betriebsrat haben auch nur eine eingeschränkte Handhabe gegen die Missstände im Zusammenhang mit den Befristungen. Deshalb setze ich mich für die ersatzlose Streichung der sachgrundlosen Befristungsmöglichkeit ein!
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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„Befristungen endlich
reduzieren“
Siemens-Betriebsrat
Olaf Bolduan im Interview
Auch dort, wo vor einigen Jahren das dauerhafte Beschäftigungsverhältnis in Vollzeit
obligatorisch war, haben sich die Bedingungen längst geändert: im produzierenden Gewerbe. Im Berliner Dynamowerk des Siemens-Konzerns arbeiten derzeit rund 800 Beschäftigte, knapp zehn Prozent von ihnen mit befristeten Verträgen.
Warum sich die Einstellungspraxis geändert hat und welche politischen Gegenstrategien nötig wären, erläutert im Interview Olaf Bolduan, Betriebsratsvorsitzender im Berliner
Siemens-Dynamowerk und GBR-Mitglied in der Siemens AG.
Was müsste aus Ihrer Sicht politisch getan werden, um der Ausweitung prekärer
Arbeitsverhältnisse gegenzusteuern?
Bolduan: Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Mindestlohn, Leiharbeit muss begrenzt werden, und die sachgrundlose Befristung sollte gesetzlich ausgeschlossen werden.
Damit wären wichtige Voraussetzungen gegeben, um endlich zu mehr unbefristeten
Einstellungen und zu einem Ende des Lohndumpings zu kommen.
Seit wann werden in Ihrem Werk verstärkt Beschäftigte mit befristeten Verträgen
eingestellt?
Olaf Bolduan: Seit der letzten Änderung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes hat diese
Praxis deutlich zugenommen. In den zurückliegenden zwei bis drei Jahren sind bei uns
praktisch nur noch befristete Anstellungsverträge zustande gekommen. Ausnahmen
werden allein bei manchen Spezialisten gemacht, die sehr dringend für den Produktionsablauf benötigt werden. Die Befristungsmöglichkeiten werden voll ausgeschöpft, wobei bei uns in der Regel Verträge über ein Jahr üblich sind. Diese Entwicklung ist an den
anderen Siemens-Standorten in Deutschland genauso abgelaufen.
Was konnte der Betriebsrat für die befristet Beschäftigten erreichen? Wie sind ihre
Arbeitsbedingungen, wie ihre Chancen auf dauerhafte Übernahme?
Bolduan: Wir haben eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Leiharbeit, wo auch geregelt
ist, dass vorrangig befristet Beschäftigte fest übernommen werden – also noch vor Leiharbeitnehmern.
Die Bezahlung für befristet Beschäftigte ist identisch mit der der Festangestellten. Doch
leben die betroffenen Kollegen in ständiger Ungewissheit, ob sie ihre Arbeit fortsetzen können, so dass wir als Betriebsrat regelmäßig kontrollieren, wer übernommen werden muss,
weil die Zahl der möglichen Verlängerungen ausgereizt ist. Als Erfolg unserer Arbeit werte
ich die geltende tarifliche Regelung, dass alle Auszubildenden mit unbefristeten Verträgen übernommen werden. Allerdings wird diese Vereinbarung gerade von den Personalverantwortlichen in Frage gestellt – so wie jede absehbare Konjunktur- oder Absatzschwäche zum Anlass genommen wird, bewährte Regelungen zur Disposition zu stellen.
Für uns bedeutet das einen ständigen Kampf um die Durchsetzung der Tarifverträge.
Auch der Einsatz für die Übernahme der befristet Beschäftigten kostet eine Menge Kraft
und bindet Ressourcen, die uns für andere Aufgaben – etwa die künftige Gestaltung
der Arbeit und Ausbildung – dann fehlen.
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Von Vertrag zu Vertrag im
Schuldienst
Gesamtschullehrer,
Mathematik und Gesellschaftslehre, Essen
In Deutschland herrscht Lehrermangel. Viele Pädagoginnen und Pädagogen stehen unmittelbar vor dem Ruhestand; der Krankenstand in den oft überalterten Kollegien ist notorisch hoch. Da sich junge Lehrer/innen nicht einfach „herbeizaubern“ lassen, werden
zunehmend Akademiker/innen ohne pädagogische Ausbildung ermuntert, in den Schuldienst zu wechseln. Doch wenn sie das dann tun, ergeht es ihnen möglicherweise wie
André H. (Name geändert).
Der studierte Betriebswirt entschied sich vor drei Jahren, als Lehrer zu arbeiten. Er fand
auch eine Stelle an einer Essener Gesamtschule, in der er im Hauptfach Mathematik und
außerdem Gesellschaftslehre unterrichtet. Die Arbeit mit den Schülern macht ihm große
Freude, aber mit seinem Status kann er sich nicht anfreunden. Denn André H. erhält nur
jeweils auf ein halbes Jahr befristete Anstellungsverträge. Jedes nahende Vertragsende
verunsichert ihn.
„Die Schulleitung würde mich gerne dauerhaft übernehmen. Doch die für Einstellungen
zuständige Bezirksregierung verwehrt eine Entfristung“, sagt der 31-Jährige. Formale Gründe werden geltend gemacht, die einer Festanstellung André H.‘s entgegenstünden. Ihm
fehle die pädagogische Qualifikation, außerdem habe er seinen Abschluss als Betriebswirt
an einer Fachhochschule erworben. „Aber ich vertrete ja mit jedem neuen Vertrag festangestellte Lehrer und Lehrerinnen, die eine Planstelle haben und fülle ihre Stelle vollwertig
aus“, erklärt der Quereinsteiger. Zudem würde er gerne eine einjährige Zusatzausbildung
in Didaktik absolvieren. „Der Zugang zu dieser Bildungsmaßnahme wird mir aber regelmäßig verwehrt.“
„Befristungen sind die Regel“
Iris Santoro,
Betriebsratsvorsitzende
beim Gebäudereinigungsunternehmen Piepenbrock in
Nürnberg
„In unserer Niederlassung arbeiten rund 560 Beschäftigte; 60 Prozent von ihnen mit befristeten Verträgen. In den zurückliegenden fünf Jahren ist der Anteil der befristet Beschäftigten extrem gestiegen. Und unter der Hand heißt es, dass keiner länger als zwei Jahre
hier arbeiten soll. Für uns als Betriebsräte wird die Lage immer komplizierter, denn das Unternehmen schert sich herzlich wenig um Mitbestimmungsrechte. Seit zwei Jahren kämpfen wir darum, unsere Rechte bei Neueinstellungen wahrnehmen zu können. Da der Arbeitgeber vor dem Arbeitsgericht jedoch jeweils geltend macht, dass der – befristet – neu
Eingestellte freiwillig den Vertrag unterzeichnet habe, hat auch das Gericht keine Handhabe, auf diesem Weg unser Mitbestimmungsrecht zu stärken. Faktisch wird so aber
das Betriebsverfassungsgesetz ausgehebelt.
