09_Treues Weib und Femme Fatale

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09_Treues Weib und Femme Fatale
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29 „Treues Weib“ oder „Femme fatale“
„Ich habe in der Übergangszeit gelebt – mitten in der Frauenemanzipation. Da wurde die Frau
diejenige, die verführt und verlockt und den Mann betrügt. Carmens Zeit. In dieser Übergangszeit
wurde der Mann der Schwächere.“
Edvard Munch
Munchs Schlussfolgerung bezieht sich wohl im Wesentlichen auf einen Lebensabschnitt der mit seiner
Freundschaft zu Hans Jaeger und der Kristiania-Boheme begann und sich in seiner Berliner Zeit mit der
intellektuellen Künstler- und Literatenszene fortsetzte.
Er spricht darin verschiedene gesellschaftliche und persönliche Aspekte an, die über den Kontext seiner
Frauenbilder Aufschluss geben: Die Frauenbewegung, ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und das
parallel dazu in der Literatur und Kunst vorgestellte Frauenbild.
Hans Jaeger war für Munch ein faszinierender Freund, von dem er sich angezogen, aber zugleich auch in
Gewissenskonflikte gestürzt fühlte. Er konnte die zynischen, alle christlichen und moralischen Werte
verwerfenden Vorgaben Jaegers nicht nachvollziehen.
„Du sollst die Wurzel zur Familie abschneiden“ und „man kann seine Eltern nicht schlecht genug
behandeln“ lauteten zwei der zehn Gebote der Kristiania Bohème. Diese Forderungen waren für Munch
nicht akzeptabel. Zu stark wirkten die Familienbande, die durch den frühen Tod der Mutter und der
Schwester Sophie unauflösbar waren.
Vor allem in seiner Berliner Zeit müssen Munch wohl die Diskussionen und Auffassungen der
Literatenszene zugesetzt und ihn beeinflusst haben. Der Künstler verkehrte dort im Zirkel August
Strindbergs und in dessen Stammlokal „Zum Schwarzen Ferkel“, wo sich die Berliner Boheme traf.
Sexualität und Erotik und die sich neu stellende Geschlechterproblematik durch die sich emanzipierende
Frau werfen am Ende des 19. Jahrhunderts die Frage nach dem Verhältnis von Mann und Frau neu auf.
In den Diskussionen dieser lebhaften Männerrunde entwickelten sich dabei abstruse Theorien. Dabei
wird der Mann als Opfer von Trieb und Begierde gesehen, während die Frau als Verursacherin der
Seelenqual und des Untergangs des Mannes verantwortlich gemacht wurde. Munchs Zitat am Anfang
beschreibt deutlich, wie sehr er von diesen Vorstellungen geprägt wurde und wie sich diese Auffassung
auch in seinen Frauendarstellungen wiederfindet. Im Lebensfries kehren drei Frauentypen immer
wieder: die lustvolle Frau, die sich wie beispielsweise auch in seinem Gemälde Die Frau. Sphinx von
1894 nackt und rothaarig dem Betrachter darbietet; die weiß gekleidete, unschuldige Frau, die sich, in
dem gleichen Gemälde, sehnsüchtig dem Meer zuwendet, und als dritte, die schwarz gekleidete,
trauernde Frau. Munchs Aufteilung der Frauen in Jungfrau und Hure, gute und schlechte Frauen, war
durchaus gängig im 19. Jahrhundert und nahm bereits einen Frauentyp vorweg, der am Anfang des 20.
Jahrhunderts in allen Kunstgattungen präsent ist: Die „Femme fatale“.
Sie wirkt ebenso verhängnisvoll wie anziehend, wird als wunderbare Erscheinung und Bedrohung
gleichermaßen erfahren und gilt deshalb als Quelle von Furcht und fortgesetzten Ängsten. Das
schillernde Wesen dieser Figur, die zugleich Schöne und Biest, Verführerin und Hexe sein konnte,
inspirierte und animierte zahlreiche Maler und Schriftsteller, sie in ihrer Vielschichtigkeit und
Ambivalenz zu erfassen und darzustellen. Die Reize ihrer Weiblichkeit werden unter diesem
Gesichtspunkt zum auslösenden Moment für den Verlust von Macht und Selbstkontrolle des Mannes;
die Schönheit der Frau bringt bekanntermaßen Verderben.
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Sein Frauenbild, das durch die frühen Kindheitserinnerungen an die Mutter und durch die Tante, die
nach dem Tod der Mutter den Haushalt führte, sowie durch die Schwestern Inger und Laura geprägt
war, wurde in dieser Zeit auf den Kopf gestellt.
