Zur Definition von „chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig
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Zur Definition von „chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig
Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. Zur Definition von „chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig“ - Eine empirische Überprüfung anhand von Daten des Kooperationsmodells nachgehende Sozialarbeit On the Definition of the Term "Chronically Multi-Impaired" (CMA) - An Empirical Analysis Based on Data Collated in the Cooperation Pilot Project of Follow-Up Social Work Günter Schlanstedt, Martina Schu, Lisa Sommer, Hans Oliva - FOGS GmbH Schlüsselwörter: Sucht, Abhängigkeit von psychotropen Substanzen, chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig, Schweregrad der Abhängigkeit, Diagnose Key words: addiction, dependence on psychotropic substances, chronic multi-impaired addict, severity of dependence, diagnosis Zusammenfassung Der von der Arbeitsgruppe CMA im Auftrag des BMG erarbeitete Definitionsvorschlag für „chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig“ (CMA) wurde anhand der Daten von insgesamt 1.618 Klienten, die im Rahmen des Kooperationsmodells Nachgehende Sozialarbeit zwischen 1997 und 2000 betreut wurden, empirisch überprüft. Dazu wurde die Einstufung der Klienten mittels des Definitionsvorschlags mit der Einschätzung durch die im Modellprogramm tätigen Case Manager (Expertenurteil) verglichen. Diskriminanzanalysen gaben Hinweise auf die Vorhersagekraft einzelner Items, Faktorenanalysen auf die hinter dem Konstrukt CMA liegenden Komponenten. Mit Clusteranalysen wurde die dichotome Einteilung in CMA und Nicht-CMA geprüft. Es zeigte sich zunächst, dass die Mitarbeiter mit 76,9 % der Klienten mehr Abhängige als CMA einstuften als mit dem Verfahren des Definitionsvorschlags (66,6 %). Die Sensitivität betrug 77,8 %, die Spezifität lag mit 70,5 % etwas niedriger. Die Diskrimianzanalysen verwiesen auf eine Überbewertung der auf die Behandlungserfahrung und die strafrechtliche Belastung der Klienten bezogenen Items der Definition. Weitere Analysen zeigten, dass der (häufig) unzureichenden Fähigkeit der Klienten, Hilfen in Anspruch zu nehmen, eine größere Bedeutung zugemessen werden sollte. Die Faktorenanalysen ermittelten drei das Konstrukt CMA kennzeichnende Komponenten, die mit „soziale Situation“, „Behandlungsmaßnahmen“ und „Gesundheit und Konsum“ bezeichnet wurden. Dabei kam dem Faktor „soziale Situation“, gemessen am Wert der aufgeklärten Varianz, ein besonderer Stellenwert zu. Das stellt die Entscheidungsheuristik der Definition (ICD-10 und Erreichen von drei Punkten in den vier Kriterienbereichen) in Frage. Die Clusteranalysen ergaben drei unterschiedliche CMA-Gruppen und eine Nicht-CMA-Gruppe. Damit erscheint eine dichotome Einteilung in CMA und Nicht-CMA nicht adäquat. Eine Weiterentwicklung des Definitionsvorschlags sollte nach den hier gewonnenen Erkenntnissen von drei Dimensionen des Konstrukts CMA ausgehen: 1. soziale Situation, 2. Inanspruchnahme von Hilfen und 3. gesundheitliche Probleme und Konsumverhalten, die in weiteren Schritten noch genauer zu operationalisieren und gewichten sind. Abstract The proposed definition of "Chronically Multi-Impaired Addicts" elaborated by the CMA study group on commission from Germany's Federal Ministry of Health (BMG) was analysed empirically using the data gathered from a total of 1,618 clients who were supervised within the framework of the Cooperation Pilot Project of Follow-Up Social Work conducted between 1997 and 2000. The classification of clients based on the definition proposal was compared with the assessment made by case managers participating in the project (expert assessment). Discriminant analyses furnished indications of the predictive efficiency of single items, whereas factor analysis shed light onto the components underpinning the construct CMA. Cluster analyses were applied to analyse the dichotomous division into CMA and non-CMA. Ini1 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. tially, it was revealed that more clients were classified as addicts (76.9%) by staff, than under the procedure of the proposed definition (66.6%). Sensitivity lay at 77.8 %, with specificity somewhat lower at 70.5%. The discriminant analysis indicated an over-evaluation of the items of the definition alluding to therapy experience and criminal records. Further analyses demonstrated that the (frequent) inability of clients to take advantage of aid services should be accorded greater significance. The factor analyses identified three components characterising the CMA construct, which were termed "social situation", "treatment measures" and "health and consumption", whereby the factor "social situation“, as measured