Fischer schenken Fischen alte Weihnachtsbäume

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Fischer schenken Fischen alte Weihnachtsbäume
■ BRAUCHTUM UND TRADITION ■
■ BRAUCHTUM UND TRADITION ■
Fischer schenken Fischen alte Weihnachtsbäume
Tessiner Hobbyfischer haben ihre ganz
eigene Art, ausgediente Christbäume zu
entsorgen. Statt sie der Kehrichtabfuhr
mitzugeben, versenken sie die Tännchen
seit 30 Jahren im Lago Maggiore – als
Laichhilfen für Egli.
Taucher befestigen die ausgedienten
Christbäume unter Wasser. In den
dürren Ästen hat es bereits Laich.
I
Bilder: © Stellastyles (1); Ruedi Weiss (2)
m März kommt der Frühling – und das
muss gefeiert werden. Das finden zumindest die Fischer von Muralto, einer kleinen
Nachbargemeinde Locarnos. Immer am zweiten Sonntag dieses Monats laden sie zur traditionellen «Sagra del pesce», einem grossen
Fischfest. Seit über 60 Jahren wird es von
rund 50 Hobby-Fischern der Vereinigung
Sant’Andrea organisiert.
In aller Herrgottsfrüh, um 6.30 Uhr, stechen die Fischer mit ihren Booten in den Lago
Maggiore und tragen ihre Angelwettbewerbe
für Berufs- und Hobbyfischer aus. Kurz nach
10 Uhr brutzeln dann bereits die ersten kleinen Fische zum Aperitif im heissen Öl – der
Auftakt zu einem Volksfest mit vielen lokalen
Fischspezialitäten, mit Polenta, Gorgonzola
und Tessiner Weinen. «Wir wollen mit diesem
Fest der Bevölkerung für ihre Unterstützung
zum Erhalt des Fischbestandes in unseren
Seen danken», sagt Ivan Pedrazzi, der Präsident des Vereins Sant’Andrea.
In der Tat trägt die hiesige Bevölkerung
wesentlich dazu bei, dem Fischbestand im
Lago Maggiore das Überleben zu sichern. Und
zwar mit alten Christbäumen: Andernorts
werden abgeschmückte Weihnachtsbäume
zur Entsorgung an die Strasse gestellt und
enden als Sperrgut oder Brennholz. Nicht so
in Locarno und Umgebung. Hier stellt die
Bevölkerung den Fischern ihre ausgemusterten Weihnachtsbäume zur Verfügung. Sporttaucher versenken die dürren Tannen dann
im See, wo sie den Egli hervorragende Laichplätze bieten.
Das Ledischiff fährt mit
den Bäumen zum Einsatz.
Am Fischfest in Muralto gibt
es Kabeljau aus dem Kessel.
15 Kilometer lange Laichinseln
Ende Februar war es wieder Zeit für die einmalige Baumentsorgungsaktion, denn Ende
März beginnt die Laichzeit der Egli. «Buon
Natale!» ruft ein Witzbold einer Gruppe von
Männern zu, die von einem kleinen Ledischiff
(ein Frachtschiff) in der Bucht von Locarno
Tannenbäumchen ins Wasser werfen. In aufwendiger Arbeit befestigen die Sporttaucher
des Vereins Sub Muralto die rund 1000 ausgedienten Weihnachtsbäume, die diesmal
zusammengekommen sind, an Ketten am
Seegrund.
Dabei spielen die Tiefe und der Abstand
zum Ufer eine wesentliche Rolle, denn es gilt,
dem Lebensraum und der bevorzugten Wassertiefe der Fische möglichst nahezukommen.
Die Taucher versenken die Bäume deshalb
rund 20 Meter vom Ufer entfernt in einer
Tiefe von fünf bis acht Metern, binden sie im
Abstand von einem Meter an eine 40 bis
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TIERWELT / 10, 5. MÄRZ 2015
TIERWELT / 10, 5. MÄRZ 2015
100 Meter lange Eisenkette, welche ihrerseits
mit Betonblöcken am Seegrund verankert ist.
Somit entstehen auf der 15 Kilometer langen
Strecke von Tenero bis Brissago eigentliche
Laichinseln, die nun von den Egli zum Ablaichen benutzt werden können. Die Fische
wickeln ihren Laich um die Tannli herum,
fast wie das Lametta, das Wochen zuvor noch
von seinen Ästen hing.
Die genauen Koordinaten dieser «Unterwasser-Weihnachtsbaum-Wälder» führen die
Hobbyfischer in einer Karte auf, sodass sich
die Berufsfischer beim Auswerfen ihrer Netze daran orientieren und diese Laichplätze
meiden können. Für ortsunkundige Hobbyfischer haben die von der Wasseroberfläche
kaum erkennbaren und ufernahen «stacheligen Laichhilfen» ihre Tücken, denn manch
einer verfängt sich mit seinen Angelhaken
oder Kunstködern in diesem Unterwasser-Geäst. So gesehen sind die Weihnachtsbäume
nicht nur Laichhilfen für Egli, sondern auch
Ködergräber für Hobbyfischer.
