Versagen der Patriot

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Versagen der Patriot
E-Paper-Ausgabe der Leipziger Volkszeitung
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Datum: 10.06.2008
Versagen der Patriot-Abwehrrakete
Rundungsfehler legt Schutzschild lahm / 28 Tote bei irakischem Scud-Angriff auf US-Stützpunkt
In Kooperation mit dem Deutschlandfunk veröffentlichen wir die Serie „Verrechnet“. In loser Folge beleuchten wir
anlässlich des Jahres der Mathematik dramatische Experten-Irrtümer. Manchmal bleiben solche Rechenfehler
lange Zeit unentdeckt und haben verheerende Konsequenzen – so auch das Versagen der Patriot-Abwehrraketen.
Im August 1990 marschiert der Irak in Kuwait ein. Ein paar Monate später wird er durch eine von den USA geführte Allianz
wieder aus dem besetzten Land verjagt. Dieser 2. Golfkrieg sollte unter anderem deshalb in die Geschichte eingehen, weil
die USA erstmals intelligente Waffen einsetzten, die mit chirurgischer Präzision feindliche Ziele ins Visier nehmen sollten.
Doch es gab manche Fehlfunktion. Eine davon basierte auf einem simplen Rechenfehler.
25. Februar 1991. Im US-Stützpunkt Dhahran in Saudi-Arabien schlägt eine irakische Scud-Rakete ein. Sie tötet 28
amerikanische Soldaten, 100 werden verletzt. Die Militärs sind perplex. Eigentlich hatten sie sich vor Scud-Angriffen in
Sicherheit gewogen, denn die Kaserne war durch ein modernes Abwehrsystem geschützt, die Patriot-Rakete. Sie hätte
rechtzeitig abheben und der Scud-Rakete entgegen fliegen sollen, um sie abzuschießen. Doch das System versagte
wegen eines einfachen Rechenfehlers in der Steuersoftware.
„Die interne Uhr des Steuerprogramms der Patriot-Rakete gibt die Zeit in Zehntel Sekunden an“, erläutert Christine Gräfe,
Mathematikerin an der Freien Universität Berlin. „Doch das Steuerprogramm selbst rechnet in Sekunden.“ Das bedeutet:
Der Computer muss die Signale von einem Bruch – Zehntel Sekunden – in eine Dezimalzahl umwandeln, in Sekunden. So
ist eine Zehntel Sekunde nichts anderes als 0,1 Sekunden. Aus fünf Zehntel werden 0,5. Und zehn Zehntel Sekunden
entsprechen einer vollen Sekunde.
Nur: Für einen Computer ist dieses Umrechnen nicht so einfach. Schließlich rechnen Computer nicht wie wir im
Dezimalsystem, also mit Zehnern, Hunderten und Tausendern, sondern mit binären Zahlen (Bits), also mit Nullen und
Einsen. Bestimmte Zahlen lassen sich mit Bits nur schwierig darstellen. „Ein Zehntel ausgedrückt in binären Zahlen ergibt
0.00011001100, und so weiter, und so fort“, so Gräfe. Ein Bandwurm aus Nullen und Einsen, der ewig weitergeht.
Da ein Rechner mit unendlichen Zahlenfolgen natürlich nicht umgehen kann, schneidet er den Bandwurm irgendwann ab.
Bei der Patriot-Rakete geschah das nach der 24ten Stelle. Dieses Abschneiden führt zu einer kleinen, an sich läppischen
Ungenauigkeit; Mathematiker sprechen von einem Rundungsfehler. In Zahlen: Jedes Mal, wenn der
Patriot-Steuercomputer Zehntel Sekunden in ganze Sekunden umrechnete, lag er um eine Zehnmillionstel Sekunde
daneben. „Wenn das System sehr, sehr lange läuft, kann sich dieser Rundungsfehler aufschaukeln“, erklärt Christine
Gräfe. „Nach einer Laufzeit von 100 Stunden lag der Patriot-Computer bereits um 0,34 Sekunden daneben.“
Genau das passierte am 25. Februar 1991: Als sich die Scud-Rakete Dhahran näherte, war der Steuercomputer des
Patriot-Abwehrsystems schon 100 Stunden gelaufen, ohne zwischendurch auch nur einmal zurückgesetzt worden zu sein.
Dadurch erfasste der Raketenschild alle Vorgänge um sich herum mit einer Verzögerung von 0,34 Sekunden – in einer
Drittel Sekunde fliegt eine 6000 Kilometer pro Stunde schnelle Scud-Rakete immerhin ein halben Kilometer weit. In
Dhahran führte die Verzögerung dazu, dass die Patriot-Rakete gar nicht erst abgefeuert wurde, um die herannahende
Scud abzuschießen. Frank Grotelüschen
Datum: 10.06.2008
10.06.2008 15:59