Wippel: Neue musikalische Verhaltensweisen

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Wippel: Neue musikalische Verhaltensweisen
Hintergrund
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© Robert Kneschke – fotolia
üben&musizieren 2 15
Neue
musikalische
Verhaltensweisen
Wie Jugendliche das Smartphone nutzen
Christina Wippel
Kommunikationsmedien beeinflussen jegliches und somit auch musikalisches Verhalten in hohem Maße. Smartphones mit Zugang zum Internet können zu jeder Zeit und
überall ein geradezu unerschöpfliches Musikangebot zur Verfügung stellen. Und das,
ohne dafür bezahlen zu müssen. Außerdem
kann jede und jeder musikalisch kreativ werden, die oder der im Besitz eines Smartphones ist. Ob digitale Versionen akustischer
Instrumente, Synthesizer, Bass- und Drumsounds oder Beatproduction – es war nie so
einfach, Musik zu produzieren.
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Hintergrund
Um zu erforschen, wie sie ihre Smartphones
in Bezug auf Musik nutzen, wurden im Frühjahr 2013 elf Jugendliche im Alter zwischen
15 und 17 Jahren zu Gruppendiskussionen
rund um das Thema „Smartphones und Musik“ an das Institut für Musiksoziologie der
Universität für Musik und darstellende Kunst
Wien eingeladen. Die Studie brachte bemerkenswerte und unerwartete Ergebnisse.
ALLGEMEINER UMGANG
MIT DEM SMARTPHONE
Vorweg sei bemerkt, dass es den einen Jugendlichen nicht gibt. Vielmehr kann Jugend
je nach Voraussetzungen sehr unterschiedlich durchlebt werden. Die Ergebnisse der
Studie zeigen dennoch zwei Tendenzen.
Die eine Gruppe zeichnet sich durch ein
hohes Maß an Identifikation mit ihrem, in der
Regel eher neuen Smartphone aus. Das
Handy befindet sich andauernd in unmittelbarer Umgebung und wird in den seltensten
Fällen abgedreht. In vielen Fällen wird das
Handy wie ein Tagebuch verwendet – Nachrichten, Fotos oder Lieder werden gespeichert und der Alltag so dokumentiert. Das
Smartphone wird zum Symbol für das soziale Netz der Jugendlichen, es verbindet sie mit
ihren Freunden. Der Verlust des Geräts wird
mit dem Gefühl der Hilflosigkeit oder Nacktheit beschrieben. Sie haben laut eigenen Angaben ihr ganzes Leben auf dem Handy gespeichert. Andere Geräte, wie etwa Laptop
oder PC, treten in den Hintergrund. Die eigenen PC-Kenntnisse werden häufig als sehr
schwach eingeschätzt. Auf Nachrichten wird
für gewöhnlich sofort reagiert. Smartphones
sind für sie nach eigenen Angaben überlebenswichtig!
Die andere Gruppe geht reflektierter mit dem
Smartphone um, schaltet es in besonderen
Situationen – Urlaub, Zeit mit der Familie,
Freizeitaktivitäten – auch einmal aus und
achtet darauf, dass das Handy nicht die
Überhand gewinnt. Auch Handys ohne Internetzugang werden von dieser Gruppe gelegentlich verwendet. Sie empfinden ältere
Handymodelle sogar als durchaus charmant.
Vor allem die Reduktion auf die Grundfunktionen Telefonieren und SMS-Schreiben wird
sehr positiv bewertet. Die Präsenz der
Smartphones im öffentlichen Raum und im
Umgang miteinander wird kritisiert. Ein Leben ohne Smartphone stellen sie sich romantisch vor. Trotzdem spielt das Smartphone für sie eine wichtige Rolle. Vor allem,
wenn es um Organisatorisches geht. Verab-
redungen werden von zu Hause aus nur vage
formuliert, Ort und Zeit wird erst unterwegs
konkreter. Wie sich die Generationen zuvor,
ohne Handys überhaupt verabreden konnten? Rätselhaft.
SMARTPHONE UND MUSIK:
DOWNLOAD BEVORZUGT
Musik hat im Leben der meisten Jugendlichen einen hohen Stellenwert. Die Musik ist,
genau wie das Smartphone, ständiger Begleiter. Die logische Schlussfolgerung: Die
meisten Jugendlichen hören über ihr Handy
Musik. Unterwegs genauso wie zu Hause. In
den eigenen vier Wänden wird in der Regel
über die internen Lautsprecher der Smartphones, gelegentlich auch über eine Dockingstation, seltener über externe Lautsprecher gehört. Man könne die Smartphones
überall hin mitnehmen und die Musik einfach
laufen lassen. Der Laptop macht auf viele
Jugendliche einen unpraktischen Eindruck.
