der olympische fackellauf

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der olympische fackellauf
DER OLYMPISCHE
FACKELLAUF
Claudia Lenssen
12
RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 4 / 2008
OLYMPISCHE WINTERSPIELE
1952 – OSLO
BRD/Schweiz 1952
Regie: Walter Kägi
Quelle: Deutsche Kinemathek
Mit der Entzündung des olympischen Feuers am 24. März 2008 begann die aufwändigste
Einstimmung in die Olympischen Spiele, die es je gegeben hat. Von den antiken Stätten zum
Austragungsort der 29. Olympiade in Peking trugen Zehntausende die Flamme 137.000
Kilometer über alle Kontinente, auch durch die chinesischen Provinzen. Einen spektakulären
Höhepunkt erlebte das Ritual im Himalaya-Gebirge: Am 8. Mai präsentierte die tibetische
Bergsteigerin Cering Wangmo die versiegelte Fackel in 8.848 Metern Höhe auf dem Mount
Everest.
Dieses singuläre Ereignis konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Fackellauf
2008 als Fiasko begonnen hatte – obwohl er als »große Party« (IOC-Präsident Jacques
Rogge) und Investition in die Marke China gedacht war. Wie so oft in der Geschichte der
Spiele war die Botschaft, die im Zusammenhang mit ihnen verbreitet werden sollte, auch in
diesem Jahr umstritten. Das Motto, das vom chinesischen Olympischen Komitee Bocog und
der Staats- und Parteiführung ausgerufen worden war, lautete »Reise der Harmonie«, doch
weder die Konsensparole noch die Anspielung auf das traditionelle daoistische Weltbild1
entsprachen der Wirklichkeit. Es waren vor allem ein Aufstand in Tibet und das Erdbeben in
Sichuan, die die Propaganda-Idee zunichte machten. Das Internationale Olympische Komitee
erwägt inzwischen ein neues, weniger durch imperiale Großspurigkeit geprägtes Reglement.2 Groteske Rekorde, euphemistische Motti, antikisierendes Brimborium – das Spektakel
scheint überreizt. Es ist deutlich geworden, dass der ideologische Ursprung des olympischen
Fackellaufs nur oberflächlich vom politikfernen Konsensdenken der Funktionäre überdeckt
wird.
Bereits vor Entzündung des Feuers war im tibetischen Lhasa am 14. März ein Aufstand
ausgebrochen. Die Revolte der Mönche und jungen Tibeter, die sich von den chinesischen
Machthabern unterdrückt fühlen, wurde brutal niedergeschlagen. Als Bewegtbilder ins Internet gelangten, die Touristen via Handy aufgenommen hatten, breitete sich eine Solidaritätswelle aus, die den Kontrast zu der verordneten Harmonie ins Licht rückte. Ein authentisches
Lauffeuer machte der inszenierten Symbolik des Laufs den Rang streitig.
In den Mediendemokratien wurde die Fackelstafette zur politischen Bühne. China sah
sich mit dem Vorwurf konfrontiert, seine Diktatur zu verschleiern. In London, Paris und San
Francisco griffen Tibet-Aktivisten ein, die das Flammensymbol auslöschten. Man erfuhr von
einer Hilfskonstruktion, die zwar die Kontinuität des Rituals bewahrte, jedoch deren numinoses Pathos ins Lächerliche zog: Die »Mutterflamme« vom antiken Ursprungsort reiste in
einem Papamobil mit, jede Störung war technisch auszugleichen: die olympische Flamme
ein Klon.
Bocog handelte: Ab Paris ließ man die Läufer von einem Kordon chinesischer Muskelmänner begleiten – Angehörigen einer Antiterroreinheit, deren Auftritte in fremden Staatsgebieten die antichinesischen Ressentiments verstärkte. China war im Begriff, sein Gesicht zu
verlieren, je mehr es bemüht war, die Kontrolle über den von ihm verantworteten Fackellauf
zu behalten. Der Aufstieg auf den Mount Everest – von einer Frau und Tibeterin vollbracht –
erzeugte trotz der Rekordleistung kein positives Image. Die Weltöffentlichkeit blieb verärgert
über das chinesische Staatsfernsehen, das die Bilder von diesem Ereignis nach eigenem
Gutdünken rationierte, während die internationalen Journalisten ohne Chance auf freie Berichterstattung im Basislager isoliert wurden. So wurde der Stafettenlauf von Debatten über
einen Boykott der Spiele überschattet – ohne Konsequenzen.