Geht die Entwicklung so weiter wie bisher, dann haben wir bald keine unbefristet Angestellten mehr. Und die Jüngeren kennen inzwischen nur noch befristete Anstellungen. Die
kommen nicht so schnell auf die Idee, sich gegen diese und andere Formen prekärer Beschäftigungsverhältnisse zu wehren. Deshalb sollte aus meiner Sicht im Teilzeit- und Befristungsgesetz festgelegt werden, dass maximal ein Viertel einer Belegschaft befristet
beschäftigt sein darf.“
„Ich möchte endlich Sicherheit in der Berufsplanung“
Die Kurzzeitverträge bedeuten für André H. Stress pur. So musste er sich in einem Jahr
nach den Sommerferien fünf Tage arbeitslos melden, weil zwar sein nächster befristeter
Vertrag beschlossene Sache war, aber wegen der Krankheit einer Sachbearbeiterin nicht
rechtzeitig zur Unterschrift vorlag. „Ich habe mehrfach die absurde Situation erlebt, dass
ich zum Ende des Halbjahrs offiziell vom Kollegium verabschiedet wurde – mit Blumenstrauß und besten Wünschen, um dann nach den Ferien bei der Lehrerkonferenz als neuer
Kollege vorgestellt zu werden.“ Dabei kennt André H. die anderen Lehrer und Lehrerinnen an der Schule ebenso gut wie sie ihn.
Einen kleinen Erfolg hat er allerdings errungen. Da sein erster befristeter Vertrag pünktlich zu den Sommerferien enden und der nächste erst wieder mit Beginn des neuen Schuljahres starten sollte – in den meisten Ländern gängige Praxis – klagte André H. erfolgreich auf Anstellung und Bezahlung auch während der unterrichtsfreien Zeit. Zumindest
diese die Ferien umfassende Vertragslaufzeit wurde ihm seitdem stets gewährt. Als
Dauerzustand kann und mag er die befristete Anstellung im Schuldienst allerdings nicht
betrachten. „Ich möchte endlich Sicherheit in meiner Berufsplanung haben, zumal
meine Frau und ich gerne Kinder hätten.“ Auf der Basis von Halbjahresverträgen lasse
sich weder eine Familie gründen, noch überhaupt eine Zukunft planen.
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Die halbe Zeit für dieselben
Aufgaben
Reinigungskraft,
Krankenhauseigene ReinigungsFirma, Berlin
Krankenzimmer gründlich wischen, Toiletten reinigen, Abfallbehälter entleeren –
Ayse B. (Name geändert) hatte nie ein Problem mit ihrer Arbeit als Reinigungskraft in
einem Berliner Krankenhaus.
„Das Verhältnis zu Ärzten und Schwestern war gut, ebenso die Arbeitsbedingungen“,
erzählt die Mittvierzigerin. Doch seit einigen Jahren haben sich die Konditionen radikal
geändert.
Alles fing mit der Gründung einer krankenhauseigenen Reinigungsfirma an. „Das Arbeitspensum wurde drastisch heraufgesetzt. Hatte jede von uns vorher sechs Stunden täglich
für das Putzen, sind es heute noch etwa dreieinhalb.“ In dieser Zeit sind dann beispielsweise 16 Patientenzimmer, Flure und die Sanitärräume zu schaffen. Machbar sei das nur,
sagt Ayse B., wenn sich jede der Reinigungskräfte auf das Nötigste konzentriert. Zwar
sei es möglich, bezahlte Mehrarbeit zu leisten, doch müssten das jeweils die Vorarbeiterinnen genehmigen. „Und da gibt es dann Streit und Diskussionen um praktisch jede
Minute, die zusätzlich erforderlich ist.“
„Wir stehen unter ständigem Druck“
Die Berlinerin hat 1996 mit der Arbeit als Reinigungskraft begonnen, damals über eine
externe Firma und als zunächst befristet Beschäftigte, doch Bezahlung und Arbeitszeiten
waren für sie völlig akzeptabel. „Inzwischen ist meine Stelle zwar nicht mehr befristet,
doch die Sorge um den Arbeitsplatz ist eher größer geworden.“ Einer Kollegin sei gekündigt worden, als sie gerade im Urlaub war – und nur dank eines glücklichen Zufalls habe sie rechtzeitig davon erfahren, so dass sie fristgerecht Kündigungsschutzklage einreichen konnte.
„Wir stehen unter ständigem Druck. Entdeckt die Hygienefachkraft Mängel bei der Reinigung werden wir dafür verantwortlich gemacht. Dass die angesetzte Zeit für die Säuberung der Zimmer, in denen Patienten mit hochinfektiösen Krankheiten gelegen haben,
viel zu gering bemessen ist, interessiert sie nicht.“ Jüngere Kolleginnen erhalten befristete Verträge. „Um fest übernommen zu werden, ist vor allem ein gutes Verhältnis zur
Vorarbeiterin wichtig.“ Das Arbeitsklima leidet unter dem ständigen Druck und unsinnigen
Vorgaben, wie etwa der, während der Arbeit nicht mit anderen Kolleginnen zu sprechen.
„Und gegenseitig helfen dürfen wir uns auch nicht“.
Ayse B. hätte gerne die Verhältnisse der Vergangenheit zurück – zumal sie mit 3,5 Arbeitsstunden pro Tag auch nicht genug verdient, so dass sie ergänzende Sozialleistungen benötigt. „Ich arbeite wirklich gerne und möchte auch von meiner Arbeit leben können. Doch
mit den Vorgaben, die bei uns gelten, ist kein vernünftiges Einkommen zu erzielen. Und
es stört mich, dass ich selten das Gefühl haben kann, meine Arbeit in bester Qualität zu
leisten.“
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Hochschulabschluss schützt
nicht vor Befristung
Journalist,
Verlagsredaktion einer
Zeitschrift
Der Start ins Berufsleben verlief für Daniel P. (Name geändert) wie für viele Gleichaltrige:
Nach dem abgeschlossenen Politologiestudium fand er keine aussichtsreiche Anstellung,
sondern nur einen Praktikumsplatz in der spärlich besetzten Redaktion einer Fachzeitschrift. „Natürlich bedeutete das vom ersten Tag an ‚Learning by Doing’, erinnert sich der
heute 30-Jährige. Immerhin – nach dem zweimonatigen Praktikum wurde ihm eine halbe Redakteursstelle angeboten, aber nur befristet.
