Vom Mut, den eigenen Weg zu finden
Transcription
Vom Mut, den eigenen Weg zu finden
Kirsten Pape Vom Mut, den eigenen Weg zu finden Licht- und Schattenseiten einer spirituellen Bewegung 3 4 Prolog 7 Selbstversuch: Sannyas-Therapie 13 Standortbestimmung 18 „Ich wollte wissen, wie man stirbt“ Die spirituelle Therapeutin: Turiya Hanover alias Wibke von Gunsteren Abriss: Die Geschichte von Bhagwan und der Sannyasin-Bewegung „Natürlich war das eine Sekte“ Der Coach: Klaus Peter Horn Heiliges Ritual: Sannyas-Celebration „Mein Koan war: Was ist Liebe?“ Der Arzt: Ramateertha alias Robert Doetsch Begegnung auf Korfu „Osho war nie ein Sannyasin“ Der Satsang-Lehrer und Musiker: Pari alias Aristides Laskaridis 22 50 63 108 111 146 147 Besuch im Ashram in Pune 170 Parimal: Erfahrungen in einer spirituellen Lebensgemeinschaft 177 „Ich würde gerne eine Celebration-Company gründen“ Die Sufi-Musikerin: Navino alias Sylvia Szymath 178 „Was ich mit Osho verbinde, ist einfach Liebe“ Bodhi Waduda alias Marieke Olthoff 191 Schlussbetrachtungen 210 Literaturverzeichnis 212 5 Dieses Buch ist nach intensiver Recherche und vielen Gesprächen mit Anhängern des indischen Mystikers Bhagwan alias Osho entstanden. Es erhebt keinerlei Anspruch auf irgendeine „Wahrheit“, sondern stellt die subjektive Sichtweise von Menschen dar, die einen besonderen Weg gegangen sind in einer besonderen Zeit, in der sie einem besonderen Menschen begegneten. 6 Prolog Oktober 2012 Ich bin, wieder mal, in der Wüste. Die endlose Weite der marokkanischen Sahara umhüllt mich wie ein schützender Mantel. Ich fühle mich geborgen und verbunden mit dem, was einfach IST. Es ist die Leere, das vermeintliche Nichts, die hörbare Stille, die mir immer wieder den Raum öffnet, ich selbst zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Ich spüre meinen Körper. Ich beobachte meine auch hier rastlosen Gedanken, die mich entweder an schöne und weniger schöne Erfahrungen in meinem Leben erinnern oder in eine imaginäre Zukunft führen. Wenn es mir gelingt, sie zu stoppen, bin ich einfach hier. Jetzt. Kann in der Stille der Wüste einen tiefen inneren Frieden wahrnehmen. In der Wüste ist alles so, wie es eben ist. Ich verliere mich in den endlosen Formen und Farben der Sandlandschaft. Zeichne mit den Augen die weiblichen Formen der Dünen nach, der „Malerei des Windes“, wie sie die Nomaden nennen. Die Wüste ist für mich das Sinnbild der Hingabe an das Leben. Hier kann ich am besten meine innere Stimme hören. Jene Stimme, die im Alltag so oft überlagert wird von vermeintlich wichtigeren Dingen. Sie sagt mir, dass alles gut ist, so wie es ist. Dass es nichts zu tun, nichts zu erreichen gibt. Dass es genug ist, zu sein. Zu leben und alles, was mir in diesem Leben begegnet – das Schöne genauso wie das Schmerzhafte – als Erfahrung anzunehmen. Dieses tiefe Wissen ist in mir. Es ist uralt und erschließt sich immer wieder neu. Ich kann es jederzeit abrufen. Hier in der Wüste, oder auch an anderen stillen Plätzen in der Natur, geht das leichter als im richtigen Leben. Ich habe lange danach gesucht. Glaube zwischendurch immer mal wieder, es verloren zu haben. Doch es ist und bleibt da. Gibt mir Kraft und hilft mir, zu vertrauen. Ich habe mir dieses Wissen, diese Bewusstheit selbst erschlossen – und habe immer wieder Unterstützung erfahren. Dabei bin ich mir selbst begegnet – und vielen verschiedenen Menschen, die auf dem gleichen Weg sind. Ihre Geschichten interessierten mich. Egal ob Buddhisten, Yogis, Schamanen, Menschen, 7 die neue Formen des Zusammenlebens und Teilens ausprobieren, und natürlich alle die, die einfach ihren Alltag