Vom Mut, den eigenen Weg zu finden

Transcription

Vom Mut, den eigenen Weg zu finden
Kirsten Pape
Vom Mut,
den eigenen
Weg zu finden
Licht- und Schattenseiten
einer spirituellen Bewegung
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Prolog
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Selbstversuch: Sannyas-Therapie
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Standortbestimmung
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„Ich wollte wissen, wie man stirbt“
Die spirituelle Therapeutin:
Turiya Hanover alias Wibke von Gunsteren
Abriss: Die Geschichte von Bhagwan und der Sannyasin-Bewegung
„Natürlich war das eine Sekte“
Der Coach: Klaus Peter Horn
Heiliges Ritual: Sannyas-Celebration
„Mein Koan war: Was ist Liebe?“
Der Arzt: Ramateertha alias Robert Doetsch
Begegnung auf Korfu
„Osho war nie ein Sannyasin“
Der Satsang-Lehrer und Musiker: Pari alias Aristides Laskaridis
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Besuch im Ashram in Pune
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Parimal: Erfahrungen in einer spirituellen Lebensgemeinschaft
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„Ich würde gerne eine Celebration-Company gründen“
Die Sufi-Musikerin: Navino alias Sylvia Szymath
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„Was ich mit Osho verbinde, ist einfach Liebe“
Bodhi Waduda alias Marieke Olthoff
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Schlussbetrachtungen
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Literaturverzeichnis
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Dieses Buch ist nach intensiver Recherche
und vielen Gesprächen mit Anhängern
des indischen Mystikers Bhagwan alias
Osho entstanden.
Es erhebt keinerlei Anspruch auf
irgendeine „Wahrheit“, sondern stellt
die subjektive Sichtweise von Menschen
dar, die einen besonderen Weg gegangen
sind in einer besonderen Zeit, in der
sie einem besonderen Menschen
begegneten.
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Prolog
Oktober 2012
Ich bin, wieder mal, in der Wüste. Die endlose Weite der marokkanischen Sahara umhüllt mich wie ein schützender Mantel. Ich fühle
mich geborgen und verbunden mit dem, was einfach IST. Es ist die
Leere, das vermeintliche Nichts, die hörbare Stille, die mir immer
wieder den Raum öffnet, ich selbst zu sein. Nicht mehr und nicht
weniger. Ich spüre meinen Körper. Ich beobachte meine auch hier
rastlosen Gedanken, die mich entweder an schöne und weniger
schöne Erfahrungen in meinem Leben erinnern oder in eine imaginäre
Zukunft führen. Wenn es mir gelingt, sie zu stoppen, bin ich einfach
hier. Jetzt. Kann in der Stille der Wüste einen tiefen inneren Frieden
wahrnehmen. In der Wüste ist alles so, wie es eben ist. Ich verliere
mich in den endlosen Formen und Farben der Sandlandschaft. Zeichne
mit den Augen die weiblichen Formen der Dünen nach, der „Malerei
des Windes“, wie sie die Nomaden nennen. Die Wüste ist für mich das
Sinnbild der Hingabe an das Leben. Hier kann ich am besten meine
innere Stimme hören. Jene Stimme, die im Alltag so oft überlagert
wird von vermeintlich wichtigeren Dingen. Sie sagt mir, dass alles gut
ist, so wie es ist. Dass es nichts zu tun, nichts zu erreichen gibt. Dass
es genug ist, zu sein. Zu leben und alles, was mir in diesem Leben
begegnet – das Schöne genauso wie das Schmerzhafte – als Erfahrung
anzunehmen.
Dieses tiefe Wissen ist in mir. Es ist uralt und erschließt sich immer
wieder neu. Ich kann es jederzeit abrufen. Hier in der Wüste, oder auch
an anderen stillen Plätzen in der Natur, geht das leichter als im richtigen
Leben. Ich habe lange danach gesucht. Glaube zwischendurch immer
mal wieder, es verloren zu haben. Doch es ist und bleibt da. Gibt mir
Kraft und hilft mir, zu vertrauen. Ich habe mir dieses Wissen, diese
Bewusstheit selbst erschlossen – und habe immer wieder Unterstützung
erfahren. Dabei bin ich mir selbst begegnet – und vielen verschiedenen
Menschen, die auf dem gleichen Weg sind. Ihre Geschichten interessierten mich. Egal ob Buddhisten, Yogis, Schamanen, Menschen,
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die neue Formen des Zusammenlebens und Teilens ausprobieren,
und natürlich alle die, die einfach ihren Alltag leben – jeder versucht
auf seine Art, glücklich zu werden, seinem oder ihrem Leben einen
Sinn zu geben.