by the value of the established variance, was accorded particular significance. This called into question the decision heuristic of the definition (ICD-10 and attainment of three points in the four criteria areas). The cluster analyses yielded three different CMA groups and one non-CMA group. Consequently, a dichotomous division into CMA and non-CMA is not adequate. Based on the knowledge gained here, the further refinement of the definition proposal should be predicated on three dimensions of the construct: 1. social situation; 2. uptake of support, and 3. health problems and consumption behaviour which should be more accurately operationalised and weighted at a further stage. Einleitung In der Fachdiskussion wurde die Gruppe der chronisch Abhängigen erstmals im Bericht der Enquête zur Lage der Psychiatrie in Deutschland explizit genannt. Die Verfasser wiesen auf eine „nicht unbeträchtliche Zahl von Alkoholkranken und Drogenabhängigen“ hin, die „auf längere Sicht behandlungsunwillig und nicht rehabilitationsfähig“ sind (Enqûetekommission 1975, S. 278). Auch die Expertenkommission erkannte innerhalb der Gesamtgruppe der Abhängigen einen sog. harten Kern - „chronisch (mehrfachgeschädigt) abhängig“ umschrieben - für den „Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit (...) im Verlauf von mehreren Jahren in der Regel zu einer Vielfalt körperlicher, psychischer und sozialer Folgen (führen)“ (vgl. Expertenkommission 1988 S. 494f.). Der Umfang dieser Subgruppe wurde auf 0,5 % der Bevölkerung geschätzt. Seit Anfang der 90er Jahre haben sich die Anstrengungen von Wissenschaft und Praxis intensiviert, diesen Personenkreis genauer zu charakterisieren und definitorisch zu erfassen (vgl. u.a. Schwoon 1992, DHS 1994, SLS 1995; Arbeitsgemeinschaft Suchtkrankenhilfe 1996, Mühler, Leonhardt 1998). Insgesamt bleibt hinsichtlich dieser Beiträge festzuhalten, dass zwar Vorstellungen zur Beschreibung dieses Personenkreises bestehen, aber nur wenig gesichertes empirisches Wissen über den Umfang und die Merkmalsstruktur dieser Gruppe vorliegt. Zudem gibt es kaum Hinweise darüber, wie sich die Zugänge (Inzidenz), der Verbleib (Prävalenz) und die Abgänge aus dieser Subgruppe von Abhängigen im Zeitablauf gestalten (vgl. Arbeitsgruppe CMA 1999, S. 7). Vor diesem Hintergrund hat der wissenschaftliche Beirat des Bund/Länder-Konzepts zur Verbesserung der Drogen- und Suchthilfe für chronisch Abhängige eine Arbeitsgruppe deutscher Forschungsinstitute - bestehend aus Mitarbeitern des Instituts für Therapieforschung (IFT) aus München, des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) aus Frankfurt und der Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich (FOGS) aus Köln beauftragt, einen Definitionsvorschlag zu erarbeiten (vgl. Schu, M. 1998; Arbeitsgruppe CMA 1999). Dieser wurde - unter Berücksichtigung vorliegender Erfahrungen und Ergebnisse früherer Modellprogramme - 1996/1997 vorgelegt. Definitionsvorschlag der AG CMA Der Vorschlag der Arbeitsgruppe zielte gleichermaßen auf Alkohol- und Opiatabhängige. Zur Definition wurde eine dreistufige Systematik - mit einer Eingangsvoraussetzung (notwendige Bedingung), einer Erfassung von Merkmalen in vier Kriterienbereichen und einer Entscheidungsregel durch Festlegung einer Mindestpunktzahl in den Kriterienbereichen - vorgeschlagen. Eingangsvoraussetzung sollte die Abhängigkeitsdiagnose nach ICD-10 (F.1x.2) sein. Liegt diese vor, sollte ein am ICD angelehntes Vorgehen angewandt werden. Dazu wurden vier Kri2 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. terienbereiche definiert: Konsumverhalten; Behandlungserfahrung; gesundheitliche psychische Situation; soziale, materielle, rechtliche Situation. Als Entscheidungsregel wurde festgelegt: Um als CMA diagnostiziert zu werden, muss in drei der vier definierten Kriterienbereiche, die z.T. suchtmittelspezifisch gefasst sind, ein Punkt erreicht werden.1 Diese Methode führt im Ergebnis zu einer dichotomen Einschätzung der Klienten in CMA und Nicht-CMA. Empirische Überprüfung des Definitionsvorschlags Stichprobe Die Basis für die folgenden Analysen bildeten die Daten von 1.618 Klienten, die von den Case Managern des Kooperationsmodells Nachgehende Sozialarbeit zwischen Juni 1997 und Juni 2000 ambulant betreut wurden. Zur Dokumentation soziodemographischer und suchtbezogener Merkmale wurden ein erweiterter EBIS-A-Bogen, der alle definitionsrelevanten Items enthielt sowie modellspezifische Erhebungsinstrumente eingesetzt.2 Methodik Die empirische Überprüfung der Definition anhand der im Modellprogramm erhobenen Klientendaten erfolgte in drei Schritten: 1. Im ersten Schritt wurde die subjektive Mitarbeitereinschätzung (s.u.) mit der Einordnung der Klienten nach dem Definitionsvorschlag kontrastiert, die Sensitivität und Spezifität des Definitionsvorschlags berechnet sowie die Vorhersagekraft von Einzelitems für die Einstufung der Klienten nach Mitarbeitereinschätzung bzw. Definitionsvorschlag mit Diskriminanzanalysen ermittelt. 