Im ersten Moment fühlte sich Daniel P. geschmeichelt, doch nach einigem Nachdenken
erkannte er, dass ihn ein kurzes Praktikum nicht gleich zur Tätigkeit eines Redakteurs befähigte.
Er begriff, dass er nach Jahren der theoretischen Wissensaufnahme an der Uni durchaus
noch praktisches Rüstzeug für seinen Berufsweg benötigen könnte. „Ich schlug vor, mich
nicht als Redakteur, sondern als Volontär einzustellen und mir eine gründliche Ausbildung zu ermöglichen.“ Als journalistischer Azubi wurde er zwar eingestellt, doch an der
umfassenden Einführung in den Beruf haperte es schnell. Eine kleine Redaktion, Arbeitsabläufe, die regelmäßig auch den vollen Einsatz von Daniel P. verlangten, kaum ein Feedback für seine Artikel oder Überschriften. „Während der 18-monatigen Ausbildung habe
ich zweimal in größeren Redaktionen hospitieren können. Da ist mir klar geworden, wie
intensiv eigentlich an Texten gearbeitet werden kann und muss. Doch in meiner Redaktion fehlt es an Zeit und wohl auch am nötigen Engagement der Vorgesetzten.“
„Vier Monate will man mich zunächst weiterbeschäftigen“
Trotz der mangelnden fundierten Ausbildung hätte er sich nun, kurz vor dem Ende des
Volontariats, über das Angebot einer Festanstellung gefreut. Tatsächlich musste er mehrfach nachhaken und den Betriebsrat einschalten, bis die Verlagsverantwortlichen ihm
überhaupt ein Angebot machten. „Vier Monate will man mich zunächst weiterbeschäftigen. Darüber hinaus gibt es keine Aussagen.“ Einige Kollegen im Verlag haben ihm
Mut gemacht. „Es werde schon weitergehen, sagen die. Andere Volontäre hätten ja auch
nach Abschluss ihrer Ausbildung mit befristeten Verträgen weiter im Verlag gearbeitet.“
Doch es gebe auch andere langjährig Beschäftigte, die ihn warnten und darauf hinwiesen,
wie ungewiss die Zukunft der Zeitschrift sei, für die er arbeitet.
Daniel P. stellt sich inzwischen noch eine ganz andere Frage: „Ich weiß heute eher weniger als vor Beginn des Volontariats, ob der Beruf eines Journalisten für mich der richtige
ist. Die Arbeitsweise, die ich in dieser sehr kleinen Redaktion kennengelernt habe, entspricht jedenfalls nicht meinen Vorstellungen von professionellem Recherchieren und Schreiben.“ Für sich sieht er inzwischen die Berufsperspektive eher im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit in einer Pressestelle. Und wenn ihm nach der befristeten Anstellung als Redakteur ein Anschlussvertrag, eventuell für ein halbes Jahr, angeboten würde? „Dann würde
ich vermutlich bleiben. Denn die aktuelle Situation für Journalisten ist insgesamt düster.“
Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Zweierlei MaSSstab
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, hat sich wiederholt öffentlich für die Schaffung von mehr unbefristeten Stellen eingesetzt. Gleichzeitig sind in der
Arbeitsagentur selbst tausende von Beschäftigten befristet eingesetzt; 2010 sollen
23.000 Mitarbeiter/innen – in erster Linie Arbeitsvermittler/innen und Sachbearbeiter/innen
– temporär in Jobcentern und anderen Bereichen der Arbeitsagentur gearbeitet haben.
Fest steht, dass die Bundesbehörde nicht aus freiem Entschluss zu diesem Mittel greift.
Durch Haushaltspläne werden ihre Mittel politisch gesteuert; insbesondere für die Arbeitsvermittlung stehen seit den so genannten Hartz-Reformen Geld und damit auch Personal
immer nur zeitlich befristet zur Verfügung. „Herr“ über den Haushalt der Arbeitsagentur
ist der Haushaltsausschuss des Bundestages. Hier wird auch über die Entfristung von
Stellen entschieden. 2010 beantragte die Arbeitsagentur 3.200 befristete Stellen in feste
Arbeitsverhältnisse umzugestalten.
„Das Gros der Betroffenen bleibt stumm“
Allerdings hat das Bundesarbeitsgericht zumindest für einen Teil der befristet Beschäftigten die vorliegenden Verträge für rechtswidrig erklärt. Dabei fehle die „nachvollzieh
bare Zwecksetzung für eine Aufgabe von vorübergehender Dauer“. Nach Angaben des
Gerichts könnten bis zu 5.000 auf drei Jahre befristete Anstellungen in diesem Sinne rechtswidrig sein. Letztlich ist es aber Sache der einzelnen Jobvermittlerin oder des einzelnen
Sachbearbeiters, sich die Rechtswidrigkeit gerichtlich attestieren zu lassen. Und angesichts
der Arbeitsmarktsituation, wo ohne dies fast jedes zweite Arbeitsverhältnis nur noch
befristet zustande kommt, bleibt das Gros der Betroffenen stumm und hofft, zu den wenigen zu gehören, deren Stelle bei der Arbeitsagentur in eine dauerhafte umgewandelt
wird.
Auch Bildungsträger, die im Auftrag der Arbeitsagentur Fortbildungen etwa für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz anbieten, erhalten nur befristete Verträge – und reichen die
Unsicherheit an ihre Beschäftigten weiter. „Die Ausschreibungsverfahren mit befristeten
Laufzeiten führen zwangsläufig zu befristeten Arbeitsverträgen“, zitierte Spiegel online
Carsten Breyde, Vorstand des Kolping-Bildungswerks Württemberg. Die Ausschreibungszeiträume seien zu kurz und die Planungssicherheit für die Bildungseinrichtungen somit
zu gering, um selbst unbefristete Stellen zu schaffen.
(Spiegel online, 17.5.2010)
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Pläne schmieden?
Fast unmöglich!