Immer wieder traf ich auch Sannyasins, Anhänger des verstorbenen
indischen Mystikers Rajneesh Chandra Mohan alias Bhagwan, der
sich später Osho nannte. Er war in den 1970er- und 1980er-Jahren
als radikaler Sektenführer verschrien, der seine Anhänger angeblich
zu Unterwerfung und hemmungslosem Sex nötigte. Die Sannyasins,
die ich kennenlernte, erzählten andere Geschichten. Selbst die, die
Osho später den Rücken kehrten, betonten, wie dankbar sie für eine
Erfahrung seien, die ihr Leben bereichert habe.
Um einige von ihnen soll es in diesem Buch gehen. Denn das, was sie
erzählten, weckte meine Neugier.
*****
Eine, die nach Wahrheiten im Leben suchte, war ich schon immer.
Ich kann mich noch gut an den Beginn der 1980er-Jahre erinnern: Gerade volljährig geworden, war ich aktiv in der Friedens- und
Umweltbewegung, sympathisierte mit den Grünen und wollte die
Welt, wenn schon nicht retten, dann doch wenigstens dazu beitragen, sie positiv zu verändern. Frieden und Gerechtigkeit schaffen
für alle Menschen, das war meiner Meinung nach nur durch aktive
politische Betätigung zu erreichen. Mit mir selbst, meinem Sein in
der Welt, mit der Frage, wie ich mich auf andere Menschen beziehe,
hatte das nach meiner damaligen Wahrnehmung eher wenig zu tun.
Ich orientierte mich vorwiegend an dem, was in der Welt passierte,
an wissenschaftlichen Theorien, an ideologischen Diskussionen über
(partei-)politische Konzepte. Mir wurde klar, dass ich ganz persönlich mit meinem Lebensstil dazu beitrage, wie hoch mein Anteil am
Ressourcenverbrauch ist. Dass ich durch Teilen dessen, was ich ‚habe’,
andere Menschen unterstützen kann. Immer wieder mal flackerte eine
vage Erkenntnis auf, dass Unfrieden schon im Kleinen da entsteht, wo
ich selbst nicht bereit bin, andere so zu lassen, wie sie sind.
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Der Satz von Mahatma Gandhi „Sei du selbst die Veränderung,
die du dir wünschst für diese Welt“ überzeugte mich. Gelegentlich
wurde mir für kurze Augenblicke klar, dass ich meine Umwelt in
jedem Moment anders wahrnehmen kann. Als Paradies oder als Hölle
– je nachdem, wie bewusst mir die Brille ist, durch die ich gerade auf
mich selbst und die Welt schaue. Doch für diese damals wie heute
schwer in Worte zu fassende Sichtweise konnte ich mich zunächst
noch nicht wirklich öffnen. Manchmal erlebte ich einen Zustand,
in dem ich meinte, einfach zu wissen, dass das, was wir Menschen
einander und der Erde antun, nicht im Einklang ist mit unserem
wahren Selbst. Dass wir eigentlich alle miteinander verbunden sind:
Ich bin du und du bist ich. Dass die vermeintlichen Schattenseiten,
die „negativen“ Eigenschaften, die ich in meinem Gegenüber wahrzunehmen meine, oft meine eigenen Anteile spiegeln, die ich auch
in mir selbst ablehne.
Diese Erkenntnis wurde schnell wieder überlagert. Von eigenen negativen Erlebnissen oder von rationalen und intellektuellen
Betrachtungen – und Ängsten – darüber, wie wir Menschen und die
von uns geschaffenen Verhältnisse auf der Erde offenbar „sind“.
Augenscheinlich eben nicht miteinander verbunden, sondern jeder
nur auf persönlichen Vorteil und Gewinn bedacht. Ein Blick in die
Geschichte der Spezies Mensch mit ihren unzähligen, unsinnigen
Kriegen um Land und Macht und Einfluss scheint ja genau das zu
beweisen. Über die Menschen, die Auswege aus Ungerechtigkeit und
Unfrieden suchen, die einen spirituellen Weg gehen oder gemeinschaftlich neue Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensmodelle erproben,
wurde und wird eher wenig und oft mit mildem Spott berichtet. Sie
werden als sogenannte Gutmenschen belächelt oder verunglimpft.