2. Der zweite Schritt befasste sich mit der Reduktion der Einzelitems des Definitionsvorschlags auf bestimmte das Konstrukt kennzeichnende Hintergrundvariablen mittels Faktorenanalysen. 3. Im dritten Arbeitsschritt wurden - auf Basis der gewonnenen Faktorwerte - die Klientendaten einer Clusteranalyse unterzogen, um die dichotome Einteilung in CMA und NichtCMA kritisch zu hinterfragen (vgl. auch Arbeitsgruppe CMA 1999, S. 12). Alle drei Arbeitsschritte dienten dazu, die vorgelegte Definition empirisch zu überprüfen und aus den Ergebnissen der einzelnen Analysen Empfehlungen für ihre Weiterentwicklung und Verwendung abzuleiten. Ergebnisse Vergleich der Klassifizierung nach Definitionsvorschlag und Mitarbeitereinschätzung Die Modellmitarbeiter sollten bei jedem Klienten einschätzen, ob er zur Gruppe der CMA zu zählen ist oder nicht.3 Die Bewertung sollte unabhängig vom Definitionsvorschlag erfolgen und den subjektiven, differenzierten und umfassenden Gesamteindruck der Case Manager als erfahrene Mitarbeiter der Sucht- und Drogenhilfe wiedergeben. Daher wurde die Einschätzung der Mitarbeiter als Expertenurteil betrachtet. Vergleicht man die Einstufung der Mitarbeiter mit der Klassifizierung durch den Definitionsvorschlag, so zeigt sich, dass die Mitarbeiter etwas mehr Klienten als CMA einordneten (949 Klienten, 76,9 %) als der Definitionsvorschlag (822 Klienten, 66,6 %). 1 Die genaue Itemliste für die Kriterienbereiche ist dem Beitrag der Arbeitsgruppe CMA in Sucht 1, 1999, S.10 zu entnehmen. 2 Regelmäßige standardisierte Beeinträchtigungseinschätzungen in insgesamt 14 Bereichen (angelehnt an EuropASI), ein Hilfeplaninstrumentarium und eine minutengenaue Erfassung klientenbezogener Leistungen der Case Manager (vgl. Oliva u.a., 1998). Dabei hatten sie auch die Möglichkeit, „unklar“ anzugeben. 3 3 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. Tabelle 1: Zugehörigkeit der Klienten zur Gruppe der CMA nach Mitarbeitereinschätzung und Definitionsvorschlag (n = 1. 234)* CMA nach Mitarbeitereinschätzung ja (n = 949) nein (n = 285) CMA im Sinne des Definitionsvorschlags abs. Anteil an allen Klienten in % Anteil an CMA nach MA-Einschätzung in % abs. Anteil an allen Klienten in % Anteil an CMA nach MA-Einschätzung in % ja (n = 822) 738 59,8 77,8 84 6,8 29,5 nein (n = 412) 211 17,1 22,2 201 16,3 70,5 * Die Differenz zum Gesamt-N von 1.618 ergibt sich aus den Fällen, die von den Mitarbeitern als „unklar“ eigestuft wurden. Ausgehend vom Expertenurteil der Case Manager lassen sich Sensitivität und Spezifität des Definitionsvorschlags errechnen (vgl. Amelang, Zielinski, 1997). Die Sensitivität, also die von der Definition richtig als CMA erkannten Klienten, beträgt 77,8 %. Die Spezifität (richtig als Nicht-CMA erkannte Fälle) liegt mit 70,5 % etwas niedriger. Wie Tabelle 1 zeigt, kamen Mitarbeiter und Definition in 738 Fällen (rund 60 %) zu einer positiven CMA-Einschätzung (richtig Positive). Weder nach Einschätzung der Mitarbeiter noch nach Definition, also richtig als „Nicht-CMA“, erkannt wurden 16,3 % der Fälle (n = 201). Damit liegt der Übereinstimmungsgrad bei 76,1 % (χ2= .43; p < .01). Beide Verfahren führen demnach in nicht ganz einem Viertel der Fälle (n = 295) zu unterschiedlichen Resultaten. Ausgehend von der Mitarbeitereinschätzung teilt der Vergleich der beiden Verfahren die Klienten in vier Gruppen: richtig Negative, falsch Positive, falsch Negative und richtig Positive. Ein Vergleich von Merkmalen der strittigen Gruppen, der nur von der Definition als CMA eingestuften Klienten (falsch Positive) und der nur von den Mitarbeitern erkannten CMA (falsch Negative) lieferte Hinweise auf mögliche Gründe für die Abweichungen (vgl. ausführlich Oliva u.a. 2001): Es zeigte sich, dass die Mitarbeiter die als CMA eingestuften Klienten als somatisch und psychisch belasteter einschätzten und einen schlechteren Allgemeinzustand wahrnahmen. Diese Wertung kontrastierte mit der vergleichsweise geringen Zahl diagnostizierter Erkrankungen und Störungen. Dies deutet darauf hin, dass es Klienten gab, die somatische bzw. psychische Probleme hatten, deswegen aber nicht behandelt wurden bzw. keine Hilfen in Anspruch nahmen. Außerdem wiesen die nur von den Mitarbeitern als CMA eingestuften Klienten ein langjährigeres, kritischeres Konsumverhalten und eine problematischere soziale und materielle Situation auf. Diskriminanzanalysen Mit Hilfe von Diskriminanzanalysen wurde die Vorhersagekraft der vier Definitionsbereiche bzw. der Einzelitems (unabhängige Variablen) für die Einordnung der Klienten in die Gruppen (CMA vs. Nicht-CMA) nach der Mitarbeitereinschätzung bzw. nach