5 die macht der gefühle

Transcription

5 die macht der gefühle
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
5
DIE MACHT DER GEFÜHLE
Weil Exegese immer das Ziel hat, die Bedeutung eines Textes zu erfassen, ist mit ihr auch
immer eine Vielzahl von Entscheidungen verbunden. Sind die Aussagen wahr? Gelten sie
auch heute noch? Gefallen sie mir? Welche Gefühle lösen sie in mir aus? Finde ich sie
interessant? Sind sie wichtig für mich?
Die Notwendigkeit, Entscheidungen in diesen wichtigen Fragen zu treffen, besteht bei jedem
Text, den man sich exegetisch erarbeitet. Und da Exegese immer dann einsetzt, wenn man
einen Text liest bedeutet das: Lesen fordert Entscheidungen heraus.
Deshalb lohnt es sich, darüber Gedanken zu machen, wie Entscheidungen eigentlich zustande
kommen.
Für Ludwig Feuerbach bestand das Wesen des Menschen in drei Dingen:
der Kraft des Denkens
der Kraft des Willens
der Kraft des Herzens bzw. der Liebe.
Auch wenn die Bibel ein ganzheitliches Menschenbild zeichnet, so ist kaum zu bestreiten,
dass diese drei Wesensmerkmale des Menschen Einfluss auf dessen Entscheidungen ausüben
und am Entscheidungsprozess direkt beteiligt sind.
5.1
Das Triumvirat des Raumschiffs Enterprise
Eine anschauliche Illustration hierfür bietet die Fernsehserie "Raumschiff Enterprise"
(Original: Star Trek), die in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts produziert wurde.
Im Jahr 2200 ist dieses Raumschiff mit seiner 400 Mann starken Besatzung fünf Jahre lang
unterwegs, um fremde Welten zu erforschen. Dabei erleben sie eine Reihe von Abenteuern
und müssen eine Vielzahl gefährlicher Situationen meistern und hierzu schwierige
Entscheidungen treffen. Entscheidungsträger sind die drei Hauptcharaktere der Serie:
James T. Kirk, Captain
Mr. Spock, Erster Offizier/Wissenschaftsoffizier
Dr. Leonard McCoy, genannt „Pille“, Schiffsarzt
Die Auseinandersetzungen dieser drei Personen bei der Beurteilung der verschiedenen
Situationen und die damit verbundene Entscheidungsfindung gehört zu den Grundelementen
der Serie. Die Protagonisten sind bewusst so gestaltet, dass sich in ihrem Miteinander wie in
ihren Kontroversen der menschliche Entscheidungsprozess abbildet. Denn jeder der drei steht
für eines der Wesensmerkmale des Menschen:
Captain Kirk für das Telos (gr.: „Ziel“), also den Willen
Mr. Spock für die Ratio, also den Verstand/die Vernunft
Dr. McCoy für die Emotion, also das Gefühl
Jeder Lösungsvorschlag für ein aktuelles Problem wird deshalb aus drei verschiedenen
Blickwinkeln auf drei Fragen hin untersucht:
- 28 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
Kirk (Wille) fragt:
Spock (Vernunft/Verstand) fragt:
McCoy (Gefühl) fragt:
Was ist wichtig?
Was ist vernünftig?
Was ist angenehm? (Womit fühle ich mich wohl?)
Die Diskussion und die Auseinandersetzungen um diese drei Fragen führen schließlich zur
Entscheidungsfindung. Wikipedia.de beschreibt das Zusammenspiel dieser drei Charaktere
so:
"An der Seite des draufgängerischen Captain Kirk stehen Mr. Spock, Erster Offizier sowie
Wissenschaftsoffizier, und der Schiffsarzt Dr. Leonard McCoy. Mr. Spock ist
Halbvulkanier,…. Das wesentliche Merkmal der vulkanischen Kultur ist die Abkehr von
Emotionalität zugunsten einer streng logischen Denkweise. Im Gegensatz dazu vertritt der
manchmal mürrische, aber herzliche Dr. McCoy ein humanistisches Weltbild. Aufgrund der
ergänzenden Eigenschaften dieser drei Figuren etablierten sich Kirk, Spock und McCoy als
Triumvirat: Die meist offen ausgetragenen Konflikte zwischen dem rationalen Spock und dem
idealistischen McCoy helfen Kirk als Handlungsträger, seine Entscheidungen zu treffen."6
Ein typisches Gespräch läuft etwa so ab:
Spock:
Wenn wir den Planeten anfliegen, um die beiden Crew-Mitglieder zu retten –
wobei der Erfolg keinesfalls sicher ist – bringen wir 400 Mann in Gefahr. Das
wäre äußerst unlogisch.