Erstaunlich viele fühlen sich von „Gutmenschen“ in dem bedroht, was
sie als ihre Freiheit empfinden.
Wie sähe die Welt wohl aus, wenn unser Fokus auf Geschichten des
Miteinanders statt Gegeneinanders gerichtet wäre? Wenn wir es für
möglich hielten, dass wir als Menschen auch anders, nämlich respektund liebevoller miteinander umgehen könnten? Wenn die Medien
regelmäßig auch über ‚gute’ Nachrichten berichteten? Wenn unsere
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Grundwahrnehmung von uns selbst und der Welt eine positive und
liebevolle wäre – wäre unsere Realität dann eine andere?
„Zu komplex und unrealistisch“, befand die rational geschulte
Denkerin in mir. Zudem doch auch nur ein mögliches Konzept, eine
mögliche Erklärung dafür, wer wir sind und wer wir sein könnten. Wenn
auch ein Konzept, das mir bis heute ziemlich gut gefällt. Die Sucherin
jedenfalls jagte Antworten auf die drängenden gesellschaftlichen Fragen weiterhin vor allem auf der praktisch-politischen Ebene hinterher.
Gleichzeitig begann ich damals schon, mich für Meditation, Yoga
und die Lehren verschiedener spiritueller Lehrer zu interessieren.
Besonders im Mittelpunkt des Medieninteresses stand in jener Zeit
ein Inder mit einem langen weißen Bart, der sich Bhagwan nannte
und der die Abkehr von allen politischen und religiösen Glaubenssystemen empfahl. Der seine Anhänger in radikalen sogenannten
„Encounter-Gruppen“ ermunterte, alle ihre negativen Emotionen
herauszuschreien, herauszuprügeln und noch einmal zu durchleben
– um sie dann in der Meditation ganz loszulassen. Sein immer wieder
vorgetragenes Credo: „Komm zurück zu deinem eigentlichen Wesen,
das nur überlagert ist von all dem, was du gelernt hast durch deine
Eltern, Lehrer, Priester und Politiker, und erkenne, was du wirklich bist:
reine, bedingungslose Liebe. Kein Politiker kann jemals die Welt verändern. Die Welt wird sich nur durch erwachte und bewusste Individuen
verändern.“ Eine Sichtweise, die nicht nur von mir als esoterischer
Quatsch abqualifiziert wurde. Der indische Mystiker Bhagwan galt
wie viele seiner spirituellen Vorgänger in anderen Jahrhunderten als
Ketzer. Er war rational nicht zu fassen mit seinen nihilistisch gegen
alle Gesellschaftsordnungen gerichteten Thesen. Der belesene Philosophieprofessor, der unter anderem Jesus, Buddha, Mohammed, Lao
Tse, Sufi-Gelehrte, Nietzsche oder Freud ohne auch nur einen kleinen
Notizzettel referierte, lehrte eine radikale Eigenverantwortung, die
sich in keine Ideologie, kein Glaubenssystem einordnen ließ. Bhagwan
bezeichnete sich selbst damals gerne als „gefährlichsten Mann der
Welt“. Er provozierte mit seinem Auftreten, seinen Vorträgen und seinen fast hundert Rolls-Royces Politik, Kirchen und Medien. Die Bewegung seiner Anhänger, der sogenannten Sannyasins, galt als Sekte.
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Trotzdem zog Bhagwan Hunderttausende Menschen aus aller Welt
an. Auf der Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen reisten sie
zu ebendiesem Guru nach Indien – und viele von ihnen blieben gleich
dort. Für mich damals so interessant wie unverständlich. Das ganze
Leben ausrichten auf Meditation – also rumsitzen und nichts tun –,
statt den vermeintlich normalen Gang der Dinge zu gehen: Schule,
Ausbildung, Job, Familie gründen, eventuell sogar aktiv beitragen
zur Veränderung der Welt? Wie konnte man sich sehenden Auges auf
fragwürdige Psychogruppen einlassen, auf eine „spirituelle Hingabe“,
die auch ich mit Unterwerfung gleichsetzte? Noch dazu, wenn man
aus Deutschland kam, das immer noch dabei war, seine schrecklichen
Erfahrungen mit einem selbst ernannten Führer zu verarbeiten? Was
bedeutete „radikale Eigenverantwortung“ und wie konnte man seine
persönliche „Selbstfindung“ derart wichtig nehmen?