20 000 Franken teure Aktion
«Früher dienten die natürlichen Ufer mit
Schilf und anderen Wasser- und Unterwasserpflanzen den Egli als Laichgründe», sagt
der 62-jährige Hobbyfischer Pedrazzi. Und
auch Schwemmholz sei den Fischen entgegengekommen. Es saugte sich an der Oberfläche zunächst mit Wasser voll, sank dann
auf den Seegrund und konnte schluss­endlich
von den Fischen als Laichablage benützt werden. «Heute sind jedoch nur noch sehr wenige Ufergebiete am Golf von Locarno in ihrem
natürlichen Zustand, der Rest ist verbaut.»
Und Schwemmholz werde im Interesse der
Sicherheit der Schifffahrt aus dem Wasser
gezogen, lange bevor es sich vollsaugen und
auf den Grund absinken könne.
Schon seit vielen Jahren bieten die Hobbyfischer deshalb den Fischen künstliche
Laichhilfen an. Ursprünglich waren es rund
drei Meter lange Holzbündel aus Platanenästen, die sie im See versenkten. Doch die regelmässigen Entleerungen der Stauseen Luzzone im Bleniotal und Palagnedra im Centovalli spülen jeweils Unmengen von Schlick in
den See, der die um diese Holzbündel gewickelten Laichschnüre erstickt.
So suchten die Fischer nach einer Alternative und fanden sie in ausgedienten Christbäumen, die sie nun schon seit 30 Jahren
anstelle der Plantanenäste versenken. Die an
den Eisenketten befestigten Baumstämme
können dem Wellengang folgen, verschlicken
nicht mehr und der Laich überlebt. «Würden
wir diese Hilfe mit den Weihnachtsbäumen
nicht leisten, würden 90 Prozent des Laichs
in der Bucht von Locarno sterben», sagt Ivan
Pedrazzi. Die spätweihnächtliche Rettungsaktion hat aber ihren Preis: 15 000 bis
20 000 Franken kostet sie jedes Jahr, dazu
steuert der Fischerverein Sant’Andrea die
Hälfte aus dem Erlös des Fischfestes von Mu­
ralto bei, die andere Hälfte übernimmt der
Kanton.
Neben dem weitverbreiteten Egli leben im
Kanton Tessin 18 Warmwasser-Fischarten,
die nur südlich der Alpen vorkommen. Dass
die Alpen eine Barriere bilden für viele
Fischarten, ist zurückzuführen auf zyklische
Klimaänderungen in den vergangenen
2,5 Millionen Jahren, bei denen sich in den
eisfreien Regionen im Süden Restpopulationen dieser Warmwasserarten erhalten konnten.
Beispiele dafür sind die Savetta (auch Italienischer Näsling) und der Pigo (auch Frauennerfling), die laut Forschungsergebnissen
zehn Millionen Jahre alt sind. Die vom Aussterben bedrohte Savetta kommt in der
Schweiz nur noch im Luganersee, im Lago
Maggiore sowie im Fluss Ticino und dessen
Auensystem, den Bolle di Magadino, vor. Die
Alborella hingegen, ein fetthaltiger Heringfisch, ist kaum bedroht und als frittierte Leckerei fester Bestandteil aller Fischfeste im
Tessin, so auch an jenem in Muralto.
Ruedi Weiss
Sagra del pesce, Piazzale Burbaglio, Muralto TI.
Sonntag, 8. März, ab 10 Uhr.
Weitere Bilder gibt’s unter:
www.tierwelt.ch/fischfest
Die Tessiner Fischfeste
und das Fischereimuseum
Fischfeste werden im Tessin nicht nur in Muralto
gefeiert, sondern Anfang Juni auch in Brissago
und vor allem am Montag, 29. Juni, in Caslano.
Dann begeht im rund zehn Kilometer südlich
von Lugano liegenden einstigen Fischerdorf die
Bevölkerung den Feiertag San Pietro e Paolo mit
einem Fischfest, weil der Fisch ein altes christliches Symbol ist.
Caslano beherbergt auch das einzige Fischereimuseum des Kantons Tessin. Das 1993 ins Leben gerufene Museo della pesca wurde vor fünf
Jahren renoviert und neu eröffnet. Die Ausstellung führt durch die Welt der Fischerei, von der
Urgeschichte bis in die heutige Zeit, und behandelt unter anderem den Bootsbau, den Fischhandel, die Herstellung von Fischernetzen, die
Fischarten und antike Fischereitechniken. Vor
dem Museum beginnt ein schöner Rundgang
am Seeufer entlang um den Monte Caslano.
Museo della pesca, Caslano:
Öffnungszeiten: 24. März bis 31. Oktober
Jeweils Dienstag-, Donnerstag-, und
Sonntagnachmittag.
www.museodellapesca.ch
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