das ganze ist mehr als die summe seiner teile
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CO-THERAPIE > SUSANNE EGGER DAS GANZE IST MEHR ALS DIE SUMME SEINER TEILE Beobachtungen und Vermutungen zur Co-Therapie in der Systemischen Familientherapie AUFGRUND MEINER TÄTIGKEIT in der „Sozialpädagogischen Familienhilfe“, im Rahmen derer eine hohe Flexibilität in Bezug auf die am therapeutischen System beteiligten Personen häufig notwendig ist, kam ich in den letzten Jahren in die Situation, praktische Erfahrungen und Beobachtungen mit dem cotherapeutischen Setting zu sammeln. Dabei erschien mir die Dynamik des therapeutischen Prozesses in einer Weise verändert, die sich vom Einzelsetting unterschied: Das „Navigieren beim Driften“, mit dem Fritz B. Simon und Gunthard Weber Systemische Psychotherapie so bildhaft beschreiben, zeigte sich durch die Co-Zusammenarbeit einerseits in der Gesprächssituation noch abenteuerlicher und riskanter, andererseits reicher an Möglichkeiten und Auswirkungen für die Therapiegespräche. Diese Arbeit stellt den Versuch dar, die erlebten Phänomene mit der Erfahrung anderer systemischer TherapeutInnen zu verknüpfen und mögliche theoretische Erklärungen und Hypothesen zu (er-)finden. 1. DAS ERWEITERTE THERAPIESETTING: TEAM, REFLEKTIERENDES TEAM UND CO-THERAPIE. DEFINITIONEN. Im Unterschied zum Therapiemodus (Einzel-, Gruppen-, Familien- oder Paartherapie) beschreibt das Setting die Situation und Arbeitsweise der TherapeutInnen in der Psychotherapie. In jedem dieser vier Grundmodi kann das Therapiesetting durch den Einsatz mehr als einer TherapeutIn erweitert werden. Diese Erweiterung stellt daher eine spezielle psychotherapeutische Vorgehensweise dar, bei der zwei oder mehr TherapeutInnen mit einem/er oder mehreren KlientInnen gleichzeitig und am selben Ort arbeiten (Roller und Nelson, 1993). Dadurch wird das therapeutische System wesentlich komplexer, da sich die Anzahl der Möglichkeiten von Interaktionen zwischen den KlientInnen und TherapeutInnen vergrößert. 04 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 Ob es sich bei dieser Erweiterung um eine Co-Therapie oder Therapie durch ein Team handelt, entscheidet nach Gerald Binter (1998) nicht die Anzahl der TherapeutInnen. Auch zwei TherapeutInnen können als Team zusammenarbeiten. Der Unterschied zwischen den beiden Formen entsteht durch die Definition der Art der Beziehung zwischen den TherapeutInnen. 1.1 TEAM Als Teamsetting in der Psychotherapie wird die Konstellation bezeichnet, wenn innerhalb der TherapeutInnen unterschiedliche Rollen in der Gesprächsführung und in der Beziehung zu den KlientInnen übernommen werden: Ein Teil des Teams (oft nur eine TherapeutIn) führt das Gespräch und steht unmittelbar mit den KlientInnen in Kontakt. Der Rest des Teams (eine oder mehrere TherapeutInnen) befindet sich schon von der räumlichen Anordnung her nicht in einer unmittelbaren Beziehung zum KlientInnensystem, sondern sitzt entweder im selben Raum in ausreichender räumlicher Entfernung oder sogar im Nachbarraum und verfolgt den Gesprächsverlauf über Einwegspiegel oder Videoübertragung. Letzteres ermöglicht in der Theorie der systemischen Therapie (Mailänder Modell) das – folgerichtig der Kybernetik I – unbeobachtete Beobachten des therapeutischen Prozesses und erleichtert damit das Beibehalten einer neutralen therapeutischen Vorgehensweise durch die größere Distanz der BeobachterInnen, die nicht direkt in die familiären Interaktionen miteinbezogen und zum Mitspieler gemacht werden können (Selvini Palazzoli, 1980). Zur Wahrung dieser Außenperspektive sollten beobachtende TherapeutInnen keine verbalen oder nonverbalen Mitteilungen an die KlientInnen geben, ja sogar den Augenkontakt meiden (Binter, 1998). Unter Einbeziehung der Grundlagen der Kybernetik zweiter Ordnung und des Konstruktivismus wäre die Idee, dass die BeobachterInnen eine objektive Außenwahrnehmung erhalten, nicht haltbar. Trotzdem bietet die Vorgangsweise eine Grundlage für ein „Sotun-als-ob“ der TherapeutInnenteams, um mit Einladungen zum Mitspielen im System anders umgehen zu können, als darauf einzusteigen (Fehlinger, 2006, mündl. Mitteilung am 16.6.06). 1.1.1 Teamstruktur: Hierarchisch versus gleichgestellt Unabhängig von der Verteilung der Rollen gibt es nach Gerald Binter (1998) Teams aus Gleichgestellten (Peers) und hierarchische Teams, z.B. wenn Dienstvorgesetzte oder AusbildungsleiterInnen/SupervisorInnen an den Teams teilnehmen bzw. als TeamleiterInnen definiert sind. In Teams aus Gleichgestellten kommt der Einigung auf eine Stellungnahme oder gemeinsame Vorgehensweise eine besondere Bedeutung zu und erfordert möglicherweise zusätzlichen Zeit- und Energieaufwand. In hierarchischen Teams kann die Einigungsfrage erleichtert sein, wenn die LeiterIn die Letztverantwortung für getroffene oder unterlassene Teamentscheidungen trägt. 1.1.2 Entscheidungskompetenz über die Unterbrechung Weiters unterscheiden sich Teams durch die Vereinbarung darüber, wie die Interaktion zwischen dem gesprächsführenden und dem beobachtenden Teamteil zu erfolgen hat: Ob sich der beobachtende Teil nach eigenem Gutdünken aktiv und spontan einbringen darf oder der Teil, der das Gespräch führt, die Entscheidungskompetenz für die Gesprächsunterbrechung behält (vgl. Binter, 1998). 1.1.3 Funktion des Teams Wenn der primäre Fokus des Teams auf der Unterstützung der TherapeutIn liegt, geht es darum, dieser möglichst brauchbare Sichtweisen, Rückmeldungen oder Ideen zur Verfügung zu stellen und ihr in der Gesprächsunterbrechung eine Außenperspektive auf den therapeutischen Prozess zur Verfügung zu stellen. Soll das Team jedoch vorrangig eine Funktion im therapeutischen Prozess übernehmen, kann die Instanz des Teams den KlientInnen gegenüber bewusst eingesetzt werden. In diesem Fall könnte das Team zwar nicht unmittelbar interagieren, wohl aber in einer unmittelbaren Form auf den therapeutischen Prozess wirken. Diese Wirkung kann auch von der TherapeutIn erzeugt wer- den, indem sie den KlientInnen gegenüber von Fragen, Tendenzen oder Uneinigkeiten des Teams spricht (Binter, 1998). 1.1.4 Mitteilungsmodus Die Frage, auf welche Weise die Interaktion zwischen der TherapeutIn und dem Team gestaltet werden soll, wird sehr unterschiedlich gelöst. Die Stellungnahme des Teams kann direkt vor den KlientInnen erfolgen, besonders dann, wenn das Team direkt für den therapeutischen Prozess funktionalisiert werden soll (sh. 1.1.3). Wenn die TherapeutIn den Raum verlässt, um sich im Nachbarzimmer mit den KollegInnen zu besprechen, kann dies wiederum für beide Varianten genützt werden, wobei diese Variante häufig gewählt wird, wenn dem Team eine die TherapeutIn unterstützende Funktion zugeordnet wird. Im weiteren Gesprächsverlauf kann die TherapeutIn jedoch je nach Teamfunktion mit dem Ergebnis der Teammiteinbeziehung unterschiedlich umgehen: Sie kann eine Mitteilung des Teams in die therapeutische Kommunikation mit einbringen (z.B. eine Außenperspektive, eine gesplittete Botschaft, Fragen des Teams an die KlientInnen ...) und damit das Team direkt für den Therapieprozess nützen oder auch „nur“ die Ideen verwenden (oder auch nicht verwenden), ohne dies dem KlientInnensystem gegenüber zu kommunizieren. Die Palette der Unterstützungsmöglichkeiten reicht von einer Empfehlung bzw. Ideen des Teams an die TherapeutIn für den weiteren Gesprächsverlauf, z.B. hinsichtlich bestimmter Fragen, Hypothesen, Themen oder Hausaufgaben, über die Beratung der TherapeutIn mit dem Team, bis hin zur Rückmeldung über beobachtete oder ausgelassene Interaktionsmuster (Binter, 1998). 1.2 REFLEKTIERENDES TEAM Das reflektierende Team geht auf Andersen (1990) zurück und ist eine Interventionstechnik, im Rahmen derer die konventionelle Richtung der Beobachtung umgekehrt wird (vgl. Simon, Clement und Stierlin, 2004): Die KlientInnen kommen in die Situation, dass SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 05 EGGER > sie TherapeutInnen oder Teammitglieder bei der Besprechung des therapeutischen Prozesses der jeweiligen Sitzung beobachten können. Das wird ermöglicht, indem zu einem vereinbarten oder von der gesprächsführenden TherapeutIn bestimmten Zeitpunkt das Gespräch unterbrochen und die Mitglieder des RT – entweder direkt im Raum oder durch technische Vorrichtungen aus dem Nebenzimmer übertragen – beginnen, Gedanken über das KlientInnensystem auszutauschen. Grundlage ist ein dialogisches Verständnis von Therapie und die Idee, es könne Veränderung dort entstehen, wo es „einen Freiraum für den Gedankenaustausch zwischen zwei oder mehreren gibt, und wo die individuelle Integrität beider oder aller gesichert ist“ (Andersen, 1990, S. 45). Dabei gelten folgende Regeln: ■ Eine prinzipiell wertschätzende Perspektive den KlientInnen gegenüber muss gegeben sein. Gerade unter dieser Voraussetzung jedoch können durchaus auch direkte, konfrontative oder drastische Formulierungen von den KlientInnen gut aufgenommen und verwertet werden (vgl. von Schlippe und Schweitzer, 2002). ■ Eine „aktiv aufrechterhaltene Vielfalt“ (vgl. von Schlippe und Schweitzer, 2002, S.200) ermöglicht es, unterschiedliche Perspektiven nebeneinander stehen zu lassen und dadurch weg von einer „Entwederoder“-Logik zur Vorstellung eines „Sowohl-als-auch“ zu kommen, um Veränderung durch neue mögliche Perspektiven zu ermöglichen. Dazu ist es empfehlenswert, eher vorsichtig und suchend Fragen, Vermutungen und Beobachtungen zu formulieren, den Konjunktiv zu verwenden und nicht festzulegen oder zu diagnostizieren (vgl. Perlesz et al., 1994). Wider- sprüchliche Äußerungen im Team werden nicht als Angriff einer Position gesehen, sondern als interessante Bereicherung der Möglichkeiten. Simon, Clement und Stierlin (2004) schreiben von der Idee, dass sich – da eine instruktive Interaktion in Therapie ohnehin nicht voraussetzbar ist – die KlientInnen aus den verschiedenen Kommentaren der TherapeutInnen auf diese Weise das herausnehmen können, was sie als hilfreich einschätzen. ALS TEAMSETTING IN DER PSYCHOTHERAPIE WIRD DIE KONSTELLATION BEZEICHNET, WENN INNERHALB DER THERAPEUT/INNEN UNTERSCHIEDLICHE ROLLEN IN DER GESPRÄCHSFÜHRUNG UND IN DER BEZIEHUNG ZU DEN KLIENT/INNEN ÜBERNOMMEN WERDEN: EIN TEIL DES TEAMS FÜHRT DAS GESPRÄCH, DER REST DES TEAMS BEFINDET SICH NICHT IN EINER UNMITTELBAREN BEZIEHUNG ZUM KLIENT/INNENSYSTEM. 06 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 Die Teammitglieder des RT sprechen einerseits wie zu sich selbst, indem sie Gedanken laut werden lassen, andererseits hören sie einander aufmerksam zu und nehmen fallweise Bezug sowohl auf das Therapiegespräch, als auch auf Äußerungen der anderen im Team (vgl. von Schlippe und Schweitzer, 2002) und entwickeln auf dieser Ausgangsbasis Ideen (Binter, 1998). Zeitlich sollte sich die Reflexionsphase des RT auf 5–10 Minuten (und das etwa 2–3 Mal in einer Sitzung von 60–90 Minuten) beschränken und nicht durch zu viele Ideen verwirren. Unter bestimmten Voraussetzungen empfiehlt Reiter (1991) sogar die Gestaltung als „fokussierendes Team“, das sich auf ausgewählte Aspekte bezieht. Im reflektierenden Prozess wird der Informationsfluss noch einmal zurückgeleitet, sodass im Anschluss an ein reflektierendes Team wieder die Familie eingeladen ■ wird, sich Gedanken über die Reflexion der KollegInnen zu machen (Binter, 1998). Von Schlippe und Schweitzer (2002, S. 202) schlagen dazu folgende Fragen vor: ■ „Gibt es in dem, was Sie gehört haben, etwas, wozu Sie etwas sagen möchten, worüber Sie weiter sprechen möchten?