Aktuell - BIOspektrum

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Aktuell - BIOspektrum
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W I S S E N SCH AFT · AKTU E LL
ÿ Die Erblichkeit des Langstreckenläufers: Aktivität bei Mäusen durch selektive Zucht erhöht
ÿ Bei Hunger Paarbildung: 100S-Ribosomen in E. coli
ÿ Cannabinoid-Pharmakologie: Analgesie ohne Rausch
Gen in den Schlagzeilen
Die Erblichkeit des Langstreckenläufers:
Aktivität bei Mäusen durch selektive Zucht erhöht
ó Über die erblichen Komponenten sportlicher Erfolge wird immer wieder diskutiert.
Theodore Garland jun. und seine Mitarbeiter von der Universität von Kalifornien in
Riverside (USA) haben jetzt dazu ein
weiteres experimentelles Modell
geliefert (Garland T et al., Proc Royal Soc B (2010) DOI: 10.1098/rspb.
2010.1584).
Die Autoren begannen 1993 mit
224 Auszucht-Mäusen (HsD:ICR)
und züchteten die Hälfte der Mäuse auf ihre
Fähigkeit, möglichst viel zu laufen – gemessen
in der täglichen Laufleistung im Laufrad. Ausgehend von einer homogenen Population mit
durchschnittlicher Laufleistung konnten sie
über die Jahre hinweg vier Linien mit hoher
Laufleistung züchten, wobei sie immer die Tiere mit der höchsten Laufleistung zur Weiter-
zucht verwendeten; die andere Hälfte wurde
als Kontrollpopulation ohne Selektion weitergezüchtet. Damit wurden zufällige genetische
Drift oder Gründereffekte als Ursache des
veränderten Laufverhaltens ausgeschlossen. Heute, in der
43. Generation, laufen die
hochaktiven Mäuse täglich
2,5- bis 3-mal so weit wie die
Kontrollen (gemessen in Umdrehungen des
Rads pro Tag); dabei erzielten die Weibchen
dieses Ergebnis im Wesentlichen durch die Zunahme der Geschwindigkeit, wohingegen
Männchen neben einer Geschwindigkeitszunahme auch eine häufigere Benutzung des
Laufrads zeigen. Die begonnenen genetischen
Analysen deuten darauf hin, dass das Gen
mini muscle (Gensymbol mm) auf dem Chromosom 11 eine wichtige Rolle spielt; ein re-
zessives Allel führt zu einer um 50 Prozent reduzierten Masse der Muskeln in den Hinterbeinen. In der Ausgangspopulation war dieses
rezessive Allel mit einer Frequenz von ∼7 Prozent vertreten; in den Kontrollpopulationen ist
es verloren gegangen, wohingegen zwei der
vier hochaktiven Linien einen dramatischen
Anstieg der Frequenz dieses Allels zeigen.
Y Neben den offenen genetischen Fragen ist
natürlich die unterschiedliche Reaktion der
männlichen und weiblichen Mäuse innerhalb
der jeweiligen Linien auf den Selektionsdruck
„Laufleistung“ interessant. Ein physiologischer
Unterschied, den die Autoren gemessen haben,
liegt in der unterschiedlich starken Erhöhung
des maximalen Sauerstoffverbrauchs bei Weibchen und Männchen. Man kann auf weitere
Ergebnisse dieser Studie gespannt sein!
Jochen Graw, Neuherberg ó
Mikroorganismus in den Schlagzeilen
Bei Hunger Paarbildung: 100S-Ribosomen in E. coli
ó Gehen Bakterien die Nährstoffe aus,
HPF stammt. Sie wurde auch in Rereduzieren sie ihren Stoffwechsel, um
konstruktionen isolierter 100S-Partikel
bei Mangel länger überleben zu könentdeckt, aber noch nicht identifiziert
nen. Eine besondere Art der Inaktivie(Kato et al., Structure (2010) 18:719rung unter Nährstofflimitation findet
724). Die Paarbildung ist reversibel;
sich bei Ribosomen. Ein Teil wird in
werden stationäre Zellen erneut gefüt100S-Dimere verpackt, die man schon
tert, zerfallen die 100S- wieder in aktilange kennt, aber noch nicht in Zellen
ve 70S-Ribosomen.