leben – jeder versucht auf seine Art, glücklich zu werden, seinem oder ihrem Leben einen Sinn zu geben. Immer wieder traf ich auch Sannyasins, Anhänger des verstorbenen indischen Mystikers Rajneesh Chandra Mohan alias Bhagwan, der sich später Osho nannte. Er war in den 1970er- und 1980er-Jahren als radikaler Sektenführer verschrien, der seine Anhänger angeblich zu Unterwerfung und hemmungslosem Sex nötigte. Die Sannyasins, die ich kennenlernte, erzählten andere Geschichten. Selbst die, die Osho später den Rücken kehrten, betonten, wie dankbar sie für eine Erfahrung seien, die ihr Leben bereichert habe. Um einige von ihnen soll es in diesem Buch gehen. Denn das, was sie erzählten, weckte meine Neugier. ***** Eine, die nach Wahrheiten im Leben suchte, war ich schon immer. Ich kann mich noch gut an den Beginn der 1980er-Jahre erinnern: Gerade volljährig geworden, war ich aktiv in der Friedens- und Umweltbewegung, sympathisierte mit den Grünen und wollte die Welt, wenn schon nicht retten, dann doch wenigstens dazu beitragen, sie positiv zu verändern. Frieden und Gerechtigkeit schaffen für alle Menschen, das war meiner Meinung nach nur durch aktive politische Betätigung zu erreichen. Mit mir selbst, meinem Sein in der Welt, mit der Frage, wie ich mich auf andere Menschen beziehe, hatte das nach meiner damaligen Wahrnehmung eher wenig zu tun. Ich orientierte mich vorwiegend an dem, was in der Welt passierte, an wissenschaftlichen Theorien, an ideologischen Diskussionen über (partei-)politische Konzepte. Mir wurde klar, dass ich ganz persönlich mit meinem Lebensstil dazu beitrage, wie hoch mein Anteil am Ressourcenverbrauch ist. Dass ich durch Teilen dessen, was ich ‚habe’, andere Menschen unterstützen kann. Immer wieder mal flackerte eine vage Erkenntnis auf, dass Unfrieden schon im Kleinen da entsteht, wo ich selbst nicht bereit bin, andere so zu lassen, wie sie sind. 8 Der Satz von Mahatma Gandhi „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt“ überzeugte mich. Gelegentlich wurde mir für kurze Augenblicke klar, dass ich meine Umwelt in jedem Moment anders wahrnehmen kann. Als Paradies oder als Hölle – je nachdem, wie bewusst mir die Brille ist, durch die ich gerade auf mich selbst und die Welt schaue. Doch für diese damals wie heute schwer in Worte zu fassende Sichtweise konnte ich mich zunächst noch nicht wirklich öffnen. Manchmal erlebte ich einen Zustand, in dem ich meinte, einfach zu wissen, dass das, was wir Menschen einander und der Erde antun, nicht im Einklang ist mit unserem wahren Selbst. Dass wir eigentlich alle miteinander verbunden sind: Ich bin du und du bist ich. Dass die vermeintlichen Schattenseiten, die „negativen“ Eigenschaften, die ich in meinem Gegenüber wahrzunehmen meine, oft meine eigenen Anteile spiegeln, die ich auch in mir selbst ablehne. Diese Erkenntnis wurde schnell wieder überlagert. Von eigenen negativen Erlebnissen oder von rationalen und intellektuellen Betrachtungen – und Ängsten – darüber, wie wir Menschen und die von uns geschaffenen Verhältnisse auf der Erde offenbar „sind“. Augenscheinlich eben nicht miteinander verbunden, sondern jeder nur auf persönlichen Vorteil und Gewinn bedacht. Ein Blick in die Geschichte der Spezies Mensch mit ihren unzähligen, unsinnigen Kriegen um Land und Macht und Einfluss scheint ja genau das zu beweisen. Über die Menschen, die Auswege aus Ungerechtigkeit und Unfrieden suchen, die einen spirituellen Weg gehen oder gemeinschaftlich neue Wirtschafts-, Arbeits- und Lebensmodelle erproben, wurde und wird eher wenig und oft mit mildem Spott berichtet. Sie werden als sogenannte Gutmenschen