Autor - Support-Netz

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Autor - Support-Netz
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Autor: François Truffaut.
Titel: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? (Auszüge)
Quelle: François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben sie das gemacht. München, 21. Aufl.
1999, S. 188-206, S. 277-290.
Verlag: Carl Hanser Verlag, München. (http://www.hanser.de)
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
François Truffaut
Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?
Strangers on a Train (Der Fremde im Zug): ein spektakuläres Comeback - Ich
hatte das Monopol auf Suspense - Der kleine Mann unter dem Karussell - Ein
richtiges Luder - I Confess (Zum Schweigen verurteilt) - Zu wenig Humor - Bin
ich sophisticated und barbarisch? - Das Beichtgeheimnis - Die Erfahrung
genügt nicht - Meine Angst vor der Polizei - Die Geschichte einer Ehe zu dritt
François Truffaut Wir haben jetzt 1950, und Ihre Situation ist nicht gerade rosig, genau
wie 1933, nach Waltzes from Vienna und vor dem Wiederaufstieg mit The Man Who
Knew Too Much. Mit Under Capricorn und Stage Fright hatten Sie zwei Mißerfolge
nacheinander gehabt, und auch dieses Mal gab es mit Strangers on a Train ein
spektakuläres Comeback.
Alfred Hitchcock Es ist immer wieder die Philosophie des »run for cover«. Strangers on a
Train war kein Film, der mir vorgeschlagen wurde, sondern ich habe den Roman selbst
ausgewählt. Das war ein guter Stoff für mich.
Ich habe ihn gelesen. Es ist ein guter Roman, aber sehr schwierig zu adaptieren.
Allerdings. Das bringt uns noch zu einem anderen Punkt. Ich habe nie gut arbeiten
können mit Schriftstellern, die wie ich spezialisiert waren auf Grusel, Thriller oder
Suspense.
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Sie meinen hier Raymond Chandler?
Ja, mit uns klappte es überhaupt nicht. Ich saß neben ihm und suchte eine Idee, und dann
sagte ich: »Weshalb machen wir es nicht so?« Und er antwortete: »Na, wenn Sie selbst
die Lösungen finden, wozu brauchen Sie mich dann noch?« Die Arbeit, die er gemacht
hatte, war nicht gut, und schließlich habe ich Czenzi Ormonde engagieren lassen, eine
Mitarbeiterin von Ben Hecht. Als ich das Treatment fertig hatte, suchte der Chef der
Warner jemand für die Dialoge, aber kein Schriftsteller wollte sich darauf einlassen.
Niemand fand es gut.*
Das wundert mich gar nicht. Gerade bei diesem Film habe ich mir oft gesagt, wenn ich
das Drehbuch vorher gelesen hätte, hätte ich es bestimmt auch nicht gut gefunden. Man
muß wirklich den Film sehen. Ich glaube, dasselbe Drehbuch von einem anderen verfilmt
hätte einen schlechten Film ergeben. Das ist ganz in Ordnung, wie sollte man sonst
erklären, daß alle die Leute, die Thriller á la Hitchcock haben machen wollen,
unweigerlich auf die Nase gefallen sind?
Das stimmt. Meine größte Chance war eben, daß ich für diese Ausdrucksform
gewissermaßen das Monopol hatte. Niemand sonst interessierte es, ihre Regeln zu
studieren.
Welche Regeln?
Die Regeln des Suspense. Deshalb hatte ich letztlich die ganze Domäne für mich allein.
Selznick hatte gesagt, ich sei für ihn der einzige Regisseur, dem er voll und ganz
vertraute. Dabei hat er sich, als ich für ihn arbeitete, einmal sehr beklagt. Er hat gesagt,
*
In einem Zug wird der Tennischampion Guy (Farley Granger) von einem Fan namens Bruno (Robert
Walker) angesprochen. Bruno weiß alles über Guy und schlägt ihm vor, jeder von ihnen solle für den
anderen einen Mord begehen. Bruno will Guys Frau umbringen, die sich nicht von ihrem Mann scheiden
lassen will, und dafür soll Guy Brunos übermäßig strengen Vater umbringen. Guy lehnt das ab und trennt
sich von Bruno, der dennoch den ersten Teil des Plans ausführt. In einem Vergnügungspark erwürgt er
Guys unsympathische Frau. Guy wird von der Polizei vernommen und kann kein vollständiges Alibi
nachweisen. Er wird deshalb von der Polizei beobachtet, diskret, weil er bekannt und mit seiner Tochter
des Senators liiert ist. Bruno läßt Guy wissen, er warte darauf, daß auch dieser seinen Teil des Plans
erfülle. Guy weicht aus, benimmt sich aber immer verdächtiger. Schließlich beschließt Bruno, unzufrieden
mit Guy, weil er seinen Vertrag nicht erfüllt, ihm einen Strick zu drehen. Er will das Feuerzeug, das dem
Champion gehört, an den Ort des Verbrechens tragen. Um Bruno abfangen zu können, muß Guy ein
Tennismatch in fünf Sätzen gewinnen, um aus dein Stadion wegzukommen. Am Ende wird Bruno von
einem heißgelaufenen Karussell erdrückt und Guys Unschuld bewiesen.
(In der Bundesrepublik hieß der Film zunächst Verschwörung im Nordexpreß, später Der Fremde im Zug.
A.d.Ü.)
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meine Art zu inszenieren sei ein Rebus, unverständlich wie die Kästchen beim
Kreuzworträtsel. Weshalb? Weil ich immer nur ganz kleine Stückchen Film drehte und
sonst nichts. Ohne mich hätte man sie nicht zusammensetzen können. Man hätte keinen
anderen Schnitt machen können als den, den ich beim Drehen im Kopf hatte. Selznick
kam aus einer Schule, in der man viel Material anhäufte und dann endlos im
Schneideraum damit spielte. Wenn man so arbeitet wie ich, kann man sicher sein, daß
einem die Firma nicht hinterher den Film vermasselt. Auf diese Weise habe ich auch bei
dem Krach um Suspicion gewonnen.
Das spürt man ganz genau in Ihren Filmen, man merkt, daß jede einzelne Einstellung nur
auf eine Weise gedreht worden ist, von einem Standpunkt aus, mit einer bestimmten
Dauer, ausgenommen vielleicht die Gerichts- und Prozeßszenen, überhaupt die Szenen
mit viel Komparserie.
Da ist es unvermeidlich, da geht es nicht anders. In Strangers an a Train ging es so mit
dem Tennismatch. Ich hatte zuviel Material gedreht, und wenn man zuviel Material hat für
eine Szene, ist man nicht mehr in der Lage, allein damit fertigzuwerden, dann gibt man es
dem Cutter, daß er es trennt, und hinterher weiß man dann nicht, was er mit dem Rest
gemacht hat. Das ist das Risiko.
Die Exposition von Strangers on a Train ist allgemein bewundert worden. Die
Fahrtaufnahmen mit den Füßen, erst in der einen, dann in der anderen Richtung, und
dann die Einstellung auf die Schienen. Die Schienen, die zusammenlaufen und sich
wieder voneinander entfernen, das ist etwas symbolisch, wie die Richtungspfeile zu
Beginn von I Confess. Sie fangen Ihre Filme gern mit solchen Effekten an.
Die Richtungspfeile gibt es in Quebec wirklich, sie bezeichnen Einbahnstraßen. In
Strangers an a Train waren die Bilder von den Schienen die logische Fortsetzung des
Motivs mit den Füßen. Praktisch ging es gar nicht anders.
Ah so, weshalb nicht?
Die Kamera streifte die Schienen fast, weil sie nicht hochgehen konnte. Ich durfte, ich
wollte es nicht, bis die Füße von Farley Granger und Robert Walker im Abteil
aneinanderstießen.
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Ah so. Das stimmt, denn ihre Füße, wie sie aneinanderstoßen, sind der Ausgangspunkt
ihrer Beziehungen. Bis dahin mußten Sie dabei bleiben, ihre Gesichter nicht zu zeigen.
Aber die Schienen legen auch die Vorstellung von Wegen nahe, die sich trennen.
Natürlich. Ist es nicht ein faszinierendes Muster? Man könnte es stundenlang anschauen.
In Ihren Filmen begibt sich oft jemand irgendwohin, und dort erwartet ihn eine
Überraschung. Ich glaube, in solch einem Fall - ich denke dabei nicht einmal an Psycho schaffen Sie mit einem Trick immer einen Ablenkungs-Suspense, damit die Überraschung
gleich darauf vollkommen ist.
Das kann sein. Können Sie mir ein Beispiel nennen?
In Strangers on a Train hat Guy - Farley Granger - dem anderen, Bruno - Robert Walker -,
das Versprechen gegeben, dessen Vater umzubringen, aber in Wahrheit denkt er nicht
daran. Im Gegenteil, er will Brunos Vater warnen. So dringt Guy nachts in das Haus ein.
Er muß in die erste Etage, in das Zimmer von Brunos Vater. Würde er ruhig die Treppe
hinaufgehen, so würde der Zuschauer versuchen weiterzudenken, und vielleicht käme er
darauf, daß nicht Brunos Vater ihn oben an der Treppe erwartet, sondern Bruno selbst.
Aber darauf kommt man unmöglich, weil Sie einen kleinen Suspense einbauen mit einem
großen Hund, der mitten auf der Treppe steht, und einen Augenblick lang ist es die Frage,
ob der Hund Guy vorbeilassen wird, ohne ihn zu beißen. Stimmt das?
Ja, das stimmt. In der Szene, die Sie erwähnen, haben wir zunächst einen SuspenseEffekt durch den drohenden Hund, und dann haben wir einen Überraschungseffekt, wenn
im Zimmer nicht Brunos Vater ist, sondern Bruno selbst. Ich erinnere mich übrigens, daß
wir Schwierigkeiten mit diesem Hund hatten, als er Farley Granger die Hand lecken sollte.
Ja, man spürt einen Trick, die Bilder sind in Zeitlupe aufgenommen oder doppelt kopiert.