“ ■ „Gab es etwas, dem Sie gar nicht zustimmen konnten, worüber besser nicht gesprochen worden wäre?“ ■ „Gibt es etwas, was Ihnen gefehlt hat?“ Andersen (1990) selbst bezeichnet diese Entwicklung, dass die KlientInnen in einen inneren Dialog kommen und mit sich selbst reden, während sie zuhören, als möglicherweise wichtigsten Teil der Reflexionsphase. Jedenfalls sollten die KlientInnen das „letzte Wort haben“ und das RT ein Klima partnerschaftlicher Kommunikation ermöglichen. Ein Klient in einer Befragung von Smith et al. 1993 (zit. nach von Schlippe und Schweitzer, 2002) drückt das mit folgenden Worten aus: „You don´t expect professional psychologists, psychiatrists, whatever, to give you their opinion ... it´s like you get the secret inside information“. In der Praxis herrschen selten Verhältnisse, die eine derart ressourcenintensive Arbeit ermöglichen. Es ist aus Finanzierungsgründen schwierig, KlientInnen dieses Angebot „flächendeckend“ zukommen zu lassen, auch wenn die Effizienz der Arbeit eine starke Reduzierung der Sitzungsanzahl erlauben würde. Daher haben Praktiker Formen des Reflektierens mit weniger personellen Ressourcen entwickelt, die von Schlippe und Schweitzer (2002) mit dem Ausdruck „Spiel mit der reflektierenden Position“ gut beschreiben: Teams mit nur einer Person in der beobachtenden Rolle, „Meta-Dialog“ mit einer Co-TherapeutIn (vgl. Hargens, 1995), aber auch das „laute Denken“ einer TherapeutIn, die ihre eigenen ambivalenten Teile zu Wort kommen lässt und vor dem KlientInnensystem äußert. Voglau (2004) berichtet aus der Praxis der aufsuchenden Familientherapie von guten Erfahrungen mit dem Metadialog von Co-TherapeutInnen als Form des Reflektierenden Teams. Dabei wird ohne fixe Zeitstruktur das Gespräch an bedeutsamen Stellen, bei Störungen oder „wenn wir nicht mehr weiter wissen“ (Voglau, 2004, S. 189) unterbrochen, um über Ambivalenzen der Familie, Vor- und Nachteile einer Idee oder eines Verhaltens oder auch über eine unklare Auftragslage einen Disput zu beginnen. Nicht zuletzt sei das Reflektierende Team mit den KlientInnen selbst erwähnt, das einen Metalog über das gemeinsame Gespräch möglich macht. Bereits Virginia Satir (1985, S. 251) berichtet von ihrer Idee, Familienmitglieder in die Therapie kreativ mit einzubeziehen: „Aber dieser einzelne (Therapeut, Anmerkung S. E.) muss die Fähigkeit haben, die Familie neu zu erschaffen. ... Es kann durchaus vorkommen, dass während einer Familientherapie ein Mitglied mein „CoTherapeut“ wird. ... Solange ich deutlich mache, was ich da tue, kann ich eine ganze Menge solcher Sachen machen. Ich werde dann ihre Hilfe und Co-Assistenz anerkennen. Am liebsten lasse ich mir von Vierjährigen helfen. Sie machen es am besten. Sie erzählen dir genau, was los ist.“ Retzer (2004) beschreibt Metakommunikation mit den KlientInnen als ideale Strategie zur Wiedereinführung des Exkommunizierten (Psychotikers) in die Kommunikation, da sie eine besonders stark sinnerzeugende Kommunikation darstellt und daher der „Exkommunizierung“ durch die fehlende Bedeutungszuschreibung seines Verhaltens entgegenwirkt. Dass dieser Metalog nicht hochkomplex sein muss, um sein Ziel zu erreichen, zeigt folgender Ausschnitt aus einem Therapiegespräch mit einem schizophrenen Patienten (Systemische Familientherapie der Psychosen, 2004, S. 125): „Arnold Retzer: Ist es gut, wenn wir so sprechen? Patient: Nicht schlecht. Haha. Arnold Retzer: Hat schon mal jemand so mit Ihnen gesprochen? Patient: Nee, haha. Arnold Retzer: Was denken Sie, warum hat noch niemand so mit Ihnen gesprochen? Patient: Ich weiß nicht, haha. Mutter: Versteht keiner.“ Auch Klaus Mücke (2003, S. 251) befürwortet die Idee, in der Arbeit mit Gruppen die GruppenteilnehmerInnen selbst als „direkte SupervisorInnen des Gruppenprozesses infolge der selbstreferentiellen Kräfte des Grup- SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 07 EGGER > pensystems“ zu nutzen, wobei er sich dabei auf Luhmanns Theorie selbstreferenzieller Systeme bezieht: „Systeme müssen, ...., eine Beschreibung ihres Selbst erzeugen und benutzen“ (Luhmann, 1984, S. 25). Vorsichtiges Vorgehen ist geboten, wenn KlientInnen selbst in die Rolle der Co-TherapeutIn bzw. der SupervisorIn schlüpfen wollen. Gunther Schmidt (zitiert nach Mücke, 2003) hat Steve de Shazers Auftragskategorien (BesucherInnen, KlägerInnen und KundInnen) um diese vierte Kategorie ergänzt und spricht davon, wenn KlientInnen versuchen, der TherapeutIn Vorschläge, Tipps oder gar Vorschreibungen zu machen, wie sie mit den Familienmitgliedern umgehen sollte. Mücke (2003) warnt vor Koalitionsbildungen innerhalb des therapeutischen Systems und schlägt vor, das Engagement einerseits anzuerkennen und zu nützen, andererseits mit dem Auftrag ähnlich wie in der zweiten Kategorie der KlägerInnen vorzugehen. Besonders brauchbar scheint ihm das Nutzen von Teilen des KlientInnensystems in der familientherapeutischen Arbeit mit Eltern und Kindern, indem beispielsweise Eltern von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten eingeladen werden, als Experten an der Therapie ihrer Kinder mitzuwirken. Peter Nemetschek (2002, S. 130) führt diesen Gedanken noch weiter: „Eltern haben schon seit Jahrmillionen ihre Kinder erfolgreich seelisch und körperlich großgezogen, genährt, geschützt, geheilt. Die Evolution hat uns zu geschickten Helfern und Helferinnen werden lassen: Eltern sind die besten Ko-Therapeuten für ihre Kinder. Kinder sind die besten Ko-Therapeuten für ihre Eltern.“ 1.3 CO-THERAPIE Nach Gerald Binter (1998, S. 241) „arbeiten in der CoTherapie zwei TherapeutInnen gemeinsam unmittelbar im direkten verbalen Austausch mit dem jeweiligen KlientInnensystem – beide TherapeutInnen führen gemeinsam das Gespräch mit den KlientInnen.“ Das bedeutet, dass die Verantwortung für die therapeutische Arbeit zu gleichen Teilen getragen wird (vgl. u.a. Voglau, 2004; Binter, 1998). 08 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 1.3.1 Auswirkungen auf das therapeutische System Wesentlich dabei scheint, dass die TherapeutInnen dadurch während des Therapiegesprächs nicht nur mit einer oder mehreren KlientInnen in Kontakt sind, sondern auch mit einer oder mehreren Co-TherapeutInnen (Roller und Nelson, 1993). ■ Ersteres (also zwei TherapeutInnen quasi nebeneinander in Kontakt mit dem KlientInnensystem) erhöht unter anderen Auswirkungen die Anzahl der möglichen alternativen Geschichten und Sichtweisen, die helfen können, problemstabilisierende Erzählungen zu dekonstruieren. ■ Zweites, also die Tatsache, dass die TherapeutInnen gleichzeitig miteinander in Beziehung stehen, bewirkt einen dritten therapeutischen Faktor im Therapiesystem: die Beziehung der TherapeutInnen untereinander; die Möglichkeit, unterschiedlicher oder gleicher Meinung zu sein (vgl. auch Voglau, 2004), miteinander zu reflektieren und zu kommunizieren, sich auf die eine oder andere Weise aufeinander zu beziehen oder miteinander umzugehen. „Beide Familientherapeuten müssen ein Stück ihrer eigenständigen 'Kontrolle' über das Therapiegeschehen aufgeben, damit ein 'gemeinsames Drittes' kreiert werden kann, das nur in der konkreten Therapiesituation entsteht.“ (Voglau, 2004, S. 198). Der Biologe Ludwig von Bertalanffy, Begründer der Allgemeinen Systemtheorie definiert ein System als „... eine aus Elementen bestehende Einheit, die aus mehr als der bloßen Summe dieser Elemente zu verstehen ist. Es besteht ebenfalls aus der Beziehung dieser Elemente untereinander und zu anderen Systemen. Diese Wechselwirkungen sind nicht ausschließlich Ergebnis der Eigenschaften der Elemente, sondern ergeben sich auch aus der Beziehung der Elemente untereinander und können etwas Neues entwickeln, das nicht mehr auf die Eigenschaften der Elemente zurückzuführen ist.“ (zitiert nach Wikipedia, Stand Juni 2006). Roller und Nelson (1993, S. 13) formulieren diese Beobachtung folgendermaßen: „In der Co-Therapie wird die Beziehung zwischen den Co-Therapeuten zum entscheidenden Faktor für Heilung und Veränderung. Es handelt sich ■ dabei nicht um eine Technik. Eine Technik kann angewandt und nach Belieben wieder aufgegeben werden. Co-Therapie bedeutet vielmehr eine verbindliche Beziehung zu einem Gleichgestellten (peer), die für Patienten von beträchtlichem therapeutischen Nutzen ist und den Therapeuten kollegiales Lernen und gegenseitige Unterstützung ermöglicht.“ Eine weitere Besonderheit in den Beziehungen innerhalb des therapeutischen Systems ist, dass wie im Teamsetting die Beziehung zwischen einer TherapeutIn und den KlientInnen von der anderen TherapeutIn beobachtet und kommentiert werden kann. 1.3.2 Anzahl der Co-TherapeutInnen Während es im Teamsetting nicht unüblich ist, dass mehr als zwei TherapeutInnen teilnehmen, gibt es in der Literatur wenig Erfahrung mit einem Co-Setting von drei oder mehr TherapeutInnen. Auch Roller und Nel- Elternebene und Veränderung, Therapeut III die Ebene der Kinder und Veränderung zu vertreten. Sheinberg betont, dass es auf diesem Weg den TherapeutInnen möglich war, neutral zu bleiben und dennoch familiäre Glaubenssätze in Frage zu stellen: „Through the triadic debate, the increasingly problematic family premise could be examined, questioned, and challenged. The debate allowed the therapists, while maintaining therapeutic neutrality, to expose the covert family system and the family’s dilemma over change and stability.“ (Sheinberg, 1985, S. 9) 1.3.3 Gleichrangigkeit Ein heikler Punkt hinsichtlich der Zusammenarbeit von Co-TherapeutInnen scheinen Konstellationen zu sein, in denen zwischen den TherapeutInnen ein stark unterschiedlicher Erfahrungs- und Kompetenzhintergrund oder unterschiedliche Rollenzuweisungen stehen. Roller und Nelson (1993) beschreiben diese Problematik angesichts der Zusammenarbeit von Auszubildenden mit LehrtherapeutInnen in der Ausbildungssituation und schließen in ihrer Definition von Co-Therapie als Zusammenarbeit von Gleichrangigen eben diese Situation aus. Auch Klaus Mücke (2003) rät von der Installierung einer co-therapeutischen Zusammenarbeit nicht gleichrangiger TherapeutInnen, wie sie in der Vorstellung „TherapeutIn – Co-TherapeutIn“ vorgesehen wäre, ab. Eine solche Einteilung entspreche nicht dem kompetenzorientierten Ansatz der Systemischen Psychotherapie, wobei er dies mit folgenden Argumenten begründet: ■ „Die Unterscheidung Therapeut/in – Kotherapeut/in ermöglicht keine klare Funktionsdifferenzierung. ■ Per definitionem wird unabhängig davon, wer was in welcher Situation sagt oder tut, festgelegt, wer der/die kompetentere Psychotherapeut/in ist. Das mag zwar dem Narzissmus des/der „wirklich kompetenten, ech- „DIE EVOLUTION HAT UNS ZU GESCHICKTEN HELFERN UND HELFERINNEN WERDEN LASSEN: ELTERN SIND DIE BESTEN CO-THERAPEUTEN FÜR IHRE KINDER. KINDER SIND DIE BESTEN CO-THERAPEUTEN FÜR IHRE ELTERN.