belächelt oder verunglimpft. Erstaunlich viele fühlen sich von „Gutmenschen“ in dem bedroht, was sie als ihre Freiheit empfinden. Wie sähe die Welt wohl aus, wenn unser Fokus auf Geschichten des Miteinanders statt Gegeneinanders gerichtet wäre? Wenn wir es für möglich hielten, dass wir als Menschen auch anders, nämlich respektund liebevoller miteinander umgehen könnten? Wenn die Medien regelmäßig auch über ‚gute’ Nachrichten berichteten? Wenn unsere 9 Grundwahrnehmung von uns selbst und der Welt eine positive und liebevolle wäre – wäre unsere Realität dann eine andere? „Zu komplex und unrealistisch“, befand die rational geschulte Denkerin in mir. Zudem doch auch nur ein mögliches Konzept, eine mögliche Erklärung dafür, wer wir sind und wer wir sein könnten. Wenn auch ein Konzept, das mir bis heute ziemlich gut gefällt. Die Sucherin jedenfalls jagte Antworten auf die drängenden gesellschaftlichen Fragen weiterhin vor allem auf der praktisch-politischen Ebene hinterher. Gleichzeitig begann ich damals schon, mich für Meditation, Yoga und die Lehren verschiedener spiritueller Lehrer zu interessieren. Besonders im Mittelpunkt des Medieninteresses stand in jener Zeit ein Inder mit einem langen weißen Bart, der sich Bhagwan nannte und der die Abkehr von allen politischen und religiösen Glaubenssystemen empfahl. Der seine Anhänger in radikalen sogenannten „Encounter-Gruppen“ ermunterte, alle ihre negativen Emotionen herauszuschreien, herauszuprügeln und noch einmal zu durchleben – um sie dann in der Meditation ganz loszulassen. Sein immer wieder vorgetragenes Credo: „Komm zurück zu deinem eigentlichen Wesen, das nur überlagert ist von all dem, was du gelernt hast durch deine Eltern, Lehrer, Priester und Politiker, und erkenne, was du wirklich bist: reine, bedingungslose Liebe. Kein Politiker kann jemals die Welt verändern. Die Welt wird sich nur durch erwachte und bewusste Individuen verändern.“ Eine Sichtweise, die nicht nur von mir als esoterischer Quatsch abqualifiziert wurde. Der indische Mystiker Bhagwan galt wie viele seiner spirituellen Vorgänger in anderen Jahrhunderten als Ketzer. Er war rational nicht zu fassen mit seinen nihilistisch gegen alle Gesellschaftsordnungen gerichteten Thesen. Der belesene Philosophieprofessor, der unter anderem Jesus, Buddha, Mohammed, Lao Tse, Sufi-Gelehrte, Nietzsche oder Freud ohne auch nur einen kleinen Notizzettel referierte, lehrte eine radikale Eigenverantwortung, die sich in keine Ideologie, kein Glaubenssystem einordnen ließ. Bhagwan bezeichnete sich selbst damals gerne als „gefährlichsten Mann der Welt“. Er provozierte mit seinem Auftreten, seinen Vorträgen und seinen fast hundert Rolls-Royces Politik, Kirchen und Medien. Die Bewegung seiner Anhänger, der sogenannten Sannyasins, galt als Sekte. 10 Trotzdem zog Bhagwan Hunderttausende Menschen aus aller Welt an. Auf der Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen reisten sie zu ebendiesem Guru nach Indien – und viele von ihnen blieben gleich dort. Für mich damals so interessant wie unverständlich. Das ganze Leben ausrichten auf Meditation – also rumsitzen und nichts tun –, statt den vermeintlich normalen Gang der Dinge zu gehen: Schule, Ausbildung, Job, Familie gründen, eventuell sogar aktiv beitragen zur Veränderung der Welt? Wie konnte man sich sehenden Auges auf fragwürdige Psychogruppen einlassen, auf eine „spirituelle Hingabe“, die auch ich mit Unterwerfung gleichsetzte? Noch dazu, wenn man aus Deutschland kam, das immer noch dabei war, seine schrecklichen Erfahrungen mit einem selbst ernannten Führer zu verarbeiten? Was bedeutete „radikale