Interview mit Peter Balleis (Herbst 2014)

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Interview mit Peter Balleis (Herbst 2014)
FLÜCHTLINGSHILFE
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Prüfungen bestanden: Studierende aus dem Flüchtlingslager Kakuma (Kenia) erhalten ein amerikanisches Universitätsdiplom.
Studieren im Flüchtlingslager
Das von Jesuiten gestartete Projekt einer Online-Universität soll ausgeweitet werden
Interview mit P. Peter Balleis SJ, dem
internationalen Direktor des JRS,
über die wegweisende Bildungsinitiative JC:HEM («Jesuit Commons:
Higher Education at the Margins»).
lüchtlingen ist der Zugang zu Bildung weitgehend versperrt. Nicht
einmal ein Prozent von ihnen haben
bisher die Chance, eine Universitätsausbildung zu absolvieren. Doch das soll sich
ändern. Der Flüchtlingsdienst der Jesuiten
(JRS) hat eine zukunftsweisende Initiative
gestartet: JC:HEM, eine Online-Universität
für junge, in Lagern lebende Menschen.
Das internationale Netzwerk der Jesuitenhochschulen und der JRS arbeiten eng
zusammen, um den Flüchtlingen per Internet den Erwerb von Studienabschlüssen zu
ermöglichen. Die Universitäten vermitteln
das Fachwissen, der JRS stellt die nötige
Infrastruktur bereit.
F
Pater Balleis, bisher gibt es das 2010
von Jesuiten aufgelegte Studienprogramm JC:HEM für Flüchtlinge in drei
Ländern: Jordanien, Kenia und Malawi.
Wie sieht Ihre bisherige Bilanz aus?
P. Balleis SJ: Lassen wir die Zahlen sprechen: Im September 2013 haben 52 Studierende ihr geisteswissenschaftliches
Studium mit einem Diplom der von Jesuiten geleiteten Regis University in Denver
(US-Bundesstaat Colorado) abgeschlossen. Derzeit belegen 249 aktive Studierende den dreijährigen Diplomstudiengang,
60 von ihnen werden in diesem September die Prüfung ablegen. Wir bieten den
jungen Menschen neben dem Diplomstudium auch noch kürzere Zertiikatskurse
an, die der JRS gemeinsam mit den Jesuitenuniversitäten an die praktischen Bedürfnisse und Wünsche im Flüchtlingslager angepasst hat. Hier geht es um Aus- und
Fortbildungsangebote in den Bereichen
Gesundheitswesen, Erziehung, Psycholo-
gie, Heilplege, Lehrerfortbildung, Management, Englisch, Informatik, Medien
und Kunst. Insgesamt 458 Studenten haben in den drei Ländern Jordanien, Kenia
und Malawi seit dem Beginn des Programms einen solchen Zertiikatskurs von
je 3 bis 6 Monaten absolviert. Derzeit sind
258 junge Frauen und Männer in einem
Zertiikatskurs eingeschrieben.
Welche Ziele verfolgen Sie mit dem
Projekt?
Es geht uns um drei Ziele: Das Leben und
die Chancen im Flüchtlingslager zu verbessern, Rückkehrer für den Wiederaufbau
der Heimat auszubilden und Flüchtlingen,
die in ein Drittland umsiedeln, dort den
Start in ein neues Leben zu erleichtern.
Denn das Diplom oder Zertiikat einer
amerikanischen Universität wird überall
anerkannt.
Wir wollen Leute heranbilden, die selber denken. Die, wenn sie eines Tages in
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ihre Länder zurückgehen, Führungskräfte
werden und etwas aufbauen können. Wir
investieren auf diese Weise bereits jetzt in
den Flüchtlingslagern in die Zukunft der
kriegszerstörten Länder. Denn wenn es
keine Menschen mit Ausbildung gibt, keine mit Universitätsbildung, die anders zu
denken gelernt haben, dann ist es sehr
schwer, so ein Land wieder aufzubauen.