“ son (1993) berichten über ihre Untersuchung unter PraktikerInnen, dass ihre Stichprobe fast ausschließlich aus dyadischen Teams bestand. Eine besondere Konstellation von Co-Therapie beschreibt Marcia Sheinberg (1985). Am Ackerman Institute for Family Therapy experimentierte ein Team, das ursprünglich mit Teamsetting unter Einbeziehung des Einwegspiegels arbeitete, damit, das Setting teilweise zu verändern und direkt mit der Familie in Kontakt zu treten. So kam es dazu, dass drei TherapeutInnen mit der Familie co-therapeutisch arbeiteten, wobei im Rahmen eines strategischen Modells klare Rollenzuweisungen stattfanden: So hatte Therapeut I das ganze System und die Seite der Nichtveränderung, Therapeutin II die SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 09 EGGER > ten“ Therapeuten/Therapeutin schmeicheln, indem er/sie sich durch Abwertung eines Kollegen/einer Kollegin aufwertet, hat aber sonst keine sinnvolle Funktion. ■ Die kontextunabhängige Betonierung der geringeren Kompetenz des/der so genannten Kotherapeuten/ Kotherapeutin kann sich als sich-selbst-erfüllende Prophezeiung auswirken und dadurch tatsächliche Kompetenzen und Ressourcen abwürgen oder unterdrücken.“ (Mücke, 2003, S. 250) Mücke schlägt im Kontext sehr unterschiedlicher Kompetenzen die Aufteilung in eine gesprächsführende und eine protokollführende und beobachtende TherapeutIn vor, die dem entspricht, was weiter oben als Teamarbeit bezeichnet wurde. Virginia Satir (1985) dagegen weist darauf hin, wie wichtig es sei, zwischen sozialem Status und Wertigkeit zu unterscheiden. Gerade die klare Definition eines Unterschieds, zum Beispiel zwischen lehrenden TherapeutInnen und Auszubildenden, ermögliche angesichts der Gleichwertigkeit der Menschen eine gute Position in einer co-therapeutischen Beziehung. Besondere Bedeutung schreibt Satir in diesem Zusammenhang der Diskriminierung von Frauen zu: „Wenn z.B. die Frau in einem co-therapeutischen Team sich dem Mann gegenüber beschwichtigend verhält, wird die co-therapeutische Beziehung wertlos. ... Wenn Frauen als Untergebene behandelt werden und das schlucken, können sie niemals gute Co-Therapeutinnen sein. Das ist nicht nur ein feministisches Problem, sondern auch ein klinisches. Man kann dann sehen, wie die Co-Beziehung außer Kraft gesetzt wird. Wünschenswert ist ein Modell von einem Mann und einer Frau, die gleichberechtigt miteinander umgehen.“ (Satir, 1985, S. 249). 1.3.4 Günstige Voraussetzungen für das Gelingen einer co-therapeutischen Zusammenarbeit Wie in keiner anderen therapeutischen Situation nach Abschluss der Ausbildung lassen sich TherapeutInnen in der Co-Therapie „in die Karten schauen“. Dazu kommt, dass Therapieerfolg oder -misserfolg nicht mehr „nur“ mit den KlientInnen geteilt werden muss, sondern mit der KollegIn (Voglau, 2004). Simon, Clement und Stierlin (2004) beschreiben das Risiko, sich durch ein co-therapeutisches Setting eingeengt und kontrolliert zu fühlen. Im günstigen Fall arbeitet ein Co-TherapeutInnenteam, das gut aufeinander eingespielt ist, mit Vertrauen und ohne Konkurrenz zusammen. Roller und Nelson (1993) untersuchten in einer Umfrage unter den Mitgliedern der American Group Psychotherapy Association Faktoren, die eine erfolgreiche co- DAMIT CO-THERAPEUT/INNEN SICH „EINIG ÜBER IHRE UNEINIGKEIT“ SEIN KÖNNEN, BEDARF ES NEBEN OBEN GENANNTER FAKTOREN OFT EINES HOHEN AUFWANDS AN ZEIT UND REFLEXIONSBEREITSCHAFT, UM UNTERSCHIEDLICHE WAHRNEHMUNGEN, STANDPUNKTE UND IDEEN FÜR DAS WEITERE VORGEHEN ZU DISKUTIEREN. 10 SYSTEMISCHE NOTIZEN 02/07 therapeutische Zusammenarbeit begünstigen und erhielten dabei Ergebnisse in folgender Reihenfolge: 1. Komplementäres Gleichgewicht der Kompetenz 2. Vereinbarkeit der theoretischen Ansätze 3. Offenheit der Kommunikation 4. Ausgeglichene Beteiligung 5. Gegenseitige Sympathie 6. Respekt Damit Co-TherapeutInnen sich „einig über ihre Uneinigkeit“ (Voglau, 2004) sein können, bedarf es neben oben genannter Faktoren oft eines hohen Aufwands an Zeit und Reflexionsbereitschaft, um unterschiedliche Wahrnehmungen, Standpunkte und Ideen für das weitere Vorgehen zu diskutieren. Voglau empfiehl diesbezüg- lich, neben der kollegialen Intervision auch regelmäßige Supervision zu beanspruchen und dabei nicht nur die Ebene der Entwicklung der Familie und der Familientherapie, sondern auch die Entwicklung der kollegialen Zusammenarbeit im jeweiligen Co-TherapeutInnenteam zu beachten. 1.3.5 Entwicklungsphasen des co-therapeutischen Teams Nach Dugo und Beck (1993) unterliegt die Beziehung der Co-TherapeutInnen als lebendes System einer Entwicklung mit isomorphen Prozessen, die für alle lebenden, komplexen Systeme charakteristisch sind. Sie beschreiben folgende Phasen in co-therapeutischen Beziehungen: 1. Aushandeln eines Vertrags 2. Ausbildung einer gemeinsamen Identität 3. Teambildung 4. Entwicklung von Nähe 5. Definition von Stärken und Einschränkungen 6. Erforschen neuer Möglichkeiten 7. Unterstützung von Selbstkonfrontation 8. Ausführung und Integration von Veränderungen 9. Abschluss der co-therapeutischen Beziehung Da diese Entwicklungsprozesse Zeit in Anspruch nehmen, betonen Roller und Nelson (1993) in diesem Zusammenhang, dass eine Studie über die Effektivität von Co-Therapie, die nicht die Dauer der Zusammenarbeit und die gemeinsame Erfahrung des co-therapeutischen Teams berücksichtigt, nur bedingt aussagekräftig sei. 2. GESCHICHTE UND GEOGRAFIE DES ERWEITERTEN SETTINGS: ENTWICKLUNG UND HANDHABUNG IN VERSCHIEDENEN SCHULEN Der „heilige Raum“ der Psychotherapie, in dem eine PsychotherapeutIn und eine KlientIn in einem einzigartigen Vertrauensverhältnis stehen, wurde bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also bald nach seiner „Erfindung“ geöffnet: Alfred Adler experimentierte in seiner Erziehungsberatungsstelle in Wien mit dem Co-Setting von Psychiatern und Sozialarbeitern bzw. Lehrern und erreichte damit einen Erfolg: Kinder, die in Gegenwart der Eltern Widerstand gegen die TherapeutInnen zeigten, waren im Co-Setting zugänglicher. (Adler, 1930). In den USA gab es die ersten Erfahrungen mit Co-Therapie 1936 gleichzeitig mit der Etablierung der ersten Psychotherapiegruppen für Erwachsene in einer Klinik. Während in der Psychoanalyse in dieser Epoche und während der Nachkriegszeit eine Erneuerungsbewegung immer kompliziertere Modelle intrapsychischer Strukturen hervorbrachte, erwachte andererseits in der klinischen Psychiatrie das Interesse am Kontext, in dem PatientInnen leben (Bloch, 1981). In der Sozialarbeit hatte das Interesse am familiären Hintergrund wesentlich früher begonnen: Bereits 1890 hatte die amerikanische Sozialarbeiterin Zilpa Smith ihre KollegInnen auf die Bedeutung der Familie ihrer KlientInnen hingewiesen (vgl. von Schlippe und Schweitzer, 2002). Ab 1930 war die Entwicklung des Blicks auf das größere System jedoch nicht vorrangig ein klinischer, sondern eher von neuen Strömungen in den Naturwissenschaften geprägt. Mathematik, Biologie, Physik verbunden mit Systemtheorie und Kybernetik warfen ein neues Bild auf die Kommunikationsprozesse, die in der Umwelt von Menschen mit psychischer „Erkrankung“ stattfinden (vgl. Hoffmann, 2002). Gleichzeitig versuchten klinische PraktikerInnen, den engen Rahmen der Psychoanalyse zu erweitern und es kam vereinzelt und vorsichtig zu Kontakten mit Familienmitgliedern von PatientInnen: zum Beispiel in Form von Therapiegruppen für Eltern von PatientInnen oder Mutter-Tochter-Therapiegruppen (vgl. von Schlippe und Schweitzer, 2002). Als 1945 Richardson „Patients have Families“ herausbrachte, erschien der Paradigmenwechsel revolutionär. Allerdings ging es in diesen Entwicklungen noch um lineare Erklärungsmodelle, indem in der Familie nach Ursachen (bzw. nach der Ursache) für psychische Erkrankungen gesucht wurde (von Schlippe und Schweitzer, 2002). Dass seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein „ZweiKammern-System“ mit Einwegspiegel entwickelt wurde, SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 11 EGGER > um Therapiegespräche mit Familien zu untersuchen, trug mit zu einer Entwicklung bei, in der lineare Erklärungsmodelle immer mehr von zirkulären und familiendynamischen Konzepten abgelöst wurden. „Für mich war das Erscheinen des Einwegspiegels, den Therapeuten und Forscher seit den fünfziger Jahren einsetzten, um Familieninterviews live zu beobachten, vergleichbar mit der Entdeckung des Teleskops. Etwas anders zu sehen, gab uns die Möglichkeit, auch anders zu denken“, schreibt Lynn Hoffmann (2002, S. 21). Ein/e PatientIn, die im Einzelsetting den Eindruck erweckte, an einer früheren Traumatisierung zu leiden (lineare Ursachenzuschreibung), konnte im Kontext ihrer Familie von den TherapeutInnen hinter dem Spiegel neu gesehen werden. „Man konnte die Beziehungen und Verhaltensweisen eines jeden Anwesenden erkennen, aus denen sich viele zirkuläre, kausale Schleifen zusammensetzten, die vor- und zurückgespielt wurden, wobei das Verhalten des Patienten nur Teil eines größeren, immer wiederholten Tanzes war.“ (Hoffmann, 2002, S. 24). So gesehen könnte die Erweiterung des Settings in der Psychotherapie gleichzeitig als Voraussetzung sowie als Folge des zirkulären, in Kreisläufen denkenden Modells der systemischen Therapie gesehen werden. Wenn nämlich die TherapeutIn dadurch nicht mehr als Handelnde, die KlientIn als passiv Leidende gesehen wird, sondern beide als Teil eines größeren Feldes, in dem unterschiedlichste Menschen und Aktionen aufeinander einwirken (Hoffmann, 2002), öffnet sich der therapeutische Fokus für neue Veränderungsmöglichkeiten. Während in den USA bereits mit Teams experimentiert wurde und Co-Therapie von manchen TherapeutInnen (z.B. Withaker, Satir) eingesetzt wurde, entwickelte sich durch Einflüsse aus dem „Mental Research Institute“ in Palo Alto ab 1968 in Mailand eine Methode, die in Europa als „systemisch“ bezeichnet wird. Mara SelviniPalazzoli, Guliana Prata, Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin arbeiteten in einer Kombination aus Teamsetting und Co- Therapie mit Familien unter Einbeziehung des Einwegsspiegels. Während zwei TherapeutInnen (später nur noch eine) die Familie interviewten, beobachtete das Team im Nebenraum die familiären Interak- 12 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 tionen. Gegen Ende der streng strukturierten Sitzung trug die TherapeutIn der Familie als Intervention eine Empfehlung oder einen Kommentar vor, der in einer Zwischensitzung mit dem Team ohne Beisein der Familie erarbeitet wurde (vgl. u.a. Binter, 1998, Hoffmann 2002). Eine Gruppe um den norwegischen Psychiater Tom Andersen, die ursprünglich am Mailänder Modell orientiert war, haderte mit Problemen bei dieser Form von Teamsetting: Oft konnte das Team sich nicht auf die „richtige“ Intervention einigen bzw. brauchte zu viel Zeit dafür. Hatten sich die Teammitglieder geeinigt, gelang es manchmal der TherapeutIn nicht, die Intervention konsequent umzusetzen, sondern sie verstrickte sich wieder in bereits vollzogene Interaktionsmuster. Gelang es der TherapeutIn, die Intervention „rüberzubringen“, konnte manchmal die Familie nicht viel damit anfangen. So verblieb das therapeutische System nicht länger in einem starren Entweder-oder-Schema, sondern begann, mit neuen Vorgangsweisen zu experimentieren. Die Idee, der gesprächsführenden TherapeutIn vermehrt Ideen und Anregungen statt Handlungsanweisungen zur Verfügung zu stellen zeigte erstmals Merkmale des Reflektierenden Teams, „nämlich die Betrachtung einer Problemsituation aus verschiedenen Perspektiven im Kontext der Wertneutralität“ (Binter, 1998, S 251). Andersen (1990, S. 27) bezieht sich auf Batesons Prozessbegriff, wenn er vorschlägt, das hilfesuchende „festgefahrene System mehr vom therapeutischen Prozess sehen zu lassen“: „Wir sagten uns, daß das Ziel wichtig, aber nicht das wichtigste ist. Das wichtigste ist der Weg zum Ziel. Man steckt oft deswegen fest, weil es schwierig ist, einen Weg zu finden, auf dem man erreicht, wonach man sich sehnt. Die 'Feststeckenden' sagen: 'Wir wissen nicht, was wir tun sollen.' Könnte es für die, die uns konsultierten, hilfreich sein zu sehen, wie wir arbeiten, wenn wir versuchten, neue Beiträge zu einem neuen Weg oder mehreren neuen Wegen zu finden?