Völlig unpolitisch, purer Egoismus und Hedonismus, esoterisches
Brimborium, befand ich. Dass Tausende Sannyasins später ein politisches Großexperiment im amerikanischen Oregon starteten, wo
sie im Schweiße ihres Angesichts eine Kleinstadt aufbauten, die eine
ökologische Modellkommune der „neuen Menschen“ werden sollte,
erwies sich zudem als gefährliche Illusion. Auch die Sannyasins mit
ihrem vermeintlich erleuchteten Guru waren ganz offensichtlich nicht
gefeit vor Machtmissbrauch, Kriminalität und Mitläufertum.
Vorerst blieb ich in der Welt zu Hause, in der ich mich auskannte. Ich
engagierte mich politisch, führte mein Studium zu Ende und wurde
Journalistin. Also Angehörige einer Zunft, deren Selbstverständnis
es ist, immer in der Beobachterrolle zu bleiben und Distanz zu allem
zu wahren.
Doch eine gewisse Bewusstheit blieb – eine bewusste Beobachterhaltung, aus der heraus ich auch ganz andere Fragen stellte als
die üblichen rationalen zum Zustand der Welt. Ich hinterfragte die
vermeintliche Distanz in der Berichterstattung. Folge ich bei dem, was
ich sage und schreibe, nicht viel zu oft nur dem jeweils gerade gültigen
Mainstream und damit einer vorgegebenen Sicht auf die Welt und
die Menschen? Oder lasse mich selbst, genauso ohne „Distanz“, von
meiner eigenen Haltung leiten? Mein Bewusstsein und Unbehagen
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darüber, welche Rolle die Medien bei der Auswahl von Themen
und Gesprächspartnern sowie der zunehmenden Skandalisierung
bestimmter Sachverhalte spielen, wuchsen. Bei jeder Begegnung, ob
beruflich oder privat, wurde mir klar, dass jeder Mensch schlichtweg
seine eigene Geschichte, seine eigene Wahrnehmung von sich selbst
und der Welt besitzt. Egal ob sie Politikerin oder er Bäcker ist – oder
eben Journalistin. Gibt es überhaupt „richtig“ und „falsch“? Oder
gibt es nur subjektive Wahrheiten und gesellschaftlich geformte und
als Theorie oder Ideologie akzeptierte Sichtweisen dessen, was wir
„Realität“ nennen? Sichtweisen, welche wiederum zu allen Zeiten von
wirtschaftlichen, politischen und religiösen Eliten instrumentalisiert
wurden und werden?
Ich kreise bis heute um die schon von Millionen anderen angestellten
Überlegungen zum immer gleichen Komplex: Wer sind wir und wozu
sind wir hier? Wird es uns jemals gelingen, unser Zusammenleben
friedlich und gerecht zu gestalten? Der Ansatz, dass ich bei mir selbst
beginnen muss und unter anderem durch mein (Konsum-)Verhalten,
meine Kommunikation und mein Sein immer wieder winzige Mosaiksteinchen der Veränderung einfügen kann ins große Ganze, überzeugt
mich bis heute am meisten: Wie innen, so außen.
In der Außenwelt befasse ich mich weiterhin mit der großen
und kleinen Politik, mit interessanten Konzepten und interessanten
Menschen.
Die Begegnung mit anderen Suchern und ihren Lebensentwürfen
inspiriert mich immer wieder neu auch zu einer inneren Auseinandersetzung damit, wann und wodurch in meinem eigenen Leben Unfrieden entsteht. Warum ich anderen Menschen wie begegne – welche
Bewertungen, Gefühle und möglicherweise alten Verletzungen mich
dabei bewusst oder unbewusst steuern. Ich lerne täglich neu – und
halte es für eine extrem schwierige Übung, Menschen, so weit mir
eben möglich, ohne Urteile und mit Mitgefühl zu begegnen. Ihnen die
Wertschätzung entgegenzubringen, die ich mir auch für mich selbst
wünsche. Die wir uns alle wünschen.
Ein wichtiger Impuls auf dem Weg dorthin war die Begegnung mit
einer Frau namens Turiya.
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Selbstversuch: Sannyas-Therapie
Anfang 2000 betrat ich zum ersten Mal das Osho-Uta-Institut in Köln.
