Neue Zürcher Zeitung Die Twin Towers als Mahnmal?

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Neue Zürcher Zeitung Die Twin Towers als Mahnmal?
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World Trade Center
New York, Vereinigte Staaten von Amerika
© nicht bekannt
Die Twin Towers als Mahnmal?
SAMMLUNG
Wiederaufbauideen für Lower Manhattan
ARCHITEKTIN
von Roman Hollenstein
Die Terrorattacken auf die Zwillingstürme des World Trade Center haben im Weichbild
Manhattans eine klaffende Wunde hinterlassen, die nach Vorstellung der New Yorker
möglichst schnell vernarben soll. Dabei reichen die Ideen von einem Mahnmal bis hin zu
neuen Wolkenkratzern. Die exakte Rekonstruktion der Twin Towers, deren neue Existenz
stets an das Attentat erinnern würde, könnte beide Aufgaben erfüllen.
Neue Zürcher Zeitung
Minoru Yamasaki Associates, Inc.
Emery Roth & Sons
BAUHERRIN
Port Authority
STATIK
Leslie E. Robertson Associates
FUNKTION
Büro und Verwaltung
Auch wenn wir über die Medien am Untergang des World Trade Center teilnahmen, bleibt
doch der Verlust dieses New Yorker Wahrzeichens für alle, die die Zerstörungen nicht vor AUSFÜHRUNG
1966 - 1972
Ort erlebten, bis zu einem gewissen Grade virtuell. In unseren Köpfen jedenfalls lebt ein
doppeltes Bild von Manhattans Skyline weiter: eines mit und eines ohne Zwillingstürme;
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und letzteres möchten wir so schnell wie möglich wieder loswerden. Deshalb empfanden
viele es wie eine Befreiung, als New Yorks Bürgermeister Rudolph Giuliani kurz nach der
Katastrophe die «Reconstruction» des WTC ankündigte. Ihm pflichtete der
Immobilienmakler Larry Silverstein bei, der erst im vergangenen April das WTC zum Preis
von 3,2 Milliarden Dollar für 99 Jahre von der Port Authority erworben hatte. Von einer
Rekonstruktion der zeichenhaften Twin Towers war bei Silverstein allerdings nicht mehr die
Rede, sondern von mehreren kleineren Türmen und einem Mahnmal.
Vorschläge aus New York
Nachdem am 17. September die Wiederaufbaukommission unter Vorsitzt von Giuliani ins
Leben gerufen worden ist, denkt man auch in New Yorks Künstler- und
Intellektuellenkreisen, vor allem aber in der Architektenszene laut über die Zukunft des
Schreckensortes nach. Die Ideen reichen dabei vom intimen Mahnmal bis zum
monumentalen neuen Sitz des um eine kulturelle Institution wie das Guggenheim Museum
erweiterten New York Stock Exchange. Solch kommerzielle Bauten möchte der Soziologe
Richard Sennett allerdings einer Gedenkstätte untergeordnet sehen. Diese kann sich der
Kunsthistoriker Robert Rosenblum als leeres Phantomgebäude in der Form der Twin
Towers vorstellen. Bescheidener geben sich die Künstler: Altmeisterin Louise Bourgeois
legte in der «New York Times» einen Entwurf für ein sternförmiges Mahnmal vor; und in
Umfragen derselben Zeitung äusserten sich etwa Barbara Kruger und John Baldessari
zugunsten eines meditativen Parks, während Joel Shapiro das Areal leer lassen möchte.
Wie James Turrell ist er gegen ein Denkmal, das ohnehin mit der Zeit seine Bedeutung
verlieren werde.
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Anders als Shapiro stellt sich Turrell jedoch drei Neubauten vor, die höher sein sollten als
die zerstörten. Damit spricht er jenen Architekten aus dem Herzen, die schon davon
träumen, sich am Unglücksort zu verewigen. Eine Ausnahme bildet das hierzulande durch
das Projekt der Arteplage in Yverdon bekannt gewordene New Yorker Starteam Elizabeth
Diller und Ricardo Scofidio, das sich gegen eine Wiederherstellung der «verlorenen
Skyline» wendet. Dem widerspricht David Childs vom Büro SOM, der Lower Manhattan
«absolut atemberaubend» machen möchte mit mehreren nur noch halb so hohen Türmen,
einer Skulptur, die an die Tragödie erinnert, einem der Kontemplation dienenden Grünraum
sowie einem Kulturzentrum.
Spektakuläres schwebt auch Hyman Brown, einem der Ingenieure des WTC, vor, der eine
identische Rekonstruktion der Türme fordert, wobei er deren einstige Höhe von 417 und
415 Metern um dreissig Etagen oder rund 120 Meter aufstocken möchte. Auch Bernard
Tschumi, der aus Lausanne stammende Leiter der Architekturabteilung der New Yorker
Columbia University, votiert für ein noch höheres, geschäftlichen und kulturellen Aktivitäten
dienendes Bauwerk von zukunftsgerichteter Erscheinung mit integriertem Ort der Trauer.