Er habe in „Carmens Zeit“ gelebt, schrieb Munch. Er zitiert hier nicht nur eine der bekanntesten
literarischen Frauen des 19. Jahrhunderts, sondern den Typus der „Femme fatale“, der in zahlreichen
Variationen und Facetten die Literatur des 19. Jahrhunderts beherrschte. Die „Femme fatale“ ist die
männliche Projektion von einer Frau, die dem Mann zum Verhängnis wird. Sie spielt die Hauptrolle im
Kampf der Geschlechter.
Madonna, 1895/1902
Wir sehen eine nackte junge Frau. Die Aktfigur reckt ihren
schlanken Körper verführerisch von der Hüfte in leichter Biegung
zu dem nach oben geneigten Kopf. Das schwarze fließende Haar
umrahmt ihr Gesicht, lange Strähnen fallen auf Schulter und Hüften.
Über ihrem Kopf hebt sich eine rote sichelförmige Fläche ab, die wie
ein Heiligenschein wirkt – aber vielleicht auch nur einen Haarreif
darstellt. Die ganze Aufmerksamkeit lenkt Munch auf den Kopf der
Frau. Der leicht nach hinten und zur linken Schulter geneigte Kopf
ist von unten zu sehen und die Gesichtszüge sind entspannt wie im
Schlaf: Die geschlossenen Augen, die breiten Backenknochen, die
dreieckige Nasenspitze und der nach oben gewölbte Mund zeichnen
sich deutlich ab. Die Dreiviertelgestalt der Madonna wird von
weichen geschwungenen Linien umgeben, die sich farblich
ineinander übergehend zu einer diffusen Dunkelzone ausweitet, so dass ihre Hände nicht sichtbar sind.
Eingeritzte feine Schraffuren betonen die schwellenden Formen des Leibes, der Brüste und der
Schulterpartie, was den Eindruck hervorruft, als würde die Gestalt aus einer dunklen Flut auftauchen
oder in sie versinken. Die Lithografie bekommt eine rote Rahmengestaltung die mit Spermien geziert
ist. In der linken unteren Ecke kauert ein hohläugiger Embryo, der zu ihr aufblickt. Die drastische
Symbolik der Rahmenmotive verweisen auf den Liebesakt, auf Zeugung und Gebären. Die ganze
Körpersprache bringt den Zustand vollständiger Hingabe zum Ausdruck. Munchs Madonna ist Mutter
und Geliebte zugleich.
Vampir, 1895
Die meisten Werke, die das menschliche Paar thematisieren,
variieren Gemäldemotive, die Munch später in seinen
„Lebensfries“ aufgenommen hat. Hierzu gehört auch dieses Bild,
das eine neue Facette der Paarbeziehung aufgreift: Im Titel
Vampir scheint das Dargestellte eindeutig geklärt. Eine Frau mit
langen roten Haaren ist über einen Mann gebeugt und saugt
ihrem Opfer seine Lebenskraft aus. Wie ein Vampir bezieht sie
ihre Stärke aus dem anderen Geschlecht und vernichtet dieses
zugleich.
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Deutlich spiegelt diese Vorstellung auch die Auffassung der intellektuellen Literatenszene „Zum
Schwarzen Ferkel“ wieder: Die Unmöglichkeit der Liebe, das Zerstörende des Geschlechtes und die
tödliche Bedrohung des Mannes durch die Frau. Munch übernahm erstmals 1894 die Bezeichnung
Vampir. Ein Jahr zuvor hatte der Künstler dieses Bild in der Berliner Präsentation Unter den Linden
noch als Liebe und Schmerz ausgestellt, das der obigen Lesart widerspricht.
Von einem dunklen Schatten umfangen, beugt sich eine Frau über eine Männergestalt. Ihr rotes Haar
fällt in langen Strähnen über seinen Kopf und seinen Rücken. Der geneigte Kopf des schwarz
gekleideten Liebhabers ruht an ihrem Körper, während sie ihn ihrerseits mit ihrem nackten Arm an sich
zieht und ihm Halt gibt.
Munch belässt das Paar bewusst anonym und verzichtet auf physiognomische Details zugunsten einer
allgemeingültigen Aussage. Ist die Umarmung der Frau nun liebevoll oder machtergreifend? Breiten sich
ihre Haare schützend über den Mann oder halten sie ihn wie in einem Spinnennetz gefangen. Geben
ihre Arme nun Schutz und Trost oder umklammern sie ihn. Ist der Kuss der Frau todbringend oder eine
Liebesbezeugung? Wird der Schatten hinter dem Paar als Bedrohung angesehen oder verkörpert er
bildhaft die Verschmelzung der Liebenden?