beobachtet hat. Julio Ortiz et al. wiesen
Y Die Stilllegung eines Teils der Promithilfe von Kryoelektronentomografie
teinsynthese-Maschinerie ist in doppeldie hibernating ribosomes in hungernter Hinsicht ökonomisch: Die Verringeden Zellen von E. coli nach und unterrung von 70S-Ribosomen bewirkt, dass
suchten ihre Struktur (J Cell Biol (2010)
sie weniger tRNA binden und die Syn190:613–621).
these auch bei knappen Ressourcen
Aminosäuremangel lässt die Kon- Abb.: Verteilung der 100S-Ribosomen in einer 3-D-rekonstruierten abschließen können. Abgestellte, aber
zentration von (p)ppGpp steigen, das Zelle von E. coli. 30S-Einheiten (gelb), 50S-Einheiten (blau).
nicht abgebaute Ribosomen gestatten
(Julio Ortiz, Martinsried)
die Bildung von Ribosomen hemmt und
es Zellen, bei „Konjunkturaufschwung“
von RMF (ribosome modulation factor) fördert. blockiert die A- und P-site an der Grenzfläche die Produktion von Proteinen ohne zusätzlichen
RMF bindet an 70S-Ribosomen. Mit HPF (hi- zwischen 30S und 50S. Die 100S-Komplexe Aufwand wieder anzukurbeln.
bernation promoting factor) bewirkt es die Di- zeigen in situ eine zusätzliche Masse zwischen
Harald Engelhardt, Martinsried ó
merisierung über die 30S-Untereinheiten und den Ribosomen, die wohl nicht von RMF und
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Arzneimittel in den Schlagzeilen
Cannabinoid-Pharmakologie: Analgesie ohne Rausch
änderungen in den Modellorganismen.
Y Diese Arbeit belegt eindrücklich, dass die Hemmung des
Abbaus endogener Cannabinoide
über die Aktivierung von CB1Rezeptoren in peripheren sensiblen
Nerven einen starken analgeti-
ó Bestandteile der Hanfpflanze
werden seit Jahrhunderten in der
Heilkunde
verwendet,
um
Beschwerden bei Rheuma,
Atemwegserkrankungen, Schmerzen oder Migräne zu lindern. Vor
der Entdeckung der Acetylsalicylsäure war Marihuana in einigen Ländern ein sehr weit verbreitetes Analgetikum. Heute ist
es eher als Rauschmittel bekannt.
Kann es gelingen, die positiven
Wirkungen
der
CannabisBestandteile pharmakologisch so
nutzbar zu machen, dass keine
psychischen Wirkungen ausgelöst
werden, die zum Missbrauch dieser Substanzen führen? In einer
aktuellen Arbeit stellen Jason
Clapper und Kollegen einen neuen interessanten Wirkstoff vor,
der durch die Hemmung des
Abbaus von Endocannabinoiden
in der Körperperipherie schmerzhemmend wirkt (Nat Neurosci
(2010) 13:1265–1270).
Endocannabinoide sind körpereigene Lipidmediatoren, die über
die Aktivierung von G-Protein-ge-
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koppelten Rezeptoren (CB1, CB2)
zahlreiche biologische Funktionen
modulieren. Zu diesen Endocannabinoiden gehört das Anandamid, das durch die Fettsäureamidhydrolase (FAAH) abgebaut wird.
Die Autoren beschreiben die Synthese eines FAAH-Inhibitors, der
in peripheren Geweben, aber nicht
im zentralen Nervensystem den
Anandamid-Abbau hemmt. Ihre
Substanz URB937 ist lipophil und
kann deshalb bei Mäusen oder
Ratten in das ZNS eindringen, wird
aber über einen ABC-Transporter
sofort wieder aus dem Gehirn in
das Blut transportiert. URB937
hemmt in verschiedenen experimentellen Schmerzmodellen die
Reaktionen nach Nervenläsion, Inflammation oder Gewebeentzündung. Diese Effekte sind bei Mäusen mit einer Deletion des FAAHGens nicht vorhanden, sodass die
URB937-Wirkung auch in vivo spezifisch für dieses Enzym ist. Im
Gegensatz zu FAAH-Hemmstoffen, die in das ZNS penetrieren,
zeigte URB937 keine Verhaltens-
schen Effekt auslösen kann, ohne
im Gehirn unerwünschte Wirkungen auszulösen. Ob sich dieses
Konzept auf den Menschen übertragen lässt, bleibt optimistisch
(aber nicht berauscht) abzuwarten.
Lutz Hein, Freiburg ó