Zwei Öffentlichkeitskonzepte3 prallten aufeinander: Im Bestreben, mit den Sportspielen
die internationale Anerkennung zu gewinnen, scheute die chinesische Führung nicht vor drakonischen Maßnahmen wie den Polizeieinsätzen in Tibet oder der Verdrängung von Obdachlosen aus Peking zurück, während der Westen zaghaften Widerwillen gegen die »Reise der
Harmonie« äußerte.
Nach dem Erdbeben vom 12. Mai 2008, bei dem fünf Millionen Menschen obdachlos wurden und Zehntausende Tote in Sichuan zu beklagen waren, wurde der Lauf drei Tage unterbrochen. Der Kampf um Anerkennung verschob sich, Trauer und Nothilfe wurden wichtiger,
2 OLYMPISCHE VARIATIONEN DER OLYMPISCHE FACKELLAUF
1 Wasser, Holz, Feuer, Erde und Metall
sind die Elemente der Fünf-ElementeLehre des Daoismus, die der harmonischen Balance des Kosmos entsprechen.
2 www.tagesschau.de (Krise des olympischen Fackellaufs, 10.4.2008)
3 Mark Siemons: »Ein Kampf um
Lügen, Werte und Anerkennung«.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
8.5.2008, S. 46
Linke Seite:
FILM OF THE XXI. OLYMPIAD
Kanada 1977
Regie: Jean-Claude Labrecque
Quelle: Deutsche Kinemathek
13
MAAILMAT KOHTAAVAT
Finnland 1952
Regie: Hannu Leminen
Quelle: Deutsche Kinemathek
4 Thomas Alkemeyer: »Von der
Schwierigkeit, eine Fackel zu löschen«. Unter http://www.freitag.
de/2008/16/08161301.php
das olympische Vorspiel geriet aus dem Fokus. Entlang der alten Seidenstraße blieben die
Läufer unter sich. Erst mit der Verlegung der Route durch das zerstörte Sichuan stieg der
Nachrichtenwert des Fackellaufs in der Eröffnungswoche der Spiele wieder an.
5 Zum sozialhistorischen Kontext der
Spiele: Reinhard Rürup, Marcus Funck,
Helga Woggon (Hg.): 1936 – Die olympischen Spiele und der Nationalsozialismus. Berlin 1996
Das Dilemma spiegelt Grundmuster wider, mit denen das Ritual seit seiner Entstehung
belastet ist. Empört man sich über staatsautoritäre Bemächtigung und Überbietungsstrategien, vergisst man oft, dass der Fackellauf aus dem totalitären Geist des 20. Jahrhunderts
geboren wurde und von Beginn an wegen seiner »Strahlkraft auf das kollektive Imaginäre«4
ein Instrument der Mächtigen war.
Der Fackellauf ist eine Erfindung der Olympischen Spiele im NS-beherrschten Berlin
von 1936. Die Idee entstand im Austausch zwischen dem Generalsekretär des deutschen
NOK, Carl Diem, und Goebbels‘ Propagandaministerium. Nachdem Hitler 1933 an die Macht
gekommen war, fürchteten die Olympia-Funktionäre, er würde die Olympiade, das »internationalistisch-pazifistische« Ereignis, absagen. Die Vergabe der Spiele an Berlin war 1931
erfolgt, nachdem die Stadt 1916 aufgrund des Ersten Weltkriegs nicht zum Austragungsort
gewählt worden war. 1928 in Amsterdam wieder in den Kreis der olympischen Mannschaften
aufgenommen, sollte Deutschland sportlich und politisch rehabilitiert werden. Hitler begriff
den Propagandawert, seine Diktatur als weltoffen und tolerant präsentieren zu können, und
verfügte die Bereitstellung großer Mittel. Nicht nur die Spiele, auch die Einführungs- und
Rahmenveranstaltungen sollten im Sinn der NS-Ästhetik überformt werden.