Das kann sein.
Ein bemerkenswerter Aspekt des Films ist die Manipulation mit der Zeit. Zunächst einmal
die Spannung bei dem Tennismatch, das Granger in fünf Sätzen gewinnen muß, und als
Parallelmontage dazu die Panik, die Robert Walker ergreift, wenn ihm durch Zufall
Grangers Feuerzeug mit den Initialen G. H. - für Guy Haines - in den Gully fällt. In diesen
beiden Szenen pressen Sie die Zeit besonders stark, wie man eine Zitrone preßt, Dann,
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wenn Bruno - Robert Walker - auf der Insel ankommt, lockern Sie den Griff, lassen Sie die
Zeit normal verlaufen: Solange es Tag ist, kann Walker das Feuerzeug, das Haines
belasten soll, nicht auf den Rasen legen, »Wann wird es hier dunkel?« fragt er einen der
Kirmesleute. Die reale Zeit kommt zu ihrem Recht, weil Walker gezwungen ist, auf den
Einbruch der Nacht zu warten. Dieses Spiel mit der Zeit ist wirklich umwerfend.
Dagegen habe ich mich etwas unwohl gefühlt bei der Schlußsequenz mit dem Karussell,
das anfängt, verrückt zu spielen. Dabei verstehe ich sehr gut, daß Sie einen Paroxysmus
brauchten.
Ich glaube tatsächlich, daß es nicht gut gewesen wäre, nach so vielen farbigen Passagen
keine, wie die Musiker sagen, Coda zu haben. Aber was ich da gemacht habe, treibt mir
noch heute den Schweiß auf die Stirn. Der Schausteller, der kleine Mann, der unter das
rasende Karussell kriecht, hat wirklich sein Leben riskiert. Wenn der Mann den Kopf nur
um fünf Millimeter gehoben hätte, wäre er tot gewesen. Das hätte ich mir nie verziehen.
So eine Szene mache ich nie wieder.
Aber wenn dann das Karussel auseinanderbricht?
Oh, das war dann natürlich ein Modell. Die Hauptschwierigkeiten in dieser Szene
bereiteten die Rückprojektionen, sie mußten nämlich der Einstellung entsprechend
verschieden geneigt werden. Jedesmal, wenn wir den Einstellungswinkel wechselten,
mußten wir auch den Projektor für die Rückprojektion neigen, wir hatten nämlich eine
Menge Einstellungen aus Untersicht, mit der Kamera auf dem Boden, und wir verloren viel
Zeit damit, die Einstellungsränder im Sucher der Kamera mit den Rändern der
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Rückprojektion in Übereinstimmung zu bringen. Wenn das Karussell auseinanderfällt,
hatten wir ein vergrößertes Modell auf der Rückprojektion und ein richtiges Karussell vor
der Leinwand.
Die Situation in Strangers on a Train ähnelt sehr der in A Place in the Sun, und ich frage
mich, ob Patricia Highsmiths Roman nicht beeinflußt ist von Theodore Dreisers Roman An
American Tragedy, nach dem George Stevens A Place in the Sun gedreht hat.
Das ist nicht ausgeschlossen. Ich glaube, die Schwächen von Strangers on a Train liegen
darin, daß die beiden Hauptdarsteller nicht stark genug waren und daß das Drehbuch
nicht ganz perfekt war. Wäre der Dialog besser gewesen, hätte man eine stärkere
Profilierung der Personen erreicht. Sehen Sie, das große Problem bei Filmen dieser Art
ist, daß aus den Hauptpersonen zu leicht bloße Figuren werden.
Algebraische Figuren? Das ist das große Dilemma in allen Filmen und für alle
Filmmacher: Eine starke Situation mit starren Figuren oder aber subtile Figuren in einer
schlaffen Situation. Ich glaube, Ihre Filme haben immer starke Situationen, und Strangers
on a Train gleicht eindeutig einer Grafik. Wenn die Stilisierung so berückend für die
Augen und für den Geist wird, dann fasziniert sie auch die große Masse des Publikums.
Ja, ich war sehr zufrieden mit der Form des Films im allgemeinen und auch mit den
Nebenrollen. Ich mochte sehr gern die Frau, die umgebracht wird, ein wirkliches Luder,
die, die im Schallplattenladen arbeitet, und auch Brunos Mutter, die mindestens so
verrückt ist wie ihr Sohn.
Der einzige Vorwurf, den man dem Film machen könnte, betrifft den weiblichen Star, Ruth
Roman.
Sie war Star bei der Warner, und ich mußte sie nehmen, weil ich sonst keine Schauspieler
der Firma im Film hatte. Aber unter uns, auch mit Farley Granger war ich nicht zufrieden.
Er ist ein guter Schauspieler, aber ich hätte lieber William Holden gehabt, der ist stärker.
In einer Geschichte wie dieser ist die Situation umso stärker, je stärker der Mann ist.
Granger war in Rope ganz ausgezeichnet, in Strangers on a Train ist er nicht sehr
sympathisch. Ich hatte geglaubt, daß das Absicht sei, daß man ihn als einen
Emporkömmling und. Playboy sehen sollte. Ihm gegenüber hat Robert Walker natürlich
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sehr viel Poesie, und er wirkt, ganz eindeutig sympathischer. Man spürt deutlich, daß hier
der, Schurke Ihre Sympathie hatte.
Natürlich, das ist ganz klar.
Es gibt in Ihren Filmen und vor allem in Strangers on a Train häufig
Unwahrscheinlichkeiten, nicht nur Zufälligkeiten, sondern ganz Willkürliches, Sachen, die
nicht gerechtfertigt werden, die sich aber auf der Leinwand nur durch Ihre Autorität und
durch eine ganz peinliche filmische Logik in Stärken verkehren.
Diese filmische Logik, das sind die Gesetze des Suspense. Das ist wieder eine von den
Geschichten, die den alten Vorwurf provozieren: »Weshalb ist er denn nicht zur Polizei
gegangen?« Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß immerhin Gründe angeführt wurden,
weshalb er sich nicht an die Polizei wenden konnte.
Ich glaube, niemand kann an diesem Punkt Einwände machen. Wie Shadow of a Doubt
ist dieser Film systematisch auf die Ziffer zwei aufgebaut, und wie dort könnten auch hier
die beiden Personen denselben Vornamen haben, Guy oder Bruno. Es handelt sich
eindeutig um eine Person geteilt in zwei.
Bruno hat Guys Frau getötet, aber für Guy ist es genau, als ob er sie umgebracht hätte.
Bruno ist ganz offensichtlich ein Psychopath.
Ich glaube, mit I Confess sind Sie nicht sehr zufrieden. Das Drehbuch ist verwandt mit
Strangers on a Train. Fast alle Ihre Filme erzählen die Geschichte eines ausgetauschten
Mords. Im allgemeinen kommt der, der den Mord begangen hat, ebenso vor wie der, der
ihn hatte begehen können. Ich weiß, Sie waren überrascht, als französische Kritiker Sie
1955 darauf aufmerksam machten, und ich glaube, Ihre Überraschung war echt. Dennoch
ist es nicht zu bezweifeln, daß alle Ihre Filme dieselbe Geschichte erzählen. Es ist
verblüffend, daß in I Confess anhand der Adaptation eines schlechten französischen
Stückes aus dem Jahr 1902 dasselbe Thema illustriert wird. Man fragt sich, wie Sie
überhaupt an Nos deux consciences von Paul Anthelme gekommen sind.
Louis Verneuil hat es mir verkauft.
Ich nehme an, er hat es Ihnen verkauft, nachdem er es Ihnen erzählt hatte.
Ja.
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Aber wenn er es ihnen erzählt hat, wird er doch angenommen haben, daß es Sie
interessierte?
Das nehme ich an.
Louis Verneuil hätte Ihnen eins seiner eigenen Stücke erzählen können oder auch
andere, er wird doch Hunderte gekannt haben. Ich wundere mich, daß er Ihnen gerade
eine so altmodische, obskure Geschichte erzählt, deren Prinzip aber so ungeheuer Ihren
anderen Filmen gleicht.
Er sagte zu mir: »Ich habe da eine Geschichte, die Sie vielleicht interessieren wird.« Die
Agenten verfallen bei den meisten Stoffen, die sie mir vorlegen, einem Irrtum. Sie sagen
zu mir: »Wir haben ein ideales Sujet für Sie«, aber meistens ist es eine Geschichte mit
Gangstern oder Berufsverbrechern oder ein Whodunit, das heißt Dinge, die ich nie
anfasse. Verneuil kam also mit diesem Stück, und wahrscheinlich war er ein guter
Verkäufer, denn ich habe es genommen. Wenn ich heute eine Geschichte kaufe, so heißt
das nicht, daß ich auch das Thema nehme. Man erzählt mir ein Sujet, und wenn es mir
paßt, wenn mir die Situation gefällt, ergibt sich das Thema hinterher von selbst.
Das ist seltsam, aber logisch. Wahrscheinlich haben Sie wegen der Mischung aus
anstößigen und religiösen Elementen doch Schwierigkeiten gehabt mit dem Drehbuch von
I Confess.*
Sehr große Schwierigkeiten, und letztlich finde ich das Ergebnis auch recht schwerfällig.
Der ganzen Behandlung des Sujets fehlt es an Humor und Subtilität. Ich will nicht sagen,
daß in den Film mehr Humor gehört hätte, aber ich hätte selbst mit mehr Humor vorgehen
müssen, wie in Psycho: eine ernsthafte Geschichte mit Ironie erzählen.