KFZ-mechatroniker,
Beschäftigter in Leiharbeit,
Volkswagen, Emden
Sven K. (Name geändert) war sehr froh, als er Ende September 2010 bei Volkswagen in
Emden seine erste Stelle antreten konnte. Hatte er doch zuvor als frisch ausgelernter KfzMechatroniker nur für ein halbes Jahr und schlecht bezahlt in seinem Lehrbetrieb weiterarbeiten können. Doch zwei Jahre nach Beginn seiner Arbeit bei VW sieht der 23-Jährige
seine berufliche Zukunft eher skeptisch.
„Eingestellt worden bin ich über die VW-eigene Leiharbeitsfirma ‚Autovision’. Der erste
Vertrag lief über drei Monate, danach habe ich 6 -Monats-Verträge erhalten. Nach vier Verlängerungen ist nun aber nur noch eine weitere möglich. Ob ich eine Chance auf Festanstellung bei VW habe, weiß ich nicht.“
„Leiharbeitskräfte machen über 50 Prozent der Beschäftigten aus“
Er kenne Kollegen, erzählt Sven K., die hätten zu Hause völlig überraschend einen Briefumschlag von VW vorgefunden, in dem die feste Übernahme zugesagt wurde. Andererseits
werde beim Autohersteller geklagt, dass die Produktion rückläufig sei; eine Aussage,
die der junge Kfz-Mechatroniker nicht nachvollziehen kann.
„Hier in Emden haben wir ordentlich zu tun. Allein in unserer Produktionslinie laufen
jeden Tag pro Schicht 323 Autos vom Band.“ Allerdings habe es in letzter Zeit keine Neueinstellungen mehr gegeben. Umso wichtiger sind für das Unternehmen die eingearbeiteten Beschäftigten der konzerneigenen Leiharbeitsfirma. „In unserer Produktionslinie machen die Leiharbeitskräfte über 50 Prozent der Beschäftigten aus. Das kann VW gar
nicht kurzfristig umstellen.“
„Ständig gibt es kleine Schikanen von der Leiharbeitsfirma“
Sven K. fühlt sich mittlerweile zermürbt durch die andauernde Ungewissheit. „Wie soll
ich denn Zukunftspläne machen? Ich würde mich gerne weiterqualifizieren, doch entsprechende Angebote erhalten nur Festangestellte. Ständig gibt es kleine Schikanen von der
Verwaltung der Leiharbeitsfirma. Stundennachweise verschwinden angeblich, viele Fragen
bleiben ungeklärt.“ Nur die Lohnzahlung funktioniere erfreulicherweise reibungslos.
Überhaupt ist auch die Bezahlung ein enorm großer Anreiz für den Norddeutschen, auf
eine Zukunft bei VW zu setzen. „Ab Januar werden die Entgelte für die Leiharbeitskräfte
angeglichen. Doch ich habe wenig davon, falls nach meiner letztmöglichen Befristung
die Arbeit bei VW endet.“ Gut bezahlte Arbeitsplätze sind im Norden Mangelware. Sven K.
wäre zu einem Wechsel an einen anderen VW-Standort in Deutschland bereit. „Hauptsache, die Ungewissheit hört auf.“ Bis dahin hofft er jeden Tag auf einen großen Briefumschlag mit dem Absender VW im Postkasten.
Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Postzustellung auf Abruf
postzustellerin,
deutsche Post Ag,
Ostfriesland
Eigentlich, findet Monika B. (Name geändert), hat sie ja noch Glück gehabt. Seit November 2010 arbeitet die 44-jährige Ostfriesin als Zustellerin bei der Deutschen Post AG.
Und anders als viele ihrer befristet eingestellten Kollegen/innen war sie seitdem durchgehend beschäftigt.
„Mit der jetzt laufenden Verlängerung meines befristeten Vertrages ist allerdings das
Ende erreicht. Im November 2012 läuft die dritte Verlängerung aus, und dann kann ich
nur noch mit Festanstellung weiter als Zustellerin arbeiten.“ Mit Unterstützung der
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di kämpft Monika B. um die Übernahme. Aber sie weiß
auch, dass die Post AG selten jemanden aus der befristeten Beschäftigung dauerhaft
einstellt.
„Vielen geht es ganz mies: Die erhalten 11-Wochen-Verträge, haben dann acht Wochen
Pause und müssen sich anschließend praktisch wieder neu einarbeiten.“ Zumal das Gros
der befristeten Zusteller/innen auf ständig wechselnden Touren eingesetzt wird. Auch
in dieser Hinsicht sieht sich Monika B. etwas besser gestellt, da sich zwar auch ihre Zustellrouten von Tag zu Tag ändern, sie aber bisher immer in einem Ort eingesetzt worden ist.
„Mein Einkommen wird dringend für die Familie benötigt“
Das Verhältnis zwischen den langjährigen Stammzusteller/innen und den befristet eingesetzten Kräften beschreibt sie als gut. Gleichwohl ist allen bewusst, wie groß die Unterschiede sind – nicht zuletzt bei der Bezahlung.
Wobei Monika B. sich als angelernte Zustellerin mit einem Stundenlohn von 11,58 Euro
brutto annehmbar bezahlt fühlt.
Und sie ist auf den Verdienst angewiesen. Anders als so oft von Arbeitgebern suggeriert
wird, gehört sie keineswegs zur Gruppe der „Zuverdienerinnen“. „Mein Mann war lange
krank, die Kinder gehen noch zur Schule – das bedeutet für uns, dass mein Einkommen
für die Familie dringend benötigt wird!“ Monika B. wird auf jeden Fall weiterarbeiten müssen und hat sich vorsichtshalber bereits arbeitssuchend gemeldet. Doch ihre größte
Hoffnung ist die feste Übernahme durch die Post. „Bei allem Stress und aller Ungewissheit macht mir diese Arbeit tatsächlich auch Spaß.“
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Schutz von Arbeitnehmer/Innen
– Die Politik in der Verantwortung
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Regelungen zu befristeten
Arbeitsverhältnissen in anderen
europäischen Ländern
Auch in anderen europäischen Ländern wurden in den letzten Jahren Befristungsregeln
eher gelockert als strenger gefasst. So wurden in Tschechien und Griechenland die Einzelbefristungen von zwei auf drei Jahre ausgeweitet mit der Möglichkeit in Tschechien, die
entsprechenden Verträge dreimal zu verlängern, so dass eine Kettenbefristung von insgesamt neun Jahren zulässig ist. In Portugal wurde die Höchstdauer für Befristungen am
Stück von sechs Monaten auf drei Jahre heraufgesetzt. Rumänien erlaubt eine Höchstdauer von 36 statt bisher 24 Monaten sowie drei aufeinander folgende befristete Verträge,
von denen der erste 36, die folgenden je 12 Monate gelten dürfen, während zuvor insgesamt drei Verträge mit einer Gesamtdauer von 24 Monaten erlaubt waren. Und in Spanien sind ebenfalls Befristungen über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren zulässig; hier
gab es zuvor keine Regelung. In den Niederlanden wiederum wurde die Zahl der erlaubten befristeten Verträge für Beschäftigte unter 27 Jahren von vier auf fünf heraufgesetzt;
erst danach wird der Arbeitnehmer in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen.