dem Definitionsvorschlag (abhängige Variablen) geprüft. In die erste Analyse gingen als unabhängige Variablen die Kriteriumsbereiche der Definition (Punkterreichung) ein, in einer zweiten Analyse die Einzelitems der Definition4. Diskriminanzanalyse mit Definitionsbereichen als unabhängigen Variablen Nach Definitionsvorschlag wurde die korrekte Einstufung in die Gruppe der CMA vor allem von einer Punkterreichung im Bereich Gesundheit (Schritt 1) beeinflusst, gefolgt von einem Punkt im Bereich Konsum (Schritt 2) und Behandlungserfahrung (Schritt 3). Der sozialen und rechtlichen Situation kommt im Unterschied dazu eine geringere Bedeutung für die Vorhersage zu. Mit diesem gestuften Verfahren konnten erwartungsgemäß alle Fälle korrekt in die Gruppe 4 Sowohl für die Vorhersage der Mitarbeitereinschätzung als auch des Definitionsvorschlags tragen 10 Items signifikant zur Verbesserung der Unterscheidung zwischen den Ausprägungen der abhängigen Variablen bei („CMA ja“ vs. „Nicht-CMA“). Die maximale Anzahl der Items wäre 24. 4 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. der CMA bzw. Nicht-CMA eingeordnet werden, da sie die Grundlage für die Ausprägung der Variable CMA nach Definitionsvorschlag darstellten. Die Analyse des Stellenwerts der Definitionskriterien für die Klassifizierung der Klienten nach Mitarbeitereinschätzung gibt erste Hinweise auf die Bereiche, die die Mitarbeiter stärker berücksichtigt haben. Die größte Vorhersagekraft für die Mitarbeitereinschätzung hat ebenfalls die gesundheitliche Situation gefolgt von einer Punkterreichung im sozialen und rechtlichen Bereich. Den Kriterienbereichen Behandlungserfahrung und Konsum kommt demgegenüber eine geringere Bedeutung zu. Die Gruppenzugehörigkeit nach Mitarbeitereinschätzung konnte in 81,3 % der Fälle richtig vorhergesagt werden. Tabelle 2: Ergebnis der schrittweisen Diskriminanzanalyse mit den Einzelitems des Definitionsvorschlags CMA nach Definitionsvorschlag* (n = 1.618) Wilks-Lambda Variablen * ** CMA nach Mitarbeitereinschätzung** (n = 1.234) Analyse Variablen schritt Wilks-Lambda 0,702 mind. eine somatische Erkrankung 1 mind. 2 Jahre überwiegend suchtbezogene Kontakte 0,900 0,548 Punkterreichung im Bereich Konsum 2 mind. eine somatische Erkrankung 0,825 0,485 mind. 5 stationäre Entgiftungsbehandlungen bei Alkoholabhängigen 3 mind. 5 stationäre Entgiftungsbehandlungen bei Alkoholabhängigen 0,792 0,455 mind. 2 Jahre überwiegend suchtbezogene Kontakte 4 seit mind. 2 Jahren dauerhaft oder wiederholt wohnungslos 0,774 0,427 mind. eine psychische Störung 5 Punkterreichung im Bereich Konsum 0,759 0,417 mind. 2 stationäre Entwöhnungsbehandlungen bei Alkoholabhängigen 6 mind. eine psychische Störung 0,746 0,408 allein stehend und seit mind. 2 Jahren ohne Partnerschaft 7 mind. 2 stationäre Entwöhnungsbehandlungen bei Alkoholabhängigen 0,735 0,402 seit mind. 2 Jahren unregelmäßige Einkünfte 8 seit mind. 2 Jahren unregelmäßige Einkünfte 0,729 0,397 mind. 2 ambulante Suchtbehandlungen bei Alkoholabhängigen 9 allein stehend und seit mind. 2 Jahren ohne Partnerschaft 0,724 0,396 mind. 5 Verurteilungen 10 mind. 24 Monate inhaftiert 0,721 90,9 % der ursprünglich gruppierten Fälle wurden korrekt klassifiziert. 82,8 % der ursprünglich gruppierten Fälle wurden korrekt klassifiziert. Diskriminanzanalysen mit Einzelitems als unabhängige Variablen Zur Bewertung der Einzelitems wurde eine zweite Diskriminanzanalyse vorgenommen5. Wie Tabelle 2 verdeutlicht, zeigt diese Analyse ein detaillierteres Bild: Während zur Vorhersage der Ergebnisse des Definitionsvorschlags dem Item „mindestens eine ärztlich diagnostizierte somatische Erkrankung“ der größte Stellenwert zukommt, steht zur Prognose der Mitarbeitereinschätzung das Item „seit mindestens zwei Jahren überwiegend suchtbezogene Kontakte“ an erster Stelle. Das Konsumverhalten wird von den Mitarbeitern in seiner Bedeutung etwas geringer eingeschätzt, ebenfalls das Item „allein stehend“. Wenn Behandlungserfahrungen berücksichtigt werden, dann nur für die Gruppe der Alkoholabhängigen. Bei der Klassifizierung 5 Im Bereich „gesundheitliche Situation“ wurden nur die dichotomisierten Variablen (d.h. mindestens eine Erkrankung lag ärztlich diagnostiziert vor), getrennt nach somatischen Erkrankungen und psychischen Störungen, aufgenommen. 