McCoy:
Sie spitzohriger Vulkanier – wir können die beiden Männer doch nicht einfach
zurücklassen!
Kirk:
Mr. Spock, Pille (Spitznamen für McCoy) – Ihr kommt mit mir. Wir werden mit
einem Shuttle zum Planeten fliegen und die Männer suchen. Mr. Chekov, Sie
bleiben mit der Enterprise in der Umlaufbahn und verlassen den Orbit, sobald es
brenzlig wird.
Zwei Beispiele aus der Serie:
a) Staffel 1, Folge 20 "Kirk unter Anklage"
McCoy:
Spock:
McCoy:
Spock:
McCoy:
Spock:
Wenn ich das nicht sehen würde, würde ich's nicht glauben!
Wie meinen Sie das?
Der Captain kämpft vor Gericht um seinen Kopf und Sie sitzen hier und spielen
Schach mit dem Computer!
Das stimmt, Doktor!
Mr. Spock, Sie sind der kaltblütigste Mann, der mir je begegnet ist!
Vielen Dank, Doktor!
b) Staffel 2, Folge 16 "Meister der Sklaven"
McCoy:
Spock:
6
Es ist über eine Stunde her. Können Menschen als verstreute Atome in einem
Transporterstrahl so lange leben?
Es gibt, soviel ich weiß, darüber keine Untersuchungen - aber es wäre ein
faszinierendes Forschungsprojekt.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Raumschiff_Enterprise vom 10.05.2011
- 29 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
McCoy:
[aufgebracht] Forschungsprojekt? Diese Menschen da draußen sind unsere
Freunde, falls sie noch leben!
Sie sagen es.
Haben sie reelle Chancen?
Nein, ich würde sagen ungefähr 400 zu...
Ich will von Ihnen keine Schätzungen und verschonen Sie mich bitte mit Ihrer
gefühllosen Logik; ich will nur, dass Sie weitersuchen!
Schätzungen sind zwar nur etwas Ungefähres, aber ich wäre froh wenn Sie mir
sagen könnten wo ungefähr ich suchen soll.
Spock:
McCoy:
Spock:
McCoy:
Spock:
Tatsächlich laufen in der Serie die meisten Entscheidungen nach diesem Muster ab: Spock
und McCoy beraten Kirk aus deren jeweiliger Perspektive. Der zielorientierte Captain ist aber
dann derjenige, der die Entscheidung trifft, wobei das jeweilige Ziel häufig den Ausschlag
gibt, wie entschieden wird. Der vernünftige Spock und der emotionale McCoy beraten
lediglich.
Diese Sichtweise bildet gut die Selbsteinschätzung des Menschen als Homo sapiens (= weiser
Mensch) ab, der seine Entscheidungen unemotional trifft – ganz im Sinne entweder von
Immanuel Kant (Kritik der reinen Vernunft) oder Machiavelli (Der Zweck heiligt die Mittel).
5.2
Das Gefühl als Impulsgeber
Tatsächlich "tickt" der Mensch aber ganz anders, wie eine Reihe von bemerkenswerten
Beobachtungen zeigen. Denn in Wirklichkeit ist es keineswegs der Verstand oder der Wille,
der den primären Impuls zu einer Entscheidung gibt, sondern das Gefühl.
a) Alltag
Wer seine Entscheidungen im Alltag reflektierend unter die Lupe nimmt, stellt schnell fest,
wie sehr diese von emotionalen Aspekten abhängig sind.
Im Supermarkt landet nicht die Marmelade mit den gesündesten Inhaltsstoffen im
Einkaufswagen, sondern die, die am besten schmeckt
Beim Vorstellungsgespräch bekommt die hübschere Bewerberin den Vorzug vor
der weniger gut aussehenden
Nicht der Opel Agila wird gekauft – obwohl er für kürzere Fahrten für eine
Person ausreicht, sondern der Mercedes, E-Klasse
Nicht das Grundbuch entscheidet über die Parntnerwahl, sondern Sympathie
…
b) Kinderentscheidungen
Vor allem aber machen die Entscheidungen von Kindern deutlich, wo die eigentlichen
Impulse herkommen. "Sie berechnen nicht was sie tun" fasst Herbert Grönemeyer in seinem
Lied „Kinder an die Macht“ deren Verhalten zusammen. Tatsächlich treffen Kinder ihre
Entscheidungen zunächst rein und dann vorwiegend ohne Abwägung nach Gefühl.