Der Fackellauf stellt Synthese und Apotheose der bis dahin bereits stetig ins Kultische
übersteigerten olympischen Zeremonien dar. 1896 hatte man zur ersten Olympiade in Athen
auf die Eröffnung und Schlussfeier, auf Siegerehrungen und Medaillen Wert gelegt. 1920
wurden die olympischen Ringe und der Eid vor der gesenkten Fahne des Gastgeberlandes
eingeführt. 1924 entstand ein olympischer Gruß, bei dem die Sportler den rechten Arm auszustrecken hatten – eine Geste, die sich nur minimal vom faschistischen Gruß unterschied.
1928 entzündete man in Amsterdam zum ersten Mal ein olympisches Feuer. Die Olympiade
von Los Angeles 1932 war bereits ein weltweit populäres Massenereignis.
Die sportliche Körperkultur hatte in den zwanziger Jahren unter Lebensreformern und
Jugendbewegten großen Zulauf gewonnen, sie avancierte auch zum Freizeitvergnügen und
Agitationsfeld der organisierten Arbeiter. Sport war nicht länger ein Privileg des Bürgertums,
des Adels und der männerbündischen Militärelite, sondern wurde in allen Schichten gefördert.
Seit Deutschland infolge des Versailler Vertrages keine Armee mehr besaß, setzten die
alten Eliten auf den kompensierenden Einfluss des Sports: Wehrsport anstelle von Wehrpflicht.5 Bereits Pierre Baron de Coubertin, Initiator der neuzeitlichen Spiele, forderte mehr
Leibesübung; er war davon überzeugt, dass das französische Heer dem deutschen im Krieg
von 1870/71 aus Mangel an physischer Leistungskraft unterlegen war. Carl Diem hatte den
modernen Krieg 1914 bis 1918 als Soldat erlebt und verfocht als der einflussreichste deutsche Sportpolitiker, -funktionär, -pädagoge und -publizist des 20. Jahrhunderts ein ideologisches Gemisch aus Coubertins Glauben an die »Muskelreligion« und den Anschauungen
nationalistisch-völkischer Körperpolitik. Als Generalsekretär des Deutschen Olympischen
Komitees prägte Diem das Gesicht der Spiele 1936 entscheidend mit.6
Stafettenläufe waren in den nationalistischen Turnvereinen des 19. Jahrhunderts beliebt,
sie blieben auch nach 1918 eine mit Begeisterung praktizierte Zeremonie von Militär- und Elite-Vereinen. Da das deutsche Kaiserreich die Ausgrabungen der antiken olympischen Stätten
finanziert hatte, musste der Gedanke eines Laufs als symbolischer Brücke zwischen Olympia
und Berlin das nach historisierender Deutungsmacht gierende Hitler-Regime begeistern.
6 Thomas Alkemeyer: Körper, Kult
und Politik – Von der »Muskelreligion«
Pierre de Coubertins zur Inszenierung
von Macht in den Olympischen Spielen
von 1936. Frankfurt am Main 1996, S.
286–304; Hajo Bernett: »Symbolik und
Zeremoniell der XI. Olympischen Spiele
in Berlin 1936«. In: Sportwissenschaft,
Nr. 6, 1986, S. 357–397; Reinhard Rürup,
Marcus Funck, Helga Woggon (Hg.): 1936
– Die olympischen Spiele und der Nationalsozialismus. Berlin 1996, S. 217–219.
Carl Diem galt nicht als Nationalsozialist, wird aber heute als aktives Bindeglied zwischen den männerbündischen,
asketisch-soldatischen Zielsetzungen
der Olympioniken um Coubertin und
Hitlers rassistischer Körperpolitik und
-ästhetik angesehen. Diem führte mit
Ritter von Halt, dem Präsidenten des
deutschen olympischen Komitees, 1944
ein Volkssturmbataillon im Olympiastadion an, das er zur Rückeroberung des
Reichssportfeldes gegen die Rote Armee
in einen sinnlosen Kampf trieb, der am
28. April 1945 zu 2000 Toten, darunter vor allem HJ-Jugendliche, führte.
Dennoch behielt Diem bis zu seinem Tod
1960 alle IOC- und NOK-Ämter bei. Avery
Brundage (IOC-Präsident 1952–1972),
der als amerikanisches Mitglied des IOC
alle antifaschistischen Boykottbestrebungen gegen die Hitler-Spiele 1936 vom
Tisch gewischt hatte, bürgte für seinen
alten Sportkameraden.