5 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. der Klienten durch die Mitarbeiter spielen vor allem zwei auf die soziale Situation der Klienten zielende Items im Vergleich zur Definition eine größere Rolle: seit mindestens zwei Jahren überwiegend suchtbezogene Kontakte seit mindestens zwei Jahren dauerhaft oder wiederholt unsichere Wohnsituation oder Wohnungslosigkeit. Durch die in beiden Analysen jeweils berücksichtigten zehn Variablen ließen sich in Bezug auf den Definitionsvorschlag 90,9 % und nach Mitarbeitereinschätzung 82,2 % der Klienten korrekt klassifizieren. Tabelle 3: Erklärte Gesamtvarianz der Drei-Faktoren-Lösung (n = 1.120-1.618) Anfängliche Eigenwerte** Komponente* Eigenwert Faktor 1 2,175 24,163 24,163 Faktor 2 1,371 15,234 39,397 Faktor 3 1,137 12,631 52,028 * % der Varianz kumulierte % Es wurden nur Komponenten mit Eigenwerten > 1 aufgeführt Tabelle 4: Varimaxrotierte Drei-Faktoren-Lösung der Definitionsvariablen (n = 1.120-1.618) Faktorladungen* Einzelvariablen Faktor 1 Faktor 2 Punkterreichung im Bereich Konsum Faktor 3 0,474 Anzahl stationärer Entgiftungsbehandlungen 0,751 Anzahl stationärer Entwöhnungsbehandlungen 0,820 Anzahl (ärztlich diagnostizierter) somatischer Erkrankungen 0,725 Anzahl (ärztlich diagnostizierter) psychischer Störungen 0,756 Lebensunterhalt 0,736 Wohnen 0,669 überwiegend suchtbezogene Kontakte 0,628 justitielle Belastung 0,544 * 0,366 Faktorladungen unter 0,3 sind zur besseren Lesbarkeit nicht aufgeführt. Faktorenanalyse Auf Grund theoretischer Vorüberlegungen und ausführlicher vorbereitender Datenanalysen6 wurden Items aus den folgenden Bereichen aufgenommen7: 1. Konsumverhalten bei Alkoholabhängigen, bei Opiatabhängigen Dauer der Abhängigkeit 2. Zahl der bisherigen stationären Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlungen 3. Zahl der ärztlich diagnostizierten somatischen Erkrankungen und psychischen Störungen 6 Ausgeschlossen wurden z.B. Variablen, die keine Varianz aufwiesen (z.B. Abhängigkeitssyndrom oder Arbeitslosigkeit), da sie für die Faktorenanalyse ungeeignet waren. Außerdem wurden Variablen ausgeschlossen, die aufgrund einer großen Zahl fehlender Werte die Fallzahl für die Faktorenanalyse extrem reduzierten. Schließlich ist auf den Ausschluss von Variablen hinzuweisen, die Faktoren produzierten, die inhaltlich nicht interpretierbar waren. 7 Die vollständige Itemliste für die Faktorenanalysen ist dem Abschlussbericht des Kooperationsmodells Nachgehende Sozialarbeit (Oliva u.a. 2001) zu entnehmen. 6 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. 4. soziale und rechtliche Situation: unsicherer Lebensunterhalt, ohne Partnerbeziehung, überwiegend suchtbezogene Kontakte, problematische Wohnsituation, hohe justitielle Belastung. Für die Einzelitems wurde (möglichst) das höchste Skalenniveau gewählt.8 Die Anwendung des Kaiser-Kriteriums ergibt eine dreifaktorielle Lösung (vgl. Tabelle 3). Die ersten drei Komponenten erklären insgesamt 52,0 % der Gesamtvarianz, darunter allein die erste Komponente etwa ein Viertel. Nach der Varimax-Rotation ergaben sich für die dreifaktorielle Lösung die in Tabelle 4 aufgeführten Ladungen der Einzelitems. Auf die Komponente oder den Faktor 1 laden vier Einzelitems, die sich auf die soziale bzw. materielle Situation und die strafrechtliche Belastung der Klienten beziehen.9 Im Folgenden wird der Faktor 1 „soziale Situation“ genannt. Der Faktor 2 wird vor allem durch die beiden Items gebildet, die die Behandlungsvorerfahrungen der Klienten hinsichtlich stationär durchgeführter Entgiftungen und Entwöhnungen erfassen. Des weiteren lädt das Item justitielle Belastung positiv auf diesen Faktor. Daher soll dieser Faktor als „Behandlungsmaßnahmen“ bezeichnet werden.10 Der Faktor 3 wird von der Zahl der ärztlich diagnostizierten somatischen Erkrankungen und psychischen Störungen sowie einem kritischen Konsumverhalten der Klienten bestimmt.11 Der Faktor heißt deshalb im Folgenden „Gesundheit und Konsum“. Zusammenfassend läßt sich konstatieren, dass die im Rahmen der Faktorenanalyse einbezogenen Einzelvariablen auf drei Komponenten zurückzuführen sind, die - mit verschiedenen Anteilen - einen Großteil der Gesamtvarianz der Daten erklären. Daran gemessen kann der Faktor „soziale Situation“ als der bedeutsamste angesehen werden. Alle drei Faktoren korrelieren signifikant mit der Mitarbeitereinschätzung CMA (Faktor 1: r = .30, p < .01; Faktor 3 r = .32, p < .01), jedoch Faktor 2 „Behandlungsmaßnahme“ weniger ausgeprägt (r = .21, p < .01), was die geringe Bedeutung dieses Aspekts für die Mitarbeiter widerspiegelt. Clusteranalyse Anhand von Clusteranalysen wurde überprüft, ob sich die dichotome Gruppenbildung - wie sie sich aus dem Definitionsvorschlag ergibt - empirisch nachweisen läßt. Dazu wurden anhand der Faktorwerte12 mit Hilfe einer hierarchischen Clusteranalyse Gruppen von Klienten mit vergleichbaren Faktorwerten gebildet. Die Clusteranalyse teilt die Klienten in vier Gruppen, von denen die größte 472 Klienten, die kleinste 74 Personen umfasst. Sie haben klar unterscheidbare Mittelwerte auf den drei Faktoren, wie aus Tabelle 5 hervorgeht. 