*
Ein deutscher Einwanderer, Otto Keller (O. E. Hasse), Küster in einer Kirche in Quebec, hat den Anwalt
Vilette getötet, als der ihn bei einem Diebstahl überraschte. Sofort nach der Tat beichtet Keller dem Pater
Logan (Montgomery Clift). Da Otto Keller sich am Abend des Mordes mit einem Talar verkleidet hatte,
richtet sich der Verdacht auf Pater Logan, der kein Alibi nachweisen kann. Außerdem wurde er von Vilette
erpreßt, der von einem Liebesabenteuer Logans aus der Zeit vor seiner Priesterweihe wußte. Gebunden
durch das Beichtgeheimnis, läßt Pater Logan sich verdächtigen, anklagen, einsperren und vor Gericht
stellen, ohne zu sprechen. Er wird aus Mangel an Beweisen freigesprochen, die Menge aber ergreift
gegen ihn Partei. Die Wahrheit wird offenbar, als Kellers Frau sich gegen ihren Mann stellt. Als er zu
fliehen versucht, schießt ihn die Polizei nieder. Bevor er stirbt, spendet ihm Logan die Sterbesakramente.
(Der deutsche Verleihtitel war zunächst Ich beichte und wurde später geändert in Zum Schweigen verurteilt.
A. d. Ü.)
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Das ist eine sehr interessante Nuance, und etwas, was die Kritiker oft mißverstehen. Sie
verstehen die Absicht sehr gut, wenn der Inhalt humoristisch ist, aber sie verstehen nicht,
daß der Inhalt ernst gemeint sein kann und der Blick darauf humorvoll ist. Das ist
interessant. Das ist genau so mit The Birds: der Blick ist ironisch und der Vorwurf ernst.
Übrigens, wenn wir an einem Drehbuch arbeiten, ist der Satz, der am häufigsten
vorkommt: »Wäre es nicht amüsant, wenn er auf diese Weise umgebracht würde?«
So können Sie ernste und starke Dinge filmen und dabei Feierlichkeit und schlechten
Geschmack vermeiden. Natürlich könnte das Vergnügen, das man daran hat,
schreckliche Dinge zu filmen, zu einer Form von intellektuellem Sadismus werden, aber
ich glaube, es kann auch sehr gesund sein.*
Der Meinung bin ich auch. Es ist ein Zeichen von Liebe, wenn eine Mutter ihrem Baby
Angst macht mit Geräuschen wie buuu oder brrr. Das Baby hat Angst und lacht und
klatscht in die Hände, und sobald es sprechen kann, sagt es: »Noch einmal.« Eine
englische Kritikerin hat geschrieben, Psycho sei der Film eines Mannes, der gleichzeitig
sophisticated und barbarisch sei. Das stimmt vielleicht, wie?
Das ist keine schlechte Definition,
Wenn man aus Psycho einen ernsten Film machen wollte, würde man einen klinischen
Fall zeigen. Dann dürfte man weder Rätsel noch Suspense in die Sache hineinbringen. Er
müßte die Dokumentation eines Falles darstellen, und wie wir schon festgestellt haben,
würde man über lauter Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit schließlich einen
Dokumentarfilm drehen. Man kommt also in den Grusel- und Suspense-Filmen nicht ohne
Humor aus, und ich glaube, I Confess und The Wrong Man leiden unter ihrem Mangel an
Humor. Die Frage, die ich mir häufig stellen muß, ist: Soll ich bei einem ernsten Sujet
meinen Sinn für Humor beiseite lassen oder soll ich ihn einsetzen? Ich glaube, einige
meiner englischen Filme waren zu leicht und einige meiner amerikanischen zu
schwerfällig, aber die richtige Dosierung ist halt so schwer zu treffen. Meistens merkt man
das erst hinterher.
*
Eine Äußerung Hitchcocks, die er 1947 auf einer Pressekonferenz in Hollywood machte: »Ich möchte
dem Publikum heilsame moralische Schocks versetzen. Die Zivilisation nimmt uns heute so in Obhut, daß
es nicht mehr möglich ist, sich instinktiv eine Gänsehaut zu besorgen. Der einzige Weg, unsere
Erstarrung zu lösen und unser moralisches Gleichgewicht wiederherzustellen, besteht darin, diese
Schocks künstlich hervorzurufen. Das geeignetste Mittel, das zu erreichen, scheint mir das Kino zu sein.«
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Halten Sie es für denkbar, daß die Schwerfälligkeit von I Confess mit meiner Erziehung
bei den Jesuiten zu tun hat?
Das glaube ich nicht. Ich würde das eher dem Kanadischen zuschreiben, zu dem, durch
das Emigrantenpaar Otto Keller und seine Frau, noch das Deutsche hinzukommt.
Allerdings, es gibt von dieser Seite her immer ein Unbehagen, wenn in einer Geschichte
eine ethnisch gemischte Gemeinschaft ist, Engländer und Amerikaner oder Amerikaner
und Franko-Kanadier. Genauso bei Filmen, die im Ausland gedreht werden und in denen
alle englisch sprechen. Ich habe mich daran nie so recht gewöhnen können.
Übrigens wollte ich auch nicht Ann Baxter für die weibliche Hauptrolle, sondern Anita
Björk, die in Fräulein Julie gespielt hatte. Sie kam in Amerika an mit einem Geliebten und
einem unehelichen Kind im Karton, und die Chefs von Werner Bros. hatten Angst, zumal
eine andere Schwedin in Washington gerade einen Sturm ausgelöst hatte, ich meine die
Geschichte mit Bergman und Rossellini. Die Warner Bros. haben darauf Anita Björk an
ihre Fjorde zurückgeschickt, und ich erfuhr per Telefon, daß man Ann Baxter genommen
hatte. Ich habe sie zum erstenmal im Speisesaal des Hotels Château-de-Frontenac in
Quebec getroffen. Nun vergleichen Sie mal Anita Björk und Ann Baxter und sagen Sie
mir, ob da nicht ein kleiner Unterschied ist.
Sicher, aber Montgomery Clift ist wirklich außerordentlich gut. Im Grunde hat er den
ganzen Film hindurch nur eine einzige Haltung, sogar nur einen einzigen Blick, eine
vollkommene Würde mit einer leichten Nuance von Überraschung.
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Das Sujet des Films ist wieder einmal das Thema der Schuldübertragung, hier aber
erneuert durch die Religion und den Anspruch der Beichte. Von dem Augenblick an, in
dem Montgomery Clift in der Beichte von O. E. Hasse das Geständnis des Verbrechens
erhält, wird er schuldig, und genau damit hatte der Mörder auch gerechnet.
Ich glaube, das ist eine grundlegende Tatsache. Jeder Priester, dem irgendein Mörder
beichtet, wird damit zum Hehler.
Das ist richtig, aber ich glaube nicht, daß das Publikum das versteht. Das Publikum mag
den Film, interessiert sich dafür, aber es hofft die ganze Zeit, daß Clift sprechen möge,
was aber nicht infrage kommt. Ich bin sicher, daß Sie nicht die Absicht hatten, diese
Hoffnung zu wecken.
Ich bin Ihrer Meinung. Und nicht nur die Zuschauer, sondern auch viele Kritiker fanden, es
sei lächerlich, sein Leben zu riskieren, um ein Geheimnis zu bewahren.
Ich weiß nicht, ob dieser ganz bestimmte Punkt sie schockiert, oder ob es nicht vielmehr
die harrende Zufälligkeit der Ausgangssituation ist.
Sie meinen, daß der Mörder eine Priesterrobe anzieht?
Nein, das wird einfach vorausgesetzt. Ich denke an die Zufälle, die das Opfer, Villette,
betreffen. Der Mörder hat, als er ihn berauben wollte, ausgerechnet den Erpresser
getötet, der den Priester verfolgte, dem der Mörder dann sein Verbrechen beichtet. Was
für ein Zusammentreffen!
Ja, das stimmt.
Ich glaube, dieses Zusammentreffen stört unsere Freunde, die
Wahrscheinlichkeitskrämer. Es geht nicht um eine Unwahrscheinlichkeit, sondern um eine
außergewöhnliche Situation. Sie ist der Gipfel an Außergewöhnlichem.
Es gehört in die Kategorie »altmodische Situationen« oder »veraltete Geschichten«. Ich
möchte Ihnen dazu eine Frage stellen: Weshalb ist es veraltet, eine Geschichte zu
erzählen, eine Handlung zu verwenden? Ich glaube, an den französischen Filmen gibt es
gar keine Handlung mehr.
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Das ist kein Prinzip, aber es ist eine Tendenz, die man der Entwicklung des Publikums
zuschreiben kann, dem Einfluß des Fernsehens, dem zunehmenden übergewicht an
dokumentarischen und journalistischen Stoffen in der Unterhaltungsindustrie. Alles das
entfernt die Leute von der Fiktion und macht sie mißtrauisch den alten Formeln
gegenüber.
Das heißt, die Kommunikationsmittel haben sich derart entwickelt, daß wir dazu neigen,
uns von der Handlung zu entfernen? Das mag sein. Ich bin selbst davon nicht frei, und ich
würde heute auch einen Film lieber auf einer Situation als auf einer Geschichte aufbauen.
Ich möchte nicht, daß wir I Confess zu schnell verlassen. Wir haben also gesehen, daß
das Publikum im Verlauf der ganzen Handlung ungeduldig darauf wartet, daß Clift spricht.
Halten Sie das für einen Konstruktionsfehler des Drehbuchs?
Auf jeden Fall ist es ein Nachteil, weil es einfach unmöglich ist, und damit, daß die
Ausgangsidee fürs Publikum nicht annehmbar ist, fällt der ganze Film zusammen. Das
bringt uns zu einer neuen Grundregel: Es ist nicht immer gut in einem Film, wenn man
eine Person hat oder eine Figur, deren Authentizität für einen selbst nachprüfbar ist, die
man kennt, die man selbst erlebt hat. Man bringt sie in den Film herein und ist sich ihrer
sicher, weil man sagen kann: Das stimmt, ich habe es gesehen. Kurz, man kann sagen,
was man will, das Publikum oder auch die Kritiker werden es einfach nicht so akzeptieren.
Man kommt da wieder auf die alte Feststellung: Die Wahrheit läßt die Fiktion hinter sich.