7 Nicht bei den Spielen in Olympia,
sondern in Athen wurde die »Lampadedromia« ausgeführt, ein Kurzstreckenlauf von sechs bis zehn Läufern,
die Fackeln trugen. Vgl. dazu Judith
Swaddling: Die Olympischen Spiele und
die Antike. Stuttgart 2004, S. 92f.
Die Olympischen Spiele der Antike, die von 776 v. Chr. bis 395 n. Ch. in der Zeus-Kultstätte
des Altis-Hains am Fluss Alpheios auf dem Peloponnes stattfanden, kannten keine Fackelläufe zur Initiation.7 Alle vier Jahre jedoch wurden vor den Spielen Botenläufer mit
Lorbeerkränzen und Stäben ausgesandt, um in den griechischen Stadtstaaten einen Waf14
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»Empört man sich über staatsautoritäre Bemächtigung und
Überbietungsstrategien, vergisst man oft, dass der Fackellauf aus dem totalitären Geist des 20. Jahrhunderts
geboren wurde.«
fenstillstand auszurufen, der die Sicherheit der reisenden Helden gewährleisten sollte. Man
leitete die Spiele am Andachtsort mit Opferriten ein, bei denen Feuer zur Zeremonie gehörte.
Die Asche der Opfertiere wurde auf dem Zeus-Altar im Hain dargebracht. Ebenso brannte
im Prytaneion, dem Gebäude, in dem die Festbankette der Sieger gefeiert wurden, Tag und
Nacht das Feuer der Hestia, Göttin des häuslichen Herdes, von dem aus alle Feuer auf den
Altären der Stätte entzündet wurden.8
Neben diesen Realien der Altertumsforschung wirkte die griechische Mythologie – mit
dem Klassizismus zum deutschen Bildungsgut geworden – in der Aneignung der Nationalsozialisten nach. Hesiod berichtet vom gestürzten Titanen Prometheus, der Zeus die Macht
über das Feuer stahl und es den Menschen in einem Rohr des Riesenfenchels Narthex, einer
Fackel ähnlich, übergab, wofür er von Zeus hart bestraft wurde.9 Die Symbolik eines ermächtigenden Geschenks wurde mit der olympischen Waffenstillstandsbotschaft und den nationalistisch aufgeladenen Stafettenläufen des 19. Jahrhunderts kurzgeschlossen. Da sich die
Mythomanen der braunen Bewegung auf die nordische Sagenwelt bezogen, gehörten Licht-,
Sonnen- und Feuerrituale, die auf keltische Ursprünge zurückgehen, von Beginn an zu ihrer
ideologischen Ikonografie. Ergriffenheitsvokabeln wie »Lichtgebet«, »Herzensflamme« und
»Feuersglut« beherrschten die offizielle Sprache. Sonnenwendfeiern waren zum verpflichtenden Massenritual geworden. So entzündete man 1935 zum Beispiel zu einer »Reichssonnenwendfeier« gleichzeitig 800 Scheiterhaufen entlang der Lübecker Bucht.10 Das Volk war
durch die Feuersymbolik auf »Beseelung« eingestimmt.11 Die Authentizität antiker Symbole
interessierte nicht, nur ihr suggestiver Effekt.
Ein diffuses Historienspiel ist der Fackellauf auch heute. Seine zentralen Elemente haben die
nationalsozialistischen Erfinder überdauert, wenn auch deren Propaganda mit dem Neustart
der Olympischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg getilgt wurde.