8 So gingen in die Analysen die Zahl der Erkrankungen, die tatsächliche Anzahl der Behandlungen und nicht die für die Definition verwendete dichotomisierte Form dieser Variablen ein. Um ein Maximum an Information auszuschöpfen, wurde der paarweise Ausschluss fehlender Fälle gewählt. Zur Überprüfung der Ergebnisse wurden auch Faktorenanalysen mit listenweisem Ausschluss von missing values berechnet, die aber keine Unterschiede in der Struktur und der Ladung der Hauptkomponenten lieferten. 9 Er korreliert signifikant mit dem vierten Bereich des Definitionsvorschlags „soziale Situation“ (r = .46, p < .01) sowie mit dem Kriterienbereich „Konsum“ (r = .26, p < .01). 10 Diese Komponente korreliert erwartungsgemäß mit dem Kriterienbereich Behandlungserfahrung des Definitionsvorschlags (r = .65, p < .01). 11 Korrelationen dieses Faktors sind signifikant mit Punkterreichungen im Bereich Konsum (r = .45, p < .01) und - wie zu erwarten noch deutlicher - mit dem Kriterienbereich gesundheitliche Beeinträchtigung (r = .54, p < .01). 12 Faktorwerte können nur für die Fälle berechnet werden, bei denen in jedem einbezogenen Item gültige Angaben vorliegen. Daher reduzierte sich das Analyse-N für die Clusteranalsysen auf 861 Fälle. 7 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. Tabelle 5: Faktormittelwerte und Standardabweichung der vier ermittelten Gruppen (n = 861) Faktorwerte Soziale Situation Faktorwerte Behandlungsmaßnahmen s ∅ Faktorwerte Gesundheit und Konsum s ∅ ∅ s -1,28 0,44 0,12 0,69 -1,00 0,58 2 jüngere sozial desintegrierte Klienten (CMA-1) (n = 472) 0,54 0,70 -0,32 0,59 -0,22 0,71 3 sozial desintegrierte Klienten mit Behandlungserfahrung (CMA-2) (n = 74) 0,50 0,76 2,05 0,99 -0,30 0,67 -0,76 0,74 -0,05 1,05 1,09 0,89 0 1 0 1 0 1 1 Nicht-CMA (n = 104) 4 ältere, kranke Klienten (CMA-3) (n = 211) GESAMT (∅) Gruppe 1 hat deutlich unterdurchschnittliche soziale und gesundheitliche Belastungen und nur durchschnittliche Behandlungserfahrung, sie wird daher als „Nicht-CMA“ bezeichnet. Gruppe 2 zeichnet sich durch eine problematische soziale Situation aus und hat durchschnittliche Werte in den beiden übrigen Faktoren und wird „jüngere sozial Desintegrierte" genannt. Gruppe 3 hat eine Vielzahl von stationären Maßnahmen in Anspruch genommen, ist sozial hoch belastet, aber weniger schwer erkrankt. Diese kann als „sozial desintegriert und behandlungserfahren“ charakterisiert werden. Gruppe 4 fällt durch den höchsten Mittelwert im Bereich „Gesundheit und Konsum“ auf, ihre Behandlungserfahrung ist durchschnittlich, ihre soziale Situation ist im Vergleich mit den anderen Gruppen etwas besser, weshalb sie als „ältere, kranke Klienten“ bezeichnet wird. Zu berücksichtigen ist, dass die Werte für einzelne Klienten stark um diese Gruppenmittelwerte streuen, also die Übergänge zwischen den einzelnen Clustergruppen fließend sind. D.h. Klienten können bereits durch eine Veränderung in einem Beeinträchtigungsbereich in eine andere Gruppe gelangen. Die beschriebenen Gruppenzuordnungen konnten auch anhand ausgewählter soziodemographischer, materieller, sucht- und behandlungsbezogener sowie gesundheitlicher Merkmale untermauert werden (vgl. Oliva u.a., 2001). Diskussion Vergleich zwischen Mitarbeitereinschätzung und Definitionsvorschlag, Diskriminanzanalysen Trotz recht guter Sensitivität und Spezifität zeigte vor allem die Analyse der falsch negativ eingruppierten Klienten, dass die Definition eine schwer belastete Gruppe von langjährig überwiegend von Alkohol Abhängigen nicht zu identifizieren vermochte, da sie weniger Entwöhnungsmaßnahmen durchlaufen hatte und deren beträchtliche gesundheitlichen Beeinträchtigung (somatisch und psychisch) seltener ärztlich diagnostiziert wurde. Es handelt sich also vor allem um Abhängige, die nicht in der Lage oder willens waren, insbesondere medizinische und suchtbezogene Hilfen in Anspruch zu nehmen bzw. für die keine adäquaten, auf ihre speziellen Bedürfnisse zugeschnittenen Angebote im Hilfesystem bereitstanden. Mit dieser Einschätzung korrespondierte ein Ergebnis aus den Diskriminanzanalysen: Für die Vorhersage der Mitarbeitereinschätzung kam der Behandlungsvorerfahrung ein geringerer Stellenwert zu. Es zeigte sich weiter, dass sich die Mitarbeitereinschätzung „CMA-ja“ aus dem vorgegebenen Itempool des Definitionsvorschlags nur bedingt reproduzieren ließ. Die Mitarbeiter gewichteten bei der Beurteilung des Schweregrads der Abhängigkeit einige Aspekte anders als der Definitionsvorschlag, insbesondere die soziale und die gesundheitliche Situation, die psychische Verfassung der Klienten und deren Inanspruchnahmeverhalten. Außerdem maßen die Mitarbeiter der strafrechtlichen Belastung eher geringe Bedeutung zu. Die beschriebenen Befunde deuten darauf hin, dass der Definitionsvorschlag in seiner gegenwärtigen Form einerseits die Funktionsbeeinträchtigungen durch somatische Erkrankungen und psychische Störungen nur unzureichend sowie das Inanspruchnahmevermögen und -verhalten insbesondere von alkoholabhängigen Klienten nicht in ausreichendem Maß erfasst. Darüber hinaus lassen sich aus Behandlungsvorerfahrungen nur bedingt Aussagen über die Schwere der Abhängigkeit bzw. Beeinträchtigung treffen. Sie sind „stark von regionalen Gegebenheiten der 8 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. Strukturqualität des Hilfesystems abhängig, insbesondere dem Verhalten der Kostenträger, dem stationären Angebot, den zur Verfügung stehenden Behandlungssettings usw.