“ Als Höhepunkt einer Entwicklung über mehrere Jahre ergab sich schließlich 1985 die neue Situation, dass im Laufe eines Therapiegesprächs das Team seine Gedanken – ungeplant, aufgrund einer schwierigen Gesprächssitu- ation – nicht nur vor der TherapeutIn, sondern auch in Anwesenheit des KlientInnensystems austauschte. Ganz automatisch verwendeten die Teammitglieder keinen stigmatisierenden Fachjargon, sondern eine freundliche, ressourcenorientierte Alltagssprache, auf welche die Familie sehr positiv reagierte: Das reflektierende Team war geboren. Binter (1998) betrachtet diese Entwick- erzählen, zuzuhören und ihnen dabei zu helfen, alternative Geschichten zu entwickeln (Walter, 1998). Gerhard Walter bemerkt dazu, dass Michael White und David Epston sich vor allem mit inhaltlichen Fragen beschäftigen und ihre Ideen nicht an bestimmte KlientInnenkonstellationen oder Settings gebunden sind. Konrad Peter Grossmann (2002) bestätigt diesen Eindruck mit sehr differenzierten Überlegungen und Abwägungen zum Thema Co-Setting in der Paartherapie: „Kotherapie beinhaltet als Arbeitssetting sowohl Erleichterndes als auch Erschwerendes.“(Grossmann, 2002, S. 70). Während die geteilte Verantwortung für die Gesprächsführung mit ihren Auswirkungen (mögliche Zurücknahme von Aufmerksamkeit, Einnahme einer Außenperspektive und Möglichkeiten, im Tempo zu variieren) als erleichternd beschrieben wird, gibt Grossmann als erschwerend zu bedenken, dass die Zusammenarbeit zweier TherapeutInnen ein „verstärktes Mäandern des Erzählflusses“ (Grossmann, 2002, S. 71) im Sinne einer verstärkten Komplexität von Abstimmungsprozessen und einer Erhöhung der in Therapiekontexten ohnehin gegebenen doppelten Kontingenz bedeutet. AN DIE STELLE EINER HIERARCHISCHEN BEZIEHUNG ZWISCHEN WISSENDEN THERAPEUT/INNEN UND UNWISSENDEN KLIENT/INNEN TRAT EINE BEZIEHUNG VON GLEICHWERTIGEN MITWIRKENDEN. DAS REFLEKTIERENDE TEAM WAR GEBOREN. lungen als „Demokratisierungsschritte des Therapiesettings“. An die Stelle einer hierarchischen Beziehung zwischen wissenden TherapeutInnen und unwissenden KlientInnen tritt eine Beziehung von gleichwertigen Mitwirkenden. Auch Marcia Sheinberg vom Ackerman Institute in New York beschreibt in ihrem Artikel „The Debate: A Strategic Technique“ 1985 eine Strategie, durch die es gelingt, die Familienmitglieder zu ExpertInnen für die Lösung ihres Dilemmas zu machen: „The debate also creates a structure that allows for the therapist system and family system to change levels. Since the family has come to the therapist for help, the therapist is in the superior or „one-up“ position. The very nature of the therapeutic relationship can invite a posture of defensiveness. As the therapists conduct their internal debate, however, they become isomorphic with the family system and appear to be on a more equal level. From this position, the family can be moved to a metalevel when invited to help the therapists find a solution.“ (Sheinberg, 1985, S. 2). Die Entwicklung der narrativen Ansätze in der Systemischen Familientherapie betont dieses Expertentum der KlientInnen vielleicht noch stärker. Hier ist die Aufgabe der TherapeutInnen, in „grenzenloser Neugier“ und aus einer Position des „Nicht-Wissens“ heraus (Anderson u. Goolishian, 1992) den Geschichten, die KlientInnen 3. AMBIVALENZ UND SPLITTING IN DER CO-THERAPIE 3.1 AMBIVALENZ Der von Eugen Bleuler geprägte Begriff der Ambivalenz – von lat. ambo (beide) und valere (gelten) bezeichnet das Nebeneinander von gegenteiligen Gefühlen, Gedanken und Wünschen. Für Bleuler war die Ambivalenz das Hauptsymptom der Schizophrenie. Es handelt sich hiermit also um ein „Sowohl/Als-auch“ von Einstellungen, sodass Ambivalenz oft auch als „Doppelwertigkeit“ bezeichnet wird. Dabei ist wesent- SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 13 EGGER > lich, dass die klinische Sichtweise der Ambivalenz ein konflikthaftes Nebeneinander zweier Strebungen, die sich gegenseitig ausschließen, meint, das letztlich eine Entscheidung bzw. Handlungsfähigkeit verhindert. Ambivalenz kann laut Bleuler (zitiert nach Wikipedia) eingeteilt werden in ein Nebeneinander von widersprüchlichen 1. Gefühlen – „affektive Ambivalenz“ 2. Wünschen – „voluntäre Ambivalenz“ oder Ambitendenz 3. Beurteilungen – „intellektuelle Ambivalenz“ Der Begriff der Ambitendenz wird manchmal gleichbedeutend mit Ambivalenz verwendet. (vgl. Wikipedia, Stichwort „Ambivalenz“, Stand vom April 2006). Auch Bateson (1985) setzt sich auf seiner Suche nach der Entstehung der schizophrenen Kommunikation mit einer Situation auseinander, in der ambivalente Gefühle Familien – allerdings verbunden mit bestimmten Verhaltensweisen – in schwierige Situationen bringen: „Wenn die Mutter anfängt, sich ihrem Kind zugetan und nah zu fühlen, fühlt sie sich zugleich auch gefährdet und muss sich von ihm abwenden; aber sie kann diesen feindseligen Akt nicht akzeptieren, und um ihn zu verleugnen, muß sie Zuneigung und Nähe simulieren“ (S. 285). Bateson bleibt jedoch nicht bei der inhaltlichen Problematik dieses Dilemmas von Mutter und Kind stehen, sondern führt die Überlegung weiter auf die daraus entstehende Schwierigkeit, zwischen verschiedenen „logischen Typen“, also Arten von Mitteilungen zu unterscheiden und betont die Notwendigkeit der Metakommunikation zur Auflösung der für das Kind ansonsten unbestehbaren Situation. Retzer (2004) unterscheidet Ambivalenz auf zwei Ebenen: der des Handelns und der des Bewertens. Während im Bereich des Handelns Ambivalenzfreiheit Voraussetzung für nachvollziehbares Verhalten ist (entweder man tut etwas, oder man tut es nicht; es ist nicht möglich, beides gleichzeitig umzusetzen oder keines von beiden, also weder zu handeln noch nicht zu handeln), kann im Bereich des Bewertens eine mehrwertige Logik angewandt werden, die auch ambivalente Bewertungen zulässt: So kann ein Tatbestand entweder positiv oder negativ, weder positiv noch negativ oder sowohl positiv als auch negativ bewertet werden. Während „normalerweise“ in unserem sozialen Kontext eindeutiges Handeln mit uneindeutigem Bewerten gut verknüpfbar ist und das Erste durch das Zweite oft erst ermöglicht wird, kehren schizophrene Muster nach Retzer diesen Zusammenhang um: Uneindeutiges (verrücktes, ambitendentes) Verhalten soll ambivalenzfreies Bewerten ermöglichen oder aufrechterhalten. Insofern sieht Retzer eine Chance DAS SPLITTING EINES CO-THERAPEUT/INNENTEAMS ODER EINES TEAMS IST EINE MÖGLICHKEIT, DIE AMBIVALENZ AUF DER BEWERTUNGSEBENE UMZUSETZEN. DADURCH GELINGT ES LEICHTER, DIE „HALTUNG DER NEUTRALITÄT“ ZU BEWAHREN. 14 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 darin, Bewertungen ambivalent werden zu lassen: „Die therapeutische Aufgabe besteht nun darin, ■ ambitendentes Verhalten zu stören, um ambivalentes Bewerten zu ermöglichen oder ■ ambivalenzfreies Bewerten zu stören, um eindeutiges Verhalten zu ermöglichen.“ (Retzer, 2004, S 154) Damit hat der Ambivalenzbegriff einen Bedeutungswandel erfahren: Nicht die Ambivalenz selbst ist negativ und symptomatisch, sondern ein Umgang damit, der bei gleichzeitiger Nichtfestlegung auf der Verhaltensebene versucht, ambivalente Gefühle oder Bewertungen zu unterbinden. Erst im Versuch, beide Seiten gleichzeitig zu leben, missglückt die Verarbeitung ambivalenter Gefühle. Silvano Arieti, Psychiater und Lehranalytiker am New York Medical College, schreibt bereits 1979, dass es Ziel der Psychotherapie bei Schizophrenie sein müsse, Ambivalenz in Beziehungen und Kommunikation zu ermöglichen: „Dem Patienten fällt es schwer, irgendeine Ambivalenz, einen Pluralismus von Dimen- sionen zu ertragen. Die Psychotherapie wird ihm helfen, diesen Pluralismus als integralen Bestandteil des menschlichen Lebens zu akzeptieren.“ (Arieti, 2001, S. 175). Ein wichtiger Faktor für die Balancierung widersprüchlicher Impulse ist unser Leben, Erleben und Erzählen in einer zeitlichen Abfolge. Damit Ambivalenz intrapsychisch noch als solche erlebt wird, muss nach Retzer (2004) ein zeitlicher Zusammenhang bestehen, der weder ein minimales Zeitintervall unterschreitet (um nicht gleichzeitig zu erscheinen und damit Unterschiede unerkennbar zu machen) noch ein maximales Intervall überschreitet (da sonst unterschiedliche Tendenzen nicht mehr als zusammengehörig erlebt werden). Gelingt dies nicht, wird Ambivalenz nicht erlebbar und daher entweder durch Synchronizität oder durch Diachronizität dissoziiert. Dies führt, wenn mehrere Personen in dieser Weise miteinander interagieren, dazu, dass keine gegensätzlichen Positionen mehr wahrnehmbar sind und das System nach außen konfliktfrei erscheint. Dieses Verständnis von Ambivalenz liegt Retzers Metapher vom Seiltänzer zugrunde: Auf dem Hochseil müssen abwechselnd (also in kleinen, aber unterscheidbaren Zeitintervallen) Bewegungen nach einer der beiden Seiten ausgeführt werden. Sowohl die Erstarrung als auch zu lange Gewichtsverlagerung auf eine Seite hätten einen Absturz zur Folge. Während dadurch also auf der Handlungsebene zu jedem Zeitpunkt eine „kleine Festlegung“ erfolgt, könnte die Bewertungsebene mit einem übergeordneten „Einerseits-andererseits“ beschrieben werden. „Aus der Perspektive der Zuschauer neigt er sich zeitweise mal mehr den Zuschauern links mal mehr den Zuschauern rechts unter dem Seil zu, er bevorzugt jedoch keine dieser Positionen, und gerade indem er dies tut, ermöglicht er den Zuschauern das Vergnügen, einen artistischen Akt auf dem Hochseil zu erleben“ (Schumacher, 1995, S. 154). 