Lange war mir dieser Ort suspekt erschienen. Ich ging höchstens mal
in Osho’s Place, dem benachbarten Restaurant, essen oder einen
Kaffee trinken. Ich beobachtete die Besucher dort, von denen viele
irgendwie anders miteinander umgingen. Immer wieder schnappte ich
Fetzen tiefgehender persönlicher Gespräche auf. Sie hörten einander
richtig zu, auch in größeren Gruppen fiel niemand dem anderen ins
Wort. Das Umarmen, das jeder Begrüßung vorausging und minutenlang dauern konnte, fand ich ziemlich übertrieben. Natürlich
blätterte ich beim Cappuccino immer mal wieder in den Exemplaren
der Osho Times, der Postille der Bewegung. Genauso wie im Jahresprogramm des Uta-Instituts für spirituelle Therapie. Mir war nicht klar,
was „spirituelle Therapie“ sein sollte, im Gegensatz zur „normalen“
Gesprächstherapie, mit der ich bereits Erfahrungen gesammelt hatte.
Die Texte, in denen die Meditations- und Selbsterfahrungsgruppen
beschrieben wurden, berührten mich – ohne dass ich hätte erklären
können, warum.
Eine Seminarankündigung stach mir damals besonders ins Auge:
„Liebe und alleine sein“: Da wir Angst davor haben, verletzt,
zurückgewiesen, verlassen, missverstanden und manipuliert zu werden, ziehen wir uns von anderen zurück, trennen uns von unseren
tieferen Gefühlen ab und verkriechen uns in eine innere Isolation, die
wir Alleinsein nennen. Dieses Alleinsein wirkt zeitweilig als Erleichterung, mündet aber meist in ein tiefes Gefühl von Einsamkeit und Leere.
Oft verwechseln wir das Gefühl mit Unabhängigkeit oder Meditation,
obwohl es tatsächlich eine Flucht vor dem grundlegenden Schmerz
des Getrenntseins ist.
Bevor wir wahres Alleinsein erfahren können, müssen wir zunächst
herausfinden, was einer erneuten Verbindung mit der wahren Liebe
im Weg steht.
Unterstützt durch eine liebevolle Atmosphäre und Intensität, wird
während dieses Prozesses die Möglichkeit geschaffen, die Schichten
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um dein Herz herum zu offenbaren. Von diesem Platz der Verletzlichkeit aus erfährst du ein Alleinsein, das nicht trennt, sondern eine
Verbindung zu dir selbst und dem Göttlichen miteinschließt.
Meine Neugier war stärker als meine Vorurteile: Ich meldete mich zu
dem viertägigen Seminar an.
Die Gruppe besteht aus 24 Leuten, etwa gleich viele Männer und
Frauen. Die meisten sind über 40, ein paar um die 30 Jahre alt. Turiya
duzt uns. Sie ist mittelgroß, schmal, ihre langen blonden Haare umrahmen ein interessantes Gesicht. Später erfahre ich, dass die 1948 geborene Therapeutin mit Prinz Welf von Hannover verheiratet war, einem
Cousin des englischen Prinzen Charles und Bruder des berühmtberüchtigten „Pinkelprinzen“ Ernst August. Zusammen mit ihrem
Mann und ihrer kleinen Tochter ging sie 1975 – zum Entsetzen der
adeligen Familie – nach Indien und landete bei Bhagwan in Poona.
Turiya leitet uns durch verschiedene Wahrnehmungs- und Meditationsübungen. Sie redet mit sanfter Stimme. Das, was sie sagt, erreicht und
erschüttert mich in meinen tiefsten Tiefen. Sie spricht direkt in mein
Herz. Nicht nur bei mir brechen durch ihre Worte alte Wunden auf.
Die Assistenten verteilen Taschentücher. Es geht um die Erfahrung, zu
lieben und geliebt zu werden – und die Angst, die für viele von uns
damit verbunden ist: Die Angst, (wieder) verlassen zu werden. Die
Angst, nicht gut genug zu sein. Die Angst, selbst nicht lieben zu können. Die Angst, dass der Partner oder die Partnerin stirbt. Die Angst,
sich wirklich einzulassen, sich ganz zu öffnen. Die Angst, vom Partner
wirklich gesehen zu werden – mit all den Anteilen, die wir so oft sogar
vor uns selbst verstecken. Aus Scham oder Selbstverurteilung und weil
wir von klein auf gelernt haben, dass bestimmte Eigenschaften und
Anteile in uns nicht liebenswert sind.