Zum Beispiel habe ich einen ungeheuer geizigen Mann sehr gut gekannt, einen Einsiedler
in der Art der Brüder Collier, die man in der Fifth Avenue entdeckt hat und von dem ich
Ihnen erzählen werde. Ich habe diesen Fall gekannt, aber es wäre unmöglich, ihn in
einem Film zu verwenden. Auch wenn man sagte: »Ich kenne solch einen Mann«, würde
der Zuschauer antworten: »Ich glaube Ihnen nicht.«
Die Erfahrung von Dingen, die man gesehen hat, kann nur dazu dienen, andere, ähnliche
Dinge zu suggerieren, die einfacher zu filmen sind.
Das ist es. Und in I Confess wissen wir Katholiken, daß ein Priester ein Beichtgeheimnis
nicht preisgeben darf, aber die Protestanten, die Andersgläubigen und die Agnostiker
denken: »Es ist doch lächerlich zu schweigen, das gibts doch nicht, daß jemand dafür
sein Leben opfert.«
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So ist das ein Fehler in der Konzeption des Films?
Ja, ich hätte den Film nicht machen sollen.
Es gibt darin aber doch sehr schöne Dinge. Clift geht durch den ganzen Film, es ist eine
Bewegung nach vorn, die mit der Form des Films zusammengeht, und das ist schön, es
konkretisiert die Idee von Redlichkeit. Eine besonders hitchcocksche Szene ist das
Frühstück, wenn Otto Kellers Frau den Priestern den Kaffee einschenkt und dabei immer
wieder hinter Montgomery Clift vorbeigeht, um herauszubekommen, wie er sich verhält.
Hinter der harmlosen Unterhaltung der Priester geht wirklich etwas vor zwischen Clift und
dieser Frau, man versteht alles durch das Bild. Ich kenne keinen anderen Regisseur, der
das könnte oder auch nur versuchte.
Sie wollen sagen, der Dialog sagt eine Sache und das Bild eine andere? Aber das ist ein
entscheidender Punkt jeder Regie. Im Leben ist das nicht anders. Die Menschen drücken
nicht ihre innersten Gedanken aus. Sie versuchen, im Bild ihres Gegenüber zu lesen.
Häufig sagen sie sich Banalitäten und versuchen dabei, hinter die geheimen Gedanken
des anderen zu kommen.
Deshalb sind Sie in gewisser Hinsicht ein ausgesprochen realistischer Regisseur.
Doch etwas anderes. Es scheint so, als ob das Verhalten von Otto Keller von dem
Augenblick an umschlägt, in dem er seiner Frau verbietet, die blutbefleckte Sutane zu
reinigen. Von dem Augenblick an ist sein naiver und tiefer Glaube keine Entschuldigung
mehr. Er versucht ganz bewußt den Mann zu belasten, der sein Wohltäter und Beichtvater
ist, er wird wirklich satanisch.
Ja, das finde ich auch. Bis dahin handelt er in gutem Glauben.
Sehr interessant ist die Figur des Staatsanwalts, den Brian Aherne spielt. Wenn man ihn
zum erstenmal sieht, versucht er eine Gabel und ein Messer auf einem Glas zu jonglieren.
Das zweitemal liegt er am Boden und balanciert ein Glas Wasser auf seiner Stirn, Die
beiden Einzelheiten, die beide etwas mit Gleichgewicht zu tun haben, sollten sagen,
scheint mir, daß die Justiz nur ein Gesellschaftsspiel für ihn ist.
Ja, das stimmt. Schon in Murder habe ich gezeigt, wie Staatsanwalt und Verteidiger in
einer Prozeßpause zusammen speisen. In The Paradine Case speist der Richter,
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nachdem er Alida Valli zum Tod durch den Strang verurteilt hat, zuhause in aller Ruhe mit
seiner Frau. Man hätte Lust, ihn zu fragen: »Sagen Sie, Euer Ehren, was ist das für ein
Gefühl, wenn man abends nachhausekommt und eine Frau zum Tod durch den Strang
verurteilt hat?« Und durch sein unbewegtes Verhalten scheint Charles Laughton zu
antworten: »Ich denke gar nicht mehr daran.« Und dann haben wir noch die beiden
Kriminalbeamten in Bleckmaill die sich, nachdem sie die Gefangene eingesperrt haben, in
der Toilette die Hände waschen wie zwei Büroangestellte.
Für mich ist das gar nicht so viel anders, wenn ich tagsüber eine Harrorszene in Psycho
oder The Birds drehe. Glauben Sie nur nicht, ich würde abends nachhausegehen und die
ganze Nacht Alpträume haben. Das ist ein Arbeitstag, ich habe mein Bestes getan, und
damit hat sichs. Wirklich, am liebsten würde ich nachher darüber lachen, und, was
komisch ist, während der Dreharbeiten bin ich sehr ernst. Das ärgert mich, ich fühle mich
nämlich wirklich immer wie das Opfer. Da sind wir wieder bei meiner Angst vor der Polizei.
Ich habe es immer so empfunden, als wäre ich ihre Beute. Ich identifiziere mich sofort mit
einem Menschen, der festgenommen wird und den man im Auto zur Polizei bringt, der
durch das Gitter die Leute ins Theater gehen oder aus einem Café kommen sieht, wie sie
vergnüglich ihr alltägliches Leben leben. Und wie vorn im Auto der Fahrer und sein
Kollege einen Witz machen. Ich finde das schrecklich.
Was mir so gefallen hat an diesen beiden Jongliergeschichten, das ist, daß sie wirklich
etwas zu tun haben mit der Vorstellung der Waage als Symbol der Gerechtigkeit. Und da
Ihre Filme immer so überlegt sind...
Ausgetüftelt in einer tückischen Art, ja.
... glaube ich nicht, daß so etwas zufällig in Ihre Filme gerät, oder Sie haben einen
ausgeprägten Instinkt.
Noch ein anderes Beispiel: Wenn Montgomery Clift den Gerichtssaal verläßt, herrscht in
der Menge um ihn herum eine große Feindseligkeit, als ob sie ihn lynchen wollten. Gleich
hinter Clift, neben Otto Kellers Frau, die sanft, schön und verstört aussieht, bemerkt man
eine dicke, ziemlich widerliche Frau, die einen Apfel ißt und deren Blick bösartige Neugier
verrät.
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Ja, die Frau habe ich natürlich bewußt, absichtlich dahingestellt. Ich habe ihr den Apfel
gegeben und gezeigt, wie sie ihn essen soll.
Aber das ist etwas, was im Publikum niemand bemerkt, weil man immer auf die Leute
schaut, die man schon kennt. Deshalb ist das etwas, was Sie zu Ihrer eigenen
Befriedigung in den Film bringen und natürlich auch, um ihn zu bereichern.
Aber sehen Sie, sowas muß man doch machen. Es geht doch immer darum, den
Hintergrund auszufüllen, und oft sagen die Leute, sie müßten die Filme mehrmals sehen,
um alle Einzelheiten mitzubekommen. Die meisten Sachen, die wir in einem Film
unterbringen, sind wirklich verloren, und trotzdem dienen sie ihm, wenn man ihn nach
Jahren wieder herausbringt. Man merkt, daß er sich noch hält und nicht veraltet ist.
Immer noch zu I Confess. In diesem Film, wenn Montgomery Clift freigesprochen wird,
und in mehreren anderen Filmen von Ihnen gibt es eine Regel, nach der die Figur vor
dem Gericht plötzlich entlastet ist, aber als Mensch verurteilt bleibt, weil jemand im
Gericht den Freispruch angreift. Auch in Vertigo ist das so.
Das geschieht häufig bei Prozessen, wenn die Beweise zur Verurteilung des Angeklagten
nicht ausreichen. Bei schottischen Gerichten gibt es ein besonderes Urteil, das »not
proven« (nicht erwiesen, Schuldbeweis nicht erbracht) heißt.
In Frankreich heißt das »aquitté au bénéfice du doute« (Freispruch aus Gründen des
Zweifels).
Es hat um 1890 einen berühmten Prozeß gegeben, und ich habe oft daran gedacht, einen
Film daraus zu machen. Jetzt kann ich es nicht mehr wegen Jules et Jim, weil es da
nämlich auch um eine Ehe zu dritt geht. Es ist eine wahre Geschichte. Der alte Ehemann
und seine junge Frau waren offensichtlich ganz damit einverstanden, daß der Pastor sich
in Hausjacke und Pantoffeln häuslich bei ihnen niederließ. Der Ehemann ging zur Arbeit,
und Hochwürden setzte sich hin, las der Frau Gedichte vor und streichelte ihr dabei den
Kopf, den sie auf seine Knie gelegt hatte. Ich wollte eine Szene machen, in der
Hochwürden und die junge Frau ziemlich heftig miteinander schlafen sollten, und zwar
unter den Augen des Ehemanns, der dabei im Schaukelstuhl sitzen sollte, mit der Pfeife
im Mund, und, als ob er mit besonderem Vergnügen rauchte, sollte er die Pfeife aus dem
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Mund nehmen und wieder reinstecken und dabei mit dem Mund so ein Geräusch machen,
wie beim Küssen. Aber jetzt erzähle ich Ihnen, wie die Geschichte weitergeht.
Eines Tages, als der Pastor nicht da ist, sagt der Ehemann zu seiner Frau: »Jetzt möchte
ich auch mal wieder.« Sie antwortet: »Nichts zu machen. Du hast ihn mir gegeben«, sie
spricht von dem Pfarrer, »und jetzt kann ich nicht einfach wieder zu dir zurückkommen.«
Kurz nach dieser Szene stirbt Mr. Bartlett, der Ehemann, an Chloroformvergiftung. Mrs.
