Materialmappe zur Inszenierung FAUST – Der Tragödie erster Teil

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Materialmappe zur Inszenierung FAUST – Der Tragödie erster Teil
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Materialmappe zur Inszenierung
FAUST – Der Tragödie erster Teil
von Johann Wolfgang von Goethe
Bearbeitung: Andreas von Studnitz
Premiere: 05.07.2007, Wilhelmsburg
Wiederaufnahme: 22.09.2007, GROSSES HAUS
Regie: Andreas von Studnitz
Bühne/Kostüme: Marianne Hollenstein
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben (Faust)
Nele NeitzkeTheater UlmHerbert-von-Karajan-Platz 189073 Ulm
Tel: 0731-1614411E-Mail: [email protected]
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Inhalt
Einleitung
S. 1
Der Autor
S. 2
Äußerungen Goethes über seinen FAUST
S. 4
Entstehungsgeschichte des FAUST
S. 4
Interview mit dem Regisseur der Produktion
S. 6
Inhalt der Spielfassung des Theaters Ulm
S. 8
Theaterpädagogische Anregungen
S. 12
Anhang: Spielmaterial, Rollentexte, Rankl: Über Faust I und
Faust 2, Lesehinweise
S. 16
Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
wir glauben, dass das Erlebnis Theater erst dann richtig beginnt, wenn man
begreift. Schüler sollten auf den Theaterbesuch vorbereitet werden, damit sie
ihn genießen können. Die kleinen Materialsammlungen zu den Inszenierungen
am Theater Ulm sollen Ihnen zur Vorbereitung des Theaterbesuchs mit Ihrer
Klasse dienen.
Neben Hintergrundinformationen zu Autor und Werk enthalten sie Materialien,
die für den Zugriff des jeweiligen Regisseurs von Bedeutung sind. Außerdem
am Ende einige theaterpädagogische Anregungen, mit denen Sie bestimmte
Themenkomplexe der Inszenierung mit ihren Schülern praktisch „anSPIELEN“
können.
Sie können sich aus diesen Materialien einzelne Dinge herausgreifen, sie
abwandeln oder das gesamte Material verwenden.
Viel Freude beim Ausprobieren und dem Theaterbesuch wünscht
Ihre
Nele Neitzke
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FAUST. DER TRAGÖDIE ERSTER TEIL
FAUST I ist eine Tragödie von Johann Wolfgang von Goethe, die 1808
veröffentlicht wurde. Das Werk gilt als eines bedeutendsten und meistzitierten
der deutschen Literatur. Das Drama greift die vielfach von anderen Autoren
gestaltete Geschichte des historischen DOKTOR FAUSTUS auf und weitet sie im
FAUST II zu einer Menschheits-Parabel aus.
Der Autor
Johann
Wolfgang
von
Goethe,
ist
als
Dichter,
Theaterleiter,
Naturwissenschaftler, Kunsttheoretiker und Staatsmann der bekannteste
Vertreter der Weimarer Klassik. Sein Werk umfasst Gedichte, Dramen und
Prosa-Literatur, aber auch naturwissenschaftliche Abhandlungen. Er gilt als
bedeutendster deutscher Dichter und ist eine herausragende Persönlichkeit
der Weltliteratur.
1749 am 28. August wird Goethe in Frankfurt am Main geboren. Sein Vater
widmete sich der Zusammenstellung eines Naturalienkabinetts sowie der
Sammlung von Gemälden und brauchte neben diesen Tätigkeiten und der
Erziehung seiner Kinder keinen Beruf auszuüben, da er sich den Titel eines
Kaiserlichen Rates gekauft hatte und repräsentativen Aufgaben nachgehen
konnte. Seine Mutter stammte aus einer alteingesessenen Patrizierfamilie.
Außer einer 1750 geborenen Schwester starben alle anderen Geschwister
früh. Goethe wurde von seinem Vater und durch Privatlehrer in allen damals
üblichen Fächern und mehreren Sprachen (Lateinisch, Griechisch,
Französisch, Englisch und Hebräisch) unterrichtet. Eine wesentliche Rolle im
streng lutherischen Haushalt der Goethes spielte die religiöse Erziehung der
Kinder,
wozu
die
tägliche
Bibellektüre
und
der
sonntägliche
Gottesdienstbesuch gehörten.
1755 sorgte die Nachricht des Erdbebens von Lissabon für erste
Glaubenszweifel, wo sich Gott, indem er die Gerechten mit den Ungerechten
gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen hatte.
1765 – 1768 studierte Johann Wolfgang von Goethe das „Juristerei“ in Leipzig,
hörte jedoch nebenher mit Vorliebe Poetikvorlesungen und begann, selbst zu
Schreiben. In Leipzig besucht er die Kneipe Auerbachs Keller und hört die
Sage vom Schwarzmagier Faust. Auerbachs Keller taucht später als einziger
konkret existierender Ort in seinem Drama FAUST I auf.
1768 zwang ihn eine Krankheit zurück nach Frankfurt. Nach zweijähriger
Genesungszeit verlor der Vater die Geduld, Goethe verließ Frankfurt, um in
Straßburg sein Studium zu beenden.
1770, als Goethe 21 Jahre alt war, erschien eine erste, anonyme Sammlung
von musikalisierten Liedern. Goethe beginnt, angeregt durch einen
Kindsmörderinnen-Prozess, die Arbeit am URFAUST
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1771 war seine Ausbildung abgeschlossen; er kehrte zurück nach Frankfurt
und arbeitet einige Monate erfolglos als Jurist.
1771-1773 arbeitete Goethe am GÖTZ VON BERLICHINGEN: sein erster Erfolg,
der Goethe mit einem Schlag berühmt machte. Es folgten der Roman Die
LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS. Der GÖTZ und der WERTHER – so verschieden
sie auch sind – markierten den Beginn einer neuen deutschen Literatur. Der
ruppige Stil des Götz wurde Mode bei den Dichtern des Sturm und Drang.
Goethe aber galt von nun an als Genie, seine beiden ersten bedeutenderen
Werke hatten ihm zu Weltruhm verholfen.
1775 wurde Goethe als Berater für Regierungstätigkeit nach Weimar geladen.
1782 wurde er dort in den Adelsstand erhoben. Mit dem Umzug nach Weimar
gab er seinem Leben eine völlig neue Wendung: Nicht mehr die stürmische
sprachgewaltige Darstellung von Leidenschaften, Landschaften und
Wolkenflug, sondern das ruhige Nachdenken über große Zusammenhänge
der Schöpfung wurden bestimmend für sein Werk. Nach den Erfolgen in der
Jugend konnte Goethe nun mit seinen Werken keine Furore mehr machen. Es
gab zwar zwei unautorisierte „Gesamtausgaben“, doch ansonsten hatten ihn
Publikum und Verleger abgeschrieben.
1786 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass er von seinen
Lebensumständen enttäuscht war: er ließ sich von den aktuellen
Regierungsgeschäften beurlauben und reiste nach Italien. Nach zwei Jahren
bereitete er seine Rückkehr nach Weimar vor.
1788 Vollendung von FAUST – EIN FRAGMENT, das 1790 gedruckt wird
1789 bekam er mit Christiane Vulpius einen Sohn, August, das einzige
überlebende von fünf Kindern.
1791 übernahm er die Leitung des Hoftheaters in Weimar.
1793 bereits zog es ihn nach Jena in eine kleine Junggesellenwohnung, denn
bei der Universität sollte ein botanischer Garten eingerichtet werden, wo er
seine naturkundlichen Forschungen einbringen sollte. In Jena begegnete er
Friedrich Schiller, der ihn nachdrücklich ermunterte, wieder an dem lange
liegen gebliebenen FAUST zu arbeiten. Goethe vollendete den ersten Teil
sowie einige Abschnitte des zweiten Teils. Um die Jahrhundertwende begann
jedoch Goethes literarische Tätigkeit zu stagnieren.
ab 1806 Vorbereitung einer neuen Gesamtausgabe seiner Werke (bei Cotta
in Stuttgart) vor; hierfür schloss er auch endlich den ersten Teil des FAUST ab
(1808).
1816 starb seine Frau Christiane nach langer Krankheit.
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1817 wurde er endlich die Leitung des Hoftheaters los, die Schwiegertochter
kümmerte sich fortan um sein Wohl.
1823 hielt er (74-jährig!) um die Hand einer 19-jährigen an. Die jedoch wies ihn
ab. Er nahm die Arbeit am FAUST II wieder auf, die er 1830 beendete. FAUST II
war wieder ein Werk, an dem ihm das (jahrelange) Werden das Wichtigste
war, formal ein Bühnenstück, tatsächlich kaum auf der Bühne spielbar, eher
ein phantastischer Bilderbogen, vieldeutig wie viele seiner Dichtungen seit der
Jahrhundertwende. Er schrieb kaum mehr selbst, meist wurde diktiert.
Am 22. März 1832 starb Goethe an den Folgen einer Lungenentzündung in
seinem Sessel. Seine berühmten letzten Worte sollen gelautet haben „Mehr
Licht!“. Goethe wurde am 26. März in der Fürstengruft bestattet.