Schließlich könne man ja nicht immer einen
Laptop dabei haben, um damit auf YouTube
Musik zu hören.
YouTube ist die Quelle für neue Musik. Wird
ein Song irgendwo gehört, kann er auf YouTube gesucht und mit Hilfe einer KonvertierApp gleich auf das Mobiltelefon heruntergeladen werden. CD-Player gehören der Vergangenheit an. Man höre ja ohnehin keine
CDs, wozu also dann ein CD-Player? MP3Player sind eher noch bei den Jugendlichen
beliebt, die auch die Handys gern auf ihre
Grundfunktionen reduzieren. Der MP3-Player
wird dann nur zum Musikhören verwendet,
das Handy nur, um zu kommunizieren.
Weitere Themenschwerpunkte der Gruppendiskussionen waren die Beschaffung und der
Besitz von Musik: Wie kommt die Musik aufs
Handy? Welche Musik hören die Jugendlichen? Wie stehen sie zum kostenlosen Musikangebot im Internet?
Neue Musik wird für gewöhnlich über Freunde oder übers Internet „beim Durchklicken“
kennen gelernt. Wird ein Song von einer
Freundin oder einem Freund empfohlen, wird
er in der Regel sofort mit Hilfe einer Download-App auf das Smartphone heruntergeladen. Die Jugendlichen haben zwischen ein
paar Hundert und einigen Tausend Lieder auf
ihrem Smartphone. Dabei ist es wichtig, die
Musik zu besitzen! Zu streamen oder Radio
zu hören, gilt für viele als unpersönlich und
kommt nicht in Frage. Der Prozess, das Lied
herunterzuladen, wird unter anderem mit
den Worten „es sich aneignen“ beschrieben.
Nur wenn die Musik heruntergeladen wird,
kann eine emotionale Bindung entstehen.
Die Playlist am Handy wird so zum Aushängeschild der eigenen Persönlichkeit. Handys
werden getauscht und die Playlists der anderen durchstöbert. Unter Gleichaltrigen wird sie
so zum Anknüpfungspunkt für Gespräche.
Der grenzenlose Zugang zu Musik über das
Internet wird häufig als selbstverständlich
und rechtmäßig empfunden. Jugendliche
können über das Smartphone immer und
überall die Musik hören, die sie wollen. Mit
der Allgegenwart des Smartphones ist auch
die Anwesenheit von Musik immer und überall gewährleistet. Die logische Konsequenz:
Damit sei es unnötig, Musik zu kaufen. Zusammenhänge werden häufig nicht erkannt.
So verarmten Musikschaffende beispielsweise nicht, nur weil sie kein Geld für ihre Musik
verlangten. Außerdem stehe der Erwerb von
Musik nicht im direkten Zusammenhang mit
dem Einkommen von Musikschaffenden. Musikerinnen und Musiker hätten ohnehin Geld,
könnten ihre Alben sowieso produzieren und
ihre Konzerte spielen. Ob die Musik gekauft
oder gratis heruntergeladen werde, mache
keinen Unterschied. Die befragten Jugendlichen, die dieser Argumentationslinie folgen,
hören in der Regel die aktuellen Charts, also
in erster Linie Megastars.
Jugendliche mit einem differenzierteren Musikgeschmack laden die Musik ebenfalls gratis direkt auf das Smartphone, mit dem Unterschied, dass sie dabei von schlechtem Gewissen geplagt werden. Sie kennen die Vertriebswege über das Internet grundsätzlich
schon, verwenden diese aber auf Grund der
kostenlosen Alternativen nicht. Außerdem
würden Musikschaffende von einem gekauften Track kaum bis gar nicht profitieren.
Wenn Musik doch gekauft wird, dann steht
der Wunsch, die jeweiligen Musikerinnen
und Musiker zu unterstützen, im Vordergrund. Dann gehen die Jugendlichen auf Konzerte und kaufen vor Ort eine CD oder Merchandise-Artikel.
FOLGEN FÜR DEN INSTRUMENTALUNTERRICHT
Das Smartphone stellt grundsätzlich keine
Konkurrenz für den Instrumentalunterricht
dar. Jugendliche ziehen „echte“ Instrumente
auf Grund des Klangs, der Haptik und der Ästhetik in der Regel vor. Mit einem virtuellen
Handyinstrument müsse man sich genauso
intensiv beschäftigen wie mit jedem anderen
Instrument – dann könne man seine Zeit und
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Energie auch gleich in ein „richtiges“ Instrument investieren. Interessant ist, dass fast alle Jugendlichen diese Meinung vertraten. Egal
ob sie ein Instrument lernten oder nicht.