Was in mir aufbricht in dieser Gruppe, ist unglaublich schmerzhaft. Ich sehe und verstehe auf eine völlig neue Weise, warum ich
die geworden bin, die ich jetzt bin. Es ist kein intellektuelles „Verstehen“. Es ist das intuitive Erfassen einer Wahrheit, die mir bislang
zu schmerzhaft erschien. Die damit verbundenen Emotionen wollte
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ich nicht (wieder) fühlen. Ich hatte sie weggesperrt und rationale
Erklärungen für sie gefunden.
In dieser Gruppe aber geschieht das Fühlen einfach.
Ich kann gar nichts dagegen tun. Etwas in mir öffnet sich nach
langer Zeit wieder. So weh es auch tut – es ist, als wenn ein Fluss sich
Bahn bricht, der nur darauf gewartet hat, sich endlich in Bewegung
setzen zu dürfen. Alles bricht wieder auf: die Verzweiflung über die
vermeintliche Sinnlosigkeit des Lebens, das Gefühl des kleinen Mädchens, allein zu sein und niemanden zu haben, der es unterstützt.
Immer wieder spielt Turiya zwischendurch kurze Auszüge sogenannter Lectures von Osho ein. Zum ersten Mal höre ich das seltsame
Englisch des Inders. Er spricht darüber, wie wichtig es sei, sich auf die
Liebe einzulassen.
Die Gruppe geht weiter.
Immer wieder schaltet sich mein Kopf ein, beginnt, kritische Fragen
zu stellen und Urteile zu fällen. Erlebe ich gerade eine Art Gehirnwäsche? Sind das die Methoden, mit denen Sekten arbeiten? Aber
ich fühle mich nicht manipuliert. Aus dieser Therapeutin spricht eine
Erfahrung und Lebensweisheit, die ich als authentisch und unterstützend empfinde.
Wir machen Körperübungen. Zwischendurch tauschen wir uns
immer wieder in kleinen Gruppen zu zweit oder dritt aus. Ich erzähle
wildfremden Menschen von meiner Kindheit. Ich, die sich immer
geschützt hat aus Angst, dass jemand hinter die Maske der „starken
Frau“ blickt! Es ist ungewohnt und ziemlich schrecklich. Ich weine. Ich
schäme mich. Und es ist befreiend. Niemand verurteilt mich. Die anderen haben ihre nicht minder schmerzhaften Erfahrungen gemacht. Es
tut gut, sich auszutauschen. Es tut gut, gesehen zu werden mit diesen
verborgenen Anteilen.
Als die meisten von uns völlig aufgelöst sind, gibt es die KundaliniMeditation. Diese von Osho entwickelte Meditation zur Musik des
deutschen Musikers Klaus Deuter besteht aus vier Phasen, die je eine
Viertelstunde lang dauern. Zunächst steht man und beginnt, den Körper aus dem Becken heraus zu schütteln. Dann folgt eine Tanzphase.
Anschließend setzt man sich auf ein Meditationskissen und lässt
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sphärische Klänge auf sich einwirken. In der abschließenden StillePhase liegt man auf einer Matratze und beobachtet seine Gedanken
und körperlichen Empfindungen.
Ich mache eine Erfahrung, die mich bis heute begleitet: Ich bin zutiefst
aufgewühlt und emotional in diese Meditation gegangen. Ich bin
durch die Übungen in der Gruppe mit einer abgrundtiefen Verzweiflung und Traurigkeit, mit Verbitterung, Wut und Angst in Kontakt
gekommen. Nach der Meditation ist all das vorbeigezogen. Ich habe
es im wahrsten Sinne des Wortes abgeschüttelt, habe im Tanz meine
Lebensfreude wieder gespürt, beim Sitzen und Liegen meine Emotionen und Erinnerungen an die Vergangenheit einfach nur beobachtet
und festgestellt: Hier und jetzt ist einfach Stille. Und eine Bewusstheit,
dass all diese Emotionen zu mir gehören, mich bis heute prägen – aber
dass es an mir liegt, wie viel Aufmerksamkeit ich ihnen jetzt gebe.
Es ist meine freie Entscheidung, ob ich im emotionalen Schmerz
verhaftet bleibe oder bewusst wieder herausgehe. Es ist meine Entscheidung, ob ich die unangenehmen Emotionen verdränge, ablehne,
nicht spüren will – oder sie liebevoll annehme als einen Teil von mir.