Äußerungen Goethes über seinen FAUST
Gespräch mit Eckermann am 29.01.1827:
„Aber doch ist alles (im Faust II) sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht,
jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur
so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem
Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen.“
Gespräch mit Eckermann am 6.5.1827:
„Die Deutschen sind übrigens wunderliche Leute! – Sie machen sich durch
ihre tiefen Gedanken und Ideen, die sie überall suchen und überall
hineinlegen, das Leben schwerer als billig. – Ei! so habt doch endlich einmal
die Courage, Euch den Eindrücken hinzugeben, Euch ergötzen zu lassen,
Euch rühren zu lassen, Euch erheben zu lassen, ja Euch belehren und zu etwas
Großem entflammen und ermutigen zu lassen; (...) Da kommen sie und
fragen: welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern gesucht? – Als ob ich
das selber wüßte und aussprechen könnte. […] Je inkommensurabler und für
den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.“
Entstehungsgeschichte des FAUST
Die Legenden um Leben, Charakter und Schicksal von Johann Faust waren
seit Erscheinen des Volksbuches 1587 ein bekannter und vielfach bearbeiteter
literarischer Stoff.
URFAUST Goethe begann die Arbeit an seinem Faust um 1770, angeregt von
dem Prozess gegen die Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt(deren
Hinrichtung Goethe wahrscheinlich miterlebt hat), weshalb in dieser ersten,
Urfaust genannten Fassung, die Liebestragödie um Gretchen im Vordergrund
steht. Der Urfaust beginnt mit Fausts Monolog im Studierzimmer. Mephisto tritt
auf, aber der eigentliche Teufelspakt fehlt. Nach der Szene in Auerbachs
Keller nimmt die Gretchentragödie ihren Lauf; die Hexenküche und die
Walpurgisnacht fehlen. Diese Fassung wurde erst 1887, nach Vorlage einer
Handschrift gedruckt, als man ihr die Bedeutung von Goethes Gesamtwerk
und insbesondere des Faust beilegte.
FAUST. EIN FRAGMENT. Aus dem Urfaust entwickelte Goethe die Fassung Faust,
ein Fragment, die 1788 vollendet war und 1790 gedruckt wurde. Gegenüber
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dem Urfaust ist das Faustfragment um einen Dialog mit Mephisto erweitert, in
dem der Teufelspakt jedoch noch unausgesprochen bleibt. Neu
hinzugekommen ist die Szene Hexenküche, dafür fehlt Gretchens Ende im
Kerker. Neben der Liebestragödie um Gretchen wird die Tragödie des
zweifelnden und scheiternden Wissenschaftlers sichtbar.
FAUST. EINE TRAGÖDIE. 1797 fügte Goethe dem Fragment die einleitenden
Szenen Zueignung, Vorspiel auf dem Theater und Prolog im Himmel hinzu. Die
endgültige Fassung der bereits im Urfaust und im Fragment enthaltenen
Szenen sowie die Ausführung der Walpurgisnacht erfolgten bis 1806. Das Werk
ging als Faust. Eine Tragödie. 1808 in Druck. Aus der Geschichte um ein
unglücklich gemachtes Mädchen und einen verzweifelten Wissenschaftler
war ein Menschheitsdrama zwischen Himmel und Hölle geworden.
Goethe hat von seinem 21. bis 57. Lebensjahr am ersten Teil des Faust
gearbeitet. Die drei Fassungen dokumentieren neben der inhaltlichen
Erweiterung auch eine bedeutende stilistische Entwicklung.
FAUST II. Schon während der Arbeit an Faust I hatte Goethe Entwürfe und
Szenen zum Faust II angelegt, obwohl er selbst nicht daran glaubte, dieses
Projekt verwirklichen zu können.
Uraufführungen
1820 – Uraufführung einzelner Szenen am 24. Mai
1829 – Eine textlich, inhaltlich und vom Handlungsablauf gegenüber dem als
unspielbar gehaltenen Originaltext Goethes radikal veränderte, für die Bühne
redigirte Fassung in sechs Abtheilungen von Faust I am 19. Januar 1829 in
Braunschweig
1829 – Ungekürzte Uraufführung des Originaltextes aus dem Jahr 1808, zu
Goethes achtzigstem Geburtstag am Sonnabend, den 29. August 1829: Zum
Erstenmal: Faust. Tragödie in acht Abtheilungen von Goethe in Weimar
1875/76 – Uraufführung, inklusive des posthum 1832 veröffentlichten zweiten
Teils, im Hoftheater zu Weimar
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Interview mit dem Regisseur der Produktion, aus der Südwest Presse
Intendant und Regisseur Andreas von Studnitz über den „Faust“ – Verführung
durchs Theater – Heute ist Premiere auf der Wilhelmsburg
Faust als endlos Grübelnder? Mephisto nur als das unmoralisch Böse? Das
interessiert Andreas von Studnitz wenig. Der Intendant des Theaters Ulm bringt
Goethes Drama heute Abend als flottes Spiel auf die Open-Air-Bühne der
Wilhelmsburg. Viel Theater auf dem Theater.
Ihr „Faust“ bietet Spiel im Spiel und einen musizierenden Mephisto. Wie ist das
Konzept entstanden?
ANDREAS VON STUDNITZ: Ich saß in Wiesbaden im „Urfaust“, den ein früherer
Assistent von mir inszeniert hatte, und überlegte mir, ob ich in Ulm den „Faust“
mache. Mit „Faust“ hat man ein Pfund auf der Waage, aber eben nur, wenn
man etwas damit anfangen kann. Ich suchte also einen Ansatz. Da hörte ich
Goethes Sprache, durch einen Rap-artigen Sprachrhythmus gekontert. Und
ich sah Mephistos Verführungsprinzip plötzlich vor mir als Verführung durch das
Theater.
Weshalb haben Sie Mephisto mit Christel Mayr besetzt?
STUDNITZ: Zum einen verbindet sie Schauspielerei und Musik, ich wollte ein
musikalisches Element. Musik verführt ja auch. Als ich dann über das Ensemble
nachdachte, war es sofort klar: Christel Mayr. Aber nicht nur wegen ihres
Akkordeons. Sondern auch wegen der Möglichkeit, Mephisto als
Grenzgänger zwischen den Welten Mann/Frau auf die Bühne zu stellen, weil
sie zierlich ist und einen Hauch von Androgynität rüberbringen kann.
Mit „Faust“ kann man alles zwischen Himmel und Hölle erzählen – welches
Thema reizt Sie besonders?
STUDNITZ: Die Auseinandersetzung zwischen Körper und Kopf. Der Kopf hindert
uns Menschen daran, einfach den Trieben nachzugeben. Daher gehen wir
auch mit Frustrationen komplizierter um. Damit verbindet sich die Frage nach
der Schuld, die Frage der Moral – wenn man sich nicht entsprechend der
Vernunft verhält. Mephisto steht ja nicht für eine Un-, sondern für eine Amoral,
er bewertet nicht. Ein moderner Standpunkt. Zudem interessiert mich eben die
Verführung durch das Theater. Ein Beispiel: Wenn Faust versucht, das
Gretchen zu retten, dann versucht er es, innerhalb der Geschichte, aus dem
Kerker zu holen. Innerhalb unseres Konzepts versucht er dahin zurückzugehen,
wo er hergekommen ist, in den Zuschauerraum, doch das Gretchen kann ihm
nicht folgen: Es ist keine Figur, kein Mensch. Diese Ebene bereichert das
Ganze.
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4600 Verse zählt der „Faust“, ihre Fassung 1500. Die Einführung der Titelfigur ist
enorm gerafft. Die Studierzimmerszenen haben Sie zusammengelegt, es
fehlen Erdgeist, Selbstmordversuch, Osterspaziergang...
STUDNITZ: Ja, aber thematisch wiederholt es sich ja endlos. Es ist immer wieder
die Frage, wie heilbringend Vernunft und Wissenschaft sind. Es war mir auch
wichtig, rasch zur Gretchentragödie zu kommen.
Die ist in Ihrer Fassung keine Episode, sondern zentrale Geschichte.
STUDNITZ: Weil sich daran der zentrale Konflikt Fausts spiegelt. Er sieht die Frau,
findet die gut und sagt: Die will ich haben. Durchaus ein Macho-Zugriff. Aber
wie es so ist: Wenn der Mensch es wert ist, um ihn zu kämpfen, dann ist man
ihm eben gleichzeitig ausgeliefert. Das Besondere bei Faust: Er schaut sich in
der Situation selbst zu, bei dieser geradezu pubertätshaften Unsicherheit. Er
weiß natürlich genau, was für Standpunkte er hat, fragt sich: Bin ich
bescheuert? Er versucht, sich Gretchen kleinzureden, und sagt dann: Okay,
ich will sie dennoch haben. Er hat sich das Gewissen freigeredet, alle
Widersprüche benannt, stürzt sich auf sie – und dann haut er ab.
Wie ist vor Ihrem Hauptthema „Körper und Kopf“ die Walpurgisnacht zu
sehen?