Am 20. Juli 1936 entzündeten antik kostümierte Gymnastinnen das Feuer im Ruinenfeld
von Olympia mit Hilfe eines Hohlspiegels und übergaben es dem ersten Fackelträger. Auch
heute entsteht die »Mutterflamme« durch Sonnenlichtbündelung, stellen Schauspielerinnen
antike Tempelwächterinnen dar. Die Brennspiegel-Konstruktion von 1936 stammte von der
Firma Zeiss, die Fackel, eine robuste Edelstahlkonstruktion mit hölzernem Kern, war vom
Stahlgiganten Krupp entwickelt worden.12 Deutsche Ingenieure ersannen technische Lösungen, die die Flamme mit langer Brenndauer ausstatteten. Olivenöl, Harz, Schwarzpulver
und Magnesium waren die ersten Brennstoffe, während heute Gaspatronen in den Fackelschaft eingelassen werden.13 Jedes Gastland investiert seither in ein futuristisch-landestypisches Fackel-Design – auch dies eine Image-Konkurrenz. Die Fackel der Olympiade 2008
wurde von einem Team des weltgrößten chinesischen Computerkonzerns Lenovo entworfen;
sie ist einer Schriftrolle nachempfunden, die das daoistische Zeichen für »Glückliche Wolke«
trägt. Ohne Sponsoring durch Markenkonzerne, darunter Coca-Cola, Samsung und Audi, ist
die Geschichte des olympischen Fackellaufs nicht zu denken.
8
Ebenda, S. 34
9 Hans Walter: Mythen aus dem alten
Griechenland. München 1991, S. 16f.
10 Rüdiger Sünner: Schwarze Sonne –
Entfesselung und Mißbrauch der Mythen
in Nationalsozialismus und rechter
Esoterik. Freiburg 1999, S. 82
11 Thomas Alkemeyer (1986): S. 305ff.
12 Foto des Fackeltyps von 1936 siehe:
http://membres.lycos.fr/olympisme/
dossier/1936berlin.htm.
Krupp entzündete mit der ersten
produzierten Fackel einen »OlympiaHochofen« als Rüstungsschmiede.
13 http://multimedia.olympic.org/pdf/
en_report_656.pdf, S. 6ff. In diesem vom
deutschen NOK als Unterrichtsmaterial
bereitgestellten historischen Abriss wird
die NS-Propagandafunktion des ersten
Fackellaufs nicht erwähnt.
14 Hajo Bernett, Marcus Funck, Helga
Woggon: »Der olympische Fackellauf
1936 oder die Disharmonie der Völker«.
In: Sozial- und Zeitgeschichte des
Sports, 10. Jg., Heft 2, Aachen 1998,
S. 18
15 Ebenda, S. 20
1936 trugen 3.331 Läufer die Flamme nach Berlin. In zwölf Tagen und elf Nächten führte die
Strecke 3.187 Kilometer weit über Athen, Saloniki, Sofia, Belgrad, Budapest, Wien, Prag und
Dresden ans Ziel. Der Reichsrundfunk und eine »fliegende Redaktion des Angriffs« berichteten von » soldatischer Ordnung«, Heldengedenken und Militärmusik entlang der Strecke.14
In den genannten Städten wurden »Weihestunden« zur Ankunft der Stafette organisiert, wo
man NS-Embleme zeigte und das Horst-Wessel-Lied sang. Ein neues, Olympia genanntes
Automodell von Opel im Kordon der Stafette löste allenthalben Bewunderung aus.
Doch die Propagandamaschine provozierte Proteste, die von der »eingebetteten« Presse verschwiegen wurden, in parallel geschriebenen Geheimberichten jedoch dokumentiert
sind15. Die Reichsbahn, die zur Bewerbung der Olympiade im Ausland bestimmt worden war,
hatte ein Plakat der Laufstrecke veröffentlicht, auf dem das zur Tschechoslowakei gehörige,
überwiegend von Hitler-freundlichen Deutschen bewohnte Sudentenland kurzerhand als
deutsches Territorium abgebildet war. In Prag gelang es Demonstranten daraufhin, die Fa2 OLYMPISCHE VARIATIONEN DER OLYMPISCHE FACKELLAUF
15
»Leni Riefenstahl wollte den Fackellauf zur mythischpathetischen Exposition ihres OLYMPIA-Films nutzen.