Es ist äußerst zweifelhaft, ob alle diese Regelungen einer Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof standhalten würden. Denn die europäische Befristungsrichtlinie ist
ja gerade erlassen worden, um befristete Beschäftigung einzudämmen und das unbefristete Arbeitsverhältnis zu stärken. Aber wer klagt schon, so lange er noch die Hoffnung
hat, vielleicht irgendwann doch noch unbefristet beschäftigt zu werden. Allein der Gesetzgeber könnte diesen flächendeckenden Missbrauch wirksam eindämmen. Die Einzelregelungen wie auch die andauernde Praxis machen jedoch deutlich, dass die Ausdehnung von Befristungen politisch gewollt ist.
„Befristete Jobs sind
Anti-Familien-Politik“
Interview mit
Dr. Claus Schäfer,
Leiter des Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen
Instituts (WSI)
der Hans-Böckler-Stiftung
Seit Jahren steigt die Zahl der befristeten Anstellungen. Warum?
Claus Schäfer: Dahinter steckt ein Irrtum der Arbeitgeber. Denn der Grund der steigenden
Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse hängt sehr stark mit der öffentlich verlauteten Angst
der Arbeitgeber vor dem Kündigungsschutz bei unbefristeten Stellen zusammen und
mit ihrem ebenso betonten Wunsch nach mehr Flexibilität. Doch die Angst ist völlig unbegründet, und mehr Flexibilität lässt sich mit betriebsinternen Mitteln herstellen.
Das Kündigungsschutzgesetz wird regelmäßig von Arbeitgebern und ihren Verbänden
als Hemmschuh für unbefristete Einstellungen genannt. Was ist daran falsch?
Schäfer: Repräsentative Befragungen des WSI bei den Personalverantwortlichen in Betrieben haben gezeigt, dass viele von ihnen mit den Details des Kündigungsschutzes nicht
vertraut sind. Diejenigen jedoch, die sich gut mit dem Gesetz auskennen, haben mit
überwältigender Mehrheit angegeben, dass die jeweilige wirtschaftliche Lage Hauptkriterium für Einstellungsentscheidungen bei unbefristeten Stellen ist, nicht der Kündigungsschutz. Und tatsächlich klagen lediglich rund zehn Prozent der vom Arbeitgeber gekündigten Beschäftigten. In ähnlicher Größenordnung bewegt sich der Anteil der Abfindungszahlungen. Auch das haben die Befragungen belegt. Schaut man sich allerdings die betriebliche Praxis an, gibt es bemerkenswerte Abweichungen zu den Antworten der befragten
Personalverantwortlichen, die auch als Widerspruch zwischen der intern geäußerten Einsicht und der öffentlich geäußerten Arbeitgeberpropaganda zu werten sind: Die Zahl
der befristeten Jobs steigt bereits seit 1991 kontinuierlich. Das heißt, dass die Zahl der Befristungen sogar in den Aufschwungjahren zugenommen hat, obwohl die wirtschaftliche
Situation sehr positiv war.
Angesichts sehr wechselhafter Konjunkturzyklen pochen die Arbeitgeber zunehmend
auf mehr Flexibilität beim Personaleinsatz. Wie ließe sich die aus Ihrer Sicht am besten
erreichen?
Schäfer: Sinnvoll ist die interne Flexibilität der Arbeitskraft, bei der die Arbeitszeit – je
nach Auftragslage – variiert wird. Im Aufschwung kann – in gesundheitsverträglichen und
anderen Grenzen – mehr gearbeitet und ein Zeitguthaben angelegt werden. Im Abschwung wird dieses Guthaben wiederum abgebaut. Darüber hinaus können Kurzarbeit
und andere Formen von Arbeitszeitverkürzung genutzt werden, um Nachfrage- und
Produktionsrückgänge abzupuffern. In der Wirtschaftskrise ab 2008 wurden diese Instrumente erfolgreich eingesetzt. Allerdings setzt interne Flexibilität Vertrauen und Loyalität voraus, und das ist nur mit unbefristeter Beschäftigung möglich. Schließlich verzichtet
bei dieser internen Flexibilität der Arbeitnehmer im Aufschwung auf Zeit und im Abschwung auf Einkommen. Trotzdem soll er leistungsfähig und zuverlässig sein. Nicht nur
ich habe Zweifel, dass befristet Beschäftigte diese Motivation und Loyalität aufbringen
können.
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Parteienstimmen zu Kündigungsschutz und Befristungen
Dennoch steigt die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse weiterhin. Welche Auswirkungen hat das Ihrer Meinung nach?
Schäfer: Da Befristungen junge Menschen überdurchschnittlich betreffen, wird insbesondere deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Familiengründung belastet. Befristungspolitik ist so tatsächlich Anti-Familien-Politik und verschärft letztlich das demografische
Problem. Derzeit wird rund die Hälfte der neu abgeschlossenen Arbeitsverträge befristet.
Auf diese Weise wird auch der Kündigungsschutz praktisch ausgehebelt. Deshalb sollte
die Politik unbedingt umsteuern: Die Befristungsmöglichkeiten müssen eingeschränkt werden. Eine einmalige oder in Maßen wiederholte Befristung mit angemessenem Grund
ist genug!
Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP von 2009 heißt es unter der Überschrift
„Befristete Beschäftigungsverhältnisse“: „Das generelle Vorbeschäftigungsverbot für sachgrundlos befristete Einstellungen erschwert Anschlussbeschäftigungsverhältnisse, wenn
während Schule, Ausbildung oder Studium bei einem Arbeitgeber schon einmal befristet
gearbeitet worden ist. Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sachgrundlose Befristung nach einer Wartezeit von einem
Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat. Mit dieser Neuregelung erhöhen wir Beschäftigungschancen für Arbeitnehmer, verringern den Bürokratieaufwand für Arbeitgeber und verhindern Kettenbefristungen.“
Antrag der SPD -Bundestagsfraktion vom 19. Mai 2010 „Langfristige Perspektive statt
sachgrundlose Befristung“: Die Fraktion beantragte, die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen ersatzlos aus dem Teilzeit- und Befristungsgesetz zu streichen. Damit
knüpfte die SPD an ihre Koalitionsvereinbarung mit der CDU/CSU von 2006 an, in der bereits
eine entsprechende Streichung vereinbart worden war, die anschließend jedoch nicht
umgesetzt wurde. Es habe sich, so heißt es in der Antragsbegründung, längst erwiesen,
dass befristet Beschäftigte keine größere Chance auf ein unbefristetes Arbeitsverhältnis
hätten als Arbeitslose. Für „einen nicht unerheblichen Teil der befristet Beschäftigten (besteht) ein Risiko, immer wieder bei verschiedenen Unternehmen nur befristet eingestellt
zu werden“.
Das SPD -Wahlprogramm vom 14.4.13 beinhaltet die Forderung die sachgrundlose Befristung abzuschaffen und Befristungen mit Sachgrund zu überprüfen. Das Wissenschaftzeitvertragsgesetz soll Mindeststandards für Befristungen vorsehen. Im Wahlprogramm von
Bündnis90/Die Grünen, beschlossen am 26. – 28.4.13, wird festgehalten, dass die Lücken
im bestehenden Kündigungsschutz geschlossen werden sollen, Befristungsgründe sollen
reduziert, Befristungen ohne Sachgrund abgeschafft werden. Das Programm Der Linken
vom 20.2.13 sieht die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung vor ebenso wie Abschaffung der Befristungen im Hochschulwesen. Kündigungsschutz für Eltern mit Kindern
bis sechs Jahren soll geschaffen werden. Der Entwurf des Wahlprogramms der FDP für
den Parteitag am 5./6.5.13 beinhaltet die Meinung, dass flexible Beschäftigungsformen
Einstellungsanreize beinhalten. Bezüglich sachgrundlosen Befristungen soll das Vorbeschäftigungsverbot beim selben Arbeitgeber gelockert werden. Die Altersdiskriminierung
bei den Kündigungsfristen soll aufgehoben werden. Ein Entwurf für das Wahlprogramm
der CDU war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt; im Parteitagsbeschluss der CDU
vom Dezember 2012 waren keine Forderungen zur Änderung von Kündigungsschutz
oder Befristungsregelungen enthalten.
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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„Erheblich weniger
Kündigungsschutzklagen“
Interview mit
Susanne Theobald, Teamleiterin
bei der DGB-Rechtsschutz GmbH,
Arbeitseinheit Saarbrücken
Seit dem 1. Januar 2004 gilt das Kündigungsschutzgesetz nicht mehr für Betriebe mit
weniger als zehn Beschäftigten; vorher lag die sogenannte Kleinbetriebsklausel bei fünf
Angestellten. Außerdem wurde die Sozialauswahl eingeschränkt und die Möglichkeit
einer Vereinbarung eines Interessenausgleichs mit Namensliste eingeführt. Wie haben
sich die Änderungen in der Praxis ausgewirkt?
Susanne Theobald: 2003 waren im Arbeitsrecht noch 39 Prozent aller Klagen Kündigungsschutzklagen, davon 37 Prozent nach betriebsbedingten Kündigungen. 2011 machten die
Kündigungsschutzklagen demgegenüber nur etwa 25 Prozent aller arbeitsrechtlichen
Klagen aus, wobei es jetzt in 80 Prozent der Fälle um betriebsbedingte Kündigungen geht.
Insofern ist der Rückgang der Kündigungsschutzklagen, die nicht wegen betriebsbedingter Kündigung veranlasst sind, seit der Gesetzesänderung erheblich.
„Änderungskündigungen
überprüfen lassen!“
Interview mit Karsten Jessolat,
Leiter des Gewerkschaftlichen
Centrums für Revision und
Europäisches Recht beim
DGB-Rechtsschutz in Kassel
Änderungskündigungen werden immer dann ausgesprochen, wenn der Arbeitgeber ein
Arbeitsverhältnis mit einem Beschäftigten nicht beenden, aber das Aufgabengebiet, den
Einsatzort oder die Entgelthöhe des Arbeitnehmers ändern will. Ist eine einvernehmliche
Einigung beider Seiten in diesen Fragen nicht möglich, kann der Arbeitgeber nach § 2 Kündigungsschutzgesetz eine Änderungskündigung aussprechen. Unter welchen Voraussetzungen sie zulässig ist und was sich in nächster Zeit daran ändern könnte, erläutert
Karsten Jessolat, der beim DGB-Rechtsschutz in Kassel das Gewerkschaftliche Centrum
für Revision und Europäisches Recht leitet, das für die gerichtliche Vertretung von Arbeitnehmerklagen auf der Ebene der 3. Instanz zuständig ist.
Unter welchen Voraussetzungen ist eine Änderungskündigung zulässig?
Theobald: Wer keinen Kündigungsschutz hat, wird aller Voraussicht nach von der Erhebung einer Klage absehen, denn die Erfolgsaussichten sind von vornherein gleich Null. Arbeitsrechtlich lässt sich eine solche Kündigung nur in wenigen Fällen auf ihre Rechtswirksamkeit hin überprüfen, etwa ob bei einem schwerbehinderten Beschäftigten vor der Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt worden ist oder ob einer
schwangeren Frau gekündigt wurde. Ob die Kündigung durch den Arbeitgeber sozialwidrig war, wird jedoch rechtlich nicht überprüft, wenn der Betroffene in einem Kleinbetrieb mit weniger als zehn Arbeitnehmer/innen beschäftigt war.
Karsten Jessolat: Es müssen jeweils zwingende Gründe vorliegen, die diese Form der
Kündigung rechtfertigen. Verlangt der Arbeitgeber etwa von einem Beschäftigten per Änderungskündigung einen Ortswechsel, muss er den Nachweis erbringen können, dass
der betreffende Arbeitnehmer am neuen Standort seiner Tätigkeit nachgehen kann, aber
nicht mehr am bisherigen Arbeitsplatz. Allerdings sind Änderungskündigungen, bei
denen es um eine Änderung der Arbeitsinhalte oder des Arbeitsortes geht, viel seltener
strittig als jene, bei denen es um die Senkung des Entgeltes geht. Der Arbeitgeber darf
bisher eine entsprechende Änderungskündigung nur aussprechen, wenn er akut von Insolvenz bedroht ist und eine existenzielle Notlage für den Betrieb nur durch die Entgeltsenkung abwehren kann. Es zeichnet sich derzeit jedoch ab, dass genau diese Regelung in der
Rechtsprechung aufgeweicht werden soll. Im Ergebnis würde es für Arbeitgeber dadurch
einfacher, per Änderungskündigung Löhne und Gehälter zu reduzieren.