STUDNITZ: Faust begibt sich virtuell in einen Fantasy-Swingerclub, er gerät in
den Strudel. Doch direkt nach dem Höhepunkt zieht die Orgie weg, die
Hexen ziehen weg, und dann ist bei Faust sofort das Gretchen wieder im Kopf
da. Und Mephisto stöhnt: Jetzt haben wir es doch gerade geschafft, diesen
ganzen geistigen Ballast abzuwerfen, geht das schon wieder los!
Sie haben gekürzt, sprachlich modernisiert, in Auerbachs Keller wird
gekalauert... Goethes Verse sind Ihnen kein Heiligtum.
STUDNITZ: Ich sitze vor jedem Text wie ein Trüffelschwein und versuche mir
vorzustellen, wie das gesprochen wird, wo diese Sätze herkommen. Ich kann
mich dem nur schauspielerisch nähern. Natürlich frage ich mich bei jeder
Kürzung: Was geht da jetzt inhaltlich flöten? Ich versuche etwas zu eliminieren,
wenn ich das Gefühl habe, ein Text befindet sich nur in literarischer Gärung.
Also wenn es ausschließlich um Zeilenstruktur und Metrum geht. Auch bei
Goethe heißt das für mich: verknappen, raus mit Wiederholungen, mit
Wörtern, die nur drin sind, um die Zeile vollzumachen.
„Ich armer Tor“, „zwei Seelen“, „des Pudels Kern“ – Sie haben gleich etliche
der großen Zitate entfernt.
STUDNITZ: Mir ist die Geschichte wichtig.
Magdi Aboul-Kheir in: Südwest Presse, 5. Juli 2007
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Inhalt der Spielfassung des Theaters Ulm
Der Regisseur des FAUST I und FAUST II in Ulm, Andreas von Studnitz, hat den
Ursprungstext des FAUST radikal gekürzt. Um den Zugang zu erleichtern, lesen
Sie im folgenden Inhaltsangaben der Szenen, die in der Ulmer Fassung
auftauchen, unter Angabe, wo sie im Originaltext zu finden sind.
Figuren
Heinrich Faust, ein Gelehrter – Wilhelm Schlotterer
Mephisto, der Teufelsfürst – Christl Mayer
Margarete, genannt Gretchen, ein junges Mädchen, Fausts Geliebte –
Annette Fassnacht
Theaterdirektor - Raphael Westermeier
Fausts Famulus, Schüler, der bei Faust studieren will – Antonio Lallo
Hexe, in Diensten Mephistos – Sibylle Schleicher
Marthe, Gretchens Nachbarin – Ulla Willick
Valentin, Gretchens Bruder – Antonio Lallo
Studenten in Leipzig – Antonio Lallo, Raphael Westermeier, Ulla Willick
Walpurgisnachthexen: Statisterie
1. Vorspiel auf dem Theater (33-242)
Ein Theaterdirektor, ein Dichter und die Lustige Person streiten über Zweck und
Funktion des Theaters. Der Direktor vertritt eine unternehmerische, der Dichter
eine aufklärerische, die Lustige Person eine unterhaltende Absicht. Ihr
Kompromiss ist das nun folgende Universal-Stück, der Faust: „Wir breiten in
dem engen Bretterhaus/Einfach die ganze Schöpfung aus“
2. Prolog im Himmel (243–353)
Drei Engel preisen den Herrn und kündigen ihn an. Mephisto beklagt sich beim
Herrn (Gott), dass er den Menschen sich plagen lässt: „Ein wenig besser würd
er leben/Hättest du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben/Er
nennts Vernunft und brauchts allein/Nur tierischer als jedes Tier zu sein“. Die
Sprache kommt auf Faust. Mephisto wettet, er könne Faust verführen, vom
rechten Weg abzuweichen. Der Herr hält die Wette und sagt voraus, dass
Faust ihm auf die Dauer nicht folgen wird: „Ein guter Mensch in seinem
dunklen Drange/Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.“ Faust, der bislang
im Publikum saß, wird von der Welt auf dem Theater angezogen. Er erklimmt
die Bühne.
3. Faust-Mephisto-Schüler (Original: 354–2337)
Der Gelehrte Heinrich Faust zweifelt am Erkenntniswert der Wissenschaft, die
weit davon entfernt ist, zu erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Er zieht die Summe seiner langjährigen Studien: Und sehe, dass wir nichts
wissen können! Um der realwissenschaftlichen Sackgasse zu entkommen,
betreibt er Magie nach dem Vorbild des Nostradamus und beschwört den
Erdgeist.
Faust beschäftigt sich mit dem Anfang des Johannesevangeliums:
„Geschrieben steht Im Anfang war das Wort/Man kann das Wort so hoch
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unmöglich schätzen/Doch wie es anders übersetzen“. Um es besser zu
erfassen, schlägt er nacheinander die Übersetzungen Sinn, Kraft und Tat vor.
Mephisto taucht auf und stellt sich vor als: ein Teil von jener Kraft, die stets das
Böse will und stets das Gute schafft und als Geist, der stets verneint. Das
Gespräch wird unterbrochen: Den Professor spielend hält Mephisto den
Störenfried, einen potentiellen Schüler Fausts, eine Rede gegen die
Universitätsgelehrsamkeit und gegen die Engstirnigkeit der einzelnen
Fakultäten: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“.
Aus Fausts Unzufriedenheit mit seinem irdischen Leben entwickelt sich der
sogenannte Teufelspakt: Mephisto verpflichtet sich, Faust im Diesseits zu
dienen, ihm alle Wünsche zu erfüllen und tiefste Einsichten zu gewähren; dafür
verpflichtet sich Faust, Mephisto im Jenseits zu dienen, also dem Teufel seine
Seele zu überantworten, wenn Faust durch Mephistos Dienste endgültige
Ruhe und Zufriedenheit erlangt: „Kannst Du mich schmeichelnd je
belügen/Dass ich mir selbst gefallen mag/Kannst Du mich mit Genuss
betrügen/Das sei mein letzter Tag/Sollt ich zum Augenblicke sagen/Verweile
doch Du bist so schön/Dann kannst Du mich in Fesseln schlagen“
4. Auerbachs Keller (Original: 2073–2337)
Vier saufende Gestalten, grölend und singend. Mephisto führt sie Faust
zunächst als Beispiel dafür vor, wie leicht sichs leben lässt: „Du siehst
Besoffensein/Des kleinen Mannes Sonnenschein“, kann es sich dann aber
nicht verkneifen, mit seiner Zauberkunst Schabernack zu treiben. Faust und
Mephisto suchen das Weite, die drei Gestalten hinterher. Faust sieht ein
schönes junges Mädchen, Gretchen: „O Liebe leih mir Flügel/Und führe mich
in ihr Gefild“. Mephisto verspricht, Faust mit ihr zusammen zu führen.
5. Hexenküche (Original: 2338–2604)
Mephisto führt Faust in eine Hexenküche, in der ihm ein Zaubertrank
verabreicht wird, der ihn verjüngt und ihm jede Frau begehrenswert
erscheinen lässt.
6. Straße (Original: 2605–2677)
Faust trifft Gretchen auf der Strasse. Gretchen stammt aus einfachen
Verhältnissen; sie ist von Fausts Avancen überrascht und wehrt ihn ab. Faust
verlangt von Mephisto, das Mädchen zu seiner Geliebten zu machen.
Mephistos Einwand, er habe keine Gewalt über Gretchen, da sie unschuldig
sei, kontert Faust mit der Drohung, den Pakt zu brechen: „Wenn nicht dies
süße junge Blut/Heut Nacht in meinen Armen ruht/Sind wir um Mitternacht
geschieden“.
7. Zimmer (Original: 2678–2804)
Gretchen, noch in Gedanken, wer der Herr war, der sie ansprach, findet ein
Kästchen mit wertvollem Schmuck, das Mephisto in ihrem Zimmer platziert hat.
Sie legt den Schmuck an und posiert vor dem Spiegel.
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8. Strasse (Original: 2805–2864)
Mephisto berichtet, dass Gretchen den Schmuck ihrer Mutter gezeigt hat, die
den verdächtigen Schatz daraufhin ihrem Pfarrer übergab und dass Gretchen
sowohl dem Schmuck als auch dem unbekannten Schenker nachträumt.
Faust verlangt von ihm umgehend ein neues, noch wertvolleres Geschenk für
Gretchen.
9. Marthes Haus (Original: 2865–3072)
Gretchen zeigt der Nachbarin Marthe Schwerdtlein den neuen Schmuck und
diese rät ihr, ihn zu behalten.
Mephisto bringt Frau Marthe die Nachricht, ihr verschollener Mann sei
gestorben, und bietet an, mit Faust einen weiteren Zeugen für diesen
Sachverhalt zu stellen.
Faust sträubt sich zunächst, etwas zu bezeugen, wovon er nichts weiß.
Mephisto hält ihm jedoch vor, er habe als Wissenschaftler über Gott, die Welt
und den Menschen Aussagen gemacht, von deren Richtigkeit er ebenfalls
nichts Genaues gewusst habe.
10. Garten (Original: 3073–3216)
Beim Treffen in Marthes Garten hofiert Mephisto ironisch die Hausherrin und
hat alle Mühe, die unverhüllten Anträge der soeben erst verwitweten Frau
abzuweisen.