Bartlett und Hochwürden Dyson werden wegen Mordes verhaftet. Dyson hat erzählt, wie
Mrs. Bartlett, eine sehr kleine, sehr schöne und sehr junge Frau, ihn losgeschickt hatte,
zwei Flaschen Chloroform zu kaufen. Man hatte die leeren Flaschen gefunden. Die
Autopsie hatte ergeben, daß Mr. Bartlett liegend gestorben war und daß sein Magen
verbrannt war, während er sich in dieser Stellung befand. Das hieß, daß Mr. Bartlett das
Chloroform nicht in aufrechter Haltung getrunken hat. Das war das einzige, was man
beweisen konnte. Der ganze Prozeß ging dann nur noch darum. Medizinische Gutachter
trugen die verschiedenen Hypothesen vor, wie Mr. Bartlett gestorben sein konnte. Aber
man konnte nie zu einem Schluß kommen. Es wurde festgestellt, es sei unmöglich, daß
man Mr. Bartlett vorher eingeschläfert und ihm dann das Chloroform in den Mund
geschüttet hätte, weil zum Schlucken eine Willensanstrengung gehört. Wenn ihm aber
das Chloroform im Schlaf gegeben worden wäre, hätte es in die Lungen eindringen
müssen, was nicht der Fall war. Und doch war es ganz sicher, daß es sich nicht um einen
Selbstmord handelte.
Und so lautete das Urteil, dessen ich mich auch für I Confess bedient habe. Das Gericht
sagte: »Wenn wir auch den stärksten Verdacht gegen Mrs. Bartlett haben, kann niemand
beweisen, wie ihm das Chloroform verabreicht worden ist. Nicht schuldig.«
Ich muß hinzufügen, daß die Geschworenen offensichtlich voller Sympathie für die junge
Frau waren und daß es während der Verhandlung Beifallsbekundungen gab, und als am
Abend nach der Verhandlung der Anwalt von Mrs. Bartlett ins Theater ging und sich in
seine Loge setzte, stand das Publikum auf und applaudierte ihm. Es gab ein sehr
interessantes Postscriptum zu diesem Fall. Mehrere Bücher wurden dem Fall gewidmet,
und ein bekannter englischer Pathologe hat über diesen Prozeß in einem Artikel
geschrieben: »Jetzt, wo Mrs. Bartlett definitiv in Freiheit ist, finden wir, daß sie uns im
Interesse der Wissenschaft sagen sollte, wie sie es gemacht hat.«
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Wie erklären Sie sich die Sympathie der Geschworenen für Mrs. Bartlett und die positive
Stimmung des Publikums?
Ich glaube, sie hatte sich ihren Mann nicht ausgesucht, die Heirat war arrangiert worden.
Es hieß, Mrs. Bartlett sei die uneheliche Tochter eines hohen englischen Staatsbeamten
gewesen. Sie war erst fünfzehn oder sechzehn, als man sie verheiratete, und sofort
danach hat man sie von ihrem Ehemann getrennt und zur Beendigung ihrer Ausbildung
nach Belgien geschickt. Was den Film betrifft, den ich daraus machen wollte, so muß ich
Ihnen gestehen, er hat mich wirklich nur wegen der Szene interessiert, die ich Ihnen
beschrieben habe: der selbstzufriedene Mann, der an seiner Pfeife zieht!
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The Birds (Die Vögel) - Die alte Ornithologin - Die ausgehackten Augen - Die
Leute, die gern vorgreifen - Melanie Daniels vergoldeter Käfig - Ich habe zum
erstenmal improvisiert - Vor dem Schultor - Ein Lieferwagen unter
Schockeinwirkung Der elektronische Ton - Der Gag mit der alten Dame - Ich
habe Angst, daß mich jemand schlagen könnte
François Truffaut Wie sind Sie auf Daphne du Mauriers Kurzgeschichte The Birds
gekommen? Vor oder nach ihrer Veröffentlichung?
Alfred Hitchcock Ich habe sie in einem dieser Sammelbände, Alfred Hitchcock
presents ... , gelesen. Dann hörte ich, daß man vergeblich versucht hatte, sie fürs Radio
und fürs Fernsehen zu adaptieren.
Ehe Sie sich entschlossen haben, haben Sie da Recherchen angestellt um
sicherzugehen, daß die technischen Probleme mit den Vögeln auch wirklich lösbar
waren?
Überhaupt nicht. Ich habe nicht mal daran gedacht. Ich habe die Geschichte gelesen und
mir gesagt: Das ist was, was wir machen sollten, machen wir es also! Ich hätte den Film
nicht gedreht, wenn es sich um Geier oder andere Raubvögel gehandelt hätte. Mir hat
gefallen, daß es um ganz gewöhnliche Vögel ging, Alltagsvögel. Verstehen Sie das?
Ja, zumal es wieder zu tun hat mit Ihrem Prinzip: Vom Kleinsten zum Größten. Sowohl
bildlich als auch intellektuell. Nachdem Sie nette Vögel gezeigt haben, die den Menschen
die Augen aushacken, müßten Sie jetzt eigentlich eine Geschichte mit Blumen machen,
deren Duft die Menschen vergiftet.
Nein, man müßte Blumen zeigen, die Menschen fressen.
Wenn man seit 1945 vom Ende der Welt spricht, denkt man selbstverständlich immer an
die Atombombe. Es überrascht, daß an die Stelle der Bombe ein paar tausend Vögel
treten.
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Deshalb auch der Einwand der alten Frau, der Ornithologin, ihre Skepsis gegenüber einer
möglichen Katastrophe. Sie ist reaktionär und konservativ, sie kann sich nicht vorstellen,
daß durch Vögel eine ernsthafte Gefahr auftreten könnte.
Es war völlig richtig, daß Sie die Aggressivität der Vögel nicht motiviert haben. Der Film ist
eindeutig eine Spekulation, eine Phantasie.
So habe ich das auch gesehen.
Ich vermute, auf die Idee von Vögeln, die Menschen auf dem Lande angreifen, ist Daphne
du Maurier durch wirkliche Ereignisse gekommen.
Ja, das passiert zuweilen und rührt von einer Krankheit unter den Vögeln, genau gesagt,
der Tollwut. Aber das ist zu schrecklich, um es in einem Film zu zeigen, finden Sie nicht?
Zweifellos zu schrecklich und bestimmt weniger hübsch.*
Während der Dreharbeiten in Bodega Bay habe ich in einer Zeitung aus San Francisco
etwas gelesen über Raben, die Lämmer angegriffen hatten, das hatte sich ganz in der
Nähe unseres Drehorts ereignet. Ich habe mit einem Bauern gesprochen, der mir erzählt
hat, wie die Raben auf die Lämmer heruntergestoßen sind und wie sie über ihre Augen
hergefallen sind. Das hat mich dann inspiriert zu dem Mord an dem Farmer mit den
ausgehackten Augen.
*
In einer Vogelhandlung in San Francisco lernt Melanie Daniels (Tippi Hedren), eine etwas snobistische
junge Frau aus der besten Gesellschaft, den jungen Anwalt Mitch Brenner (Rad Taylor) kennen. Trotz
seiner sarkastischen Haltung macht er Eindruck auf sie, und sie fährt nach Bodega Bay, um seiner
kleinen Schwester Cathy zwei »Liebesvögel« zum Geburtstag zu schenken.
Gleich bei ihrer Ankunft wird sie von einer Möwe an der Stirn verletzt. Melanie entschließt sich zu bleiben und
verbringt die Nacht bei Annie Hayworth (Suzanne Pleshette), der Lehrerin des Ortes. Annie warnt Me
lanie vor Mitchs Mutter, einer herrischen Frau, die ihren Sohn für sich behalten will.
Als die Kinder am nächsten Tag Cathys Geburtstag feiern, werden sie von Möwen angegriffen, und am
Abend dringen Spatzen durch den Kamin in das Haus der Brenners ein. Am folgenden Morgen will Mrs.
Brenner einen Farmer besuchen und findet ihn tot, mit ausgehackten Augen. Am Nachmittag beobachtet
Melanie; wie sich vor dem Schulgebäude hunderte von Raben versammeln. Als die Kinder die Schule
verlassen, werden sie von den Raben angegriffen. Annie, die versucht hat, Cathys Leben zu retten, wird
dabei getötet. Der Mut, den Melanie bei diesen Ereignissen bewiesen hat, gewinnt ihr Mitchs Zuneigung
und die Achtung seiner Mutter.
Am selben Hafen greifen die Vögel besonders heftig das Haus der Brenners an, in dem sich Melanie, Mitch
und seine Mutter verbarrikadiert haben. Als Melanie nach dem Angriff auf den Dachboden geht, wird sie
von den dort eingedrungenen Vögeln attackiert und erleidet einen Schock. In einem Augenblick der Ruhe
gelingt es Melanie, Mitch und seiner Familie, das Haus zu verlassen, aber überall sitzen spähend,
unbeweglich, drohend die Vögel.
(Deutscher Verleihtitel: Die Vögel. A. d. Ü.)
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Der Film beginnt also mit den beiden Hauptpersonen in San Francisco, und dann bringe
ich die beiden nach Bodega Bay. Das Haus und die Farm haben wir ganz genau nach
einem wirklich existierenden Haus rekonstruiert. Das war eine alte russische Farm aus
dem Jahre 1849, damals haben nämlich Russen in dieser Gegend gesiedelt, acht Meilen
von Bodega entfernt. Im Norden der Bucht gibt es übrigens eine Stadt, die Sebastopol
heißt. Als den Russen Alaska gehörte, kamen sie bis hier herunter, um Robben zu
fangen.
Bei den Filmen, wie Sie sie machen, gibt es einen echten Nachteil. Die Leute amüsieren
sich, aber dadurch, daß sie stolz darauf sind, auf nichts hereinzufallen, verpatzen sie sich
oft ihr Vergnügen.
Das stimmt allerdings. Sie gehen ins Kino, setzen sich hin und sagen: »Nun zeigen Sie
mal!« Dann wollen sie immer alles vorhersehen: »Ich weiß schon, wie es kommen wird.«
Und ich bin gezwungen, darauf zu reagieren: »So, Sie wissen es schon? Na, das wollen
wir doch mal sehen.« In The Birds bin ich so vorgegangen, daß das Publikum nie im
voraus wissen kann, wie die nächste Szene sein wird.
Ich glaube, daß man in The Birds nicht so sehr zu antizipieren versucht. Man ahnt, daß
die Angriffe der Vögel von Mal zu Mal heftiger sein werden. Im ersten Teil sieht man einen
normalen psychologischen Film, und nur die letzte Einstellung jeder Szene weist hin auf
die Bedrohung durch die Vögel.