Eigenverantwortung“ und wie konnte man seine persönliche „Selbstfindung“ derart wichtig nehmen? Völlig unpolitisch, purer Egoismus und Hedonismus, esoterisches Brimborium, befand ich. Dass Tausende Sannyasins später ein politisches Großexperiment im amerikanischen Oregon starteten, wo sie im Schweiße ihres Angesichts eine Kleinstadt aufbauten, die eine ökologische Modellkommune der „neuen Menschen“ werden sollte, erwies sich zudem als gefährliche Illusion. Auch die Sannyasins mit ihrem vermeintlich erleuchteten Guru waren ganz offensichtlich nicht gefeit vor Machtmissbrauch, Kriminalität und Mitläufertum. Vorerst blieb ich in der Welt zu Hause, in der ich mich auskannte. Ich engagierte mich politisch, führte mein Studium zu Ende und wurde Journalistin. Also Angehörige einer Zunft, deren Selbstverständnis es ist, immer in der Beobachterrolle zu bleiben und Distanz zu allem zu wahren. Doch eine gewisse Bewusstheit blieb – eine bewusste Beobachterhaltung, aus der heraus ich auch ganz andere Fragen stellte als die üblichen rationalen zum Zustand der Welt. Ich hinterfragte die vermeintliche Distanz in der Berichterstattung. Folge ich bei dem, was ich sage und schreibe, nicht viel zu oft nur dem jeweils gerade gültigen Mainstream und damit einer vorgegebenen Sicht auf die Welt und die Menschen? Oder lasse mich selbst, genauso ohne „Distanz“, von meiner eigenen Haltung leiten? Mein Bewusstsein und Unbehagen 11 darüber, welche Rolle die Medien bei der Auswahl von Themen und Gesprächspartnern sowie der zunehmenden Skandalisierung bestimmter Sachverhalte spielen, wuchsen. Bei jeder Begegnung, ob beruflich oder privat, wurde mir klar, dass jeder Mensch schlichtweg seine eigene Geschichte, seine eigene Wahrnehmung von sich selbst und der Welt besitzt. Egal ob sie Politikerin oder er Bäcker ist – oder eben Journalistin. Gibt es überhaupt „richtig“ und „falsch“? Oder gibt es nur subjektive Wahrheiten und gesellschaftlich geformte und als Theorie oder Ideologie akzeptierte Sichtweisen dessen, was wir „Realität“ nennen? Sichtweisen, welche wiederum zu allen Zeiten von wirtschaftlichen, politischen und religiösen Eliten instrumentalisiert wurden und werden? Ich kreise bis heute um die schon von Millionen anderen angestellten Überlegungen zum immer gleichen Komplex: Wer sind wir und wozu sind wir hier? Wird es uns jemals gelingen, unser Zusammenleben friedlich und gerecht zu gestalten? Der Ansatz, dass ich bei mir selbst beginnen muss und unter anderem durch mein (Konsum-)Verhalten, meine Kommunikation und mein Sein immer wieder winzige Mosaiksteinchen der Veränderung einfügen kann ins große Ganze, überzeugt mich bis heute am meisten: Wie innen, so außen. In der Außenwelt befasse ich mich weiterhin mit der großen und kleinen Politik, mit interessanten Konzepten und interessanten Menschen. Die Begegnung mit anderen Suchern und ihren Lebensentwürfen inspiriert mich immer wieder neu auch zu einer inneren Auseinandersetzung damit, wann und wodurch in meinem eigenen Leben Unfrieden entsteht. Warum ich anderen Menschen wie begegne – welche Bewertungen, Gefühle und möglicherweise alten Verletzungen mich dabei bewusst oder unbewusst steuern. Ich lerne täglich neu – und halte es für eine extrem schwierige Übung, Menschen, so weit mir eben möglich, ohne Urteile und mit Mitgefühl zu begegnen. Ihnen die Wertschätzung entgegenzubringen, die ich mir auch für mich selbst wünsche. Die wir uns alle wünschen. Ein wichtiger Impuls auf dem Weg dorthin war die Begegnung mit einer Frau namens Turiya. 