In ihren Memoiren klagt die Regisseurin jedoch über Mängel
der Inszenierung.«
16 Reinhard Rürup, Marcus Funck,
Helga Woggon (Hg.), a.a.O., S. 86f.
17 Leni Riefenstahl: Memoiren, Band 1,
3. Auflage, Frankfurt am Main, Berlin
1996, S. 262
18 Thomas Alkemeyer (1986), S. 389
19 Hitler betrat das Olympia-Gelände
vorbei an Ehrenbataillonen der Wehrmacht am Glockenturm, legte einen
Kranz in der Langemarckhalle ab, einer
NS-Weihestätte für gefallene Soldaten
des Ersten Weltkriegs, durchschritt das
Spalier aller Nationalmannschaften, die
auf dem angrenzenden Maifeld aufmarschiert waren – ein Menschenornament,
das die räumliche Koordinate zum Marathontor darstellte. Hitlers Eintritt ins
Stadion über eine Treppe neben diesem
»Tor« – einer Auslassung im Stadionoval, die den Himmel optisch mit einer
theatralischen Treppe verband – muss
man sich zu martialischen Fanfarenklängen, seinen Aufstieg in die Ehrenloge
zu Richard Wagners Huldigungsmarsch
vorstellen.
20 Rainer Rother: Leni Riefenstahl.
Die Verführung des Talents. Berlin 2000,
S. 108
21 Claudia Lenssen, in: Leni Riefenstahl. Katalog zur Ausstellung. Potsdam
1999, S. 233. L. R. montiert den Ablauf in
OLYMPIA – FEST DER VÖLKER so: Einzug
der Mannschaften, Zwischenschnitte
auf das jubelnde Publikum und zum Hitlergruß erhobene Arme, Hitler mit dem
IOC-Präsidenten auf der Tribüne, Hitlers
Eröffnungsspruch, das Hissen der
Flagge und Aufsteigen von Tausenden
Tauben, Glockenschläge vom Turm der
NS-Kultstätte Langemarckhalle, dann
der Schlussläufer beim Verlassen des
Brandenburger Tores, sein Eintritt ins
Stadion aus dem Dunkel heraus, seine
Ehrenrunde, die Entzündung des Feuers
zur Olympia-Hymne von Richard Strauss;
Feuer und Abendsonne verschmelzen
optisch mit den olympischen Ringen
auf der flatternden Flagge. Zu den politischen Konnotationen des Jubels über
die olympische Gruß-Gestik der französischen Mannschaft, die vom Stadionpublikum als Hitlergruß missverstanden
wurde, vgl. Thomas Alkemeyer (1986),
S. 396.
16
ckel zu löschen.16 Bereits zuvor war es in Wien zum Eklat gekommen. Österreichische Braunhemden beherrschten die Szene auf dem Heldenplatz. Sie grölten Nazi-Lieder und Parolen,
die die Rede des österreichischen Olympioniken Graf Starhemberg überboten, indem sie statt
diplomatischer Sympathiekundgebung offen die »Gefolgschaft« Hitlers ausriefen.
Leni Riefenstahl wollte den Fackellauf zur mythisch-pathetischen Exposition ihres
OLYMPIA-Films nutzen. In ihren Memoiren klagt die Regisseurin jedoch über Mängel der Inszenierung. In Olympia hätten zum Beispiel Autos und Motorräder die Ruinenlandschaft entstellt, der Flammenaltar habe zu nüchtern ausgesehen, die Sportkleidung der griechischen
Fackelläufer ebenso.17 Die realen Bedingungen – Hitze, Gedränge, atmosphärische Defizite
– ersetzte die NS-Ästhetin durch die Nachinszenierung der Ursprungs-Stafette mit einem
Läufer im Lendenschurz, der ihrem persönlichen Trivialmythos entsprach. Die Strapazen der
Strecke überspielte sie mit Flugaufnahmen über die Grafik der Etappenführung hinweg.
Die letzte Etappe am Eröffnungstag der Spiele wurde als Ritual der Unterordnung18
perfektioniert. Das olympische Zeremoniell, von Coubertin als Übergang vom Alltag ins Fest
konzipiert, begann am 1. August als monumentale NS-Jugendfeier im Berliner Lustgarten.