Ich mußte das machen, weil das Publikum doch durch die Reklame, die Artikel, die
Kritiker Bescheid weiß. Das Publikum hört von einem Film durch die Mundpropaganda.
Ich möchte nicht, daß es ungeduldig wird, weil es auf die Vögel wartet und darüber nicht
mehr auf die Personen achtet. Die Hinweise am Ende jeder Szene sind, als würde ich
dem Publikum sagen: Nur ruhig, nur ruhig, sie kommen schon! Dann gibt es Nuancen, die
sicher unbeachtet bleiben, aber unbedingt nötig sind, weil sie das Ganze bereichern und
ihm mehr Kraft geben. Zu Anfang ist Rad Taylor in der Vogelhandlung. Er fängt den
Kanarienvogel wieder ein, der entwischt war, tut ihn wieder in den Käfig und sagte
lachend zu Tippi: »Ich tue Sie wieder in Ihren goldenen Käfig, Melanie Daniel.« Ich habe
diesen Satz während des Drehens hinzugefügt, weil ich finde, daß er ein Licht wirft auf
den Typ des Mädchens, das reich und verwöhnt ist. Später, wenn die Möwen über die
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Stadt herfallen und Melanie Daniel sich in die gläserne Telefonzelle flüchtet, wollte ich sie
auch zeigen wie einen Vogel im Käfig. Nur ist es kein goldener Käfig mehr sondern ein
Unglückskäfig, und es ist zugleich der Anfang ihrer Feuerprobe. Es ist der alte Konflikt
zwischen den Menschen und den Vögeln, nur daß diesmal die Vögel draußen sind, und
der Mensch sitzt im Käfig. Wenn ich so etwas mache, erwarte ich natürlich nicht, daß das
Publikum es versteht.
Selbst wenn einem die Metapher nicht aufgeht, ist die Szene doch völlig präsent, mit all
ihrer Kraft. In der Hinsicht finde ich auch gut, daß sich der Dialog in der Vogelhandlung
auf die Suche nach lovebirds (eigentlich »Liebesvögel«, deutsch »Unzertrennliche«)
bezieht - hinterher geht es ja um die Haßvögel. Die Anspielungen auf die Liebesvögel den
ganzen Film hindurch sind sehr ironisch.
Ironisch und notwendig, denn die Liebe hält doch der Prüfung stand, nicht? Am Schluß,
ehe sie in das Auto einsteigt, fragt das kleine Mädchen: »Darf ich die Liebesvögel
mitnehmen?« Das zeigt doch, daß etwas Gutes mit diesem Paar Liebesvögel weiterlebt.
Im Dialog gibt es Anspielungen auf die Liebesvögel immer dann, wenn es in der Szene
um Liebesbeziehungen geht, nicht nur im Bezug auf die Mutter sondern auch auf die
Lehrerin. Das Wort wird ständig in einem Doppelsinn gebraucht.
Ja, das beweist nur, daß das Wort Liebe ein sehr verdächtiges Wort ist.
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Der Bau der Geschichte ist sehr ausgeglichen. Sie respektiert die drei Einheiten des
klassischen Dramas, Einheit des Ortes, Einheit der Zeit und Einheit der Handlung. Die
ganze Geschichte spielt sich in zwei Tagen in Bodega Bay ab. Die Vögel werden immer
zahlreicher und immer böser. Das Prinzip der Handlung ist von Anfang an hervorragend,
aber die Durchführung im Drehbuch brachte dann sicher viele Probleme.
Ich möchte Ihnen erklären, was ich dabei empfunden habe. Ich gebe doch immer damit
an, daß ich beim Drehen nie ins Drehbuch schaue. Ich kenne den Film ganz und gar
auswendig. Ich habe Angst davor gehabt, im Atelier zu improvisieren, weil, selbst wenn
man im Augenblick Ideen hat, bestimmt keine Zeit bleibt nachzuprüfen, was sie taugen.
Zuviele Arbeiter, Beleuchter, Mechaniker sind drumherum, und bei überflüssigen
Ausgaben bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Ich könnte das nicht, was andere
Regisseure machen. Sie lassen ein ganzes Team warten und setzen sich hin, um zu
überlegen. Nein, das könnte ich nicht.
Aber hier war ich sehr unruhig, und das ist selten, meistens bin ich gut aufgelegt bei den
Dreharbeiten. Abends, wenn ich zu meiner Frau nachhause kam, war ich immer noch
durcheinander und besorgt. Etwas war geschehen, was neu für mich war. Ich habe mir
während der Dreharbeiten das Buch noch einmal vorgenommen und Schwächen
entdeckt. Diese Krise, die ich durchmachen mußte, hat mich auf etwas Neues gebracht,
was es vorher in meinem schöpferischen Verfahren nicht gab. Ich habe zum erstenmal
improvisiert.
Zum Beispiel habe ich den ganzen Angriff auf das Haus, die Belagerung des Hauses
durch die Vögel, die man nicht sieht, im Atelier improvisiert. Das hatte ich noch nie
gemacht. Mein Entschluß war schnell gefaßt, und ich habe die verschiedenen
Bewegungen der Leute im Zimmer schnell aufgezeichnet. Die Mutter und das kleine
Mädchen sollten nach einem Versteck suchen. Aber es gab keins. Ich ließ sie in die
entgegengesetzten Richtungen auseinanderlaufen wie Tiere, wie Ratten, die sich in alle
Ecken flüchten. Melanie Daniel habe ich ganz klar mit Distanz gefilmt, denn ich wollte
zeigen, wie sie zurückweicht vor nichts. Wovor sollte sie zurückweichen? Immer mehr
drückt sie sich an die Wand. Sie weicht zurück, aber sie weiß nicht einmal, wovor sie
zurückweicht.
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Alles das hat sich bei mir ganz einfach und schnell ergeben, wahrscheinlich weil ich
innerlich so erregt war. Ich habe angefangen, andere Dinge in dem Film zu überprüfen.
Nach dem ersten Angriff innen, wenn die Spatzen durch den Kamin hereinkommen,
erscheint der Sheriff und redet mit Mitch. Der Sheriff ist ein Skeptiker, der nur glaubt, was
er sieht: »Ah so? Spatzen durch den Kamin? Sie haben Sie angegriffen? Sie glauben
es?« Ich habe mir die Szene vorgenommen und gesagt: Das ist blöd, eine völlig
altmodische Szene. Das kann man nicht mehr machen. Also habe ich sie geändert.
Ich beschloß, die Mutter aus Melanies Blick zu zeigen. Die Szene beginnt mit der ganzen
Gruppe, dem Sheriff, Mitch, der Mutter und Melanie im Hintergrund. Die Szene bestand
dann in einer Überführung des objektiven Blickpunkts in den subjektiven. Der Sheriff sagt
etwa: »Ja, das ist ein Spatz. « Aus einer Gruppe von statischen Gestalten isolieren wir die
der Mutter, die sich ablöst und eine bewegliche Form wird. Sie bückt sich, um den Boden
zu säubern, und diese Bewegung nach unten lenkt sofort das ganze Interesse auf die
Mutter. Jetzt gehen wir auf Melanie, und die Inszenierung übernimmt ihren Blickpunkt,
Melanie schaut zu ihrer Mutter. Die Kamera zeigt die Mutter, wie sie im Zimmer
herumgeht und zerbrochene Sachen, zerbrochene Teetassen aufsammelt. Sie richtet sich
auf, um das verrutschte Porträt wieder geradezurücken, da fällt hinter dem Rahmen ein
toter Vogel hervor. Die Zwischenschnitte auf Melanie, die jede Bewegung der Mutter
verfolgt, wie sie hierhin geht und dorthin, offenbaren auf sehr subtile Weise ihre
Veränderung. Alle Bewegungen und Gesten Melanies drücken wachsende Unruhe über
ihre Mutter und ihr seltsames Verhalten aus. Diese Sicht der Wirklichkeit ist ausschließlich
die Melanies. Danach geht sie zu Mitch und sagt: »Es ist besser, ich bleibe heute Nacht
hier.« Um zu Mitch zu gelangen, muß sie das Zimmer durchqueren. Während dieses
ganzen Weges bleibt sie in der Großaufnahme, ihre Unruhe und ihre Angespanntheit
verlangen es, daß wir auf der Leinwand dieselbe Einstellungsart beibehalten. Wenn ich
schneiden würde oder in eine allgemeinere Perspektive zurückgehen, würde dadurch
Melanies Unruhe relativiert. Die Größe des Bildes ist für die Emotion sehr wichtig, vor
allem, wenn man sich des Bildes bedient, um eine Identifikation mit dem Zuschauer zu
erreichen. Melanie stellt in dieser Szene das Publikum dar, und die Szene besagt: Schau,
Mitchs Mutter gerät aus dem Gleichgewicht.
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Ein anderer improvisierter Moment ist, wenn die Mutter auf der Farm ankommt, in das
Haus geht und nach dem Bauern ruft, bevor sie in das verwüstete Zimmer mit der Leiche
kommt. Während des Drehens sagte ich mir: Das ist nicht logisch. Sie ruft den Bauern,
und er antwortet nicht. Eine Frau in dieser Situation würde nicht weiter insistieren, sie
würde das Haus verlassen. Aber ich brauche sie ja im Haus. Da sind mir die fünf
zerbrochenen Teetassen eingefallen, die sie an der Wand hängen sieht und von denen
nur noch die Henkel an ihren Haken hängen.
Man versteht die Bedeutung dieser Tassen im selben Moment wie sie, denn in der
vorhergehenden Szene hat man Mitchs Mutter noch dem ersten Angriff die zerbrochenen
Teetassen einsammeln gesehen. Das ist eine visuell sehr überzeugende Idee.
Sie haben mir beschrieben, was in The Birds improvisiert ist. Haben Sie auch Szenen aus
dem Drehbuch gedreht, die Sie dann bei der Montage weggelassen haben?