Und wie sehen demgegenüber die Erfolgsaussichten aus, wenn für einen Betroffenen
der Kündigungsschutz gilt?
Werden denn derzeit nur dann Änderungskündigungen zur Entgeltminderung ausgesprochen, wenn Betriebe andernfalls Insolvenz anmelden müssten?
Theobald: Im Regelfall besteht eine recht große Chance, einen gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich abzuschließen. Die Vergleichsquote liegt bei uns in der Arbeitseinheit Saarbrücken der DGB-Rechtsschutz GmbH derzeit bei über 50 Prozent. Der Kündigungsschutz gibt den Betroffenen damit die Möglichkeit, mit dem Arbeitgeber noch einmal
ins Gespräch zu kommen. Auch wenn am Ende eines Kündigungsschutzprozesses nicht
immer der Erhalt des Arbeitsplatzes steht, kann über die bestehenden Vergleichsmöglichkeiten zumindest oft eine finanzielle Abfindung vereinbart werden.
Jessolat: Mit Sicherheit nicht. Gerade in kleineren und mittleren Betrieben und vor allem
überall dort, wo es keinen – funktionierenden – Betriebsrat gibt, wehren sich betroffene
Beschäftigte oft auch nicht gegen eine unberechtigte Änderungskündigung, die eine
Entgeltsenkung beinhaltet. Manchen fehlt es an der Rechtskenntnis, andere haben Angst,
ihren Arbeitsplatz zu gefährden, wenn sie sich gegen die Änderungskündigung wehren.
Und so ist es auch kaum möglich, Aussagen über die Zahl der jährlichen Änderungskündigungen zu treffen, da nur ein Teil davon durch Klagen vor den Arbeitsgerichten überhaupt bekannt wird.
Wie ist der Zusammenhang zwischen der Änderung der Kleinbetriebsklausel und dem
Rückgang der Kündigungsschutzklagen genau zu erklären?
Was sollten Arbeitnehmer/innen machen, die eine Änderungskündigung zur Entgeltminderung erhalten?
Jessolat: Jeder Beschäftigte sollte sich zunächst rechtskundigen Rat suchen und gegebenenfalls mit Hilfe der Gewerkschaft oder eines Anwalts Klage gegen die Änderungskündigung einlegen. Das muss innerhalb von drei Wochen nach Eingang der Kündigung geschehen sein. Bei Überschreitung der Frist gilt die Änderungskündigung als akzeptiert.
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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„Kündigungsschutz wurde
systematisch ausgehöhlt“
Interview mit
Manfred Frauenhoffer,
Teamleiter DGB-Rechtsschutz
GmbH, Arbeitseinheit Berlin
Mit der Novellierung des Kündigungsschutzgesetzes 2004 wurde nicht nur die Kleinbetriebsklausel von fünf auf zehn heraufgesetzt. Außerdem kann bei Betriebsänderungen
nun mit einer Namensliste zur Sozialauswahl vorab festgelegt werden, welchen Beschäftigten betriebsbedingt gekündigt wird. Welche Auswirkungen hat dieses Verfahren?
dalös, dass der Gesetzgeber sich selbst die Möglichkeit geschaffen hat, Beschäftigten
mit der Beendigung einer öffentlichen Körperschaft unter Ausschluss des Kündigungsschutzgesetzes den Arbeitsplatz zu nehmen!
Manfred Frauenhoffer: Faktisch haben von Kündigung betroffene Arbeitnehmer in diesen Fällen kaum eine Möglichkeit zur erfolgreichen Kündigungsschutzklage. Die Liste, die
Bestandteil des Interessenausgleichs ist, muss mit dem Betriebsrat verhandelt und vereinbart werden. Der Arbeitsrichter geht daher davon aus, dass die Auswahl korrekt zustande gekommen ist und soziale Auswahlgesichtspunkte ausreichend berücksichtigt wurden.
Betroffene müssen nämlich geltend machen können, dass die Sozialauswahl grob fehlerhaft war, um nach einer solchen betriebsbedingten Kündigung überhaupt Chancen bei
einer Klage zu haben. Anhaltspunkte sind aber dafür schwer zu finden. Viele Betriebsräte
versuchen, dieses Instrument abzuwehren. Druck auf die Betriebsräte kommt von den
Arbeitgebern, die mit einer Namensliste Arbeitnehmer von einer Kündigungsschutzklage
abhalten und damit auch höhere Abfindungszahlungen in einem möglichen gerichtlichen Vergleich verhindern wollen. Bei großen Betriebsumstrukturierungen ist das Verfahren inzwischen leider sehr verbreitet. Es ist ein weiteres Element zur Aushöhlung des
Kündigungsschutzgesetzes.
Für wen gilt das Gesetz überhaupt noch?
Frauenhoffer: Letztlich nur noch für eine Minderheit der Beschäftigten vor allem in mittelgroßen Betrieben. Der Kündigungsschutz wird an vielen Stellen ausgehebelt: Da die Mehrzahl der Beschäftigten in Betrieben mit weniger als zehn Arbeitnehmern angestellt ist,
wurde mit der Heraufsetzung der Kleinbetriebsklausel von fünf auf zehn für eine sehr große Gruppe der Kündigungsschutz gestrichen. Mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen oder Arbeit auf Werkvertragsbasis wird der Kündigungsschutz zunehmend umgangen.
Und bedauerlicherweise beteiligen sich auch öffentliche Körperschaften daran, den Kündigungsschutz per Gesetz zu umgehen.
Wie sieht ein solches Verfahren konkret aus?
Frauenhoffer: Vor einigen Jahren hat der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch V geregelt,
dass Arbeitsverhältnisse die von einer Betriebskrankenkasse Beschäftigten mit der Schließung der Kasse automatisch enden, ohne dass eine Kündigung erklärt werden muss.