Sein Kollege Robert Stern von der Architekturschule in Yale möchte die Türme als Symbol
dafür rekonstruiert sehen, dass Amerika nicht besiegt werden kann, während Philip
Johnson den Terroristen zeigen will, dass alles, was sie zerstören, wiedererrichtet wird.
Peter Eisenman hingegen sieht «die Kultur und die Werte des Westens angegriffen».
Deshalb sollten wir nicht davon zurückschrecken, erneut so hoch zu bauen wie die
zerstörten Türme. Ähnlich versteht Cesar Pelli, der Entwerfer der rekordhohen Petronas
Towers in Kuala Lumpur, die Errichtung von zwei Türmen derselben Dimension als
Demonstration «unserer Stärke». Renzo Piano, der demnächst als erste «Icon» nach dem
WTC-Attentat das 260 Meter hohe «New York Times»-Building an der Ecke 8. Avenue und
41. Strasse errichten soll, möchte die technisch überholten Türme durch etwas Neuartiges
ersetzen. Auch Richard Meier kann sich mit einer mimetischen Rekonstruktion nicht
anfreunden, weil «die Türme 1966 entworfen wurden und wir nun im Jahre 2001 leben».
Ihm schwebt ein Ensemble vor, «das ein ebenso mächtiges New Yorker Symbol abgeben
wird, wie es die World Trade Towers waren».
Fehlende architektonische Qualität
In Architektenkreisen dominiert ganz offensichtlich die Vorstellung, die Terrence Riley vom
MoMA auf den Punkt bringt: «We should build an even greater and more innovative
skyscraper.» Dies ist bei Designern wie Richard Meier verständlich, der 1987 das
Scheitern seines (nicht wirklich gelungenen) Doppelturmprojekts für den Madison Square
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erleben musste. Dennoch darf die Ruinenstätte des WTC nicht zum Ort architektonischer
Eitelkeiten werden - allem voran aus Respekt vor den Opfern, aber auch aus Gründen der
Vernunft. Denn ein Blick auf das von Investoren und Developern geprägte, völlig
kommerzialisierte Bauwesen in den USA zeigt, dass dieses Land gegenwärtig kaum in der
Lage ist, einen wirklich zukunftsweisenden Neubau an die Stelle der Twin Towers zu
setzen. So ist in den vergangenen Jahren in Manhattan mit Ausnahme von einigen
«Miniaturen» (den beiden rund 20-geschossigen Lückenfüllern des LVMH-Hauses von
Portzamparc und des Österreichischen Kulturinstituts von Raimund Abraham, dem der
Vollendung entgegengehenden Museum of American Folk Art von Williams und Tsien
sowie dem gescheiterten Hotelprojekt von Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas) kein
einziger Bau von internationaler Ausstrahlung entstanden.
Selbst bei einem internationalen Wettbewerb wären daher auf Grund der gegenwärtigen
Baubedingungen die Chancen äusserst klein, dass die Leerstelle des WTC durch einen
überzeugenderen Bau ersetzt werden könnte als durch Minoru Yamasakis Meisterwerk, in
dessen Zwillingstürmen sich Hochhausgotik und Minimal Art sinnfällig vereinen (NZZ 12.
und 17. 9. 01). Wenn nun baulustige Architekten die Statik der Twin Towers als veraltet
bezeichnen und schon Möglichkeiten für ihre eigenen Visionen wittern, dann dürfen die
Ergebnisse neuster Untersuchungen nicht unerwähnt bleiben. Diese zeigen, dass die in
Form einer quadratischen «Röhre» errichtete tragende Fassade nicht nur den Einsturz
verzögert, sondern die stürzenden Decken senkrecht nach unten geleitet und so das noch
viel schrecklichere Szenario eines unkontrolliertes Umkippens der Türme über Lower
Manhattan vermieden hat.
Für eine exakte Rekonstruktion der zum Synonym für New York gewordenen Twin Towers
spricht neben ihrer Formvollendung auch die Zeit. Denn um ein vergleichbares
Meisterwerk zu schaffen, müsste zunächst die neue Nutzung des Orts der Katastrophe
diskutiert, dann ein Wettbewerb ausgeschrieben und dieser schliesslich verwirklicht
werden. Doch selbst dieses Prozedere wäre ungewiss, denn letztlich haben die Investoren
das Sagen. Diese aber tendieren erfahrungsgemäss hin auf rein kommerziell bestimmte,
architektonisch alles andere als zukunftsweisende Bauten - vergleichbar den Banalitäten
rund um den Times Square und den unweit des Lincoln Center entstehenden
Doppeltürmen des neuen «One Central Park»-Komplexes, die für einen Neubau des WTC
kaum Gutes verheissen.