Gretchen schildert Faust ihr einfaches, aber erfülltes Alltagsleben. Sie weiß
nicht, was er an ihr findet, erwidert aber voller Naivität seine Zuneigung.
11. Strasse (Original: 3217–3373)
Faust beklagt seine eigene Schwäche, die ihn zur Begierde nach Gretchen
treibt, ohne es verhindern zu können. Er sieht Gretchens Frieden dahin und ihr
Schicksal voraus: „Wenn es geschehen soll mags gleich geschehen/Mag ihr
Geschick auf mich zusammen stürzen/Und sie mit mir zugrunde gehen“
--- Pause --12. Gretchens Stube (Original: 3374-3543)
Gretchen, als unerfahrenes, naives, verliebtes Mädchen, ist völlig aus ihrem
seelischen Gleichgewicht geraten: „Meine Ruh ist hin/Mein Herz ist schwer/
Ich finde sie nimmer/Und nimmermehr“.
Faust kommt dazu und Gretchen fragt nach seinem Verhältnis zu Religion.
Faust antwortet Gretchen, er habe die gleichen Gefühle für das Gute,
Schöne und Anständige wie sie. Diese Werte müssten aber nicht unbedingt
von der Kanzel gepredigt werden, um beherzigt zu werden: „Nenn´s Glück
Herz Liebe Gott/Ich habe dafür keinen Namen/Gefühl ist alles Name Schall
und Rauch“. Hier erwähnt Gretchen erstmals ihre starke Abneigung gegen
Fausts ständigen Begleiter Mephisto, Faust beruhigt sie.
Gretchen sagt, wenn sie allein schliefe, ließe sie Faust nachts in ihr Zimmer,
was dieser natürlich unbedingt will. Die Lösung hat er schon bereit: Er gibt
Gretchen Schlafmittel, mit dem sie ihre Mutter betäuben soll. Gretchen fragt
nach etwaigen Nebenwirkungen, aber Faust versichert ihr, das Mittel sei
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unbedenklich. Später stellt sich heraus, dass Gretchens Mutter daran
gestorben ist.
13. Strasse (Original: 3544–3586)
Beim üblichen Tratsch wird über Gretchen hergezogen, dass sie schwanger
ist. Die Damen sind schadenfroh.
14. Kirche (Original: 3586-3619)
Gretchen betet und klagt ihr Leid: „Ich wein ich wein ich weine/Das Herz
zerbricht in mir“.
15. Straße (3620–3775)
Valentin – Gretchens Bruder – stolz auf die unangreifbare Tugend seiner
Schwester, hat von ihrem Fehltritt erfahren. Er lauert Faust auf und will ihn
töten, wird jedoch von Faust mit Hilfe Mephistos getötet. Im Sterben klagt er
Gretchens Zuchtlosigkeit an und prophezeit ihr ein schreckliches Ende als
Hure.
16. Kirche (3776–3834)
Der Pfarrer predigt Gretchen ihre begangene Sünde und verstößt sie: „Ihr
Antlitz wenden ab von dir/Die Heiligen“.
17. Walpurgisnacht (Original: 3836–4398)
Mephisto führt Faust in die Walpurgisnacht, Hexen treten auf, eine Orgie
entfacht sich, der Theaterdirektor des Vorspiels auf dem Theater greift wieder
ein.
18. Kerker (Original: 4398 - 4399)
Gretchen hat in ihrer Verzweiflung das neugeborene Kind getötet, ist dafür
zum Tode verurteilt worden und erwartet ihre Hinrichtung. Faust fühlt sein
schuldhaftes Versagen und macht Mephisto Vorhaltungen, der aber weist ihn
darauf hin, dass Faust selbst Gretchen ins Verderben gestürzt habe: „Drang
ich mich dir auf, oder du dich mir?“
Faust dringt in den Kerker ein. Gretchen erkennt Faust anfangs nicht und hält
ihn sogar für ihren Henker. Faust will sie zur Flucht überreden, doch sie weigert
sich. Faust und Mephisto verlassen den Kerker. Gretchen verschwindet.
Dann spricht Faust in der Fassung des Theaters Ulm Texte aus der Zueignung
am Beginn des Stückes (Original: 1–32) und bezieht sich so wieder auf die
Ulmer Inszenierung, die mit dem Theater als anziehendem Illusionsraum spielt:
„Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“.
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Theaterpädagogische Anregungen
Gesprächsanlässe:
Was meint ihr, geht die Geschichte am Ende gut aus?
Gefällt euch dieses Ende des Stücks?
Wie hat euch das Bühnenbild gefallen?
Welche Figur hat euch am besten gefallen? Und warum?
Welche Figur hat euch nicht so gut gefallen? Und warum?
Welche Szene hat Euch am besten gefallen und warum?
Welche Szene hat euch nicht gefallen und warum?
Spielanlässe
Warm-Up
Faust sagt... ca. 5-10 Min.
Der Pakt zwischen Faust und Mephisto beinhaltet, dass Faust der „Bestimmer“
ist: Was er verlangt, muss Mephisto erfüllen, sonst bricht der Kontrakt. Damit
spielt die folgende Aufwärmübung.
Die Schüler bewegen sich im Raum und zwar nicht in klassischer Zirkus-Marnier
immer im Kreis herum, sondern Kreuz und quer. Der Spielleiter gibt
Anweisungen in die Gruppe, z.B. Hüpfen, gehen wie ein Affe usw. Die Schüler
folgen den Anweisungen aber nur, wenn der Spielleiter die Anweisung
einleitet mit: „Faust sagt...“ Hüpfen, Gehen wie ein Affe usw. Hier sollten nach
einfachen Einsteiger-Bewegungen ruhig schweißtreibende Anweisungen
gegeben werden.
Variante: Der Spielleiter übergibt das Kommando
verschiedene Schüler, die Regeln bleiben dieselben.
nacheinander
an
Statuen-Spiel mit geflügelten Worten ca. 15 Min.
Wegen seines großen Bekanntheitsgrades und der Bedeutung, die man dem
Text und seinem Autor beimisst, ist Goethes Faust die Quelle zahlreicher
geflügelter Worte, die bis heute oft zitiert werden, vielfach auch ohne, dass
dem Zitierenden ihre Herkunft bewusst ist. Einige dieser Zitate sollen in der
folgenden Übung von den Schülern illustriert werden.
Die Schüler finden sich in Kleingruppen von 3-4 Teilnehmern zusammen. Einer
ist der Baumeister, die anderen sein Rohmaterial. Der Spielleiter zieht eines der
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Zitatkärtchen (im Anhang der Materialsammlung) und jeder Baumeister baut
sein Rohmaterial zu einem Standbild, das das Zitat illustriert. Wenn alle
Standbilder gebaut sind, bleiben sie so stehen und die Baumeister wandern
durch das so entstandene Museum und schauen, was die anderen gebaut
haben. Im nächsten Durchgang wechselt der Baumeister und ein anderes
Zitat wird illustriert.
Variante: Jede Gruppe bekommt eines der Zitatkärtchen und baut ein
Standbild dazu. Wenn alle Standbilder fertig sind, löst sich jeweils eine Gruppe
für einen Rundgang aus ihrem Standbild. Die Baumeister der anderen
Gruppen stehen bei ihren Standbildern und beantworten entstehende Fragen
zu ihrem Standbild. Wenn die Gruppe ihren Rundgang beendet hat, begibt
sie sich wieder in ihr Standbild und die nächste Gruppe startet mit dem
Rundgang.
Annäherung an FAUST I – Improvisationsvorlagen
Der schöne Augenblick ca. 20-30 Min.
Der Pakt zwischen Faust und Mephisto beinhaltet, dass Mephisto Faust einen
Augenblick verschaffen muss, in dem Faust restlos glücklich ist. Dann, und nur
dann, erhält Mephisto die Seele Fausts nach dessen Ableben. In dieser
Improvisationsanregung geht es darum, dass die Schüler sich überlegen, was
für ein Augenblick das sein könnte.
Die Schüler sollen sich in Kleingruppen zusammentun und diskutieren, was für
ein Augenblick ihrer Meinung nach so schön ist, dass er ewig dauern sollte.
Wenn die Gruppe sich auf einen Augenblick geeinigt hat, sollen sie sich eine
kleine Szene ausdenken, in der ein solcher Augenblick vorkommt. Die so
entstehenden Szenen werden dann im Plenum vorgestellt und diskutiert.
Tipp: Wenn die Gruppe sich für einen Augenblick entschieden hat, sollte nicht
allzu lang über eine mögliche Szene gesprochen werden, sondern möglichst
rasch der Übergang zum spielerischen Ausprobieren erfolgen.
Anmachen – Leicht gemacht ca. 30 – 45 Min.
Ein junger Mann (der jung gewordene Faust) trifft ein unschuldiges Mädchen,
Margarethe, und entbrennt in Liebe und Leidenschaft. Diese alltägliche
Situation kennen die Schülerinnen und Schüler aus ihrem Privatleben. In dieser
Improvisationsanregung geht es darum, eine solche Szene zu
vergegenwärtigen.