Mein Kopf urteilt, dass ich bestimmt Opfer einer Art Gruppenhypnose geworden bin. Dass es ein guter Trick ist, Menschen in ihre
Verletzungen zu führen und ihnen dann eine Erlösungserfahrung
anzubieten. Dass ich ein paar Hundert Mark ausgegeben habe, um
mich manipulieren zu lassen.
Dabei ist mir dieser Zustand, den mein Verstand als „manipuliert“
einstufen will, gar nicht so unbekannt. Mein Leben lang war ich die
Beobachterin: nicht nur der Geschehnisse im Außen, sondern auch all
dessen, was in mir selbst passiert. Es gab dort immer eine Art Raum,
aus dem heraus ich Zeugin der schmerzhaftesten Emotionen sein
konnte. Allerdings war es mir selten gelungen, diesen Zustand des
Zeugeseins lange aufrechtzuerhalten. Ich ließ mich entweder vom
Drama meiner Gefühle überwältigen und versank dann in manchmal
lange anhaltenden Phasen des Unglücklichseins, oder ich analysierte
diese Gefühle gründlich und rationalisierte sie damit wieder weg.
Die Erfahrung in dieser Gruppe ist eine andere: Wir gehen in die
Emotionen hinein, lassen sie zu, fühlen alles, was gefühlt und ange16
nommen werden möchte, und gehen bewusst wieder heraus aus dem
inneren Drama. Diese Art der „Therapie“ kannte ich bis dahin nicht.
Der nächste Tag verläuft ähnlich intensiv. Bei der Abschlussrunde am
Nachmittag erhält jeder Teilnehmer noch einmal die Gelegenheit, sich
mitzuteilen. Mir scheint es, als könne Turiya jedem Menschen innerhalb von Sekunden tief in die Seele schauen und genau erkennen,
was für ihn oder sie wichtig ist. In der geschützten Atmosphäre der
Gruppe lerne ich etwas, das mich bis heute begleitet: Ich werde mir
meiner eigenen Urteile über andere Menschen bewusst. Ich lerne,
ihre Gefühle, ihre inneren Dramen, die Rollen, die sie zum eigenen
Schutz spielen, zu verstehen, anzuerkennen – und teilweise als meine
eigenen anzunehmen.
Glücklicherweise habe ich nach dem Seminar eine Woche frei. Diese
Zeit brauche ich auch, um das Erlebte zu verarbeiten und in meinen
Alltag zu integrieren.
Etwas in mir ist tief berührt worden. Das, was ich erfahren und beobachtet habe, widerspricht völlig dem wenigen, was ich bisher wusste
oder zu wissen meinte über Bhagwan und Selbsterfahrungsgruppen.
Jahre später beim Verfassen des Manuskriptes für dieses Buch, frage
ich mich, ob ich dieses Erlebnis wirklich veröffentlichen soll. Ich kenne
die Urteile und Bewertungen über „Esoterik“, ich trage sie selbst in
mir. Zudem habe auch ich mein Leben lang alles darangesetzt, mich
zu schützen. Niemand sollte diejenige sehen, die ich auch bin. Ich
will mich nicht „outen“. Ich spüre, wie stark auch ich immer noch
verinnerlicht habe, dass man das „nicht tut“. Wir alle haben gelernt,
dass wir uns besser nicht mit unseren verletzlichen Seiten zeigen. Aus
nachvollziehbarem Selbstschutz, aber auch deshalb, weil es in unserer
Leistungsgesellschaft nach wie vor als peinlich, schwach oder egoistisch
gilt, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Doch ich habe in dieser und anderen Gruppen danach die Erfahrung
gemacht, wie gut es tut, mich so zu zeigen, wie ich wirklich bin: mit
allen Gefühlen, mit meinen Stärken und auch mit meinen „Schwächen“,
meiner Verletzlichkeit. Ich habe Verantwortung übernommen für mich
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selbst, mich den Themen gestellt, die mich immer wieder einholen in
meinem Leben, meinen Beziehungen, an meinem Arbeitsplatz. Ich
habe eine Ahnung davon bekommen, wie ein achtsamerer Umgang
mit mir selbst und mit den Menschen um mich herum einen kleinen
Teil zu der Veränderung beitragen könnte , die ich mir wünsche für
diese Welt.