„Es ist in Wirklichkeit nur eine Frau, die den Nacken eines Mannes küsst“, schreibt Munch um 1833,
und tatsächlich suggeriert nur der Titel die unheilvolle Rolle einer Blut saugenden Partnerin.
Die Frau. Sphinx, 1894
In dem Bild Die Frau. Sphinx treten drei unterschiedlichen Frauentypen auf, die verschiedene Rollen
innehaben. Nackt und frontal begegnet uns im Bildzentrum eine Frau, die breitbeinig, selbstbewusst und
kokett ihren Körper zur Schau stellt. Die Hände sind am Hinterkopf unter den roten Haaren
verschränkt. Munch zeigt ihre sinnliche Reife als
Verlockung und Begehren. In der linken hellen
Bildhälfte, die eine Küstenlandschaft beschreibt,
steht eine weiß gekleidete junge Frau mit lang
fließendem, blondem Haar. Sie blickt über das Meer
hinaus in die Ferne. Sie verkörpert die reine,
unschuldige Frau, die sehnsüchtig Ausschau hält. In
der dunklen rechten Bildhälfte steht die gealterte
Frau. Ihre starre Haltung, das dunkle Kleid und ihre
dunklen Haare erzeugen ein Gefühl von
Traurigkeit, das durch die dunklen Augenhöhlen noch verstärkt wird. Aus ihr scheint alle Lebendigkeit
gewichen. Kein Lächeln, kein verträumter Blick kommt aus dem verschlossenen Gesicht. Wie schon in
Vampir sind die hier dargestellten symbolischen Auffassungen Munchs typisch für die Berliner-BohemeSzene und die Zeit um 1900. Durch einen Baumstamm von der Frauenformation getrennt steht ein
Mann. Wie die gealterte Frau ist er von der dunklen Bildhälfte umfangen. Farbe und Haltung des
Mannes sind der gealterten Frau am nächsten. Sein Kopf ist zum Boden geneigt.
Männerkopf in Frauenhaar, 1896
Die Frau, die verführt, ist in der Literatur und bei Munch langhaarig. Ihre Haarfarbe vibriert zwischen
blond und rot. Üppiges, wallendes Frauenhaar als Symbol erotischer Verführung und seelischer
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Bindungen ist eines der zentralen Motive in Munchs Bilderwelt. Wie doppeldeutig das aufgefasst werden
kann, zeigt sich in dem Holzschnitt Männerkopf in Frauenhaar von 1896.
Munchs Darstellung von Frauenhaar ist nicht nur ein
visuelles Zeichen für Weiblichkeit, sondern es drückt
auch unterschiedliche seelische Beziehungen aus. Die
kurvigen und stilisierten Haare der Frau umgarnen den
Kopf des Mannes, schützen ihn oder lösen sich von ihm.
Und da haben wir es wieder, das Bild der Frau: Entweder
ist sie gut oder böse. Sie ist Verderben oder Heil,
Untergang oder Erlösung.
Was fällt in der einfachen Darstellung des Holzschnittes
auf? Gegensätzlich wirkt die Anordnung der Köpfe.
Während die Frau im Profil zu sehen ist, blickt der Mann
frontal aus dem Bild. Der Frauenkopf überragt das männliche Gesicht. Die langen Haarsträhnen der Frau
umschließen den Männerkopf. Frau und Mann sind körperlos aber farblich voneinander abgegrenzt
dargestellt. Gesicht und Haar der Frau werden auf dem Druckstock rot eingefärbt, während das Gesicht
des Mannes ausgespart wird und so die Farbe des Papiers erhält. Wie schon in Vampir kann das
Gesehene auch anders gedeutet werden. Malt Munch das lange rote Frauenhaar als Symbol weiblicher
Kraft und Stärke, das als Fessel für den Mann dient, das ihn gefangen hält. Unterstützt das erotische,
verlockende Haar der Frau das Weibliche schlechthin, das auf ihn verhängnisvoll und zerstörerisch
wirkt? Immerhin ist schon alle Farbe aus dem Gesicht des Mannes gewichen. Oder kann das Symbol
weiblicher Kraft und Stärke nicht auch positiv gewertet werden? Wenn das Unheil versprechende Haar
als energetische Bahnen aufgefasst wird, das den schon leblosen Mann wieder erweckt und beschützt?