Nach dem Lesen der entsprechenden Zeilen aus der Szene „Straße“ (im
Anhang der Materialsammlung) entwickeln sie moderne Varianten des
Themas "Mann trifft Frau". Die Schülerinnen und Schüler sollen in kleinen
Gruppen zu 2-3 Teilnehmern die Szene „Straße“ völlig neu entwickeln.
Schauplätze und Sprache können beliebig verändert werden, nur die
beteiligten Rollen (Gretchen und Faust, ggf. Mephisto) sind vorgeschrieben.
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Diese Szenen werden anschließend in der Klasse oder im Kurs vorgespielt. Ggf.
können Szenenfotos angefertigt werden.
Arbeit mit Rollentexten
Wer bin ich? ca. 15 Min.
Für diese Übung können die Rollentexte aus dem Anhang verwendet werden
oder die Schülern schreiben selbst Rollentexte oder -biographien.
Der Lehrer gibt jedem Schüler einen Rollentext, dabei sollte darauf geachtet
werden, dass bei der Verteilung alle Figuren gleichmäßig vergeben werden.
Bei 23 Schülern wären es z.B. 4 komplette Ensembles und die unabdingbaren
drei Figuren (Faust, Mephisto und Gretchen) als ein weiteres Ensemble.
Die Schüler bewegen sich durch den Raum und lesen die Rollentexte laut und
für sich. Auf Anweisung des Lehrers probieren die Schüler für ihre Figur
verschiedene Möglichkeiten des Sprechens, der Bewegung aus, bis sie
meinen, eine angemessene gefunden zu haben. So kann Schritt für Schritt
eine Figur entwickelt werden.
- Welche Körperhaltung hat die Figur (aufrecht, gebückt, angespannt,
entspannt...)?
- Wie würde die Figur sich hinsetzen?
- Welche Bewegungen macht die Figur?
- Hat die Figur einen Tick (z.B. immer Haare zurückstreichen, Nägel
kauen...)?
- Wie setzt die Figur ihre Füße auf?
- Wie ist der Gang der Figur?
- Welche Sprache benutzt die Figur (Akzent, Lautstärke... – Anhand eines
der Zitate unter den Rollentexten)?
Beziehungsgeflecht/Soziogramm – Was wollen denn die von mir? ca. 30 Min.
a) Wenn alle Schüler eine Figur entwickelt haben, teilen sich die Schüler in
Kleingruppen in Ensemblestärke: In jeder Gruppe sind ein Faust, ein Mephisto,
ein Gretchen, eine Marthe, ein Valentin. Wenn die Gruppe nicht durch fünf
glatt teilbar ist, kann man auch Figuren in den Ensembles weglassen. Faust,
Mephisto und Gretchen sollten jedoch in jedem Fall vorkommen. Bei 22
Schülern wären es z.B. 3 komplette Ensembles und diese drei Figuren sowie
vier Figuren als zwei weitere Ensembles.
Zuerst erzählen die Schüler sich gegenseitig, wer die jeweiligen Figuren sind
und zeigen, wie sie sich ihrer Meinung nach bewegen, wie sie gehen und
sprechen. In den Kleingruppen entsteht so ein erstes Verständnis für die
Struktur der Verhältnisse im Stück. Die reine Gesprächsphase sollte nicht lange
dauern, lieber schnell mit dem Ausprobieren anfangen.
b) Die Figuren gehen nacheinander auf eine von der Gruppe festgelegte
Bühne, und stellen sich mit der Körper-, Bewegungs- und Sprechhaltung in IchForm vor. Am Ende sprechen sie das von ihnen ausgewählte Zitat der Figur
aus dem Text. Zu dem Satz soll eine entsprechende Haltung und Position auf
der „Bühne“ gefunden werden, in der die Figuren „einfrieren“. Die erste Figur,
die die Bühne betritt, sollte in diesem Fall Faust sein. Die folgenden Figuren
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ordnen sich den schon stehenden Figuren zu. Dabei zu beachten: An wen
richtet sich das Zitat?
c) Eine Bühne und ein Zuschauerraum werden festgelegt. Eine Gruppe
beginnt damit, ihr Standbild vor der anderen Gruppe aufzubauen, wieder
werden die Haltungen eingenommen, das Zitat wird gesprochen und die
Figuren frieren zum Standbild ein. Die andere Gruppe sieht zu.
Wenn alle Figuren eines Ensembles auf der Bühne stehen, sollte Raum für
„Korrekturen“ sein: Was sehen die Zuschauer? Meinen sie, dass noch etwas
verändert werden sollte? Wenn ja: Was? Und Wie? Wie geht es den einzelnen
Figuren im Standbild? Sollte noch etwas verändert werden?
Dieses Prozedere wird mit allen Ensembles durchgespielt. Zum Ende der
Übung haben die Schüler mehrere Standbilder gebaut, in denen sowohl die
Beziehungen der Figuren untereinander deutlich wurden, als auch jede Rolle
kurz eingeführt wurde. Durch die verschiedenen Ensembles wurden im besten
Falle Charakterzüge und Beziehungen der einzelnen Figuren unterschiedlich
beleuchtet.
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Anhang
1.
Geflügelte Worte aus FAUST I
Der
Worte
sind
genug Freude muss Leid und Leid muss
gewechselt, die Leute wollen Freude haben.
Taten sehn!
Es irrt der Mensch, solang er Was man nicht weiß, das eben
strebt.
brauchte man, und was man
weiß, kann man nicht brauchen.
Mir geht die Seele auf.
Gefühl ist alles, Name ist Schall
und Rauch.
Grau ist alle Theorie.
Schönes
Fräulein
wagen
Mein
darf
ichs
Geleit
ihr
anzutragen
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2.
Straßenszene
Faust
Schönes Fräulein darf ichs wagen
Mein Geleit ihr anzutragen
Gretchen
Bin weder Fräulein Weder schön
Kann auch allein nach Hause gehen
Faust
Die musst Du mir beschaffen
Mephisto
Wen
Faust
Das Mädchen. Es ging grad vorbei.
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3.
Rollentexte
Heinrich Faust
Heinrich Faust, genannt Faust, ist Wissenschaftler auf den Gebieten
Philosophie, Jura, Medizin, Theologie. Faust ist frustriert, weil er das Gefühl hat,
nicht genug zu wissen, was wichtig ist. Als er Mephisto kennen lernt und der
ihm anbietet, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, um ihn wieder glücklich zu
machen, willigt Faust ein. Mit der Bedingung, dass er dann im Jenseits
Mephisto dienen soll, ist er einverstanden, wenn er nur einmal einen
Augenblick erleben kann, der ihn umhaut. Das Leben bringt ihm sowieso
keinen Spaß mehr. Mephisto führt Faust erst zu einer Hexe, die ihn 30 Jahre
jünger macht. Dann sieht Faust ein junges Mädchen, Gretchen. Er will, dass
Mephisto ihm Zugang zu ihr verschafft und dass sie mit ihm schläft. Mephisto
hilft Faust. Als er mit Gretchen geschlafen hat, trifft er mit Mephisto ihren
Bruder Valentin. Mephisto provoziert Valentin und bringt Faust dazu, ihn zu
töten. Dann lässt Faust sich von Mephisto zu einer Walpurgisnacht-Party der
Hexen bringen und vergisst darüber Gretchen. Als er sich wieder erinnert und
erfährt, dass sie im Kerker sitzt, will er sie retten.
Zitate:
1. „O glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums
aufzutauchen.“
2. „Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein.“
3. „Schönes Fräulein, darf ichs wagen, mein Geleit ihr anzutragen?“
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19
Mephisto
Mephisto ist ein Teil von der Kraft, die stets das Böse will und damit der
Gegenspieler des Herrn. Mephisto wettet mit dem Herrn darum, dass er Faust
auf seine Seite ziehen kann. Als Mephisto Faust trifft, verspricht er ihm, ihm
vollkommenen Genuss im Leben zu verschaffen, wenn Faust dann nach dem
Leben ihm dienen würde. Mephisto will Faust durch eine junge Frau den
Genuss verschaffen, um den sie gewettet haben. Darum bringt er ihn zu einer
Hexe, die ihn verjüngt. Als Faust sich in Gretchen verguckt, tut Mephisto alles,
um sie ihm zu beschaffen. Und es gelingt: Er flirtet mit Gretchens Nachbarin
Marthe und organisiert in deren Garten ein Treffen von Faust und Gretchen.
Als Gretchens Bruder Valentin von Gretchens Verhältnis mit Faust erfährt,
fordert er ihn und Mephisto zum Kampf. In dessen Verlauf tötet Faust Valentin
und
Mephisto
bringt
Faust,
damit
er
Gretchen
vergisst,
zur
Walpurgisnachtparty der Hexen. Er will Faust mit Hexen verkuppeln, um ihn
auf seine Seite zu ziehen. Mephisto muss jedoch erkennen, dass Faust ihm
entgleitet: Faust will Gretchen helfen, die im Kerker gefangen ist, weil sie ihr
gemeinsames Kind getötet habe.