Warum nicht davon erzählen? Davon, und von meinen weiteren
Begegnungen und Erlebnissen in der Sannyasin-Szene?
Standortbestimmung
Was ich wahrnehme, ist, dass sich mittlerweile sehr viele Menschen vor
allem in den Industrieländern fragen, ob Einkommen, Ansehen und all
die materiellen Werte, denen sie hinterherjagen, wirklich so wichtig
sind. Die Zahl psychischer Erkrankungen und sogenannter Burn-outs
steigt rapide an. Der geradezu heilige Fetisch ewigen, unbegrenzten
Wachstums ist ins Wanken geraten. Die ökologischen Folgen unserer
Unachtsamkeit und Gier sind unübersehbar. Die Krise unseres Finanzsystems stürzt immer mehr Menschen in Arbeitslosigkeit, Armut und
Verzweiflung. Die Folgen sind nicht nur eine wachsende Wut angesichts der Verteilungsungerechtigkeit, sondern auch zumindest der
Beginn der Einsicht, dass wir nicht einfach weitermachen können mit
der Ausbeutung anderer Menschen und unserer Lebensgrundlagen.
Wirtschaftswissenschaftler arbeiten an neuen Modellen, um das im
Kapitalismus geradezu heilige „Bruttosozialprodukt“ in ein an ganz
anderen Faktoren zu messendes „Bruttosozialglück“ zu verwandeln.
Gefühltes Leben statt materieller Besitz.
Vielleicht bahnt sich ja tatsächlich ein Bewusstseinswandel an, vielleicht zieht künftig mehr Spiritualität ein in unser Leben und unsere
verfestigten Wahrnehmungsmuster. Unter Spiritualität verstehe ich
etwas, das wir eigentlich alle kennen: ein Mit-dem-Herzen-Schauen,
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eine Haltung des Mitgefühls, das Wissen darum, dass wir alle miteinander verbunden sind. Dass wir die Welt, in der wir leben, selbst
kreieren, und dass es wenig hilfreich ist, die Verantwortung für sie
nur auf „die anderen, die sich ja auch nicht verändern“, zu verlagern.
Ich beobachte, dass viele Menschen, die erschöpft und unzufrieden
mit ihrer Arbeit, ihrem Leben und sich selbst sind, beginnen – mitunter
gezwungen durch ihren Körper – innezuhalten. Sie suchen Ruhe, Rat
und innere, erfahrbare Antworten. Während die Kirchen Mitglieder
verlieren, erleben fernöstliche Entspannungstechniken wie Yoga, Tai
Chi oder Chi Gong einen Boom. Zahlreiche Menschen erwandern den
Jakobsweg in der Hoffnung auf innere Einkehr. Psychologen, Coaches,
Zen- und andere spirituelle Lehrer sind gefragt.
Bücher und Seminare östlicher und westlicher Mystiker sowie
nicht selten hanebüchene esoterische Angebote verzeichnen einen
wachsenden Absatz. Sie alle werden vom auch dort Rendite witternden Markt begierig als „Wellness“-Dienstleistung ins Sortiment
aufgenommen.
Achtsamkeit und Meditation sind heute für viele Menschen keine
Fremdwörter mehr. Manager meditieren in Klöstern, Unternehmen
richten Entspannungsräume ein, Yoga wird in Fitness-Studios unterrichtet und etliche entsprechende Kurse u.a. in Mindfulness Based
Stress Reduction (MBSR)* werden von den Krankenkassen finanziert.
Einer der neueren Vorreiter dieser Entwicklung war Bhagwan alias
Osho. Googelt man den bis heute umstrittenen Guru, tauchen über
hundert Buchtitel allein im Online-Buchhandel auf. Seine Werke
wurden in 47 Sprachen übersetzt und stehen in fast jeder größeren
Buchhandlung.
Mehr als 20 Jahre nach seinem Tod gilt Osho in seiner Heimat
Indien als einer der größten Mystiker des Landes, dessen Bücher zur
Sammlung der indischen Nationalbibliothek gehören. Seine Meditationstechniken, allen voran die sogenannte „Dynamische“ und
die „Kundalini“-Meditation, werden von therapeutischen Kliniken
* MBSR ist ein 1979 von Jon Kabat-Zinn in den USA entwickeltes und wissenschaftlich
begleitetes Meditationsprogramm zur „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“.
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