Nur ein oder zwei Dinge, nachdem die Mutter die Leiche des Bauern entdeckt hat. Da gab
es erst noch eine Liebesszene zwischen dem Mädchen und dem Mann. Sie spielte sich
ab, während die Mutter die Kleine zur Schule bringt. Melanie hat ihren Pelzmantel um die
Schultern gehängt und sieht, wie Mitch weiter weg die toten Vögel verbrennt. Sie nähert
sich ihm, und man spürt, sie streicht ein wenig um ihn herum. Als er fertig ist mit seiner
Arbeit, kommt er zu ihr, und man sieht seinem Gesicht an, daß er gern in ihrer Nähe wäre.
Aber dann macht er plötzlich kehrt und geht ins Haus. Was ist los? Melanie ist enttäuscht.
Ich zeige ihre Enttäuschung, damit man sieht, daß sich Melanie wirklich für Mitch
interessiert, und um zu unterstreichen, daß er doch nicht ganz bis zu ihr gekommen ist.
Aber er kommt wieder aus dem Haus heraus und sagt: »Ich habe mir ein sauberes Hemd
angezogen, das andere roch zu sehr nach toten Vögeln.«
Die Szene ging dann im Komödienstil weiter mit einem Dialog über die Frage: Warum
machen die Vögel das? Die beiden stellten komische Hypothesen auf, zum Beispiel, daß
die Vögel einen Führer hätten, ein Spatz, der sich von einer Tribüne aus an alle Vögel
wendet und eine Rede hält: Vögel der ganzen Welt, vereinigt euch, ihr habt nichts zu
verlieren als eure Federn!
Das war eine hübsche Idee.
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Und die Szene ging weiter, entwickelte sich, wurde ernsthaft und endete mit einem Kuß.
Danach zeigten wir dann wieder die Mutter, die ganz außer sich von ihrem Besuch auf der
Farm zurückkommt. Ich wollte zeigen, wie das Paar sich wieder küßt und wie ein
bestimmter Ausdruck über das Gesicht der Mutter huscht. Man weiß nicht genau, hat sie
den Kuß gesehen oder nicht, aber ihr späteres Benehmen läßt annehmen, daß sie ihn
gesehen hat.
Im ursprünglichen Zustand des Films war der Dialog zwischen der Mutter und Melanie in
der darauffolgenden Szene anders als jetzt, weil ich die Liebesszene weggelassen habe.
Die Idee hinter dieser Szene war, daß diese Frau, Jessica Tandy, selbst noch in ihrer
großen Erregung, nachdem sie den Bauern mit den ausgehackten Augen gesehen hat,
zuerst und vor allem eine Mutter ist, die ihren Sohn für sich behalten will und der das
wichtiger ist als alles andere.
Und weshalb haben Sie die Stelle dann geschnitten?
Weil ich spürte, daß diese Liebesszene die Geschichte verlangsamte. Ich hatte Angst, das
Publikum würde wegen der Mundpropaganda für den Film unruhig werden und sagen:
»Schon gut, jetzt reichts, wo bleiben die Vögel, her mit den Vögeln.«
Deshalb habe ich auch, nachdem Melanie zum erstenmal von der Möwe angegriffen
worden ist, gezeigt, wie vor der Haustür der Lehrerin eine tote Möwe liegt, und noch
andere Möwen auf den Telegrafenleitungen, wenn das Mädchen abends nachhause geht,
damit das Publikum merkt: Keine Angst, die Vögel kommen schon. Ich dachte, wenn ich
diese lange Liebesszene zwischen dem Jungen und dem Mädchen gelassen hätte, wäre
das Publikum irritiert worden.
Es gibt eine Szene, die mir beim ersten Sehen etwas lang vorkam und deren Wichtigkeit
mir vielleicht nicht ganz aufgegangen war: die Szene im Café in der Stadt, nach dem
ersten Angriff.
Allerdings, sie ist nicht besonders notwendig. Ich dachte nur, nach dem Angriff der Möwen
bei der Kinderparty, nach den Spatzen, die durch den Kamin eindringen und nach dem
Angriff der Raben auf die Schule müßte das Publikum einen Augenblick ausruhen
können, ehe der Schrecken von neuem losgeht. Diese Szene im Café ist entspannt, man
lacht, es gibt einen Betrunkenen wie aus einem Stück von O'Casey, und vor allem ist da
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die alte Ornithologin. Ich bin völlig Ihrer Meinung, daß die Länge einer Szene nur durch
das Interesse des Publikums bestimmt werden darf. Wenn Sie das Publikum
interessieren, ist die Szene immer sehr kurz, wenn Sie es langweilen, ist sie immer zu
lang.
Wenn Sie eine gute Szene voll Suspense und stummer Erwartung haben, dann richten
Sie sich majestätisch darin ein, mit sehr viel Autorität, der Stil der Einstellungsfolge ist
sehr persönlich, selten vorhersehbar und immer wirkungsvoll, das ist ein wenig Ihr
Berufsgeheimnis. Ich denke da an das, was dem Schulschluß vorausgeht.
Schauen wir uns die Szene an, vor der Schule, wenn Melanie Daniel dasitzt und sich
hinter ihr die Raben versammeln. Melanie, voll Unruhe, geht in die Schule, um der
Lehrerin Bescheid zu sagen. Die Kamera geht mit ihr hinein, und kurz darauf sagt die
Lehrerin zu den Kindern: »Ihr geht jetzt raus, und wenn ich es sage, rennt ihr los.« Ich
lasse die Szene weitergehen bis zur Tür, Dann schneide ich und zeige nur die Raben, alle
zusammen, und ich bleibe ohne Schnitt und ohne daß irgendetwas passierte dreißig
Sekunden auf ihnen. Dann fragt man sich: Aber was ist mit den Kindern, wo sind sie? Und
da hört man die Schritte laufender Kinder, die Vögel fliegen auf, man sieht sie über das
Dach der Schule fliegen und sich auf die Kinder stürzen.
Die alte Suspensetechnik hätte die Szene stärker unterteilt. Zunächst hätte man die
Kinder gezeigt, wie sie das Klassenzimmer verlassen, dann die wartenden Raben, dann
die Kinder, wie sie die Treppe runtergehen, dann die Raben, die sich bereitmachen, dann
die Kinder, wie sie aus der Schule kommen, dann die Vögel, die auffliegen, dann die
Kinder, die losrennen und schließlich die Attacke auf die Kleinen. Aber das ist meiner
Meinung nach ein veraltetes Vorgehen.
Aus demselben Grund bleibt die Kamera, wenn das Mädchen vor der Schule wartet und
eine Zigarette raucht, vierzig Sekunden auf ihr. Sie schaut sich um und sieht einen Raben,
sie raucht weiter, und als sie wieder hinschaut, sind schon alle Raben da.
Die Brandszene in der Stadt ist hinreißend, weil sie von sehr hoch aufgenommen ist. Das
ist gewissermaßen die Sicht der Möwen.
Aus drei Gründen habe ich mich da oben postiert. Der erste und entscheidende ist, daß
der Beginn des Anflugs der Möwen auf die Stadt gezeigt werden sollte. Der zweite, daß
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ich in einem Bild eine genaue Topografie der Bodega Bay geben wollte, mit der Stadt im
Hintergrund, dem Meer, der Küste und der brennenden Tankstelle. Der dritte war, den
leidigen Feuerwehrmaßnahmen aus dem Wege zu gehen. Es ist immer leicht, die Dinge
schnell zu zeigen, wenn man auf Distanz bleibt.
Übrigens ist das ein Prinzip, das sich empfiehlt, wann immer Sie eine verworrene oder
langweilige Handlung zu zeigen haben, oder wenn Sie vermeiden wollen, ins Detail zu
gehen. Zum Beispiel, wenn der Feuerwehrmann von der Möwe verletzt wird und alle zu
ihm stürzen, um ihm zu helfen, schauen wir uns das von weit weg an, aus dem Inneren
des Restaurants, es ist Melanie Daniels Blick. In Wirklichkeit hätten die Leute, die dem
Feuerwehrmann helfen, ihn sehr viel schneller aufheben müssen. Aber ich brauche eine
längere Zeitdauer, um den Suspense um die Benzinlache entstehen zu lassen, die sich
auf der Straße auszubreiten beginnt. In einem anderen Fall wäre es vielleicht genau
andersherum, und wir würden uns von einer langsamen Handlung weiter entfernt halten,
um sie weniger lang dauern zu lassen.
Das bedeutet: die Zeitprobleme lösen, indem man mit dem Raum spielt.
Ja, wir haben schon davon gesprochen. Die Regie ist dazu da, die Zeit entweder
zusammenzuziehen oder zu dehnen, wie wir es gerade brauchen, wie wir es wollen.
Die Möwe, die über die Leinwand fliegt und die den Feuerwehrmann an der Tankstelle am
Kopf trifft - wie war es möglich, sie so genau zu dirigieren?
Das war eine wirkliche, lebende Möwe, die von einem sehr hohen Podest außerhalb des
Bildfeldes losgelassen wurde und darauf dressiert war, von einem Punkt zu einem
anderen zu fliegen, genau über dem Kopf des Mannes. Der war ein Stuntman,
spezialisiert auf Stürze, und er hat seine Reaktion übertrieben, so daß es den Eindruck
macht, als habe die Möwe ihn getroffen.
Nach dem Prinzip der falschen Treffer bei Schlägereien.
Ja. Finden Sie es eigentlich richtig, daß ich die Lehrerin durch die Vögel habe umkommen
lassen?
Man sieht ihren Tod nicht, man kommt erst später hinzu. Ehrlich gesagt, habe ich mir die
Frage nicht gestellt. Was haben Sie sich dabei gedacht?
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Bei dem, was die Vögel der Bevölkerung antaten, empfand ich, daß ihr Schicksal
besiegelt war. Außerdem hat sie sich für die Schwester des Mannes, den sie liebt,
geopfert. Es ist ihre letzte Geste. In der ursprünglichen Fassung des Drehbuchs ist sie bis
zum Schluß des Films im Haus. Da ist sie es, die auf den Speicher geht, den letzten
Angriff abbekommt und dann verletzt im Auto weggefahren wird. Aber das konnte ich nicht
machen, ich hatte ja Tippi Hedren als Hauptfigur. Die letzten Prüfungen mußten ihr
auferlegt werden.