Zitate:
1. „Ich gebe dir, was du noch nie gesehn.“
2. „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute
schafft.“
3. „Es lebe, wer sich tapfer hält“
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20
Gretchen
Margarethe ist ein junges und unschuldiges Mädchen, das von allen nur
Gretchen genannt wird. Sie ist streng erzogen worden und lebt mit ihrer
Mutter allein. Ihr Bruder Leonhard ist als Soldat nicht in der Stadt. Gretchen hilft
ihrer Mutter bei der Arbeit im Haushalt und geht häufig in die Kirche. Sie
glaubt an Gott und dass er gut zu den Gerechten ist.
Als sie eines Tages aus der Kirche kommt, spricht sie ein etwa 40-jähriger Mann
an, der sie nach Hause bringen will. Auch wenn sie sich geschmeichelt fühlt,
lehnt sie ab: es würde sich nicht schicken. Als sie am Abend heimkommt,
denkt sie trotzdem noch immer an ihn. Als sie schlafen gehen will, findet sie
ein Kästchen mit Schmuck. Wer das dort hingelegt haben kann, weiß sie
nicht. Als sie der Mutter davon berichtet, fürchtet diese das Schlimmste und
bringt das Kästchen zum Pfarrer. Als Gretchen ein neues Kästchen mit noch
schönerem Schmuck findet, sagt sie es deshalb nicht der Mutter, sondern
bringt es zur Nachbarin Marthe, die ihr rät, den Schmuck zu behalten. In
diesem Moment taucht ein Mann, Mephisto, auf, der Marthe vom Tod ihres
Mannes berichtet. Und dann erscheint der Mann, der Gretchen heimbringen
wollte: Faust. Gretchen und er unterhalten sich, sprechen von Liebe.
Faust ist Gretchen trotzdem etwas unheimlich, weil er nicht an Gott glaubt
wie sie und diesen komischen Begleiter immer dabei hat. Aber sie ist so
verliebt, dass sie darüber hinweg sieht: Gretchen lädt Faust in ihr Zimmer ein
und verabreicht ihrer Mutter dafür ein angeblich ungefährliches Schlafmittel
von Faust. Dann ist die Mutter tot, Gretchen merkt, dass sie schwanger ist und
Faust taucht nicht mehr auf. Auch ihr Bruder Leonhard steht ihr nicht bei,
sondern stirbt im Duell mit Faust und verflucht Gretchen im Sterben als Hure.
Auch das Kind stirbt und Gretchen wird zum Tode verurteilt.
Zitate:
1. „Was so ein Mann nicht alles denken kann.“
2. „Meine Ruh ist hin.“
3. „Ich darf nicht, für mich ist nichts zu hoffen.“
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Marthe Schwerdtlein
Marthe Schwerdtlein ist die Nachbarin von Gretchen und ihrer Mutter.
Gretchen tut ihr leid, weil deren Mutter sie so sehr bevormundet und ihr kaum
Freiheiten lässt. Als Gretchen einen Verehrer hat, spricht sie ihr gut zu und lässt
ein Treffen bei sich daheim zu. Während Gretchen und Faust sich näher
kommen, verbringt Marthe nur zu gern ihre Zeit mit Fausts charmantem
Begleiter Mephisto, zumal der ihr gerade die Nachricht überbracht hat, dass
ihr seit langem verschwundener Mann gestorben sei.
Zitate:
1. „Komm du nur oft zu mir herüber“
2. „Sich allein zum Grab zu schleifen, das hat noch keinem wohlgetan
3. „Er scheint ihr gewogen“
Valentin
Valentin ist Gretchens Bruder. Er ist Soldat und lebt nicht mehr im Heimatort.
Vom Leben seiner Mutter und seiner Schwester bekommt er im Moment nicht
allzu viel mit. Er weiß aber, dass alles gut läuft, weil er sich sicher ist, in
Gretchen eine brave Schwester zu haben, die der Mutter hilft, wo sie nur
kann. Außerdem weiß er, dass Gretchen, anders als die meisten jungen
Frauen, tugendhaft, fromm und lieb ist und sich niemals mit einem Mann
einlassen würde, bevor er und seine Mutter ihn für gut befinden und sie mit
ihm verheiratet ist. Das erzählt er auch immer seinen Freunden, wenn sie
wieder berichten, wie viele Frauen sie schon entjungfert haben.
Als er jedoch dieses Mal nach Hause kommt, stellt er fest, dass das Gegenteil
die momentane Situation ist: alle reden über Gretchen und zeigen mit den
Finger auf sie, weil sie mit einem Mann geschlafen hat, schwanger geworden
ist und der Mann sich verdrückt hat. Valentin ist entsetzt und komplett
enttäuscht von seiner Schwester. Er fordert Faust und Mephisto zum Kampf,
dabei stirbt er.
Zitate:
1. „Bist du´s, so pack ich dich beim Felle.“
2. „Ich sagte, dass keine meiner Schwester gleicht, dass keine Gretel das
Wasser reicht.“
3. „Und wenn dich erst ein Dutzend hat, hat dich auch bald die ganze Stadt.“
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4.
Maximilian Rankl: Über Faust I und Faust II
Als Goethe im August 1831 mit dem noch fehlenden vierten Akt den zweiten
Teil seines Faust abgeschlossen hatte, sagte er zu Eckermann: »Mein ferneres
Leben [...] kann ich nunmehr als reines Geschenk ansehen, und es ist jetzt im
Grunde ganz einerlei, ob und was ich noch etwa tue.« (Eckermann:
Gespräche mit Goethe, 6. Juni 1831). Am endgültigen Text hat er noch
buchstäblich bis zum Vorabend seines Todes gefeilt. Wenige Tage nachdem
er das Manuskript im März 1832 als definitiv vollendet zusiegelte mit dem
Hinweis, es erst nach seinem Tode zu veröffentlichen, starb Goethe. Bedenkt
man, daß erste Entwürfe zur Gelehrten- und Gretchen-Tragödie bereits ab
1772 entstanden waren, so kann man mit Fug und Recht sagen, daß die
Arbeit am Faust – natürlich oft mit jahrelangen Unterbrechungen – fast sechs
Jahrzehnte und mit Sturm und Drang, Klassik und Romantik schon rein zeitlich
drei Epochen der deutschen Literaturgeschichte umfaßt. Wenn für die Zeit
zwischen etwa 1770 und 1830 in der deutschen Geistesgeschichte die
Epochen-Bezeichnung Goethezeit gerechtfertigt ist, so vor allem durch dieses
eine epochenübergreifende Lebenswerk.
Dem Stoff vom Dr. Faustus war Goethe schon in seiner Frankfurter Kindheit in
Form des Puppenspiels begegnet. Es war eine ganz auf gruselige Geister- und
Beschwörungsszenen abhebende Bearbeitung des Volksbuchs Historia von D.
Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler aus
dem Jahr 1587 (einer reformatorischen Kampfschrift gegen Teufelsbündelei,
Magie und Aberglaube, gleichzeitig eines der ersten Bestseller seit Erfindung
des Buchdrucks). Dieses Volksbuch geht seinerseits auf eine legendäre Figur
zurück: auf den angeblich um 1480 in Knittlingen geborenen Faust, der als
Arzt, Quacksalber und Zauberer berühmt oder berüchtigt wurde und auf
schreckliche Weise ums Leben gekommen sein soll; schon die Zeitgenossen
interpretierten seinen mysteriösen Tod auf einen Teufelsbund hin.
Der Engländer Christopher Marlowe hatte den Stoff bereits 1593 dramatisch
bearbeitet; die Aufklärung dagegen konnte mit der Faust-Gestalt wenig
anfangen: Für sie war Faust lediglich ein lächerlicher Scharlatan und
Zauberkünstler (was der historischen Warheit sicher nahekommt). Doch schon
Lessing stellt die Figur in seinem Faust-Fragment (1759) in ein positiveres Licht
und läßt sie am Schluß von Engeln erretten. Daß die Sturm-und-DrangGeneration in ihrem anti-aufklärerischen Impetus und ihrer Vorliebe für den
tragischen Ausnahme-Menschen in Faust eine Symbolgestalt für ihre eigenen
Bestrebungen nach Befreiung aus den Zwängen religiöser und
gesellschaftlicher Normen erblickte, ist kaum verwunderlich. So schrieb
Friedrich Müller (»Maler Müller«) 1778 ein unvollendetes Drama Doktor Fausts
Leben und Tod dramatisiert; und auch Friedrich Maximilian Klingers Roman
Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt aus dem Jahr 1791 wurzelt noch in der
Sturm-und-Drang-Rezeption der Faust-Figur. Goethes erste Beschäftigung mit diesem Stoff fällt also nicht zufällig in die
diese Zeit. Dokumentiert ist diese erste Phase durch den Text des sogenannten
»Urfaust«, der erst 1887 in einer Abschrift des Hoffräuleins von Göchhausen
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wiederaufgefunden wurde. Er dürfte zwischen 1772 und 1775 entstanden sein,
in einer Zeit, in der Goethe auch die Akten des Prozesses um die 1772 in
Frankfurt hingerichtete Kindsmörderin Susanne Brandt studiert hat, deren
Schicksal sicher den authentischen Hintergrund für die Gretchen-Handlung
abgab. 1790 veröffentlichte Goethe eine Bearbeitung dieses ersten Entwurfs
unter dem Titel Faust, ein Fragment. In den Jahren seiner Freundschaft mit
Schiller fügte er den »Prolog im Himmel« und die Paktszenen hinzu. Schon um
1800 waren Bruchstücke des II. Teils entstanden, die Goethe zwischen 1825
und 1831 planmäßig ausarbeitete und vollendete. 1827 veröffentlichte er in
der »Ausgabe letzter Hand« den Helena-Akt mit dem Untertitel »Klassischromantische Phantasmagorie«, 1828 die Szenen am Kaiserhof. Der endgültige
Abschluß des II. Teils erfolgte, wie gesagt, in seinen letzten beiden
Lebensjahren.