Attraktiv ist die virtuelle Alternative für Jugendliche, für die das Erlernen eines Instruments nicht selbstverständlich ist. Handyinstrumente sind gratis, niederschwellig und
intuitiv zu bedienen. In Walk Band für Android und Garage Band für iOS beispielsweise sind Gitarre, Bass, Schlagzeug, Drumsynthesizer und Tasteninstrumente in einer App
vereint. Außerdem können mehrspurige
Tracks programmiert werden. Ein Teilnehmer
der Gruppendiskussionen kam genau so zum
Musizieren. Zuerst beschäftigte er sich mit
Piano- und Gitarren-Apps. Irgendwann war
ihm das zu wenig; er wünschte sich eine Gitarre und begann, Unterricht zu nehmen.
SMARTPHONES IM INSTRUMENTALUNTERRICHT
Smartphones können in einem kreativen
Schaffensprozess beispielsweise als Aufnahmegerät dienen. Kinder und Jugendliche werden zu Soundartists, indem sie mit ihrem
Smartphone Alltagsgeräusche aufnehmen
und anschließend remixen. Die Klanglandschaft einer Umgebung wird bewusst wahrgenommen, die Geräusche der Umwelt am
Handy gespeichert und so virtualisiert und
verinnerlicht. Der Pure Audio Recorder Free
für Android und der Recorder Plus für iOS eignen sich für ein solches Vorhaben, da die wavDateien anschließend leicht mit unterschiedlichen Freeware-Programmen bearbeitet werden können (z. B. Audacity). Um die Dateien
allen zugänglich zu speichern, kann auf jedem Gerät eine Dropbox installiert werden.
In den Instrumentalunterricht, egal ob Einzeloder Gruppenunterricht, kann das Smartphone auf unterschiedliche Art eingebunden
werden. Die Auswahl an Metronomen und
Stimmgeräten fürs Handy ist gigantisch. Das
Time Guru Metronome beinhaltet einige
nützliche Features abseits der normalen
Funktionen. So kann eine Abfolge an unterschiedlichen Tempi und Taktarten programmiert werden. Es können Pausen eingefügt
werden, um die Tempovorstellung zu schulen. Unterschiedliche Drum-Beats können
das Klicken des Metronoms ersetzen (zum
Beispiel für Tonleiterübungen). Und so nebenbei kann man auch noch Deutsch, Englisch, Russisch, Französisch oder Chinesisch
lernen. In diesen Sprachen kann das Metronom nämlich mitzählen.
Der LinoStrobe Chromatic Tuner ist ein sehr
präzises Stimmgerät fürs Smartphone. Der
Referenzton A kann von 415 bis 466 Hz eingestellt werden, es stehen 30 historische
und moderne Stimmungen zur Auswahl,
transponierende Instrumente werden unterstützt und die Notennamen können unter anderem auf Englisch, Deutsch, Kyrillisch, Japanisch oder als Solfège angezeigt werden.
Foto- und Videoaufnahmen mit dem Smartphone zu machen, ist bei Jugendlichen sehr
beliebt. Im Unterricht können zum Beispiel
Fingersätze oder Bewegungsabläufe abfotografiert oder gefilmt und so Lerninhalte dokumentiert werden. Beim selbstständigen
Üben daheim kann das Material wieder herangezogen werden und gewährleistet so eine höhere Effizienz. Schülerinnen und Schüler können sich beim Üben filmen. Gemeinsam kann das Übeverhalten und die Übesituation daheim unter die Lupe genommen
werden. Manche dokumentieren ihr eigenens
Fortkommen, indem sie fertig erarbeitete
Stücke aufnehmen und das Video auf You-
Tube oder Facebook stellen. So können die
Schülerinnen und Schüler ihrem Freundesund Bekanntenkreis auch abseits von Vorspielabenden zeigen, was sie können. Positive Rückmeldungen bestärken die jungen Musikerinnen und Musiker in ihrem Tun.
Gerade die praktische Einbindung der Handys in kreative Prozesse bietet Raum für Ausdruck und Auseinandersetzung mit dem Thema. Das Smartphone ist fixer Bestandteil unserer Welt geworden. Kinder verwenden es
ganz intuitiv. Sein Besitz beeinflusst das musikalische Verhalten von Jugendlichen und ihre Wahrnehmung nachhaltig. Der kreative
Umgang mit dem Smartphone kann das Augenmerk auf das schöpferischen Potenzial
der Minicomputer legen.
Christina Wippel
ist Instrumentalpädagogin und Musikerin.
Sie lebt und arbeitet in Wien.
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