Der Platz zwischen Schloss und Altem Museum symbolisierte die historische Selbstermächtigung des Regimes, indem der eintreffende Fackelläufer bereits hier, auf den Stufen
des Museums, das Feuer in einer monumentalen, nach olympischem Vorbild gegossenen
Dreifußschale entzündete. Goebbels‘ Ruf »Heilige Flamme, glüh, glüh und verlösche nie!« erscholl dazu. Zehntausende HJ- und BDM-Jugendliche, in Formation zwischen hochragenden
Hakenkreuzstandarten aufgestellt, lauschten dem Akt, der die braunen Totenkulte und Opferaltäre zitierte. Der Läufer, ein Berliner Leichtathlet, durchquerte die Achse zwischen den
soldatisch ausgerichteten Massen und entfachte ein weiteres Feuer in einer Tripus-Schale
vor dem Schloss, so dass die Zeremonie in absoluter Kontrolle und nach den performativen
Vorgaben der Reichsparteitage ablief.
Zaungäste erlebten die Vorüberfahrt der olympischen Honoratioren, der NS-Paladine
und Hitlers, schlussendlich den letzten Fackelläufer auf der zur via triumphalis ausgebauten
Westachse Berlins. Die Strecke von Unter den Linden und dem Brandenburger Tor bis zum
fünf Kilometer entfernten Olympiastadion war von Albert Speer der Breite einer Marschkompanie angepasst worden, was nebenbei die Abholzung sämtlicher alten Linden auf dem
Boulevard in der Stadtmitte erfordert hatte. Das Jubelvolk, durch stundenlanges Warten auf
die Erscheinung des messianischen Führers eingestimmt, stand unter dicht aufgestellten
roten Hakenkreuzfahnen Spalier. Mit ihren Fahnenwänden glich die Strecke einem unendlich
verlängerten Kirchenschiff.
Die minutiöse Choreografie der Eröffnung, die Diem und Goebbels festgelegt hatten,
betonte Führerkult und Militarisierung.19 Schlussläufer Fritz Schilgen, ein deutscher Mittelstreckenmeister, entzündete in der Schlussapotheose das olympische Feuer in einer Dreifußschale am Marathontor des Stadions, der dritten im protokollarischen Ablauf des Tages. Leni
Riefenstahl soll auf Schilgen, der weder NSDAP-Mitglied war noch der Olympiamannschaft
angehörte, bestanden haben, weil er dem Ideal athletischer Männerschönheit ihres »heroischen Reportagefilms«20 entsprach.21
Die Idee des olympischen Fackellaufs überlebte den Untergang des NS-Regimes. Schon
bei der Wiedereröffnung der Spiele in London 1948 störte man sich an Diems und Goebbels‘
Erbe nicht, sondern besetzte das Ritual mit demonstrativen Friedenszeichen. Der erste
Fackelläufer, ein griechischer Korporal, entledigte sich in Olympia zuerst seiner Uniform und
erinnerte so an die ursprüngliche antike Botschaft der Waffenruhe.
RECHERCHE FILM UND FERNSEHEN NR. 4 / 2008
Der Olympische
Fackellauf seit 1948:
London 1948
Mexiko-City 1968
Montreal 1976
Lillehammer 1994
Sydney 2000
Stafette durch Grenzorte, die den Nachkriegsfrieden in Europa
symbolisierten.
Die Route war an
Stationen der Entdeckungsreise des
Christoph Columbus
angelehnt und sollte
auf diese Weise eine
Verbindung zwischen
den mediterranen und
lateinamerikanischen,
den griechischrömischen und den
prähispanischen Kulturen herstellen. Bei
der Mondpyramide in
Teotihuacan fand eine
aztekische Zeremonie
statt. Der Schlussläufer war Nachkomme
eines spanischen Seefahrers. Bei einem Aufstand vor Beginn der
Spiele wurden Hunderte mexikanischer
Studenten getötet.