12 Selbstversuch: Sannyas-Therapie Anfang 2000 betrat ich zum ersten Mal das Osho-Uta-Institut in Köln. Lange war mir dieser Ort suspekt erschienen. Ich ging höchstens mal in Osho’s Place, dem benachbarten Restaurant, essen oder einen Kaffee trinken. Ich beobachtete die Besucher dort, von denen viele irgendwie anders miteinander umgingen. Immer wieder schnappte ich Fetzen tiefgehender persönlicher Gespräche auf. Sie hörten einander richtig zu, auch in größeren Gruppen fiel niemand dem anderen ins Wort. Das Umarmen, das jeder Begrüßung vorausging und minutenlang dauern konnte, fand ich ziemlich übertrieben. Natürlich blätterte ich beim Cappuccino immer mal wieder in den Exemplaren der Osho Times, der Postille der Bewegung. Genauso wie im Jahresprogramm des Uta-Instituts für spirituelle Therapie. Mir war nicht klar, was „spirituelle Therapie“ sein sollte, im Gegensatz zur „normalen“ Gesprächstherapie, mit der ich bereits Erfahrungen gesammelt hatte. Die Texte, in denen die Meditations- und Selbsterfahrungsgruppen beschrieben wurden, berührten mich – ohne dass ich hätte erklären können, warum. Eine Seminarankündigung stach mir damals besonders ins Auge: „Liebe und alleine sein“: Da wir Angst davor haben, verletzt, zurückgewiesen, verlassen, missverstanden und manipuliert zu werden, ziehen wir uns von anderen zurück, trennen uns von unseren tieferen Gefühlen ab und verkriechen uns in eine innere Isolation, die wir Alleinsein nennen. Dieses Alleinsein wirkt zeitweilig als Erleichterung, mündet aber meist in ein tiefes Gefühl von Einsamkeit und Leere. Oft verwechseln wir das Gefühl mit Unabhängigkeit oder Meditation, obwohl es tatsächlich eine Flucht vor dem grundlegenden Schmerz des Getrenntseins ist. Bevor wir wahres Alleinsein erfahren können, müssen wir zunächst herausfinden, was einer erneuten Verbindung mit der wahren Liebe im Weg steht. Unterstützt durch eine liebevolle Atmosphäre und Intensität, wird während dieses Prozesses die Möglichkeit geschaffen, die Schichten 13 um dein Herz herum zu offenbaren. Von diesem Platz der Verletzlichkeit aus erfährst du ein Alleinsein, das nicht trennt, sondern eine Verbindung zu dir selbst und dem Göttlichen miteinschließt. Meine Neugier war stärker als meine Vorurteile: Ich meldete mich zu dem viertägigen Seminar an. Die Gruppe besteht aus 24 Leuten, etwa gleich viele Männer und Frauen. Die meisten sind über 40, ein paar um die 30 Jahre alt. Turiya duzt uns. Sie ist mittelgroß, schmal, ihre langen blonden Haare umrahmen ein interessantes Gesicht. Später erfahre ich, dass die 1948 geborene Therapeutin mit Prinz Welf von Hannover verheiratet war, einem Cousin des englischen Prinzen Charles und Bruder des berühmtberüchtigten „Pinkelprinzen“ Ernst August. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ging sie 1975 – zum Entsetzen der adeligen Familie – nach Indien und landete bei Bhagwan in Poona. Turiya leitet uns durch verschiedene Wahrnehmungs- und Meditationsübungen. Sie redet mit sanfter Stimme. Das, was sie sagt, erreicht und erschüttert mich in meinen tiefsten Tiefen. Sie spricht direkt in mein Herz. Nicht nur bei mir brechen durch ihre Worte alte Wunden auf. Die Assistenten verteilen Taschentücher. Es geht um die Erfahrung, zu lieben und geliebt zu werden – und die Angst, die für viele von uns damit verbunden ist: Die Angst, (wieder) verlassen zu werden. Die Angst, nicht gut genug zu sein. Die Angst, selbst nicht lieben zu können. Die Angst, dass der Partner oder die Partnerin stirbt. Die Angst, sich wirklich einzulassen, sich ganz zu öffnen. Die Angst, vom Partner wirklich gesehen zu werden – mit all den Anteilen, die wir so oft sogar vor uns selbst verstecken. Aus Scham oder Selbstverurteilung und