“ wie Fleischmann und Wodarz (1999, S. 42) anmerken. Um den Anspruch mit einer operationalisierten Definition, möglichst sensibel alle CMAKlienten zu erfassen, zukünftig (noch) besser gerecht zu werden, ist bei der Weiterentwicklung der Definition auf die Wahrnehmung der komplexen und vielschichtigen Ausgangslage und insbesondere das Inanspruchnahmeverhalten der Klienten zu achten. Gleichzeitig wurde durch die Analysen deutlich, dass modellimmanent kaum eine allgemeingültige Definition von chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig entwickelt werden kann. Die Klientel der Case Manager war durchweg so hoch belastet, dass bestimmte Items kaum Varianz aufwiesen. Deshalb sollte ein neuer Definitionsvorschlag grundsätzlich anhand unterschiedlicher Stichproben auf Reichweite, Reliabilität und Validität geprüft werden. Struktur des Definitionsvorschlags Die Faktorenanalysen ermittelten drei Faktoren: „soziale Situation“, und „Behandlungsmaßnahmen“ sowie „Gesundheit und Konsum“. Die Entscheidungsheuristik des Definitionsvorschlags Abhängigkeitsdiagnose nach ICD-10 und Erzielen von drei Punkten in den vier Kriterienbereichen kann empirisch also nicht bestätigt werden. Die Bedeutung der Eingangsvoraussetzung (Abhängigkeitssyndrom nach ICD-10)lässt sich im Modellprogramm nicht überprüfen, da dieses Kriterium praktisch auf alle Klienten zutraf. Wichtiger erscheint in diesem Zusammenhang jedoch die Tatsache, dass das Konsumverhalten im Definitionsvorschlag in doppelter Weise gewertet wird: als Eingangskriterium und im Kriterienbereich 1. Dieses „doppelte“ Gewicht wird durch die Untersuchungsergebnisse nicht gestützt. Außerdem findet die Gleichgewichtung der Kriterienbereiche in den Faktorenanalysen ebenfalls keine Entsprechung, da der sozialen Situation ein erheblich größerer Stellenwert zukommt. Homogenität der CMA Gruppe Aus den Clusteranalysen mit den Faktorwerten der Klienten geht hervor, dass eine dichotome Einstufung für die schwer beeinträchtigten Klienten des Modells zu kurz greift. Auf Grund der Berechnungen lassen sich vielmehr vier Gruppen unterscheiden: Eine Gruppe der Nicht-CMAKlienten (12,1 %), die im Vergleich zu den anderen Gruppen in allen Faktoren unterdurchschnittliche Beeinträchtigungen aufweist; eine erste sehr große CMA-Gruppe (54,8 %), die durch eine Vielzahl sozialer Problemfelder und (noch) relativ geringe gesundheitliche Belastungen gekennzeichnet ist; eine zweite und kleine CMA-Gruppe von jüngeren, sozial desintegrierten Klienten (8,6 %), die über ausgeprägte Behandlungsvorerfahrungen verfügt und justiziell hoch belastet ist; schließlich eine dritte CMA-Gruppe (24,5 %), die mit ihrer Vielzahl somatischer Erkrankungen und psychischer Störungen sowie sozialen Problemlagen in etwa der Klientengruppe entspricht, die Müller-Mohnssen u.a. (1999) beschrieben haben und die häufig als S4-Patienten i.S. der PsychPV behandelt werden. Ausblick: Konsequenzen und Schlussfolgerungen Zusammengenommen führen die verschiedenen Analysen der im Rahmen eines ambulanten Settings erhobenen Klientendaten zu dem Schluss, dass sowohl der Aufbau (Kriterienbereiche) als auch die Art der einbezogenen Items und schließlich die Entscheidungsheuristik (des Definitionsvorschlags in dieser Form nicht aufrechterhalten werden sollte. Die Befunde legen nahe, künftig drei Bereiche schwerpunktmäßig zu beachten. Dabei stellt die soziale Situation den wichtigsten Bereich dar. Der Kriterienbereich Behandlungserfahrung des Definitionsversuchs sollte entfallen und durch eine (auch) qualitative Erfassung des Inanspruchnahme- bzw. Hilfesuchverhaltens ersetzt werden; der Kriterienbereich Konsumverhalten sollte ebenfalls aufgelöst und - qualitativ gefasst - dem Faktor gesundheitliche Probleme und Konsumverhalten zugeordnet werden. Darüber hinaus sollten die drei Bereiche gewichtet wer- 9 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. den, wobei in der untersuchten Stichprobe dem ersten Faktor soziale Situation das relativ größte Gewicht zugemessen wird. Auf Grund von Ergebnissen der Faktoranalysen lassen sich den drei Bereichen folgende Einzelitems zuordnen: 1. Soziale Situation: Lebensunterhalt, Wohnen, Suchtbezogenheit des sozialen Umfelds, justizielle Belastung, Inanspruchnahmeverhalten sozialer Rechte 2. Inanspruchnahme von Hilfen: Zahl ambulanter bzw. stationärer (Vor-)Behandlungen (Entgiftung, Entwöhnung und Substitution), qualitative Erfassung von Hilfeversuchverhalten und -vermögen 3. Gesundheitliche Probleme und Konsumverhalten: Anzahl und Art (Funktionsbeeinträchtigung) somatischer Erkrankungen und psychischer Störungen, Konsumverhalten. Die Operationalisierung der Items kann noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Darauf wiesen auch die Ergebnisse eines Symposiums zum Definitionsvorschlag CMA (vgl. Arbeitsgruppe CMA, 1999, S. 12) hin, bei dem u.a. angemerkt wurde, dass die Operationalisierung der gesundheitlichen Situation nicht allein entlang der diagnostizierten Erkrankungen erfolgen könne, sondern stärker auf die Erfassung von Funktionsbeeinträchtigungen zielen solle. Vorgeschlagen wird deshalb, die Operationalisierung mit Hilfe einer Kombination aus Merkmalen der Klienten (z.B. die derzeitige Wohnsituation) und qualitativen, standardisierten und validierten Einschätzungen (z.B. von „verwahrlost“) vorzunehmen. Dies gilt für die Erfassung aller Items. Zu prüfen ist, inwieweit und in welcher Form eine Standardisierung und schließlich eine Manualisierung einzelner Items und Bereiche stattfinden kann. Für zukünftige Überlegungen ist weiterhin zu berücksichtigen, dass in der Stichprobe des Modells nicht eine, sondern mehrere Gruppen von chronisch mehrfachbeeinträchtigt Abhängigen mit unterschiedlichen Hilfebedarfen identifiziert wurden. Von Bedeutung ist schließlich, dass sich die Hilfebedarfe von Klienten dynamisch entwickeln können, woraus sich Anforderungen zum einen an das Versorgungssystem insgesamt, zum anderen an die Mitarbeiter in den Diensten ergeben. Dies leitet über zum Ziel der Definition, Klientengruppen im Hinblick auf ihre Hilfebedarfe genauer zu beschreiben und damit Aussagen zu Versorgungsbedarfen in bestimmten Regionen zu ermöglichen. Literatur AG Suchtkrankenhilfe (Hrsg.) (1996). Arbeitsgemeinschaft Suchtkrankenhilfe in den Diakonischen Werken der ev. Kirche von Westfalen und der Lippischen Landeskirche. Rahmenkonzept „Verantwortung für mehrfachbeeinträchtigt abhängige Menschen“. Münster. Amelang, M., Zielinski, W. (1997). Psychologische Diagnostik und Intervention, 2. Auflage, Heidelberg. Arbeitsgruppe CMA (1999). Definitionsvorschlag zur Operationalisierung von chronisch mehrfachbeeinträchtigt Abhängigen von psychotropen Substanzen. Sucht, 45,1, 6-13. DHS (Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren; 1994). Informationen zur Suchtkrankenhilfe 1/1994. Enquetekommission (1975). Bericht über die Lage der Psychiatrie in Deutschland - Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung, Drucksache 7/4200 des Deutschen Bundestages, Bonn. Expertenkommission (1988). Empfehlung der Expertenkommission der Bundesregierung zur Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Bereich auf der Grundlage des Modellprogramms Psychiatrie der Bundesregierung, Bonn. Fleischmann, H., Wodarz, N. (1999). „Chronisch mehrfachbeeinträchtigt Alkoholabhängige Anwendbarkeit und psychometrische Aspekte eines Vorschlags zur operationalisierten Diagnostik. Sucht, 45,1, 34-44. Mühler, K., Leonhardt, H.-J. (1998). Zur Problematik der Definition und der Behandlung chronisch mehrfachgeschädigter Abhängigkeitskranker (Alkohol und Medikamente). SuchtReport, H3, 29-36. 10 Schlanstedt u.a.: Definition "chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängig", SUCHT 47 (5), 2001, S. 331-340. Müller-Mohnssen, M., Hoffmann, M., Rothenbacher, H. (1999). Chronisch mehrfach geschädigter Abhängigkeitskranke (CMA) in der stationären psychiatrischen Behandlung - diagnostische, soziale und Verlaufsmerkmale. Sucht, 45,1, 45-54. Oliva H., Görgen, W., Schlanstedt, G., Schu, M., Sommer, L. (1998). Zwischenbericht zum Kooperationsmodell nachgehende Sozialarbeit. Köln. Oliva H., Görgen, W., Schlanstedt, G., Schu, M., Sommer, L. (2001). Abschlussbericht zum Kooperationsmodell nachgehende Sozialarbeit - Modellbestandteil Case Management, Manuskript, Köln. Schu, M. (1998). Zur Definition von „chronisch mehrfachbeeinträchtigt abhängigkeitskrank“, in: Senator für Frauen, Gesundheit, Jugend, Soziales und Umweltschutz (Hrsg.) Vergessene Mehrheit - Chronisch Suchtkranke, Schriftenreihe Suchtkrankenhilfe Band 2, Bremen. Schwoon, D.R. (1992). Motivation - ein kritischer Begriff in der Behandlung Suchtkranker, in: Wienberg, G. (Hrsg.) Die vergessene Mehrheit: Zur Realität der Versorgung alkohol- und medikamentenabhängiger Menschen, Bonn. SLS (Sächsische Landesstelle gegen die Suchtgefahren; 1994). Zur Versorgung chronisch mehrfachgeschädigter Abhängigkeitskranker im Freistaat Sachsen. Dokumentation zur Fachtagung, Dresden. Korrespondenzanschrift: Günter Schlanstedt, Martina Schu FOGS GmbH Prälat-Otto-Müller-Platz 2 50670 Köln Tel.: 0221/973101-0 Fax: 0221/973101-11 E-mail: [email protected] 11