Soll das Studienprogramm künftig
noch auf weitere Länder mit ebenfalls
hohem Flüchtlingsanteil ausgedehnt
werden?
Bereits 2013 haben wir begonnen, unser
Programm auszuweiten. Im thailändischen Grenzgebiet zu Myanmar (Burma)
unterhalten wir ein kleines Lernzentrum
mit Computern und Internetzugang. 40
Studenten belegen dort einen Zertiikatskurs in Englisch, um erst einmal die
sprachlichen Voraussetzungen für ein Diplomstudium zu erwerben. In Myanmar
selbst werden in diesem Herbst die ersten
6 Diplomstudenten beginnen, am Aloysius Gonzaga Institut in der Stadt Tauggnyi.
Auch in Herat im Westen Afghanistans
sind wir mit JC:HEM zur Stelle. Hier warten
derzeit 90 Studenten auf ihr Zulassungsgespräch. 30 von ihnen werden in Kürze
an der von Jesuiten geleiteten Herat Technical School mit dem Diplomstudium beginnen. Im Westen der zentralafrikanischen Republik Tschad wird in Goz Beida
ein Computerlabor eingerichtet; noch in
diesem Jahr soll dort ein Zertiikatskurs
starten, im kommenden Jahr auch ein Diplomstudiengang.
Wir möchten JC:HEM-Projekte künftig
noch auf weitere Flüchtlingslager ausweiten. Bereits in Planung sind Studienprogramme auf den Philippinen und in Sri
Lanka, der Südsudan und der Osten Kongos könnten schon bald folgen.
Haben die Absolventen eine Chance,
ihre neuerworbenen akademischen
Abschlüsse auch in beruliche Erfolge
umzusetzen?
Einige der Absolventinnen und Absolventen haben inzwischen einen Studienplatz
für ein weiterführendes Studium bekommen. Andere sind in der lokalen Wirtschaft
aktiv. Wieder andere arbeiten – nun höher
qualiiziert – in Nicht-Regierungsorganisationen innerhalb der Lager. JRS und
JC:HEM bleiben mit den ehemaligen Absolventen in Kontakt. Wir wollen sehen
und analysieren, wie ihnen das Programm
geholfen hat.
Auf welche Weise können Privatpersonen, Stiftungen oder Unternehmen das
Bildungsprogramm unterstützen?
Vor Ort, in den Flüchtlingslagern, benötigen wir jeweils Computerarbeitsplätze,
Internetzugang, zwei oder drei Klassenzimmer, einen Techniker, einen Koordinator und Tutoren, die die Studenten begleiten. Die einfachste und direkteste Weise
zu helfen, ist das Bereitstellen von inanziellen Mitteln. Ein Studienplatz kostet pro
Monat 200 Dollar (umgerechnet rund 180
Franken), davon entfallen 100 Dollar auf
den Unterhalt des Projekts im jeweiligen
Flüchtlingslager und 100 Dollar auf den
JC:HEM, der die Studieninhalte vermittelt.
Wichtig ist auch das Solarsystem, mit dem
wir die Energieversorgung sichern. An
manchen Orten müssen wir zudem Gebäude errichten. Es geht nicht zuletzt um
personelle Unterstützung: Akademische
Fachkräfte zum Beispiel können sich bei
JC:HEM als Tutoren bewerben.
Sie sehen: Privatpersonen und Firmen
können unser Projekt in vielfältiger Weise
fördern. Spender aus der Schweiz und aus
anderen Ländern haben uns bereits grosszügig geholfen. Auch im Namen der jungen Flüchtlinge danken wir ihnen dafür
sehr herzlich.
L I N K S : Trist ist das
Leben im Lager.
Weniger als ein
Prozent aller
Flüchtlinge haben
Zugang zu einer
höheren Ausbildung.
R E C H T S : Der internationale Direktor
des JesuitenFlüchtlingsdienstes,
P. Peter Balleis SJ,
im Interview.
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