3.2 SPLITTING Das Splitting eines Co-TherapeutInnen-Teams oder eines Teams sieht Retzer als eine Möglichkeit, um eine der beiden oben genannten therapeutischen Aufgaben, also die Ermöglichung der Ambivalenz auf der Bewertungsebene, umzusetzen. Bei dieser Intervention besetzt jede der TherapeutInnen eine entgegengesetzte Seite der Bewertung: Während zum Beispiel TherapeutIn A meint, die Familie sollte etwas verändern, zeigt sich TherapeutIn B besorgt und empfiehlt, alles beim Alten zu lassen. Den TherapeutInnen ist es dadurch möglich, auf der Handlungsebene Eindeutigkeit zu erreichen (jede der beiden legt sich fest), während die Bewertung uneindeutig wird, weil das „Subsystem“ der TherapeutInnen zusammen die Situation ambivalent beurteilt. Dadurch gelingt es leichter, die „Haltung der Neutralität“ (vgl. Simon, Clement und Stierlin, 2004) zu bewahren. Gerade wenn vom Familiensystem eine starke Einladung an die TherapeutInnen ausgeht, für eine Seite Partei zu ergreifen, kann diese Technik hilfreich sein, um neutral und allparteilich arbeiten zu können und es nicht dem KlientInnensystem zu überlassen, die andere, von der TherapeutIn ausgelassene Seite zu besetzen. Da in diesem Fall (mindestens) zwei Personen verfügbar sind, die entgegengesetzte Positionen übernehmen, spielt die Zeitperspektive, die sonst zentrale Voraussetzung für Ambivalenzerleben ist, eine untergeordnete Rolle in der „Präsentation“ der Ambivalenz durch die TherapeutInnen. Selbst wenn die TherapeutInnen gleichzeitig sprechen würden, könnte die KlientIn Unterschiede der Personen, Positionen, Stimmlagen usw. wahrnehmen. In der Metapher vom Hochseilakt könnte das bedeuten, dass zwei ArtistInnen das Gleichgewicht halten, indem sie einander an den Händen halten und jede Gewichtsverlagerung der/des einen auf eine Seite durch stärkeres Gewicht der/des anderen auf die andere Seite ausgeglichen wird. In diesem Fall würden beide abstürzen, sobald der Ausgleich nicht mehr möglich ist. Eine Voraussetzung für den Ausgleich scheint die Neutralität zu sein: Das Dagegenhalten der TherapeutInnen muss unabhängig sein von ihrer persönlichen Überzeugung, um genau in der Stärke und Richtung erfolgen zu können, welche die co-therapeutische Dynamik gerade erfordert. Dass eine vertrauensvolle Beziehung und ein SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 15 EGGER > Übereinkommen zum Hochseilakt selbst zwischen den ArtistInnen Voraussetzung ist, ergibt sich angesichts der Metapher selbstverständlich. Dementsprechend schreiben Simon, Clement und Stierlin (2004), dass trotz oder gerade wegen ihrer Uneinigkeit beim Splitting von CoTherapeutInnen ein Konsens über dieses Vorgehen von zentraler Bedeutung ist. Nach Voglau (2004) müssen Co-TherapeutInnen – wie weiter oben in einem anderen Zusammenhang bereits erwähnt – „einig über ihre Uneinigkeit“ sein, um die Gefahr, dass das KlientInnensystem durch wechselnde Koalitionen eine gegen die andere ausspielt, zu verhindern. Steht keine Co-TherapeutIn zur Verfügung, kann das Splitting auch von einer TherapeutIn allein erzeugt werden, indem diese beide Seiten der gegensätzlichen Bewertung sich selbst zuschreibt und sich unsicher zeigt, welcher Ansicht sie stärker folgen sollte (vgl. Simon, Clement und Stierlin, 2004, Retzer, 2004). Damit eröffnet die TherapeutIn als „Anwalt der Ambivalenz“ (Simon u. Rech-Simon, 2002), zum Beispiel mit einem Kommentar über die „zwei Seelen in ihrer Brust“, einen Kommunikationsraum, in dem alternative Bewertungen balanciert werden können. Simon und Rech-Simon (2002, S. 247) formulieren das folgendermaßen: „Die Zweiteilung des Therapeuten oder des therapeutischen Teams (‚Splitting‘) ist eine Möglichkeit, die beiden Seiten einer Ambivalenz zu thematisieren, ohne eine der beiden Seiten zu disqualifizieren. Der Therapeut als Anwalt der Ambivalenz steigt nicht in irgendwelche Verleugnungsmuster ein, er behält den klaren Blick, aber er vermittelt dennoch eher Optimismus. Daher benennt er seine Sorge, zeigt sich aber doch hoffnungsvoll, wenn ... Seine Zuversicht ist allerdings an Bedingungen gebunden, an Veränderungen auf Seiten des oder der Klienten.“ Folgen wir dabei Retzers Idee, Handeln und Bewerten zu unterscheiden, dürfte es wichtig sein, als TherapeutIn nicht in ein diffuses „So, aber vielleicht auch anders“ abzugleiten, sondern wie die SeiltänzerIn in Ruhe und guter Balance sich in gerade ausreichenden zeitlichen Intervallen im Sprechen einmal auf der einen Seite, dann auf der anderen Seite auszubreiten. Neben der Möglichkeit, von eigenen Teilen zu sprechen, erweist es 16 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 sich in der Praxis auch als brauchbar, in Anlehnung an die „My friend John“-Technik des NLP einen virtuellen Kollegen einzuführen, der in ähnlichen Situationen angeblich immer diese oder jene Meinung vertritt, bestimmte Empfehlungen abgibt oder Vorgangsweisen wählt. Nach Simon und Rech-Simon (2002) spiegelt damit die TherapeutIn bzw. das Team die Unentschiedenheit des KlientInnensystems und signalisiert gleichzeitig, dass es möglich ist, mit dieser Ambivalenz umzugehen und sie auszuhalten. Aus diesen Ausführungen ergibt sich die Frage, wie KlientInnen diese beiden unterschiedlichen Vorgangsweisen, also das Splitting von Co-TherapeutInnen und das Splitting einer einzelnen TherapeutIn aufnehmen und welche spezifischen Auswirkungen möglicherweise die eine oder andere Situation im Therapiesystem hat. Voglau (2004) betont die starke Intensität der Wirkung einer Split Message von Co-TherapeutInnen im Vergleich zu der einer einzelnen TherapeutIn, da KlientInnen sehr sensibel auf mögliche Bewertungen durch die einzelnen TherapeutInnen reagieren. Dazu kommt die Möglichkeit, gesplittete TherapeutInnen in ihrer Diskussion zu beobachten, wie vielleicht eine die andere zu überzeugen versucht, die andere sich vielleicht überzeugen lässt oder auch ihre Meinung noch stärker vertritt. Theoretisch wären ähnliche Prozesse auch im Einzelsetting möglich, praktisch könnte die Umsetzung angesichts beschränkter Vorstellungsmöglichkeiten scheitern. Gehen wir noch einmal zurück zu der Metapher des Seiltänzers, so ergibt sich eine mögliche Erklärung für die unterschiedliche Intensität der Settings. Die ZuschauerInnen, die den einzelnen Seiltänzer beobachten, nehmen im Ablauf der Zeit unterschiedliche Bewegungen wahr und können diesen mit ihrem Blick folgen. Wenn wir jedoch von Batesons Konzept der Typen von Mitteilungen ausgehen, liegt die „Organisation“ der Ambivalenz als übergeordneter logischer Typus noch in der Person des Artisten, indem er selbst die Situation so bewerten würde, dass beide Seiten abwechselnd notwendig sind, um nicht herabzustürzen. Insofern ist die Bot- schaft der Ambivalenz in der Mitteilung bereits enthalten, von der Inszenierung her sind dadurch Mitteilung und Meta-Mitteilung vermischt. Zugunsten der Metabotschaft muss der Artist auf der Verhaltensebene auf eine länger dauernde eindeutige Positionierung verzichten. Dies macht es den ZuschauerInnen einerseits vielleicht leichter, das Pendeln selbst mit nachzuvollziehen, andererseits können diese kleinen Bewegungen auch schneller ignoriert werden, im Endeffekt neigt sich der Seiltänzer ja doch auf keine Seite. In der Therapiesitua- TherapeutInnen durch den metakommunikativen Rahmen der co-therapeutischen Beziehung definiert. Zudem werden die beiden Seiten der Ambivalenz durch Personen repräsentiert, die im Vergleich zu Worten eine – relativ gesehen – „härtere“ Wirklichkeit darstellen, auf den eine BeobachterIn weniger Einfluss nehmen kann (Simon, 2002). So gesehen könnte im Splitting zweier TherapeutInnen einerseits ein stärkeres Wirkpotential stecken, andererseits das höhere Risiko einer Überforderung, die KlientInnen möglicherweise dadurch zu lösen versuchen, dass sie die beiden Seiten nicht als zusammengehörig definieren, sondern eine TherapeutIn ablehnen oder ausschließen und der anderen „Recht“ geben. Dann liegt die Verantwortung beim co-therapeutischen Team, im Splitting einen Schritt zurückzumachen und wieder bei dem anzukoppeln, was dem KlientInnensystem möglich und nützlich sein könnte. „DIE ZWEITEILUNG DES THERAPEUTEN ODER DES THERAPEUTISCHEN TEAMS (‚SPLITTING‘) IST EINE MÖGLICHKEIT, DIE BEIDEN SEITEN EINER AMBIVALENZ ZU THEMATISIEREN, OHNE EINE DER BEIDEN SEITEN ZU DISQUALIFIZIEREN.“ tion bedeutet das Splitting einer TherapeutIn, dass die beiden Seiten der Ambivalenz „nur“ erzählt werden, was im Sinne Simons (2002) eine – relativ gesehen – weichere Wirklichkeit bedeuten könnte, da eine BeobachterIn mehr Einfluss auf das beobachtete Objekt hat als bei der Beobachtung von Gegenständen oder Personen, welche die beiden Seiten repräsentieren. Arbeiten zwei Seiltänzer auf dem Seil, können sich beide auf der Verhaltensebene und der Bewertungsebene sehr stark und eindeutig positionieren. Jeder von ihnen verkörpert bzw. repräsentiert eine Seite der Ambivalenz. Keiner der beiden muss die Metabotschaft der Ambivalenz verkünden, da diese in der „Zusammenschau“ und der Interaktion der beiden liegt. Dadurch ergibt sich für die ZuschauerInnen die große Herausforderung, selbst zu pendeln, selbst im Wahrnehmen des Subsystems der Seiltänzer, in der Beobachtung deren Interaktionen und deren „Zusammenhangs“ einen inneren Zusammenhang in sich selbst zu erzeugen und -wieder übertragen auf die Therapiesituation- die Ambivalenz dieser „verrückten“ TherapeutInnen aktiv zu beschreiben. Damit wäre der Schritt zur Unterscheidung der logischen Typen nach Bateson (1985) vollzogen und die Mitteilungen der 4. MÖGLICHE AUSWIRKUNGEN VON CO-THERAPIE An dieser Stelle möchte ich das, was Co-Therapie möglicherweise bewirken und auslösen kann, sammeln und zur Diskussion stellen. Insofern stellt dieser Teil meiner Arbeit eine Zusammenschau dessen dar, was in der systemischen Fachliteratur über Co-Therapie geschrieben wird und was ich aufgrund meiner praktischen Erfahrungen vermuten und mir auf diese oder jene Weise erklären kann. Als roter Faden dieser Zusammenschau erscheint mir die Idee, dass Co-Therapie als Settingstruktur wesentliche Grundsätze der systemischen Familientherapie zu spiegeln vermag: Es geht darum, Informationen auszuwählen und zu strukturieren, Unterschiedliches nebeneinander stehen zu lassen, ohne in eine diffuse Gleichzeitigkeit und Ununterscheidbarkeit abzugleiten, wechselseitige Bedingtheiten anzuerkennen und auszubalancieren, unterschiedliche Ebenen SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 17 EGGER > der Kommunikation zu finden und zu wählen. An diesem Tanz der Co-TherapeutInnen rund um Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Bewahrung und Veränderung, der Leben gewissermaßen symbolisiert, können sich KlientInnen beteiligen und im besten Fall Mut und Lust bekommen, mitzutanzen. 4.1 MÖGLICHKEITEN „Hat Co-Therapie mehr Vorteile für die Therapeuten oder für die Klienten? Diese Frage läßt sich nicht eindeutig beantworten. In manchen Situationen mögen die Therapeuten am meisten von der Co-Therapie profitieren. Sie kann z.B. einem Therapeuten helfen, etwas gegen seine Einsamkeit zu tun. Therapeuten sind oft sehr einsam. Ich kann mir vorstellen, daß die Suizidgefährdung bei einem Therapeuten, der im Team arbeitet, geringer ist. Doch versuchen wir, einen Maßstab zu finden: Wenn Co-Therapie den Therapeuten nützt, besteht die Chance, daß auch die Patienten davon profitieren.