Die Essenz der Dinge
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Die Essenz der Dinge
Die Essenz der Dinge © Georgia O‘Keeffe Museum / VG Bild-Kunst, Bonn 2011 (3) Die Künstlerin Georgia O‘Keeffe (1887 – 1986) ist sicherlich eine der wichtigsten US-amerikanischen Malerinnen des 20. Jahrhunderts. Als solche wird sie in den USA auch in Ehren gehalten, ihre Bilder werden dort sofort erkannt. In Deutschland oder Europa war sie nie so präsent – ein Umstand, den eine große Ausstellung, die derzeit in München Station macht, nun ändern will. Zwei Stechäpfel mit grünen Blättern und blauem Himmel, 1938, Öl auf Leinwand 90 NeuroTransmitter 4 · 2012 NeuroTransmitter-Galerie Sommertage, 1936, Öl auf Leinwand B lumen- und Wüstenbilder – das sind die Motive, die man mit den Bildern O’Keeffes in Verbindung bringt. Naturformen werden dabei so überhöht, dass sie sich der Abstraktion nähern. Mit dieser hatte bereits die junge Künstlerin experimentiert – ornamentale Formen, noch teilweise sehr dem Jugendstil verpflichtet. Denn auch wenn Georgia O’Keeffe häufig als „uramerikanische“ Künstlerin vermarktet wurde, deren Bilder die Eigenständigkeit der amerikanischen Kunst beförderten, so sollte man nicht übersehen, dass ihre frühen akademischen Lehrer in Europa gelernt hatten und ihrer Schülerin – obwohl diese nie wie viele andere amerikanische Maler eine Studienreise nach Europa unternahm – diese Positionen vermittelten. Der Stempel des Eros Die Karriere der Georgia O’Keeffe nahm Fahrt auf, als sie mit dem berühmten Fotografen Alfred Stieglitz Bekanntschaft schloss. Er protegierte die Malerin, versuchte sie jedoch auch auf eine Weise zu vermarkten, die ihr einen unerwünschten Stempel aufdrückte. So wurden beispielsweise die großformatigen Blumenbilder von O‘Keeffe, die wie fotografische Makroaufnahmen arrangiert sind, mit Aktaufnahmen, die er von ihr gemacht hatte, präsentiert. Auf diese Weise erlangten die schwellenden Formen, die Blütenstempel, die anderen botanischen Details eine ganz andere, freudianisch geprägte Bedeutung: Die Bilder wurden zugleich „Ausdruck weiblicher Sexualität und erotisch codierter Malerei“. Stieglitz kam diese Lesart sehr zupass – konnte er doch O’Keeffes Malerei nicht nur als uramerikanisch, als Ausdruck einer unverdorbenen Natürlichkeit, sondern eben auch als Ausdruck eines starken weiblichen Selbstbewusstseins vermarkten. NeuroTransmitter 4 · 2012 Journal Avocado, 1923, Pastell auf Papier Gang in die Wüste Hatte Georgia O’Keeffe sich in den 1920er-Jahren noch mit Ansichten der amerikanischen Großstadt auseinandergesetzt (Stieglitz überredete sie, nach New York zu kommen und heiratete sie 1924), so entdeckt sie um 1930 herum die Faszination der Wüste New Mexicos für ihre Kunst. Was vorher die Detaildarstellungen von Blüten waren, weitete sich in einen Horizont der kargen, farbenfrohen Landschaften, die sie dort vorfand. Aber auch hier bleibt sie dem Blick auf die Details der Natur treu: Wie vorher die Nahansicht der Blumen entdeckt sie nun – fast paradoxerweise – skelettierte Tierschädel als Ausdruck des Lebens. Ebenso aber sind die Schädel ein Sinnbild der Lebensfeindlichkeit dieser Landschaft, was gerade in den Bildern sichtbar wird, wo sie Landschaft und Schädel kombiniert. Bis zu ihrem Tod im Alter von 98 Jahren bleibt O’Keeffe in der Wüstenregion New Mexicos heimisch, wie eine Pionierin, die sich ihr Land erobert hat und nicht mehr davon loskommt. AUTOR Volker Schuck, München Über die Ausstellung Die Ausstellung „Georgia O‘Keeffe. Leben und Werk“ ist noch bis zum 13. Mai 2012 in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung zu sehen. 91