Vernunftgründe und zielorientiertes Denken kommen erst im Laufe des Lebens und mit
zunehmender Reife hinzu.
- 30 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
c) Wissenschaft
Immer wieder hört und liest man davon, dass etwa 80 % unserer Entscheidungen
gefühlsmäßig getroffen werden. Diese Zahl beruht vermutlich wohl eher auf Schätzungen und
Beobachtungen als auf wissenschaftlichen Untersuchungen. Es gibt jedoch Studien, die zum
Schluss kommen, dass alle unsere Entscheidungen vom Gefühl getroffen werden, ehe sie an
der Vernunft vorbei müssen, die eine Filterfunktion ausübt.
Wenngleich in der wissenschaftlichen Forschung häufig das Bild vom Menschen als einer
"lebenden Maschine" zum Tragen kommt, liefert sie doch interessante Fakten. So haben
neurobiologische Untersuchungen gezeigt, dass …
„... schon ca. 300 Millisekunden bevor wir uns entscheiden, sich in unserem Gefühlszentrum,
dem limbischen System, der entsprechende Impuls (zeigt). Das würde bedeuten, dass alle
unsere Entscheidungen zuerst im limbischen System gefällt und erst danach mit unserem
bewussten Verstand (Neocortex) begründet werden.“7
Die Hirnforscherin Dr. Brigitte Osterrath schreibt:
„Im limbischen System sind unsere Emotionen verankert, dort entstehen auch Affekte; im
präfrontalen Cortex sitzt unser Verstand, der rational Vor- und Nachteile abwägt und unsere
Handlungen in der Zukunft plant. Zwar kann der Verstand die Gefühle in gewissem Maße
kontrollieren, in der Realität steuern aber meist Gefühle das Handeln, auch wenn dem
Mensch dies gar nicht bewusst wird.“8
5.3
Ein ungleiches Paar
Die Autoren Chip und Dan Heath verwenden in Ihrem
Buch „Switch – Veränderungen wagen und dadurch
gewinnen“ eine interessante Metapher mit drei
Komponenten als Leitbild: Einen Reiter, der einen
übermächtigen Elefanten auf dem richtigen Weg ans Ziel
zu bringen versucht.
Der Reiter (Verstand/Vernunft; neurobiologisch: der
Cortex) baut auf Fakten und versucht, den Elefanten
(Gefühl; neurobiologisch: das limbische System) auf dem
richtigen Weg zu halten und ans Ziel zu führen. Die Dimensionen dieses Bildes machen
anschaulich deutlich, dass nicht der Reiter, sondern der Elefant darüber entscheidet, wohin die
Reise geht. Zwar kann der Reiter seine Kraft einsetzen und mit Argumenten versuchen, den
Elefanten zu disziplinieren, aber wenn der Elefant nicht will, dann bleiben des Reiters Mühen
chancenlos. Mit Fakten wird also allenfalls der Reiter beeindruckt. Den Elefanten
interessieren ganz andere Dinge. Aber die Mitarbeit des Elefanten wird gebraucht, wenn
wirklich etwas bewegt oder verändert werden soll.
Ein Beispiel mag das verdeutlichen9:
7
Quelle: Roland Kopp-Wichmann unter www.persönlichkeits-blog.de vom 23.02.2012
Quelle: www.dasgehirn.info vom 23.02.2012
9
Entnommen dem Blog von Thomas Weitzel, www.pureandroid.com vom 10.10.2012
8
- 31 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
Wenn man beim Monopoly-Spiel die Schlossallee gegen die Badstrasse tauschen will, dann
wird kaum ein Mitspieler dieses Angebot ausschlagen. Schließlich ist die Schlossallee viel
wertvoller als die Badstrasse. Das ist eine Tatsache. Aber wenn der Besitzer der Badstrasse
partout nicht tauschen will, dann hilft diese Tatsache nicht.
Umgekehrt gibt eine passende Geschichte den Ausschlag. Die kleine Tochter ist am Verlieren
und braucht die Schlossallee. Die Mutter nimmt das Angebot der Tochter an und tauscht ihre
Schlossallee ohne zu zögern gegen die Badstrasse der Tochter. Die Mutter macht das, nicht
weil es richtig ist, sondern weil es sich richtig anfühlt."