Doch zunächst muss aufgeräumt werden; und das ist nicht ungefährlich: George Tamaro,
der als Ingenieur für den Bau des Rückhaltebeckens, das die Fundamente des WTC vor
dem Druck des Hudson River schützte, verantwortlich war, befürchtet nämlich, dass
gegenwärtig nur die Trümmermassen die vermutlich schwer beschädigte Wanne
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stabilisieren. Eine schnelle Entfernung des Schuttes ohne vorangehende Sicherung der
rund einen Kilometer langen Stützmauer könnte dazu führen, dass der Hudson sich durch
den aufgeschütteten Untergrund einen Weg ins Herz von Lower Manhattan bahnen würde
- mit unvorhersehbaren Schäden für das ohnehin schon arg in Mitleidenschaft gezogene
Stadtviertel. Untersuchungen am WTC und an den Nachbarbauten - der schwer
erschütterten One Liberty Plaza und mindestens zehn weiteren beschädigten
Wolkenkratzern - können dem Hochhausbau aber auch neue Impulse betreffend
strukturelle Sicherheit, Fluchtweggestaltung und Hitzeresistenz geben und so die den
Terroristen so verhassten «Türme der westlichen Zivilisation» sicherer werden lassen.
Zurzeit ist nämlich kein Konstruktionsprinzip bekannt, das deutlich günstiger reagiert hätte
als jenes der Twin Towers. Jon Magnusson von der Ingenieurfirma Skilling hielt denn auch
in der «New York Times» fest, dass 99 Prozent aller Hochhäuser unverzüglich nach einem
Crash mit einer Boeing 757 eingestürzt wären, «but the perimeter structural tube allowed
the building to stand, giving people more time to escape».
Mahnmal und Vorbild
Aber nicht nur die Vernunft spricht für einen Wiederaufbau der Twin Towers. Auch die
Pietät verlangt ihn: Will man am Ort der Katastrophe einen Neubau erstellen, der Mahnmal,
Symbol und Bürohaus zugleich ist, so kommt nur eine nach neusten technischen
Erkenntnissen ausgeführte mimetische Rekonstruktion in Frage. Denn nur die
wiedererrichteten Zwillingstürme werden alle Erinnerungsfunktionen erfüllen können und
gleichzeitig in der Lage sein, den Terroristen zu zeigen, dass die freie Gesellschaft sich
nicht in die Knie zwingen lässt. Dass eine Rekonstruktion nicht heillos veraltet wäre,
beweist die in den letzten Jahren rapid gewachsene Popularität des WTC bei Studenten
und jungen Architekten. Dieses Ensemble nahm nämlich in einem gewissen Sinn schon
jene Stadt des 21. Jahrhunderts vorweg, die nun von selbsternannten Architekturgurus
gepredigt wird. Auch deren Hochhäuser des 21. Jahrhunderts sind - das veranschaulichen
die gegenwärtigen Erkenntnisse klar - von ihrer baulichen Struktur her noch ganz den
herkömmlichen Prinzipien verpflichtet. Einzig im Erscheinungsbild würden sie sich von den
Twin Towers unterscheiden. Das aber hiesse nichts anderes, als dass man die noble
Erscheinung der Zwillingstürme mit ihrem meisterlichen Zusammenklang von Struktur und
Licht einem modischen Fassadendesign opfern würde. Wären aber farbige Glashäute,
Medienmembranen oder tätowierte Hüllen wirklich eine würdige Antwort auf die
Katastrophe von Manhattan?
Neue Zürcher Zeitung, 05.10.2001
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WEITERE TEXTE
Erinnerung an die Twin Towers, Roman Hollenstein, Neue Zürcher Zeitung, 10.01.2002
Ein Symbol wurde ausgelöscht, Norbert Mayr, Salzburger Nachrichten, 15.09.2001
Die Zwillingstürme werden uns trotzdem fehlen, Hannes Stein, Die Welt, 04.04.2013
Silberstelen des Kapitals, Rainer Haubrich, Die Welt, 14.09.2001
'Wir brauchen ein neues Symbol', Rainer Haubrich, Die Welt, 14.09.2001
'Die Twin Towers waren in vieler Hinsicht schlecht', Henrike Thomsen, Berliner Zeitung,
04.01.2002
Die Bilder täuschten, Nikolaus Bernau, Berliner Zeitung, 13.09.2001
'Da müsste man nur Bunker bauen', Der Standard, 19.09.2001
Stahlgerüste in USA Stahlbeton in Europa, Christoph Prantner, Der Standard, 15.09.2001
Den Stadtraum beherrschen, Michael Freund, Der Standard, 13.09.2001
Tausend Stapel tief, Holger Liebs, Süddeutsche Zeitung, 07.01.2002
Gigantismus, Henning Klüver, Süddeutsche Zeitung, 22.09.2001
Ende, Holger Liebs, Süddeutsche Zeitung, 13.09.2001
Ende eines Nationalsymbols, Hanno Rauterberg, Die Zeit, 19.09.2001
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