weil wir von klein auf gelernt haben, dass bestimmte Eigenschaften und Anteile in uns nicht liebenswert sind. Was in mir aufbricht in dieser Gruppe, ist unglaublich schmerzhaft. Ich sehe und verstehe auf eine völlig neue Weise, warum ich die geworden bin, die ich jetzt bin. Es ist kein intellektuelles „Verstehen“. Es ist das intuitive Erfassen einer Wahrheit, die mir bislang zu schmerzhaft erschien. Die damit verbundenen Emotionen wollte 14 ich nicht (wieder) fühlen. Ich hatte sie weggesperrt und rationale Erklärungen für sie gefunden. In dieser Gruppe aber geschieht das Fühlen einfach. Ich kann gar nichts dagegen tun. Etwas in mir öffnet sich nach langer Zeit wieder. So weh es auch tut – es ist, als wenn ein Fluss sich Bahn bricht, der nur darauf gewartet hat, sich endlich in Bewegung setzen zu dürfen. Alles bricht wieder auf: die Verzweiflung über die vermeintliche Sinnlosigkeit des Lebens, das Gefühl des kleinen Mädchens, allein zu sein und niemanden zu haben, der es unterstützt. Immer wieder spielt Turiya zwischendurch kurze Auszüge sogenannter Lectures von Osho ein. Zum ersten Mal höre ich das seltsame Englisch des Inders. Er spricht darüber, wie wichtig es sei, sich auf die Liebe einzulassen. Die Gruppe geht weiter. Immer wieder schaltet sich mein Kopf ein, beginnt, kritische Fragen zu stellen und Urteile zu fällen. Erlebe ich gerade eine Art Gehirnwäsche? Sind das die Methoden, mit denen Sekten arbeiten? Aber ich fühle mich nicht manipuliert. Aus dieser Therapeutin spricht eine Erfahrung und Lebensweisheit, die ich als authentisch und unterstützend empfinde. Wir machen Körperübungen. Zwischendurch tauschen wir uns immer wieder in kleinen Gruppen zu zweit oder dritt aus. Ich erzähle wildfremden Menschen von meiner Kindheit. Ich, die sich immer geschützt hat aus Angst, dass jemand hinter die Maske der „starken Frau“ blickt! Es ist ungewohnt und ziemlich schrecklich. Ich weine. Ich schäme mich. Und es ist befreiend. Niemand verurteilt mich. Die anderen haben ihre nicht minder schmerzhaften Erfahrungen gemacht. Es tut gut, sich auszutauschen. Es tut gut, gesehen zu werden mit diesen verborgenen Anteilen. Als die meisten von uns völlig aufgelöst sind, gibt es die KundaliniMeditation. Diese von Osho entwickelte Meditation zur Musik des deutschen Musikers Klaus Deuter besteht aus vier Phasen, die je eine Viertelstunde lang dauern. Zunächst steht man und beginnt, den Körper aus dem Becken heraus zu schütteln. Dann folgt eine Tanzphase. Anschließend setzt man sich auf ein Meditationskissen und lässt 15 sphärische Klänge auf sich einwirken. In der abschließenden StillePhase liegt man auf einer Matratze und beobachtet seine Gedanken und körperlichen Empfindungen. Ich mache eine Erfahrung, die mich bis heute begleitet: Ich bin zutiefst aufgewühlt und emotional in diese Meditation gegangen. Ich bin durch die Übungen in der Gruppe mit einer abgrundtiefen Verzweiflung und Traurigkeit, mit Verbitterung, Wut und Angst in Kontakt gekommen. Nach der Meditation ist all das vorbeigezogen. Ich habe es im wahrsten Sinne des Wortes abgeschüttelt, habe im Tanz meine Lebensfreude wieder gespürt, beim Sitzen und Liegen meine Emotionen und Erinnerungen an die Vergangenheit einfach nur beobachtet und festgestellt: Hier und jetzt ist einfach Stille. Und eine Bewusstheit, dass all diese Emotionen zu mir gehören, mich bis heute prägen – aber dass es an mir liegt, wie viel Aufmerksamkeit ich ihnen jetzt gebe. Es ist meine freie Entscheidung, ob ich im emotionalen Schmerz verhaftet bleibe oder bewusst wieder herausgehe. Es ist meine Entscheidung, ob ich die unangenehmen Emotionen