“ (Satir, 1985, S. 252) Beim Versuch, Vorteile und Nachteile von Co-Therapie für KlientInnen und TherapeutInnen zu unterscheiden, wird klar, dass aufgrund vielfältiger Wechselwirkungen und Bedingtheiten dies nur teilweise möglich ist. Wie die Befindlichkeit der TherapeutIn und des KlientInnensystems zusammenhängen beschreibt Mücke (2003) mit einem bekannten Zitat zur Therapiesituation aus der Heidelberger Schule: „Wenn es jemanden im Raum gibt, dem es besser geht als mir, dann habe ich etwas falsch gemacht.“ Verfolgen wir diesen Satz weiter, kommen wir unter anderem zu der Idee, dass es wichtig sein könnte, als TherapeutIn gute Arbeitsbedingungen für sich herzustellen. Dazu kann Co-Therapie beitragen, sofern die co-therapeutische Beziehung gelingt und von den TherapeutInnen als Unterstützung erlebt wird. 4.1.1 Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der TherapeutInnen Aufgrund der vorliegenden Literatur und der praktischen Erfahrung von Co-TherapeutInnen lassen sich folgende Chancen von Co-Setting beschreiben: 1. Psychohygienische Wirkungen für die TherapeutInnen (vgl. u.v.a. Voglau, 2004) durch die Möglichkeit, Verantwortung zu teilen, sich im Gespräch auch mal zurückzunehmen (vgl. u.a. Grossmann, 2002) und ein realistisches TherapeutInnen-Selbstbild zu entwickeln. Richter (1997) lässt dazu „WENN ES JEMANDEN IM RAUM GIBT, DEM ES BESSER GEHT ALS MIR, DANN HABE ICH ETWAS FALSCH GEMACHT.“ VERFOLGEN WIR DIESEN SATZ WEITER, KOMMEN WIR UNTER ANDEREM ZU DER IDEE, DASS ES WICHTIG SEIN KÖNNTE, ALS THERAPEUTIN GUTE ARBEITSBEDINGUNGEN FÜR SICH HERZUSTELLEN. 18 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 eine KollegIn von FAN, einer Einrichtung für sozialpädagogische Familienhilfe in Berlin, sprechen: „Beim Einsatz einer HelferIn entsteht eher die Gefahr, daß sie von der Familie als Familienmitglied funktionalisiert wird, in das System hineinrutscht und nicht mehr die notwendige Distanz wahren kann. Arbeitet man zu zweit, so ist eine größere Verantwortungslosigkeit und Gelassenheit festzustellen, die dazu führt, daß man nicht mehr so schnell eingebunden wird“ (Richter, 1997, S. 103). 2. Reflexionsmöglichkeiten (vgl. u.v.a. Richter, 1997) durch die Möglichkeit, unmittelbar nach dem Gespräch Gedanken auszutauschen, ohne zuvor Information über die Familie geben zu müssen. Auch in der Reflexion ohne Familie stellen unterschiedliche Sichtweisen eine Chance dar, neue hilfreiche Vorgehensweisen zu entwikkeln. Voglau (2004, S. 193) betont darüber hinaus, dass besonders bei Familiensystemen, „die sich durch abwehrendes, verleugnendes und psychotisches Verhalten kennzeichnen lassen“, die Co-TherapeutIn als Garant für die eigene Wahrnehmung fungieren kann. 3. Gegenseitige Unterstützung im „Durchhaltevermögen“ bei Interventionen Durch das unterstützende Zusammenspiel der Co-TherapeutInnen gelingt es leichter, eine einmal begonnene Intervention auch bei eher „karger“ Antwortsituation seitens des KlientInnensystems gut aufzubauen und eine Zeit lang durchzuhalten, um Hypothesen überprüfen zu können. Simon und Rech-Simon (2002) beschreiben auf den Seiten 71 bis 74 im Verlauf eines Fallbeispiels eine Situation, in der beide Therapeuten (Simon und Stierlin) einer Hypothese folgen und mit verschiedenen Fragen aufeinander aufbauend und ineinander einhakend versuchen, diese in der Familie zu „etablieren“, da sie mehr Handlungsmöglichkeiten für die Familie eröffnen würde. Simon und Rech-Simon kommentieren dazu: „Die familiäre Wirklichkeitskonstruktion ist offensichtlich auch durch den Trotz der Therapeuten nicht so leicht zu erschüttern. Wenn man als Therapeut eine Hypothese verfolgt, die weit von dem bisherigen familiären Weltbild abweicht, empfiehlt sich eine gewisse Hartnäckigkeit. Das kann natürlich nicht heißen, daß man sich auf irgendwelche Machtkämpfe um seine Hypothesen einlassen sollte. Aber wenn man sie zu schnell aufgibt, dann entwertet man sie. Insofern ist penetrantes Nachfragen (weil man „es“ zum Beispiel nicht versteht) ein guter Kompromiß, um zu „stören“. Schließlich müssen die Familienmitglieder eine Reihe von Um- und Neukonstruktionen vornehmen, um ihre Vorstellungen auf den Kopf stellen zu können, wer durch welches Verhalten was bei den anderen bewirkt.“ (Simon und Rech-Simon, 2002, S. 73). 4. Kompetenzerweiterung bei unterschiedlichem Erfahrungshintergrund Auch wenn Co-Therapie von der Rollenverteilung her durch Gleichrangigkeit definiert ist, wird es wohl kaum zwei KollegInnen mit exakt den gleichen Erfahrungen, Kompetenzen, Stärken und Schwächen geben. Insofern bietet Co-Therapie für beide die Chance, einander zu ergänzen, aber auch voneinander zu lernen und Kompetenzen zu erweitern. Das kann sich wiederum nicht nur auf die konkrete Therapie, sondern auch allgemein auf die Kompetenz der im jeweiligen Bereich weniger erfahrenen TherapeutIn auswirken (vgl. auch Satir, 1985; Binter, 1998). 5. Gegenseitiges Wahrnehmen, Reflektieren und/oder Ausgleichen von „blinden Flecken“ Voglau (2004) betont, dass es im Rahmen von Co-Therapie möglich sei, schneller, oft schon während des Klientenkontakts aus Dilemmata durch eigene Befangenheit oder persönliche Handicaps einer TherapeutIn herauszufinden. Gerade die Möglichkeit des Splittings erlaubt es, eine neutrale Position der TherapeutInnen auch dort beizubehalten, wo sich eine TherapeutIn ungewollt und ohne es zu merken, auf eine Seite schlägt. Wenn es dann überhaupt noch nötig ist, kann in der Nachbesprechung Rückmeldung über andere Sichtweisen gegeben werden. 6. Bessere Informationsverarbeitung und Orientierung in sehr komplexen Systemen Gerade in der Arbeit mit größeren Familien gibt es oft eine Flut an Informationen und verschiedene Schauplätze von Problemen gleichzeitig. Der Einsatz von zwei Personen kann es in diesen Fällen leichter ermöglichen, Informationen aufzunehmen, zu speichern und auf Bestimmtes bei gegebenem Anlass wieder zurückzukommen (vgl. u.a. Simon, Clement und Stierlin, 2004). Richter (1997, S. 103) zitiert wieder eine KollegIn aus der Praxis: „Gerade bei den sogenannten Multiproblemfamilien zeigt sich ein weiterer wichtiger Vorteil. Mehrere Probleme können gleichzeitig bearbeitet werden. Neben den gemeinsam stattfindenden Gesprächen teilen wir uns die Arbeit, die außerhalb der Familie zu leisten ist, wenn es z.B. um Kontaktaufnahme und -aufrechterhaltung mit übergreifenden Systemen wie Schule oder Kita geht.“ SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 19 EGGER > 4.1.2 Co-Therapie als Interventionstechnik 1. Komplexitätserhöhung in Hinblick auf Lösungsgeschichten bei eingeengtem Fokus: Nach Luhmann (1976) bezeichnet Komplexität die Gegebenheit, dass ein System nicht alle möglichen Zusammenhänge mit der Umwelt gleichzeitig beachten kann. Durch Selektion sinnhaft erscheinender Verbindungen entsteht eine Komplexitätsreduktion, die im Fall von KlientInnensystemen möglicherweise dazu beiträgt, das Problem aufrechtzuerhalten (vgl. Simon, Clement und Stierlin, 2004). Die systemische Familientherapie geht davon aus, dass einmal erzeugte Bilder und Geschichten von dem, was wir erleben, dekonstruiert und auf eine neue Weise zusammengesetzt werden können. Dazu trägt bei, dass jeder Mensch sich von der Umwelt in derselben Situation ein unterschiedliches Bild herstellt (Andersen, 1991) bzw. verschiedene „Karten“ desselben „Territoriums“ (Bateson, 1985). Andersen (1991, S. 32, Auslassung S.E.) schreibt dazu: „Sehr viele haben diesen Gedanken Batesons nicht begriffen. Sie glauben, es gäbe eine richtige Geschichte und ein richtiges Bild. Wenn man so denkt, endet das leicht in fruchtlosen Diskussionen oder sogar Streit darüber, wer sich richtig erinnert oder richtig sieht. Diejenigen, die Batesons Idee folgen, sind vielleicht fasziniert zu erfahren, was eine andere Person in der Situation sah, hörte, roch, schmeckte oder fühlte, das er oder sie nicht bemerkte. ... Diese Unterschiede tragen dazu bei, dass die Person sein/ihr eigenes sich bewegendes Bild abstuft.“ In diesem Sinn können zwei TherapeutInnen als zwei verschiedene Lebewesen mehr Ressourcen anbieten, wie die Umwelt gesehen, erlebt und gedacht werden kann und damit die „Anzahl und Auswahl möglicher alternativer Geschichten und (Lebens-)Entwürfe sowie Rollen(vor-)bilder schlicht um das Doppelte im Vergleich zum einzeltherapeutischen Setting“ erhöhen. (Voglau, 2004, S. 187). Das kann zu einer Vielfalt des therapeutischen Angebots führen, aus dem KlientInnen wie bei einem Buffet das aufgreifen können, was ihnen hilfreich erscheint. Dass diese Vielfalt auch in ein Zuviel abgleiten kann, wird weiter unten noch ausgeführt. 20 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 2. Modellwirkung und Geschlechterfrage: Die Theorie der strukturellen Koppelung besagt, dass intrapsychische Prozesse in kommunizierbares Verhalten übersetzt werden müssen, um Veränderungen auslösen zu können (vgl. Simon, Clement und Stierlin, 2004). Der Umgang der TherapeutInnen miteinander bringt damit über beobachtbares Verhalten Gefühle und Gedanken in die Kommunikation im therapeutischen System, die im Einzelsetting „nur“ theoretisch erörtert werden können. Während in humanistischen Konzepten die Vorbildwirkung des möglichst gemischtgeschlechtlichen co-therapeutischen Umgangs für wesentlich erachtet wurde (vgl. Satir, 1985; Roller und Nelson, 1993), geht die systemische Theorie in Abgrenzung dazu von der Möglichkeit aus, durch beobachtbares Verhalten Unterschiede im „Erzählen, Wahrnehmen und Verhalten“ (Grossmann, 2002, S 73) der KlientInnen anzubieten. Dabei kann Batesons „Unterschied, der einen Unterschied macht“ in der Organisation von Beziehung, im „Salonfähigmachen von Unterschiedlichkeiten“ oder sogar Konflikten bis hin zu Respekt im Umgang, Wahren von Grenzen oder Kongruenz reichen. Auch Conan (2004) distanziert sich deutlich von Ideen, gemischtgeschlechtliche Teams als Modell für Eltern einzusetzen, da im systemischen Konzept im Allgemeinen kein modellhaftes Vorgehen angestrebt werde. Gerade in Familien mit alleinerziehenden Müttern fördere die gängige Praxis, männliche Therapeuten zur Verfügung stellen zu wollen, die schwächende Idee, als Mutter alleine nicht gut genug zu sein. Umgekehrt habe sich gerade die Zusammenarbeit männlicher Co-Therapeuten in der Therapie von Männern, die von Partnerinnen sehr enttäuscht wurden, bewährt. Daher geht Conan davon aus, dass die Auswahl nach dem biologischen Geschlecht lange Zeit überschätzt wurde, die geschlechtsbezogene Kombination aber jedenfalls angesprochen werden sollte. Sie empfiehlt weiblichen CoTherapeutinnen beispielsweise folgende Formulierung im Erstgespräch: „Wir sehen es als notwendig an, als Frauen darüber zu sprechen, dass wir beide Frauen sind und Sie als Paar ein Mann und eine Frau sind. Wir sind uns