Das bedeutet: Das Zusammenspiel der drei Faktoren Verstand – Wille – Gefühl funktioniert
im Alltag keineswegs so, wie es uns das Triumvirat des Raumschiffs Enterprise glauben
machen will – dass Verstand und Gefühl nur beratende Funktion haben, letztendlich aber der
Wille bzw. das Ziel entscheidet. Vielmehr ist es das Gefühl, das den wesentlichen
Entscheidungsimpuls aussendet.
5.4
Das gefühlsorientierte Entscheidungsmodell
Das nachfolgende Modell veranschaulicht diese Zusammenhänge:
Gefühl, Wille und Verstand haben als unterschiedliche Faktoren Einfluss auf die
Entscheidung, allerdings geht der eigentliche Impuls vom Gefühl aus. Verstand/Vernunft und
Zielorientierung/Wille sind nachgeordnet und haben eine wichtige und unverzichtbare, aber
nachgeordnete Kontrollfunktion. Die Wichtigkeit dieser Kontrollinstanzen ergibt sich aus der
eigennützigen Prägung des Gefühls. Als "näpäsch chajah", lebendige Kehle (1Mo 1,27) wird
der Mensch schon in den ersten Kapiteln der Bibel beschrieben. Das bedeutet: hoffende,
- 32 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
hungrige, bedürftige Seele; ein Wesen, das nach Befriedigung schreit und ganz
selbstverständlich sein eigenes Leben erhalten und sein Glück finden will. Der Mensch strebt
– völlig zurecht – nach seinem Wohlbefinden.
Aber der Mensch ist nicht nur Gefühl (sonst wäre er nur ein instinktgesteuertes Tier), er ist
auch vernunftbegabt und kann abwägen – mit der Folge, dass im besten (und gesündesten)
Fall die vom Gefühl vorgeschlagenen Entscheidungen in rationaler und teleologischer
Hinsicht geprüft werden. An dieser Stelle sind die Fragen „ist es vernünftig?“ und „ist es
wichtig?“ wertvolle Kontrollpunkte, die ein Impuls passieren muss, um zur richtigen
Entscheidung zu werden. Diese Prüfung muss immer wieder bewusst vorgenommen werden,
weil das Gefühl dazu neigt, Wille und Vernunft in seinen Dienst zu stellen und zu
missbrauchen – etwa indem emotional getroffene Entscheidungen nachträglich mit rationalen
Begründungen unterlegt werden. Es ist eine Gratwanderung, ob man eine emotionale
Entscheidung mit rationalen Gründen festigt oder ob man rationale Gründe vorschiebt, um
einer emotionalen Entscheidung den Anstrich einer rationalen Entscheidung zu geben.
Die Erteilung eines Strafzettels wegen Parkens auf dem Gehweg verschaulicht diese Tatsache
eindrücklich. Häufig kommen Autofahrer zu mir zum Ordnungsamt, um sich gegen den
(berechtigten) Vorwurf des Gehwegparkens und das damit verbundene Verwarnungsgeld in
Höhe von 15,- EUR zu wehren. Dem Ärger über das Verwarnungsgeld (d.h. der emotionalen
Ablehnung) folgt das Infragestellen der Rechtmäßigkeit des Verwarnungsgeldes: Verstand
und Wille werden in den Dienst des Gefühls gestellt. Die übliche Reaktion läuft deshalb in
der Regel auf zwei Ebenen ab:
rational:
"Der Vorwurf ist falsch: ich habe nicht auf dem Gehweg geparkt."
(Infragestellung des Tatbestands) oder:
"Und wenn schon, das ist doch nicht schlimm. Ich habe ja niemanden
behindert." (Infragestellung der Rechtsfolge)
teleologisch: "Hat der Vollzugsdienst nichts Wichtigeres zu tun? Der soll sich mal
lieber um … kümmern."
Die Gründe, warum das Verwarnungsgeld nicht bezahlt werden soll, liegen aber weder auf
der rationalen noch auf der teleologischen Ebene, auch wenn dies so vorgebracht wird. Der
Fahrer ärgert sich vielmehr, dass er etwas bezahlen muss, ohne eine Gegenleistung zu
bekommen oder darüber, dass da jemand Macht über ihn ausübt. Aber mit dieser
authentischen Argumentation hätte er natürlich keine Aussicht auf Rücknahme des
Verwarnungsgeldes.
5.5
Die Bedeutung für die Exegese
Die Erkenntnis, von wo die Impulse für eine Entscheidung kommen, ist auch bei der
Erforschung eines Textes mit dem Ziel, dessen Bedeutung herauszufinden, wichtig. Denn wer
einer Textaussage emotional positiv gegenübersteht ist leicht geneigt, sie für wahr zu halten –
und gleichzeitig bekommt sie für ihn persönlich Bedeutung, sie wird für ihn wichtig.