Nach der Lektüre – vor allem des zweiten Teils – befällt den Leser zunächst
einmal eine gewisse Ratlosigkeit. Er erwacht aus der Fülle der Gesichte, reibt
sich die Augen und fragt sich besorgt: Was ist nun der Sinn des Ganzen? Ist es
überhaupt 'ein Ganzes', oder haben wir es mit disparaten Einzelszenen zu tun,
die mehr oder weniger mühsam zu einer durchgehenden Handlung verknüpft
sind? Wie verhält sich der erste zum zweiten Teil? Was ist zeitabhängig, und
welche Aussagen sprechen uns auch heute noch unmittelbar an? Wieviel an
geistesgeschichtlichem Wissen bedarf es überhaupt, den Faust zu 'verstehen'?
Sicher gibt es wenige Werke der Weltliteratur, über die mehr und
Widersprüchlicheres geschrieben worden ist als über den Faust. Bis heute ist
sich die Fachwelt bis in Einzelaspekte hinein nicht einig, was nun von alledem
zu halten sei.
Und doch: Wer sich, unbeeindruckt von dem monströsen Aufwand an
Interpretationsmodellen, ganz der Lektüre überläßt, wird feststellen, daß eine
Annäherung an dieses Werk nicht unabdingbar an philologische
Spezialkenntnisse gebunden ist.
Zu allererst ist dabei mit zwei immer wieder behaupteten Vorurteilen
aufzuräumen: Erstens, die Figur des Faust verkörpere einen 'genialen'
Menschentypus; zweitens: das 'Faustische' sei eine irgendwie 'dem deutschen
Wesen' immanente Problematik. Zum Genialen nur soviel: Daß Faust allerlei zu
Ende studiert hat, bis er an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis stößt, ist
dramaturgisch notwendig. Denn einem Oberbuchhalter 'Müller zwo' würde
man seine Verzweiflung an der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht
abnehmen, nur weil sich das Weltganze nicht ohne weiteres mit den
Kategorien von Soll und Haben begreifen läßt. Es bedarf also einer Figur, die
geistig die menschlichen Möglichkeiten bereits ausgeschöpft hat. Anders
gewendet: die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis könnte nicht an
einer von vornherein durch ihre individuelle Borniertheit eingeschränkten
Gestalt demonstriert werden.
Die zweite These, Faust verkörpere das deutsche Wesen, erledigt sich von
selbst: Wenn Faust irgendwo lokalisiert werden kann, dann in der
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gesamteuropäischen Geistesgeschichte, die geprägt ist von Antike,
christlichem Mittelalter und neuzeitlicher Aufklärung. Ob Faust beispielsweise
für die Menschen anderer Kulturen eine Bedeutung hat, sei dahingestellt.
Jedenfalls ist seine Problematik – wenn nicht allgemein menschlich – so doch
allgemein abendländisch-europäisch.
Spezifisch für dieses Weltbild ist z. B. die Aufteilung der Welt in Polaritäten. Die
»zwei Seelen«, die in Fausts Brust wohnen, und worunter er (»ach«) leidet,
bezeichnen zunächst einmal nichts anderes als die in unserem Kulturkreis
angenommene Doppelnatur des Menschen als Trieb- und Geistwesen. Schon
Albrecht von Haller hatte die Menschennatur als »unselig Mittelding von
Engeln und von Vieh« (Gedanken über Vernunft, Aberglauben und
Unglauben) bezeichnet. Und wenn Mephisto bei seinem ersten Auftritt als
Hund erscheint (wenn auch verniedlicht zum putzigen Pudel), so personifiziert
sich in ihm die andere, die triebhafte Natur Fausts, die – so darf man aus dem
folgenden schließen – aufgrund seiner einseitig geistigen Tätigkeit bis ins
fortgeschrittene Alter zu kurz gekommen ist. Seit dem Auftreten Mephistos
jedenfalls fällt dieser Figur des freundlichen Teufels die Rolle des im weitesten
Sinne Triebhaften zu. Daß ohne ihn bis zum bitteren – und dann doch noch in
transzendentem Wohlgefallen sich auflösenden – Ende des zweiten Teils nichts
mehr geht, ist die, man möchte fast sagen: ironisch-moderne, Aussage des
ganzen Stücks.
Die Verjüngung Fausts jedenfalls – sei sie nun realiter erfolgt
oder der Zaubertrank nur als ein libido- und potenzsteigerndes Mittel zu
verstehen – führt zunächst dazu, daß er »Helenen in jedem Weibe« sieht.
Helena ist hier nur Metapher für den Inbegriff der erotisch reizvollen Frau; daß
Helenas »Schönheit« im Faust nie anders gesehen wird – nie und nimmer im
Kantschen Sinne des »interesselosen Wohlgefallens« –, zeigt seine durch die
Geburt Euphorions bezeugte geschlechtliche Vereinigung mit ihr im zweiten
Teil. Doch dazu später.
Die sogenannte Gretchen-Tragödie folgt daraus zwangsläufig. Faust projiziert
– wie es unromatischer und realistischer nicht geht – seine neugewonnene
Libido auf das nächstbeste Mädchen, das er auf der Straße trifft. Das
angeblich so unschuldige Kind läßt sich vom Schmuck, den Mephisto
herbeischafft, schlicht und einfach kaufen: »Nach Golde drängt, / Am Golde
hängt / Doch alles! Ach, wir Armen!«. Sie »sitzt nun unruhvoll, / Weiß weder,
was sie will noch soll, / Denkt ans Geschmeide Tag und Nacht, / Noch mehr
an den, ders ihr gebracht.«
Unschuld im sexualmoralischen Sinne hält sich nur so lange, bis sich eine
geeignete Gelegenheit findet, sie aufzugeben. Freilich nennt sie es Liebe, und
selbst Faust glaubt an sein »reines« Gefühl (»Ich bin ihr nah, und wär ich noch
so fern, / Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren«).
Daß das arme Gretchen, das sich nicht anders verhält als alle Mädchen in
ihrer Situation sich verhalten hätten, dann ihr und Fausts Kind töten muß und
dafür zur Rechenschaft gezogen wird, ist der lustfeindlichen bürgerlichchristlichen Moral zuzuschreiben, die das Triebhafte als lebensbestimmendes
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Element nicht zu akzeptieren bereit ist. So ist es nicht die individuelle Schuld
Fausts, Gretchen ins Unglück gestoßen zu haben, sondern der Fluch, der nach
christlichem Verständnis auf dem Menschengeschlecht seit dem Sündenfall
lastet. »Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum«, schreibt Mephisto ins
Stammbuch des Schülers. Die Erkenntnis des Guten und des Bösen, die mit
dem biblischen Sündenfall einhergeht, schlägt sich zu allererst in der
Sexualmoral nieder. »Und sie erkannten, daß sie nackt waren«. So hat letztlich
Mephistos »Muhme«, die Schlange, eine Polarität herbeigeführt, an der die
Menschheit ewig leiden wird: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«.
Diese schon alttestamentarisch verbürgte und das Christentum und damit die
abendländische Moral prägende 'Verteufelung' des Sexuellen ist freilich in
keiner Weise einzusehen. Als Gegenentwurf steht hier die antike Kultur, die
einen derart schuldbehafteten Eros nicht kannte. Helena im zweiten Teil des
Faust wird somit zum Gegenbild Gretchens. Sie hat schon einiges hinter sich:
»Du aber hochbegünstigt, sonder Maß und Ziel, / In Lebensreihe sahst nur
Liebesbrünstige, / Entzündet rasch zum kühnsten Wagstück jeder Art.«
Ausgerechnet Mephisto in der Verkleidung der Phorkyas wirft Helena ihre
zahlreichen Liehaber vor. Daß Mephisto in allen dem Bereich der Antike
zugeordneten Szenen wenig bis gar nichts vermag, macht deutlich, daß die
griechisch-heidnische Vorstellungswelt als integrativer Bestandteil der
Fausttragödie ein gleichberechtigtes Alternativkonzept zur christlichen Moral –
zu der eben auch der Teufel gehört – bietet.