Worüber man im Unterricht sprechen kann:
Sozial- und mediengeschichtliche Dimension der (Selbst-)Darstellung von Frauen
Frauentypus Femme fatale – Vamp – Bad Girl (Kennzeichen)
Femme fatale in den Neuen Medien
Die Rolle der Frau - früher/heute
Die Frau als Verführerin, Gebärende und Todbringende
Geht Liebe auch ohne Drama?
Was ist die prägende Kraft von Geschlechterrollen?
Welche ästhetischen Normen und tradierte Vorstellungen werden in der Kunst um 1900 künstlerisch
reflektiert?
Wie wird das Verhältnis der Geschlechter reflektiert?
Ist die Darstellung der Frau auch ein Spiegel gesellschaftlicher Strukturen?
Geschlechtsspezifische Rollenbildung
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Arbeitsanregungen
Körpersprache als Ausdrucksmittel
Für starke Gefühle wie Liebe und Hass gibt es körperliche Ausdrucksformen, die leicht lesbar sind.
Schwieriger wird es, wenn es sich um gemischte Gefühle handelt, in denen ein „Sowohl – als auch“
vermittelt werden. Welche zwiespältigen Gefühle kennst du? Welche körperlichen Ausdrucksformen
entsprechen diesen.
Variante zu Zweit: Stelle mit einem Partner zwiespältige Beziehungen dar. Überprüft dabei auch die
Nähe oder die Distanz zum Anderen.
Komposition als Ausdrucksmittel
Wie die Körpersprache kann auch die Komposition in einem Bild zwischenmenschliche Beziehungen
darstellen. Versuche mit einfachen Formen nicht eindeutige Empfindungen bildlich auszudrücken.
Betrachte das Bild Vampir
Wie wirkt die Frau? Wie der Mann? Welche Rolle spielen die Farben, der Hintergrund und die
Positionen der Beiden im Bildfeld? Versuche persönliche Erfahrungen mit Beziehungen bildhaft
auszudrücken. Konzentriere dich dabei auf Form und Farbe.
Filmstill
Stell dir vor, die Situation in Munchs Bild Vampir wäre eine Szene aus einem Film. Beschreibe mit
wenigen Sätzen, was in den nächsten Minuten geschehen könnte. Bringe die sich abspielenden
Vorgänge bildhaft zum Ausdruck. Welche Dialoge könnten die Beiden führen?
Fiktives Werbeplakat mit Madonna
Schaut euch in Magazinen und Illustrierten die Frau als Werbefigur an. Wofür werben sie? Wie wird
die Frau dargestellt? Das Bild Madonna soll zu einem Werbeplakat gestaltet werden. Übernehmt die
Figur in euer Plakat und überlegt welches Produkt, Dienstleistung oder welche Veranstaltung
beworben werden soll. Achtet dabei auch auf das Zusammenwirken von Bild und Schrift.
Betrachte das Bild Die Frau. Sphinx (Vorlage 10)
Beschreibe die drei verschiedenen Frauentypen. Welche Rolle nehmen sie ein? Stelle die einzelnen
Frauenfiguren schablonenhaft in neue Zusammenhänge, die widersprüchlich oder mehrdeutig sind.
Betrachte den Holzschnitt Männerkopf in Frauenhaar
Was spielt sich im Kopf der beiden Personen ab? In Zweiergruppen: Stellt einen möglichen Dialog
zwischen den Beiden her. Überlegt genau wie er endet. Könnte der Dialog auch in eine andere
Richtung geführt werden?
Entwickelt anhand der Dialoge bildnerische Lösungen. Kann das Gespräch der Beiden auch als
Körperskulptur dargestellt werden?
Rollenklischees (Vorlage 10)
Diskutiert in Kleingruppen zunächst über weibliche Rollenklischees (z. B. Vamp, Bad Girl, Mannsfrau,
Emanze, Lolita, Diva, Mauerblümchen, Weibchen, Heilige, Pretty Woman). Welche
Charaktereigenschaften und Attribute rechnen wir ihnen zu? Wo ordnet ihr euch zu? Malt, collagiert
oder zeichnet euch in dieser Rolle.
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Verlockende Verführung
Schaut euch in Magazinen Haar- und Frisurentrends an. Schneidet Frisurenköpfe aus und überlegt
welche Figurentypen dahinter stecken. In Bildern oder Collagen werden eigene Haarschnitte
erforscht. Was sagen diese Frisuren über euch aus?
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