Eine Unterhaltung über The Birds wäre unvollständig, wenn man nicht über den Ton
spräche. Es gibt keine Musik, aber die Geräusche der Vögel sind wie eine richtige Partitur
behandelt. Ich denke da an eine Szene, die ganz über den Ton läuft: wenn die Möwen
das Haus angreifen.
Als ich diese Szene, den Angriff von draußen mit den verängstigten Menschen im Haus,
gedreht habe, bestand die Schwierigkeit darin, daß die Schauspieler reagieren mußten
auf nichts. Das Geräusch von Flügelschlagen und Möwengekreisch hatten wir noch nicht.
Ich hatte einen Trommler ins Atelier kommen lassen und Mikrophon und Lautsprecher
aufgestellt, und jedesmal wenn die Schauspieler Schrecken spielen mußten, half ihnen
der Trommellärm zu reagieren.
Dann habe ich Bernard Herrmann gebeten, den Ton des ganzen Films zu überwachen.
Wenn man Musikern zuhört, wenn sie komponieren oder ein Arrangement machen oder
wenn das Orchester die Instrumente stimmt, dann machen sie oft keine Musik sondern
Geräusche. Die haben wir den ganzen Film hindurch benutzt. Musik gab es nicht.
Wenn die Mutter die Leiche des Bauern findet, öffnet sie den Mund, aber man hört sie
nicht schreien. Haben Sie das gemacht, um das Hintergrundgeräusch aufzuwerten?
In dem bestimmten Moment ist das Geräusch das entscheidende. Man hört die Schritte
der Mutter, wie sie durch den Flur läuft, und auf dem Ton liegt ein leichtes Echo. Das
ganze Interesse des Tons liegt in dem Unterschied zwischen dem Geräusch der Schritte
drinnen und draußen. Ich habe absichtlich die Mutter, wenn sie läuft, aus der Entfernung
gezeigt und bin erst in die Großaufnahme gegangen, wenn sie reglos, starr vor Angst
dasteht, Schweigen. Dann, wenn sie wieder losläuft, verhält sich das Geräusch der
Schritte proportional zur Einstellungsart und steigert sich, bis sie in dem Lieferwagen ist.
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Dann hört man ein Geräusch von Agonie, das deformierte Geräusch des Automotors. Wir
haben wirklich mit diesen authentischen Geräuschen experimentiert und sie auf Dramatik
hin stilisiert.
Ich hatte auch, wie Sie sich vielleicht erinnern, für die Anfahrt des Lieferwagens den Weg
besprengen lassen, weil ich keinen Staub haben wollte, erst bei der Abfahrt sollte der
Lieferwagen Staub aufwirbeln.
Ich erinnere mich sehr gut, und außer dem Staub gibt es noch dicke Rauchwolken aus
dem Auspuff.
Ich habe das gemacht, weil man den Lieferwagen aus ziemlich weiter Entfernung sieht,
wie er mit großer Geschwindigkeit wegfährt. Für mich drückt das den Erregungszustand
der Mutter aus. In der vorhergehenden Szene habe ich gezeigt, wie sie einen heftigen
Schock bekommt. Dann ist sie in den Lieferwagen gestiegen, und jetzt muß ich zeigen,
wie der Lieferwagen unter dem Eindruck des Schocks steht. Bild und Ton müssen
gleichermaßen diese Erregung nähren. Was man hört, ist kein einfaches
Motorengeräusch, sondern ein Ton, der wie ein Schrei ist, als ob der Lieferwagen Schreie
ausstieße.
Sie haben in Ihren Filmen immer schon sehr viel mit dem Ton gemacht und ihn
dramaturgisch eingesetzt. Man hört oft Geräusche, die im Bild keine Entsprechung haben,
sondern absichtlich auf die vorhergehende Szene verweisen. Es gäbe Tausende von
Beispielen dafür.
Wenn ich den Schnitt eines Films abgeschlossen habe, diktiere ich einer Sekretärin ein
richtiges Tondrehbuch. Wir schauen uns den Film Rolle für Rolle an, und ich diktiere, was
ich jeweils hören möchte. Bisher ging es dabei immer um natürliche Geräusche. Aber
jetzt, mit den elektronischen Geräuschen, muß ich nicht nur die Töne angeben, die ich
haben möchte, sondern ihre Art und ihren Stil bis ins Kleinste beschreiben. Wenn Melanie
auf dem Dachboden von den Vögeln angegriffen wird, gibt es beispielsweise viele
natürliche Geräusche, aber wir haben sie stilisiert, um eine größere Intensität zu
erreichen. Wir brauchten eine drohende Woge von Vibrationen, nicht nur einen Ton auf
einer gleichbleibenden Höhe, um innerhalb dieses Geräusches eine Variation zu haben,
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eine Entsprechung zu dem unregelmäßigen Flügelschlagen. Selbstverständlich habe ich
mir die dramaturgische Freiheit herausgenommen, die Vögel niemals kreischen zu lassen.
Um ein Geräusch gut zu beschreiben, muß man sich vorstellen, was sein Äquivalent im
Dialog wäre. Auf dem Dachboden wollte ich einen Ton, der dasselbe bedeutete, wie wenn
die Vögel zu Melanie gesagt hätten: »Jetzt haben wir dich, jetzt fallen wir über dich her,
wir brauchen kein Kampfgeschrei auszustoßen, wir bringen uns nicht in Wut, wir werden
einen lautlosen Mord begehen.« Genau das sagen die Vögel zu Melanie Daniel, und das
haben mir die Techniker mit dem elektronischen Ton auch gebracht.
In der Schlußszene, wenn Rad Taylor die Tür aufmacht und zum erstenmal alles voller
Vögel sieht, wollte ich Stille haben, aber nicht irgendeine Stille, sondern eine elektronische
Stille von einer Monotonie, als hörte man in der Ferne das Meer. In den Vogeldialog
übersetzt, bedeutet dieser Ton künstlicher Stille: »Wir sind noch nicht ganz so weit, euch
anzugreifen, aber wir bereiten uns vor. Wir sind wie ein brummender Motor. Gleich
werden wir anspringen.« Das muß man aus diesen ziemlich sanften Tönen heraushören,
aber dieses Murmeln ist so zart, daß man nicht sicher ist, ob man es hört oder es sich nur
einbildet.
Ich habe irgendwann mal gelesen, Peter Lorre hätte sich einen Scherz erlaubt und Ihnen
an die fünfzig Kanarienvögel geschickt, als Sie gerade an Bord eines Schiffes gingen.
Und Sie hätten sich gerächt, indem Sie ihm Telegramme mit Nachtzustellung geschickt
und ihn darin eingehend über das Befinden jedes einzelnen Kanarienvogels informiert
hätten. Mir ist das im Zusammenhang mit The Birds wieder eingefallen. Ist das eine
authentische Geschichte, oder ist sie erfunden?
Die ist nicht authentisch, Man unterstellt mir alle möglichen komischen Sachen, die ich
nicht gemacht habe, dabei mache ich genug. So hatten wir einmal am Geburtstag meiner
Frau in einem Gartenrestaurant ein Abendessen mit etwa zwölf Personen. Ich hatte dazu
eine schon betagtere adlige Dame engagiert und eingeweiht, eine wirklich feine Person,
und hatte sie auf den Ehrenplatz gesetzt. Dann habe ich sie vollkommen ignoriert. Die
Gäste kamen. Sie schauten zu dem großen Tisch, an dem die alte Dame saß, und alle
fragten: »Wer ist diese alte Dame?« Ich sagte: »Ich weiß es nicht.« Nur die Ober wußten
Bescheid, und meine Frau fragte sie: »Aber was hat sie gesagt? Hat niemand mit ihr
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gesprochen?« »Die Dame hat gesagt, sie sei von Mr. Hitchcock eingeladen worden.« Als
man mich fragte, habe ich geschworen, ich wüßte nicht, wer sie sei. Alle schauten zu ihr,
alle fragten sich: »Aber wer ist sie nur? Man müßte es doch herausbekammen.« Wir
waren längst beim Essen, da hat schließlich ein Schriftsteller auf den Tisch geschlagen
und gesagt: »Das ist ein Gag!« Alle Blicke richteten sich auf die alte Dame. Darauf hat der
Schriftsteller einen anderen Gast angeschaut, einen jungen Mann, den jemand
mitgebracht hatte, und zu ihm gesagt: »Und Sie, Sie sind auch ein Gag!«
Ich möchte diesen Scherz gern noch einmal machen, ihn aber noch weiter treiben. Ich
würde so eine Dame einladen und sie den Gästen als meine Tante vorstellen. Die falsche
Tante würde zu mir sagen: »Könnte ich vielleicht ein Glas haben?« Und ich würde vor
allen Leuten sagen: »Nein, nein, du weißt doch, Alkohol bekommt dir nicht, du darfst
nichts trinken.« Darauf würde die Tante traurig weggehen und sich in eine Ecke setzen.
Den Gästen wäre das sehr unangenehm, alle wären peinlich berührt. Etwas später würde
die Tante aufstehen, mit einem bettelnden Blick wieder zu mir kommen, und ich würde
ziemlich laut sagen: »Nein, nein, du brauchst mich gar nicht so anzuschaun. Dein
Benehmen ist wirklich unangenehm für die anderen.« Und die arme alte Frau würde »oh,
oh« machen. Alle möchten sich am liebsten in Luft auflösen, und die falsche Tante würde
ganz leise zu weinen anfangen. Schließlich würde ich zu ihr sagen: »Hör mal, du verdirbst
uns den ganzen Abend. Mach, daß du in dein Zimmer kommst.«
Ich habe den Gag nie gemacht, ich habe zu viel Angst, daß mich jemand schlagen
könnte.
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