Aus dem bisher Gesagten ergibt sich ganz von selbst: Der erste Teil des Faust
ist ohne den zweiten gar nicht denkbar. Ein großer Aufwand wäre schmählich
vertan, wenn sich Vor- und Nachteile von Fausts Teufelspakt auf die
Verführung eines jungen Mädchens und dessen unseliges Ende beschränken
würden. Das wäre ein bürgerliches Trauerspiel, nichts weiter. Daß der Faust
zum Menschheitsdrama wird, verdankt er erst dem zweiten Teil, der vor allem
in der klassischen Walpurgisnacht und der Helena-Handlung Raum und Zeit
transzendiert, aber die Ur-Polarität von Trieb und Geist eben auch um die
Polarität von nordisch-christlich und südlich-antik erweitert und differenziert,
deren Synthese in der Gestalt des hochfliegenden aber in seiner Maßlosigkeit
lebensunfähigen Euphorion letztlich scheitert. (In Euphorion hat Goethe
übrigens ein Bild des griechenlandbegeisterten romantischen Dichters Lord
Byron gegeben, der als Teilnehmer am hellenischen Freiheitskampf starb).
War der Faust des ersten Teils ursprünglich bestimmt vom Streben nach
Erkenntnis, also geistigem Durchdringen der Welt, so ist er vom Auftreten
Mephistos an bis zum Ende der Helena-Geschichte auf verschiedenen Stufen
dem Lebensgenuß ergeben: »Dem Taumel weih’ ich mich, dem
schmerzlichsten Genuß, / [...] Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, /
Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen« – dessen Eignung zu
dauerhaftem Glück er freilich von Anfang an mißtraut: »Kannst du mich mit
Genuß betrügen – / Das sei für mich der letzte Tag! /[...] Werd ich zum
Augenblicke sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Dann magst du mich
in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn.«
Genuß aber ist an
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die Sinne gebunden, damit an die Sinnlichkeit, die den Eros ebenso umfaßt
wie die Kunst. Nach der Erfahrung der im christlichen Norden
schuldbeladenen Sinnlichkeit führt der Weg Fausts in die Welt der Antike. Hier
entfaltet sich ein Kaleidoskop von Trugbildern, deren 'Realitätsgehalt' gar
nicht bestimmbar ist, eine »klassich-romantische Phantasmagorie«, wie
Goethe selbst den zweiten Akt der Helena-Handlung benennt. Es ist die Welt
der Kunst: im doppelten Sinne von künstlich und künstlerisch, damit
gleichzeitig die Welt des schönen Scheins, der Ästhetik in ihrem Verzicht auf
Erkenntnis der Wahrheit: »Am farbigen Abglanz haben wir die Welt«.
Vom geistigen Durchdringenwollen der Welt zu ihrer sinnlichen Erfahrung, von
der Metaphysik zur Ästhetik geht also zunächst Fausts Weg, auf dem er – über
die Sinne Eindrücke empfangend – notwendigerweise passiv geblieben ist. In
einem nächsten Wandlungsschritt wird Faust erstmalig aktiv: Er will die Welt
verändern. Die Tat ist es nunmehr – bereits zu Anfang des ersten Teils in seinen
Übersetzungsversuchen vorgeahnt – der er sein weiteres Leben widmen will.
Daß aus dem Himmelsstürmer und Helenabeschwörer zum Schluß ein
Deichbau-Ingenieur wird, mag auf den ersten Blick enttäuschen. Man neigt
vielleicht dazu, Goethe einen bürgerlichen Nützlichkeitsoptimismus
vorzuwerfen, oder – je nach Standpunkt – erleichtert aufzuatmen: Endlich ist
Faust vernünftig geworden.
Was man gerade bei der letzten Wandlung gerne übersieht: Die Faustische
Tätigkeit, pro forma für das Allgemeinwohl, entspringt zunächst krassem
Machtwillen (»Herrschaft gewinn ich, Eigentum! / Die Tat ist alles, nichts der
Ruhm«), wird mit unlauteren Mitteln (Unterstützung des korrupten Kaisers)
erlangt und läßt sich nur durch menschenverachtende Maßnahmen
überhaupt durchführen. Am deutlichsten kommt Fausts unmenschliche
Handlungsweise in der Philemon-und-Baucis-Geschichte zum Ausdruck.
Wenngleich er auch die teuflische Radikallösung nicht gewollt hat
(Abbrennen von Hütte und Kirche und Tod der beiden Alten), so hat er sie
doch eingeleitet. Überhaupt hat jetzt Mephisto, der in den antikischen Teilen
stark zurücktreten mußte, wieder fest das Szepter in der Hand. Es kann gar
keine Rede davon sein, daß Faust nun in irgendeiner Form etwas Positives
geleistet hat. Es ist im Grunde ein Abstieg zum übelsten Machtmenschentum;
der Faust des letzten Aktes ist einsam wie nie zuvor, und die Blendung durch
die allegorische Figur der Sorge spricht für sich: er ist in seinem Wahn wahrhaft
verblendet.
Erst wenn man sich diese Situation klarmacht, bekommt seine letztliche
Rettung »von oben« ihren Sinn: Trotz seines »strebenden Bemühns« ist der
Mensch aufgrund seiner Natur nicht fähig, sich zu erlösen. Er ist ein verfluchtes
Geschöpf, zur Tugend und Güte gar nicht wirklich fähig außer als Vorwand für
seine Gelüste, seien sie sexueller Art oder durch Machtstreben diktiert (was ja
auch irgendwie zusammenhängt). Ebenso düster erscheint die Zukunft der
Menschheit: In allen Versuchen, mittels Technik und Industrie sich die Natur
dienstbar zu machen, hat von vornherein der Teufel seine Finger im Spiel. Die
Opfer an Menschen und Menschlichkeit, die das industrielle Zeitalter fordert,
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sind im letzten Akt des Faust bereits vorausgeahnt. So ist die vielzitierte Vision
Fausts eben wiederum nur ein Trugbild: »Auf freiem Grund mit freiem Volke
stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen; / Verweile doch, du bist so schön!«
Und der Spott Mephistos ist so unberechtigt nicht: »Ihn sättigt keine Lust, ihm
gnügt kein Glück, / So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten; / Den
letzten, schlechten, leeren Augenblick, / Der arme wünscht ihn festzuhalten.«
Was im Faust zum Ausdruck kommt, ist ein pessimistisches Menschenbild,
zugleich aber ein optimistisches Weltbild. Die Aufklärung hatte seit Rousseau
gepredigt, der Mensch sei von Natur aus gut. Wenn er sich böse verhält, sind
die Umstände schuld daran. Darüber hinaus glaubte man, der Mensch
bedürfe nur der 'Aufklärung', also der Erkenntnis, dann werde er ganz
automatisch das Richtige tun: Vernünftig ist gleich gut.
Das Menschenbild Goethes, wie es uns in Faust begegnet, ist in allem das
Gegenteil. Und trotzdem gibt es eine Hoffnung: die Erlösung durch höhere
Mächte. Bei aller geradezu katholisch anmutenden Bildhaftigkeit der letzten
Szenen freilich soll man nicht vorschnell auf allzu-christliches Gedankengut
schließen. Man könnte sagen: der ganze Aufwand von Engeln bis hin zu dem
auf und abschwebenden Pater ecstaticus bietet sich als opulentes
Bildmaterial an, um dem ganzen Werk einen angemessen pomphaftopernhaften Schluß zu geben. Daß auf christlich-katholische Symbolik
zurückgegriffen wird, hat dabei trotzdem seine innere Berechtigung. Denn die
Idee eines durch sich selbst nicht zur »Erlösung« fähigen Menschen ist nun
einmal genuin dem katholischen Denken eigen. Die Affinität der Romantik,
die ja den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung ebenso wenig teilte wie
Goethe, zum Katholizismus (man denke nur an die Konversion Clemens
Brentanos und anderer) ist ein zeittypisches Phänomen.
Daß die ganze katholisierende Schlußszenerie nicht so ganz ernst gemeint sein
kann, zeigt die überraschende Wendung, die Fausts Rettung 'technisch' erst
möglich macht: Mephisto, der aufpassen soll, daß ihm Fausts Seele nicht
entwischt, wird abgelenkt von den erotisch reizvollen Engeln: »So sieh mich
doch ein wenig lüstern an! / Auch könntet ihr anständig nackter gehen / Das
lange Faltenhemd ist übersittlich – / Sie wenden sich – Von hinten anzusehen –
/ Die Racker sind doch gar zu appetitlich!« Diese Ablenkung führt dazu, daß
die Engel Fausts Seele entführen können: »Die hohe Seele, die sich mir
verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepascht. [...] / Ein großer
Aufwand, schmählich! ist vertan, / Gemein Gelüst, absurde Liebschaft
wandelt / Den ausgepichten Teufel an.« So führt das Lustprinzip – symbolisiert
in der Gestalt Mephistos – letztlich zu dem, was es ein langes Leben lang
verhindern sollte: zur Erlösung des Menschen aus seiner Zwienatur. Ein
ironischer Schluß, der die menschliche Existenz auf befreiende Weise nicht
ganz ernst nimmt.
(Maximilian Rankl: Johann Wolfgang Goethe, Faust I — Faust II: Zum Werk. In:
Bibliothek X—libris: J. W. Goethe, CD-ROM. München 1996. Seite 1 - 18)
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Lesehinweise zum FAUST I
Frei zugängliche Texte im Internet:
http://gutenberg.spiegel.de
Umfangreiche Biographie Goethes:
http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe
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