dessen bewusst, dass wir vieles bei Männern nicht verstehen. Wir haben festgestellt, dass wir die Männer daher mehr als die Frauen fragen. Wir haben darüber hinaus die Gefahr erkannt, dass wir als Frauen oftmals bei Frauen denken, wir wissen, was sie meinen. Und weil wir dies denken, fragen wir bei den Frauen viel weniger. Dies kann dazu führen, dass wir oftmals bei Frauen nicht genügend nachfragen, um wirklich zu verstehen, während wir uns bei den Männern mehr bemühen, und die sich dann Dadurch bietet sich die Gelegenheit zur Differenzierung, Trennung und Individuierung innerhalb einer Dyade, während eine stabile Matrix zur Entwicklungsorganisation im größeren System aufrechterhalten wird“ (Yogman 1982, S. 262). Ob diese Ideen auf die co-therapeutische Arbeit übertragen werden können, kann aufgrund meiner Literaturstudien nicht ausreichend beantwortet werden. Hinweise darauf zeigen sich möglicherweise in der praktischen Arbeit, wenn KlientInnen mit der Situation experimentieren, mit zwei TherapeutInnen gleichzeitig in Beziehung zu sein. Fr. H., eine Klientin mit der Diagnose der paranoiden Schizophrenie, die sich sonst scheinbar eher in (verschmolzen) dyadischen Beziehungen wohl fühlt und triadische Systeme durch Trennung unterbricht, nützt diese Möglichkeit beispielsweise, um abwechselnd mit einer der TherapeutInnen stärker im Kontakt zu sein, sich bei Konflikten mit einer TherapeutIn an die andere zu wenden und um gleichzeitige ambivalente Impulse über die Anzahl der Personen aufzulösen: So konnte sie zu Beginn der SFH-Betreuung sowohl ihre Zustimmung, als auch ihre Ablehnung leben, indem sie eine TherapeutIn ablehnte, eine akzeptierte. Dass ein Kontext vereinbart wurde, in dem zu bestimmten Themen und Settings die akzeptierte Therapeutin alleine, zu anderen Gelegenheiten beide TherapeutInnen gemeinsam mit ihr arbeiten würden, könnte als Auflösung der Ambivalenz mithilfe der Zeit, aber auch als erster Schritt in Richtung einer triadischen Beziehungsorganisation gesehen werden. DER UMGANG DER THERAPEUTINNEN MITEINANDER BRINGT ÜBER BEOBACHTBARES VERHALTEN GEFÜHLE UND GEDANKEN IN DIE KOMMUNIKATION IM THERAPEUTISCHEN SYSTEM, DIE IM EINZELSETTING „NUR“ THEORETISCH ERÖRTERT WERDEN KÖNNEN. gegebenenfalls besser verstanden fühlen als die Frauen. Wir bitten Sie, uns zu sagen, wenn Sie beobachten, dass wir bei Ihnen, Frau Ahlers, nicht genügend nachfragen!“ (Conan, 2004, S. 66) 3. Unterschiedsbildung in der Gestaltung von Triaden Gleichsam ein Sonderfall der im vorigen Punkt angeführten Unterschiedsbildung scheint die Möglichkeit zur Interaktion in Triaden zu sein. Fivaz-Depeursinge und Corboz-Warnery (2001) gehen aufgrund ihrer Untersuchung der „primären Triade“ in der Kernfamilie davon aus, dass die Möglichkeit, in einer Triade zu interagieren, eine Grundlage für die affektive Kommunikation in intimen Beziehungen darstellt. Zur in der Fachliteratur kontrovers diskutierten Bedeutung der Triade und der Frage, wie die Auswirkung von Beziehungen auf Beziehungen in der systemischen Forschung gesehen und untersucht werden kann, zitieren Fivaz-Depeursinge und Corboz-Warnery Yogmans Konzept von der Triade als einem kybernetischen System: „Das größere triadische System gibt eine gewisse Gesamtstabilität, während das Rückkoppelungssystem innerhalb jeder einzelnen Dyade vorübergehend unterbrochen werden kann. 4. Einsatz der Neutralität Co-Therapie kann – wie bereits in den Ausführungen über Splitting angerissen – die Aufrechterhaltung der therapeutischen Neutralität jedenfalls im Sinne einer SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 21 EGGER > Allparteilichkeit unterstützen und auf eine spezielle Form herstellen. Dabei bilden die verschiedenen Ausprägungen der Neutralität (vgl. Retzer, 2004) unterschiedliche Schwerpunkte in der co-therapeutischen Zusammenarbeit. Gemeinsam ist allen die Möglichkeit, im erweiterten Setting durch Splitting Uneindeutigkeit herzustellen und dadurch Neutralität zu ermöglichen. Conan (2004) betont diesbezüglich, dass es nicht notwendig sei, dass TherapeutInnen quasi künstlich stark unterschiedliche Standpunkte einnehmen. Oft wirken sich schon kleine Abweichungen aus, die wie von selbst entstehen, wenn Co-TherapeutInnen aufeinander reagieren. die Übernahme, aber auch Bekämpfung von Sichtweisen, Bedeutungsgebungen, Lebensentwürfen und Weltbildern verzichtet wird. Retzer (2004) schreibt in diesem Zusammenhang von der „typischen Gefahr der affektiven Infektion“, wenn im Zuge einer empathischen Haltung das Weltbild der KlientInnen ambivalenzfrei übernommen wird. Auch hier kann Co-Therapie durch Splitting unterschiedlichen Sichtweisen nebeneinander Raum geben. Neigt sich eine der TherapeutInnen zu EINE CO-THERAPEUTIN WIDMET SICH EHER DEN PROBLEMGESCHICHTEN, INDEM SIE NÄHE UND SOLIDARITÄT MIT DEM KLIENT/INNENSYSTEM ÜBERNIMMT, DIE ANDERE KANN AUS EINER „HUMORVOLLEN DISTANZ“ LÖSUNGSGESCHICHTEN FÖRDERN, DIE FAMILIENREGELN AUFWEICHEN UND VERÄNDERUNG ANDENKEN. Die soziale Neutralität: Diese bezieht sich auf die Beziehung der TherapeutInnen zu den KlientInnen und bedeutet, dass die Einladung, für eine (und damit gegen die andere) KlientIn Partei zu ergreifen oder ihre Seite stärker zu vertreten, nicht angenommen wird. Dabei spielt es auch eine Rolle, ob eine TherapeutIn Ansichten, Weltbilder oder Sichtweisen einer der KlientInnen stärker unterstützt als die der anderen. Co-Therapie kann das Gelingen der sozialen Neutralität erleichtern, indem unterschiedliche – an Personen gebundene – Sichtweisen im Mehrpersonensetting von den TherapeutInnen aufgegriffen und jeweils vertreten werden. Bei Sheinberg (1985) übernimmt eine TherapeutIn die Seite des Subsystems Kinder, die andere die des elterlichen Subsystems. Das Subsystem der Co-TherapeutInnen insgesamt bleibt dabei neutral. Eine Extremform dieser Aufteilung stellt der „Pick-aDali Circus“ von Landau und Stanton (1983) dar, bei dem sich Teammitglieder mit Positionen innerhalb der Familie identifizieren und diese noch übertrieben akzentuieren, um Veränderungen zu ermöglichen. Konstruktneutralität: Der Einsatz der Konstruktneutralität bedeutet, dass auf 22 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 stark auf eine Seite, kann sich die KollegIn in einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung mit entsprechendem Gewicht dagegenlehnen und damit einen Ausgleich schaffen. Veränderungsneutralität: Im Zuge der Veränderungsneutralität werden positive oder negative Bewertungen des Problems oder Symptoms unterlassen, hinsichtlich problemorientierter oder lösungsorientierter Vorgehensweisen soll keine Bevorzugung stattfinden (vgl. Retzer, 2004). Carl Withaker (1978) löst diese anspruchsvolle Aufgabe in seiner symbolisch-experimentellen Familientherapie durch die Aufteilung auf zwei Co-TherapeutInnen: Eine widmet sich eher den Problemgeschichten, indem sie Nähe und Solidarität mit dem KlientInnensystem übernimmt, die andere kann aus einer „humorvollen Distanz“ Lösungsgeschichten fördern, die Familienregeln aufweichen und Veränderung andenken. 5. Umgang mit „Widerstand“ der KlientInnen durch die Möglichkeit eines RT Der Begriff des Widerstands, der ursprünglich aus der psychoanalytischen Theorie kommt, bezeichnet in der systemischen Familientherapie das Verhalten einer oder mehrerer KlientInnen, das eingesetzt wird, um einer „fälligen Entwicklung in Richtung eines höheren Niveaus der bezogenen Individuation“ entgegenzuwirken (vgl. Simon, Clement und Stierlin, 2004, S. 350). In kurzzeittherapeutischen Ansätzen wird versucht, „mit dem Widerstand zu gehen“, indem keine Veränderungsaufforderung an die Familie gestellt wird, sondern die Verantwortung für Veränderungen spielerisch an eine unsichtbare Macht delegiert wird, sodass sich die KlientInnen offen mit erwünschten und unerwünschten Auswirkungen der Veränderung auseinandersetzen können. (De Shazer, 1988) Gerade wenn der therapeutische Prozess stockt, weil vielleicht die Methode der Neutralität nicht ausreichend eingesetzt wurde und KlientInnen von Veränderungsimpulsen überfordert sind oder noch zögern, oder weil überhaupt der Auftrag aus den Augen geraten ist, kann der Metadialog der Co-TherapeutInnen hilfreich sein, um diese Phase „klientenschonend“ zu überwinden (vgl. Voglau, 2004). Diese können schweigen, abwarten, und sich erst wieder einschalten, wenn etwas „für sie dabei“ ist. Sie erhalten eine Außenperspektive auf das Dilemma, das sich im Gespräch vielleicht gerade ausgebreitet hat, und können ihre eigene Ambivalenz deutlicher wahrnehmen. Für die TherapeutInnen bietet sich die Möglichkeit einer sofortigen Intervision, um Ideen zu bekommen, was verändert werden könnte, um wieder auftragskonform und neutral zu arbeiten. 6. Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse Mehr analytisch orientierte FamilientherapeutInnen, die Übertragungsprozesse in der Therapie für wünschenswert halten, vermuten, dass gerade gemischtgeschlechtliche Kombinationen besonders geeignet sind, Familienstrukturen zu evozieren, die bei der Aufarbeitung von Kindheitserlebnissen wichtig sind (vgl. Simon, Clement und Stierlin, 2004). Nun stellt sich die Frage, ob es auch im systemischen Modell Möglichkeiten gibt, diese Prozesse zu nützen. Innerhalb der systemischen Theorie unterscheidet man nach Simon, Clement und Stierlin (2004) transfamiliäre und intrafamiliäre Übertragung. Die transfamiliäre Übertragung beschreibt das Phänomen, dass Erfahrungen und Bewährtes aus der Herkunftsfamilie in unangemessener Weise auf Personen außerhalb dieser angewendet werden. Die Übertragung auf die TherapeutIn ist eine Spielart dieser Übertragungsform, hat aber in der systemischen Therapie keine herausragende Bedeutung. Mehr Interesse findet die intrafamiliäre Übertragungsform, bei der generationsübergreifend unangemessene Phantasien, Erwartungen und Wahrnehmungen auf Familienmitglieder gerichtet werden. Das kann dazu führen, dass Kinder durch elterliche Erwartungen eingeengt werden, aber auch, dass sie selbst im Erwachsenenalter kein brauchbares und realistisches Bild von ihren Eltern entwickeln. Gegenübertragung beschreibt im systemischen Konzept Haltungen, Wahrnehmungen und „blinde Flecken“ der TherapeutIn, die auf eigene Erfahrungen und ungelöste Probleme mit der Herkunftsfamilie verweisen. Simon, Clement und Stierlin (2004, S. 336) schreiben dazu: „Von daher gewinnt die Arbeit an dieser Herkunftsfamilie einen Stellenwert, der sich mit dem einer Lehranalyse für die psychoanalytische Ausbildung vergleichen läßt.“ Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene werden in der systemischen Therapie auch oft als Koppelung der TherapeutInnen an die KlientInnen bezeichnet. Andererseits ist es nicht zu leugnen, dass KlientInnen selbst bestimmte Erwartungen, Ideen und Phantasien in Bezug auf Therapie mit zwei TherapeutInnen hegen. Häufig besteht seitens der KlientInnen der Wunsch, mit einem gemischtgeschlechtlichen TherapeutInnenpaar zusammenzuarbeiten, um eine größere Ausgewogenheit, besseres Verstandenwerden als Mann oder Frau, vermehrte Aufmerksamkeit und Neutralität (vgl. Grossmann, 2002; Binter, 1998) zu erreichen. Wenn wir die Idee der transfamiliären Übertragung aufgreifen, könnte die therapeutische Beziehung insofern eine Unterschiedsbildung ermöglichen, als es nun den SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 23 EGGER > KlientInnen möglich wäre, alternative Erfahrungen zu erleben und dadurch innere Bilder über Erleben zu verändern. Roller und Nelson (1993, S. 24) beschreiben zum Beispiel die Situation, dass KlientInnen in einer CoTherapie erstmals die Erfahrung machen könnten, sich dem „Therapie-Vater“ nahe zu fühlen, ohne dass die „Therapie-Mutter“ darauf mit Sanktionen, negativen Verhaltensreaktionen oder Bestrafung reagieren würde, wie es vielleicht in der realen Familie erlebt wurde. Conan (2004) fordert im Rahmen ihrer Studien zur Resilienzforschung, einerseits die Bedeutung früher Bindungen zu relativieren und die Idee, frühe Traumata oder Mangelzustände in der Eltern-Kind-Beziehung müssten sich zwingend hinderlich auf die weitere Lebensgestaltung auswirken, zu verabschieden. Andererseits betont sie, dass psychodynamische Ideen, die das Nachholen der Bindungserfahrungen ermöglichen wollen, oft nicht möglich oder sinnvoll erscheinen. Nichtsdestotrotz scheint für die Resilienz, also die Bewältigung sehr belastender Lebensbedingungen, das Nützen eines erweiterten sozialen Netzes und das Vorhandensein von Bezugspersonen innerhalb und außerhalb der Familie (Geschwister, NachbarInnen, Jugendgruppen) einen wesentlichen Faktor darzustellen. „Wichtig ist zu betonen, dass Resilienz zu jedem Zeitpunkt im Lebenszyklus entwickelt wurde und werden kann (Werner a. Smith 1992). Die Abwärtsspiralen können zu jedem Zeitpunkt im Leben umgedreht werden“ (Conan, 2004, S.27). Auf dieser Basis könnte im Sinn Konrad Grossmanns „Selbstwirksamkeit“ der KlientInnen vielleicht eine bescheidenere Idee von der Wirkung der therapeutischen Übertragungsbeziehungen entwickelt werden: der Gedanke, dass Co-TherapeutInnen durch ihre Zusammenarbeit und ihr „Da-sein“ eine Umwelt zur Verfügung stellen, die von KlientInnen genützt werden kann. 7. Gestaltung eines Therapierahmens in der aufsuchenden Familientherapie wird erleichtert In der aufsuchenden Familientherapie wird das Setting der Co-Therapie besonders häufig eingesetzt. Dies liegt zum einen wohl an bereits erwähnten Vorteilen zum 24 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 Beispiel hinsichtlich der Informationsverarbeitung und dem Umgang mit Multiproblemsituationen, zum anderen scheint es grad bei Therapiegesprächen im Haus der Familie wesentlich, Abstand zu wahren und besonders darauf zu achten, wie weit sich die TherapeutInnen in die Interaktionsdynamik der Familie „verwickeln“ lassen. Dies scheint zu zweit durch vielfältige Reflexionsund Metakommunikationsprozesse für die TherapeutInnen häufig leichter zu gelingen, sodass einige Institutionen, die aufsuchende Familientherapie anbieten, prinzipiell nur im Co-Setting arbeiten (vgl. Conan, 2004, Hargens 1997). Interessant erscheint mir auch die Frage, inwieweit die Inszenierung eines therapeutischen Übergangsrituals erleichtert wird, für KlientInnen also die Unterscheidung der therapeutischen Situation von einer alltäglichen Besuchssituation leichter möglich ist, wenn im aufsuchenden Kontext zwei TherapeutInnen das Haus bzw. die Wohnung betreten. Sehr praxisbezogen weist Conan (2004) darauf hin, dass die Unterstützung durch eine KollegIn besonders bei aggressiven Familienmitgliedern und Gewaltandrohungen im häuslichen Bereich von Vorteil sein kann. 4.2 RISIKEN Diesem Abschnitt würde ich gern ein etwas abgeändertes Zitat aus der Medikamentenwerbung voranstellen: Wirkungen und mögliche unerwünschte Wirkungen zeigen sich im Tun und der Kommunikation darüber. Die systemische Theorie verwendet keine Konzepte von richtig und falsch, sondern ermutigt zum achtsamen Beobachten von Veränderungen. Am ehesten erscheint es mir nützlich, in diesem Zusammenhang zu überlegen, in welcher Situation welche Vorgangsweise ein Mehr desselben, was Leiden verursacht, erzeugt, und welche Vorgangsweise andererseits hilfreiche Unterschiede im Erleben der KlientInnen unterstützen kann. Das stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, auch Co-Therapie gegenüber Methodenneutralität an den Tag zu legen und dieses Setting keinesfalls um seiner selbst willen zu wählen. Folgende Risiken, Komplikationen und Erschwernisse können gegen Co-Therapie sprechen oder besondere Maßnahmen erforderlich machen: 1. Zu hohe Komplexität wird erzeugt Wie bereits weiter oben erwähnt, erhöht sich durch die Erweiterung des Settings auch die Anzahl der Ideen, Zugangsweisen, Lösungsgeschichten usw. Daher empfehlen Lenz et al.(1995), bei Familien in akuten Krisen oder mit schizophrenen Mitgliedern von einem RT Abstand zu nehmen, um die KlientInnen nicht durch zuviel Komplexität zu überfordern. Deissler (1997) spricht in diesem Zusammenhang von der „Angemessenheit der Varianzerhöhung“, die nach Voglau (2004, S. 190) „immer nur im Einzelfall entschieden bzw. mit dem nötigen Feingefühl und Respekt 'ausgetestet' werden kann ('Versuchsballon-Strategie')“. Auch Grossmann gibt, wie bereits weiter oben in anderem Zusammenhang erwähnt, zu bedenken, dass „das Mit- und Nebeneinander von zwei Therapeuten Unter- 2. Vertrauensverhältnis zu den KlientInnen nicht so eng wie im Einzelkontakt Häufig findet sich die Idee, dass die Intimität der therapeutischen Beziehung im erweiterten Setting geringer sei. Binter (1998) führt an, dass sich TherapeutIn oder KlientIn durch zusätzliche Personen in der Möglichkeit einer zwischenmenschlichen Begegnung im Vergleich zum Einzelsetting eingeschränkt erleben kann. Auch Grossmann (2002) weist darauf hin, dass zuweilen die emotionale Anbindung höher sei, wenn ein Therapeut alleine arbeitet und sich also in seiner Aufmerksamkeit ausschließlich den KlientInnen zuwenden kann. 3. Chronifizierung von Splittings (vgl. Voglau, 2004, Binter, 1998) So hilfreich die Methode des Splittings sein kann, können auch Komplikationen im Zuge ihrer Anwendung auftreten. Dies ist meist dann der Fall, wenn ohne ausreichende Absprache und Reflexion über längere Zeit Rollenaufteilungen beibehalten werden, die keine Veränderungsimpulse durch neue Information geben. Beispielsweise könnte eine TherapeutIn immer eher die versöhnliche und schonende, die andere immer eher die herausfordernde Position dem KlientInnensystem gegenüber einnehmen. Dadurch kann es nicht nur zu einem Festfahren des therapeutischen Systems, sondern auch zu einer Störung der co-therapeutischen Beziehung kommen, im Rahmen derer die Handlungsmöglichkeiten der TherapeutInnen durch persönliche emotionale Involvierung eingeschränkt werden. In diesem Fall ist es dringend angesagt, die Situation in Inter- oder Supervision zu reflektieren, um die Vorgangsweise verändern oder aber auch – allerdings bei gleichzeitigem Wissen um die Entstehung der dazugehörigen Emotionen – bewusst beibehalten zu können. WIRKUNGEN UND MÖGLICHE UNERWÜNSCHTE WIRKUNGEN ZEIGEN SICH IM TUN UND DER KOMMUNIKATION DARÜBER. DIE SYSTEMISCHE THEORIE VERWENDET KEINE KONZEPTE VON RICHTIG UND FALSCH, SONDERN ERMUTIGT ZUM ACHTSAMEN BEOBACHTEN VON VERÄNDERUNGEN. schiede in der Fokussierung von Themen, von Zielen und in der interventiven Orientierung erzeugt. Selbst wenn der Rahmen und das prinzipielle Verständnis des gemeinsamen Tuns aufeinander abgestimmt sind, bedingen Unterschiede des Verstehens und der interventiven Orientierungen ein verstärktes Mäandern des therapeutischen Erzählflusses. Sie machen diesen schwerer bestimmbar und bedingen eine zunehmende Komplexität von Abstimmungsprozessen, sie verstärken die ‚doppelte Kontingenz‘ (vgl. Ludewig, 1992), die der therapeutischen Situation ohnehin zukommt“ (Grossmann, 2002, S.71). SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 25 EGGER > 4. Probleme zwischen den Co-TherapeutInnen (vgl. u.v.a. Voglau, 2004) „Wenn gegenseitiges Vertrauen und eine gewisse „Harmonie“ innerhalb eines Co-Therapeutenteams nicht gegeben sind, sollte man dies als Arbeitsstörung betrachten und mit Vorrang an deren Lösung arbeiten. Schließlich kann man die Familientherapie auch als eine Art „Improvisationstheater“ ansehen. Jeder weiß, dass man nur gut improvisieren kann, wenn man sich selbst sicher fühlt und sich der Unterstützung durch den Kollegen gewiss ist.“ (Voglau, 2004, S. 197). Folgende Faktoren können die Beziehung zwischen den Co-TherapeutInnen bzw. das Gefühl von Sicherheit in der co-therapeutischen Situation beeinträchtigen: Rivalität (Kompetenz, Hierarchie, Vertrauen) Persönliche Konflikte Methodische Konflikte Mangelnde Abgrenzung bzw. Trennung von beruflicher und privater Beziehung Können diese Faktoren nicht durch Reflexion in einen Rahmen gebracht werden, der eine vertrauensvolle cotherapeutische Beziehung wieder ermöglicht, gibt es auch die Möglichkeit, auf Teamarbeit umzusteigen, da diese, wie weiter oben bereits ausgeführt, etwas weniger Absprache und Reflexion benötigt (Binter, 1998). keit zu postulieren, Autonomie in Bindung zu integrieren, Nähe und Distanz auszubalancieren. Eine Möglichkeit, in systemischer Familientherapie das auf einer formalen Ebene zu inszenieren, was inhaltlich hilfreich sein kann, scheint mir die professionelle Zusammenarbeit von TherapeutInnen zu sein. Diese 5. ABSCHLUSSBEMERKUNGEN MAG.a SUSANNE EGGER ist Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin (systemische Familientherapie), St. Pölten; arbeitet bei Rettet das Kind NÖ (Sozialpädagogische Familienhilfe) und als Psychologin im Ambulatorium St. Leonhard sowie selbständig psychotherapeutisch (Beratung mit Jugendlichen an Schulen und in Freier Praxis) SYSTEMISCHE SICHTWEISEN AUF DIE WIDERSPRÜCHLICHKEITEN DES LEBENS SCHEINEN IN DER TÄGLICHEN THERAPEUTISCHEN ARBEIT OFT SEHR ERLEICHTERND: UNTERSCHIEDE, JA SOGAR GEGENSÄTZE NEBENEINANDER STEHEN ZU LASSEN UND IHNEN GÜLTIGKEIT ZU VERLEIHEN, OHNE AUSSCHLIEßLICHKEIT ZU POSTULIEREN, AUTONOMIE IN BINDUNG ZU INTEGRIEREN, NÄHE UND DISTANZ AUSZUBALANCIEREN. Systemische Sichtweisen auf die Widersprüchlichkeiten des Lebens scheinen in der täglichen therapeutischen Arbeit für Menschen oft sehr erleichternd: Unterschiede, ja sogar Gegensätze nebeneinander stehen zu lassen und ihnen Gültigkeit zu verleihen, ohne Ausschließlich- 26 SYSTEMISCHE NOTIZEN 03/07 Koppelung von Unberechenbarkeit und dem selbständigen Agieren jeder der beiden einerseits und dem vertrauensvollen aufeinander Bezogensein andererseits, kann damit vorweg einen Rahmen für die therapeutische Kommunikation bieten, in dem Unsicherheit und Mut zu Positionierung oder Veränderung gleichermaßen aufgehoben sind und erfunden werden können. Ein großer Teil dieser Arbeit hat sich mit den Chancen, den Vorteilen dieses „mehrdimensionalen“ Therapiesettings beschäftigt. Es ist mir wichtig, auch dies unter eine konstruktivistische Prämisse zu stellen: Es könnte auch alles ganz anders gesehen werden. 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