verdränge, ablehne, nicht spüren will – oder sie liebevoll annehme als einen Teil von mir. Mein Kopf urteilt, dass ich bestimmt Opfer einer Art Gruppenhypnose geworden bin. Dass es ein guter Trick ist, Menschen in ihre Verletzungen zu führen und ihnen dann eine Erlösungserfahrung anzubieten. Dass ich ein paar Hundert Mark ausgegeben habe, um mich manipulieren zu lassen. Dabei ist mir dieser Zustand, den mein Verstand als „manipuliert“ einstufen will, gar nicht so unbekannt. Mein Leben lang war ich die Beobachterin: nicht nur der Geschehnisse im Außen, sondern auch all dessen, was in mir selbst passiert. Es gab dort immer eine Art Raum, aus dem heraus ich Zeugin der schmerzhaftesten Emotionen sein konnte. Allerdings war es mir selten gelungen, diesen Zustand des Zeugeseins lange aufrechtzuerhalten. Ich ließ mich entweder vom Drama meiner Gefühle überwältigen und versank dann in manchmal lange anhaltenden Phasen des Unglücklichseins, oder ich analysierte diese Gefühle gründlich und rationalisierte sie damit wieder weg. Die Erfahrung in dieser Gruppe ist eine andere: Wir gehen in die Emotionen hinein, lassen sie zu, fühlen alles, was gefühlt und ange16 nommen werden möchte, und gehen bewusst wieder heraus aus dem inneren Drama. Diese Art der „Therapie“ kannte ich bis dahin nicht. Der nächste Tag verläuft ähnlich intensiv. Bei der Abschlussrunde am Nachmittag erhält jeder Teilnehmer noch einmal die Gelegenheit, sich mitzuteilen. Mir scheint es, als könne Turiya jedem Menschen innerhalb von Sekunden tief in die Seele schauen und genau erkennen, was für ihn oder sie wichtig ist. In der geschützten Atmosphäre der Gruppe lerne ich etwas, das mich bis heute begleitet: Ich werde mir meiner eigenen Urteile über andere Menschen bewusst. Ich lerne, ihre Gefühle, ihre inneren Dramen, die Rollen, die sie zum eigenen Schutz spielen, zu verstehen, anzuerkennen – und teilweise als meine eigenen anzunehmen. Glücklicherweise habe ich nach dem Seminar eine Woche frei. Diese Zeit brauche ich auch, um das Erlebte zu verarbeiten und in meinen Alltag zu integrieren. Etwas in mir ist tief berührt worden. Das, was ich erfahren und beobachtet habe, widerspricht völlig dem wenigen, was ich bisher wusste oder zu wissen meinte über Bhagwan und Selbsterfahrungsgruppen. Jahre später beim Verfassen des Manuskriptes für dieses Buch, frage ich mich, ob ich dieses Erlebnis wirklich veröffentlichen soll. Ich kenne die Urteile und Bewertungen über „Esoterik“, ich trage sie selbst in mir. Zudem habe auch ich mein Leben lang alles darangesetzt, mich zu schützen. Niemand sollte diejenige sehen, die ich auch bin. Ich will mich nicht „outen“. Ich spüre, wie stark auch ich immer noch verinnerlicht habe, dass man das „nicht tut“. Wir alle haben gelernt, dass wir uns besser nicht mit unseren verletzlichen Seiten zeigen. Aus nachvollziehbarem Selbstschutz, aber auch deshalb, weil es in unserer Leistungsgesellschaft nach wie vor als peinlich, schwach oder egoistisch gilt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Doch ich habe in dieser und anderen Gruppen danach die Erfahrung gemacht, wie gut es tut, mich so zu zeigen, wie ich wirklich bin: mit allen Gefühlen, mit meinen Stärken und auch mit meinen „Schwächen“, meiner Verletzlichkeit. Ich habe Verantwortung übernommen für mich 17 selbst, mich den Themen gestellt, die mich immer wieder einholen in meinem Leben, meinen Beziehungen, an meinem Arbeitsplatz. Ich habe eine Ahnung davon bekommen, wie ein achtsamerer Umgang mit mir selbst und mit den Menschen um mich herum einen kleinen Teil zu der Veränderung beitragen könnte , die ich mir wünsche