Derzeit sind vor dem Bundesarbeitsgericht Klagen von Beschäftigten der City BKK anhängig, die auf diese Weise ihre Arbeit verlieren sollten. In den ersten beiden Instanzen
haben die Angestellten Recht bekommen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des
Kündigungsschutzgesetzes auch in ihrem Fall hätte Anwendung finden müssen, zumal
in der laufenden Abwicklungsphase der City BKK ja auch noch Arbeit für die Beschäftigten vorhanden ist. Es ist davon auszugehen, dass das Bundesarbeitsgericht die Rechtsauffassung der vorangegangenen Instanzen bestätigt. Grundsätzlich bleibt es jedoch skan-
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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Kündigungsschutz und befristung
– die Forderungen der
Gewerkschaften
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Kündigungsschutz und befristete Arbeitsverhältnisse
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ohne bestandsschutz verschlechtern sich Arbeitsbedingungen
Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern
Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass in vielen Betrieben befristete Beschäftigung nicht mehr die Ausnahme sondern die Regel geworden ist. Seit 1991, dem Beginn
der Statistik zu befristeter Beschäftigung ist der Anteil der befristet Beschäftigten von
5,9 Prozent auf etwa 9 Prozent gestiegen. Besonders für Berufsanfänger ist befristete Beschäftigung inzwischen normal: mehr als die Hälfte erhält zu Beginn der Berufstätigkeit
nur einen befristeten Vertrag.
zur befristeten Beschäftigung:
–A
bschaffung der sachgrundlosen Befristung
–N
euregelung der Sachgrundbefristungen mit dem Ziel, Missbrauch durch Kettenbefristungen, insbesondere zur Vertretung, zu unterbinden durch eine Begrenzung der Gesamtbefristungsdauer bzw. der Anzahl der Verlängerungen oder der aufeinanderfolgenden
Verträge
– Streichung des Befristungsgrundes „zur Erprobung“
– Streichung der „Haushaltsmittelbefristung“
– Verlängerung der Befristung wenn ein Sonderkündigungsschutz entstanden ist
– Stärkung der Mitbestimmung des Betriebsrates bei befristeter Einstellung
– Im Bereich der staatlichen Hochschulen (Wissenschaftszeitvertragsgesetz) insbesondere keine Befristung bei Daueraufgaben, bei Projektarbeiten Kopplung von Projektlaufzeit und Befristung sowie Streichung der Tarifsperre
Gleichzeitig ist vor fast zehn Jahren mit der Agenda 2010 der Kündigungsschutz erheblich eingeschränkt worden. Nur Beschäftigte in einem Betrieb mit mindestens zehn ArbeitnehmerInnen können sich auf das Kündigungsschutzgesetz berufen – ihre Kündigung
muss also begründet werden. Damit hat sich die Zahl der Beschäftigten ohne Kündigungsschutz von 3,6 Mio. auf knapp 8 Mio. mehr als verdoppelt. Etwa 80 Prozent der Betriebe
in Deutschland fallen seither nicht mehr unter das Kündigungsschutzgesetz. Die Sozialauswahl ist seither eingeschränkt auf die Kriterien Lebensalter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung, sogenannte Leistungsträger können ganz aus
der Sozialauswahl herausgenommen werden. Und einigen sich Arbeitgeber und Betriebsrat auf einen Interessenausgleich mit Namensliste von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die gekündigt werden, ist für diejenigen, die auf dieser Liste stehen, eine Klage
gegen die ausgesprochene Kündigung nahezu aussichtslos.
Die rechtliche Stellung von Beschäftigten ist sehr unsicher
„Hire and Fire“ ist keine Vision für die Zukunft, sondern bittere Realität für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Arbeitgeber werden zudem immer findiger, wenn es darum geht, den ohnehin nur begrenzten Bestandsschutz weiter auszuhöhlen.
Insgesamt ist festzustellen, dass die rechtliche Stellung von Beschäftigten sehr unsicher
ist. Von einem Ausgleich der strukturellen Unterlegenheit der Beschäftigten durch das Arbeitsrecht kann allenfalls begrenzt die Rede sein. Die Entwicklung von Minijobs und
Leiharbeit, die Zunahme befristeter Beschäftigung und gleichzeitig die Ausbreitung des
Niedriglohnsektors zeigen gerade, dass ohne Bestandsschutz die Arbeitsbedingungen
insgesamt verschlechtert werden.
Schlechte Arbeitsbedingungen wirken sich aber nicht nur auf die Kreativität und Produktivität negativ aus, sie hindern nicht nur stetige Weiterbildung und persönliche Entwicklung, sie haben vielmehr auch Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten und
letztlich auch auf das gesellschaftliche Miteinander. Und schließlich entgehen durch schlechte Bezahlung, die mit fehlendem Bestandsschutz in der Regel einher geht, dem Staat
und den Sozialversicherungsträgern erhebliche Einnahmen.
zum Kündigungsschutz:
– Aufhebung des Schwellenwertes für die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes
– Anspruch auf Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses
– Beseitigung der Möglichkeit, einen Interessenausgleich mit Namensliste abzuschließen
– Aufhebung der Beschränkung der Sozialauswahl auf Lebensalter, Unterhaltspflichten,
Betriebszugehörigkeit und Schwerbehinderung
– Gesetzlicher Ausschluss von Verdachtskündigungen
–G
esetzliche Regelung zur Pflicht des Arbeitgebers bei einer Kündigung wegen geringfügiger Vermögensdelikte eine Interessenabwägung durchzuführen unter Berücksichtigung
des Vermögensschadens, der Beschäftigungszeit, der Stellung des Arbeitnehmers im
Betrieb und möglicher Versetzungen
– Gesetzliche Regelung zur gerichtlichen Überprüfung der Unternehmensentscheidung
zum Abbau von Arbeitsplätzen auf wirtschaftliche Notwendigkeit
Mit diesen Regelungen würde das unbefristete Vollzeitarbeitsverhältnis mit einem wirksamen Kündigungsschutz und mit einer Bezahlung deutlich über Sozialleistungsniveau endlich wieder zum Normal- und nicht länger zum Ausnahmefall. Und davon würden nicht
nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch die Arbeitgeber und nicht zuletzt die Sozialversicherungsträger und der Staat erheblich profitieren.
Es ist deshalb an der Zeit, die Sicherheit des Arbeitsplatzes wieder in den Vordergrund
der politischen Diskussion zu stellen. Notwendig sind gesetzliche Regelungen die befristete Arbeitsverhältnisse eindämmen und den Kündigungsschutz stärken.
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Impressum
Herausgeber:
DGB Bundesvorstand
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10178 Berlin
www.dgb.de
verantwortlich:
Helga Nielebock, Martina Perreng
Gestaltung:
Kornberger und Partner Kommunikationsberatung, Berlin
Druck:
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Stand:
Mai 2013
Redaktion:
Martina Perreng
Die Interviews wurden von Gudrun Giese geführt.
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