Duft der Zeit - Katholische Pfarreiengemeinschaft Simmern

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Duft der Zeit - Katholische Pfarreiengemeinschaft Simmern
Duft der Zeit IV
Predigt – 4. Advent 2014
Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han macht sich in einem kleine Buch Gedanken über die Zeit:
wie wir sie erleben, wie wir mit ihr umgehen, wie sich die Zeit im Lauf der Zeit verändert hat. Es
ist so entscheidend für unser Lebensgefühl und für unser Selbstverständnis, welches Verhältnis
wir haben zur Zeit: ob sie uns davon davonläuft oder stehenbleibt. Empfinden wir sie wie einen
ruhigen Fluss oder wie einen Wasserfall? In einem Psalm heißt es über die Lebenszeit: „Rasch
geht sie vorbei, wir fliegen dahin.“ Und trotzdem geht es uns manchmal viel zu langsam.
Vielleicht wenn eine Baustelle uns die Nerven raubt. Oder wir sind krank und wollen endlich
gesund werden. Die Zeit hat tausend Gesichter.
Byung-Chul Han entführt uns in seinen Gedanken über die Zeit in seine Heimat nach China. Dort
gab es bis Ende des 19. Jahrhunderts eine ganz besondere Uhr: eine Weihrauch-Uhr. Duftsiegel
wurde sie genannt. In ein Gefäß wurde Weihrauch gelegt in der Form eines Siegel-Stempels und
dann abgebrannt. Die Glut wanderte am Schriftzug des Siegels entlang oder auch an den
Umrissen eines Siegels, das geformt ist wie eine Pflaumenblüte. In das Gefäß waren oft Gedichte
eingraviert. Ein solches Gedicht lautete z.B.: Du schaust die Blumen / Du lauscht auf den Klang
des Bambus / Und dein Herz ist von Frieden erfüllt / Deine Sorgen haben sich geklärt / Auf dem
Grund brennt eine duftende Melodie.
Eine Weihrauchuhr ist ganz anders als eine Sanduhr. In der Sanduhr verrinnt die Zeit. In der
Weihrauchuhr verduftet sie sich. Die Zeit dauert, solange der Weihrauch duftet. Und selbst die
Asche zerfällt nicht sondern behält die Form des Siegels. Auch wenn es sich verändert und
vergänglich ist: Nichts entleert sich, nichts verliert seine Bedeutung und seine Dauer. Im
Gegenteil: Im Rauch gewinnt die Zeit sogar noch an Raum und Gestalt. Ein Gedicht beschreibt
diesen Weihrauch so: Schmetterlinge tauchen auf wie im Traum / tanzen und schwingen hin und
her wie Drachen / wie Vögel, wie der Phönix / wie Würmer im Frühling, wie Schlangen im Herbst.
– Der Weihrauch malt ein Bild und hält so die Zeit an: Der Rauch der Uhr zeigt, wie ein
duftender Nachmittag vergeht. – Aber man muss dieses Vergehen nicht bedauern, weil doch
danach der Wohlgeruch des Abends folgt und danach wieder der eigene Duft der Nacht.
Die Düfte der Zeit zählen nicht Minuten und Stunden auf, sondern sie ruhen in sich. Hundert
Blumen im Frühling, im Herbst der Mond / Ein kühler Wind im Sommer, im Winter Schnee. /
Wenn am Geist nichts Unnützes haftet, / Dies fürwahr ist für den Menschen gute Zeit. – Es gibt
Zeit, die duftet, Zeit, die Bilder malt, gute Zeit. Byung Chul-Han sagt: „Zugang zur guten Zeit hat
jener Geist, der sich des ‚Unnützen‘ entleert. Gerade die Leere des Geistes, die diesen vom
Begehren befreit, vertieft die Zeit. Diese Tiefe verbindet jeden Zeitpunkt mit dem ganzen Sein,
mit dessen duftender Unvergänglichkeit. Es ist das Begehren selbst, das die Zeit radikal
vergänglich macht, indem es den Geist fortstürzen lässt. Wo er still steht, wo er in sich ruht,
entsteht die gute Zeit.“ Da habe wir wohl noch viel zu tun, bis wir uns von so viel Unnützem
gelöst haben. Bis wir aufhören, immer etwas anderes zu begehren, als das, was jetzt gerade ist.
Bis wir nicht mehr fortstürzen sondern in uns ruhen.
Am Ende des Advents schauen wir auf Maria und auf den seligen Augenblick der Erlösung, gute
Zeit! Wir sehen das schöne Bild, das Maria in die Luft von Nazaret gemalt hat und nehmen den
Duft wahr, den sie verströmt. Maria ist unsere Weihrauchuhr, weil sie die Zeit anhält, erlöst und
verwandelt. Sie lässt die Zeit wieder duften. Maria konnte ganz da sein, schauen und lauschen,
ohne Hast, ohne Angst. Sie konnte aufnehmen und alles in sich bewegen. Sie hat von innen
gelebt. Sie war leer, offen, ganz wach und bereit. Sie hat nicht begehrt sondern angenommen
und Ja gesagt. Deswegen konnte ein Engel kommen. Deswegen konnte Gott mit ihr etwas Neues
beginnen: das Neue schlechthin! „Seht ich erschaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde.“
Die Schöpfung ist nicht verloren, sondern sie darf neu beginnen. Keiner ist verloren, jeder darf
neu beginnen. „Seht, die gute Zeit ist da: Gott kommt auf die Erde.“
Vielleicht tun wir in den letzten Tagen vor Weihnachten nur etwas ganz Einfaches und öffnen
ganz einfach unsere Sinne: ein wenig aufmerksamer hinschauen und hinhören, riechen,
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schmecken, berühren, tasten. Wir müssen nichts tun. Nur dasein, gegenwärtig sein, wie Maria es
war. Vielleicht begegnet auch uns dann Überraschendes, Neues, Erstaunliches. Und wenn
Weihnachten ist, duftet es wunderbar: nach Leben. Und es ist gute Zeit …
© Pastor Lutz Schultz
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