für diese Welt. Warum nicht davon erzählen? Davon, und von meinen weiteren Begegnungen und Erlebnissen in der Sannyasin-Szene? Standortbestimmung Was ich wahrnehme, ist, dass sich mittlerweile sehr viele Menschen vor allem in den Industrieländern fragen, ob Einkommen, Ansehen und all die materiellen Werte, denen sie hinterherjagen, wirklich so wichtig sind. Die Zahl psychischer Erkrankungen und sogenannter Burn-outs steigt rapide an. Der geradezu heilige Fetisch ewigen, unbegrenzten Wachstums ist ins Wanken geraten. Die ökologischen Folgen unserer Unachtsamkeit und Gier sind unübersehbar. Die Krise unseres Finanzsystems stürzt immer mehr Menschen in Arbeitslosigkeit, Armut und Verzweiflung. Die Folgen sind nicht nur eine wachsende Wut angesichts der Verteilungsungerechtigkeit, sondern auch zumindest der Beginn der Einsicht, dass wir nicht einfach weitermachen können mit der Ausbeutung anderer Menschen und unserer Lebensgrundlagen. Wirtschaftswissenschaftler arbeiten an neuen Modellen, um das im Kapitalismus geradezu heilige „Bruttosozialprodukt“ in ein an ganz anderen Faktoren zu messendes „Bruttosozialglück“ zu verwandeln. Gefühltes Leben statt materieller Besitz. Vielleicht bahnt sich ja tatsächlich ein Bewusstseinswandel an, vielleicht zieht künftig mehr Spiritualität ein in unser Leben und unsere verfestigten Wahrnehmungsmuster. Unter Spiritualität verstehe ich etwas, das wir eigentlich alle kennen: ein Mit-dem-Herzen-Schauen, 18 eine Haltung des Mitgefühls, das Wissen darum, dass wir alle miteinander verbunden sind. Dass wir die Welt, in der wir leben, selbst kreieren, und dass es wenig hilfreich ist, die Verantwortung für sie nur auf „die anderen, die sich ja auch nicht verändern“, zu verlagern. Ich beobachte, dass viele Menschen, die erschöpft und unzufrieden mit ihrer Arbeit, ihrem Leben und sich selbst sind, beginnen – mitunter gezwungen durch ihren Körper – innezuhalten. Sie suchen Ruhe, Rat und innere, erfahrbare Antworten. Während die Kirchen Mitglieder verlieren, erleben fernöstliche Entspannungstechniken wie Yoga, Tai Chi oder Chi Gong einen Boom. Zahlreiche Menschen erwandern den Jakobsweg in der Hoffnung auf innere Einkehr. Psychologen, Coaches, Zen- und andere spirituelle Lehrer sind gefragt. Bücher und Seminare östlicher und westlicher Mystiker sowie nicht selten hanebüchene esoterische Angebote verzeichnen einen wachsenden Absatz. Sie alle werden vom auch dort Rendite witternden Markt begierig als „Wellness“-Dienstleistung ins Sortiment aufgenommen. Achtsamkeit und Meditation sind heute für viele Menschen keine Fremdwörter mehr. Manager meditieren in Klöstern, Unternehmen richten Entspannungsräume ein, Yoga wird in Fitness-Studios unterrichtet und etliche entsprechende Kurse u.a. in Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR)* werden von den Krankenkassen finanziert. Einer der neueren Vorreiter dieser Entwicklung war Bhagwan alias Osho. Googelt man den bis heute umstrittenen Guru, tauchen über hundert Buchtitel allein im Online-Buchhandel auf. Seine Werke wurden in 47 Sprachen übersetzt und stehen in fast jeder größeren Buchhandlung. Mehr als 20 Jahre nach seinem Tod gilt Osho in seiner Heimat Indien als einer der größten Mystiker des Landes, dessen Bücher zur Sammlung der indischen Nationalbibliothek gehören. Seine Meditationstechniken, allen voran die sogenannte „Dynamische“ und die „Kundalini“-Meditation, werden von therapeutischen Kliniken * MBSR ist ein 1979 von Jon Kabat-Zinn in den USA entwickeltes und wissenschaftlich begleitetes Meditationsprogramm zur „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“. 19