Die Flamme wurde
per elektronischem
Impuls via Satellit von
Europa auf den amerikanischen Kontinent
übermittelt. Zwei
Sportlerinnen – eine
englisch- und eine
französischsprachige –
als Repräsentantinnen
der beiden größten
Sprachgruppen sprachen den Eid.
Auf der Etappe durch
Köln, dem Geburtsort des umstrittenen
Olympia-Organisators
von 1936, Carl Diem,
schütteten protestierende Studenten einen
Eimer Wasser auf die
Flamme. In Norwegen
wurde die Fackel zwischen zwei Fallschirmspringern übergeben,
zur Ankunft im Stadion
von einem Skispringer
getragen, der königliche Prinz Haakon
war Schlussläufer auf
Skiern.
Ein Taucher transportierte die Flamme unter Wasser zum Grand
Barrier Reef, Kamele
trugen sie durch die
australische Wüste.
Oslo 1952
Erster olympischer Fackellauf bei Winterspielen. Das Feuer wurde in
der Hütte eines historischen norwegischen
Skihelden entzündet.
Melbourne 1956
Die olympische Flamme wurde erstmals per
Flugzeug transportiert.
Da die Reitsportwettbewerbe in Stockholm
ausgetragen wurden,
brachten Reiter die
Flamme von Olympia
auch in die schwedische Hauptstadt.
Rom 1960
Betonung der klassischen Altertumskulturen Athen und Rom,
Stafette zu etruskischen
Stätten, erste Fernsehübertragung des Laufs.
Tokio 1964
München 1972
Mit Heidi Schüller
sprach erstmals eine
Frau den olympischen
Eid. Bei einem palästinensischen Attentat
auf die israelische
Mannschaft und einer
gescheiterten Befreiungsaktion wurden
siebzehn Menschen
getötet.
Die Flamme wurde per
Flugzeug nach Japan
transportiert und auf
mehrere Stafetten
aufgeteilt. Mit 101.866
beteiligten Läufern
wurde ein Rekord
erreicht, der erst 2008
übertroffen wurde. Der
Schlussläufer Yoshinori Sakai wurde am Tag
des Atombombenwurfs
in Hiroshima geboren.
2 OLYMPISCHE VARIATIONEN DER OLYMPISCHE FACKELLAUF
Sarajewo 1984
Der erste vollständig
gesponserte Fackellauf.
Calgary 1988
Die Flamme überquerte den Polarkreis
und wurde mit Skibob
und Motorschlitten
transportiert.
Albertville 1992
Mit Überschallgeschwindigkeit reiste
die Flamme in einer
Concorde-Maschine
von Athen nach Paris.
Barcelona 1992
Eine Fregatte brachte die Flamme als
Symbol der antiken
griechischen Zivilisation auf der spanischen Halbinsel von
Griechenland nach
Spanien.
Atlanta 1996
Die Route der Fackel
verlief nach Ankunft
auf dem amerikanischen Kontinent
kreuz und quer durch
die US-Bundesstaaten,
zum Teil auf den Spuren des historischen
»Pony-Express«, per
Mississippi-Dampfer,
im Kanu, in einem
Waggon der UnionPacific-Eisenbahn und
im Weltraum, wo eine
flammenlose Fackel
von Astronauten getragen wurde. Den olympischen Eid sprach der
damals bereits von der
Parkinson-Krankheit
gezeichnete ehemalige Boxweltmeister
Muhammed Ali.
Athen 2004
Auf einer 86.000 Kilometer langen Strecke
besuchte die Flamme
per Flugzeug sämtliche Austragungsorte
der neuzeitlichen
Spiele seit 1896.
Peking 2008
Mit 137.000 Kilometern
Gesamtstrecke wurde
ein neuer Rekord in
der Geschichte des
Fackellaufs aufgestellt.
Auf der Route wurde
die Flamme in Paris
für kurze Zeit gelöscht,
in London warf sich ein
Aktivist in den Weg, in
San Francisco ketteten
sich Gegner an die
Golden Gate Bridge,
in Neu-Delhi wurde
die Route konspirativ
geändert. Grund waren
die Proteste gegen
Chinas Tibet-Politik.
Höhepunkt des Laufs
war der Transport der
Flamme auf den Mount
Everest.
17