Also z.B.
Sie haben in einem Preisausschreiben gewonnen
Kaufe zwei, bezahle eins
Wir kommen alle in den Himmel
- 33 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
Auf der anderen Seite wird eine als emotional negativ wahrgenommene Textaussage leicht in
ihrer Wichtigkeit und Bedeutung abgewertet oder als unwahr oder nicht mehr zeitgemäß
abqualifiziert.
So z.B.:
Sie haben auf dem Gehweg geparkt
Feiglinge kommen nicht in den Himmel (Off 21,8)
Die Frau schweige in der Gemeinde
Es wird also deutlich:
Die emotionale Ablehnung einer Textaussage führt im Regelfall dazu, dass auch die rationale
Zustimmung und die teleologische Zustimmung versagt werden.
Was mir gefällt ist wahr und wichtig.
Was mir nicht gefällt, ist nicht wahr oder nicht wichtig.
Deshalb wollen wir schlechte Nachrichten „nicht wahr haben“ und deshalb gilt umgekehrt
„Was man gern glaubt, glaubt man leicht.“
Der Frage nach den Gefühlen eines Bibeltextes
kommt deshalb eine besondere Bedeutung bei der
Auslegung zu und gibt dieser die Richtung vor.
Denn ist es nicht tatsächlich so? Wenn eine
Textaussage gute Gefühle in einem Exegeten
auslöst und er ihr gerne zustimmt, ist er auch eher
geneigt, sie für eine heute gültige/zeitlose
Wahrheit zu halten. Gleichzeitig wird er sie als
besonders wichtig einschätzen, sich in seiner
Bibel anstreichen und/oder merken – wie im
nebenstehenden Peanuts-Cartoon.
Wenn die Aussage aber Erschrecken oder
emotionalen Widerspruch beim Ausleger auslöst,
setzt häufig ein gedanklicher Prozess ein, der die
Aussage als nicht (mehr) gültig einstuft oder sie
als unwichtig oder nebensächlich (ab)qualifiziert.
Schultz von Thun schreibt dazu:
„Der Mensch tendiert dazu, wahrzunehmen, was ihm in den Kram passt. Dazu ist es dann und
wann erforderlich, einige Ereignisse zu übersehen oder doch so umzudeuten und
„hinzubiegen“, dass sie mit dem eigenen Weltbild übereinstimmen und so den Seelenfrieden
erhalten.“10
Wir stehen alle in der Gefahr, unseren Verstand zu missbrauchen, um unser Gefühl zu
rechtfertigen!
10
Schultz von Thun, a.a..O., 118.
- 34 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
Wenn wir einmal unsere Lieblings-Bibelverse heraussuchen und sie daraufhin untersuchen (s.
Aufgabe 7), werden wir vermutlich feststellen, dass die emotionale Zustimmung zu den
Textaussagen der gewählten Aussagen sehr hoch ist. Und da sie ein Wohlgefühl in uns
auslösen, sind sie uns auch besonders wichtig!
Ein sehr gutes Beispiel dafür, wie die emotionale Ablehnung einer Textaussage die rationale
Ablehnung nach sich zieht, findet sich in Richter 11,30-40: Infolge der Unachtsamkeit ihres
Vaters Jephtah muss dessen Tochter sterben.
Die emotionale Zustimmung zu diesem Text ist bei den meisten Bibellesern gering, vielmehr
berührt das Schicksal der Tochter, die dem vorlauten Mundwerk ihres Vaters zum Opfer fällt.
Manche Ausleger sind deshalb der Meinung, dass dieses Ereignis so nicht stattgefunden hat.
Dies ist aber nicht etwa das Ergebnis genauer textkritischer Forschung, sondern einer
emotionalen Grundentscheidung.
Ähnlich verhält es sich mit der Begebenheit, die sich zwischen Jericho und Bethel zugetragen
hat:
"Und die Männer der Stadt sagten zu Elisa: Sieh doch, die Lage der Stadt ist gut, wie mein
Herr sieht. Aber das Wasser ist schlecht, darum kommt es im Land zu Fehlgeburten. Da sagte
er: Bringt mir eine neue Schale und tut Salz hinein! Und sie brachten sie ihm. Und er ging
hinaus zu der Quelle des Wassers, warf das Salz hinein und sagte: So spricht der HERR: Ich
habe dieses Wasser gesund gemacht. Nicht mehr soll Tod und Fehlgeburt daraus entstehen.
Und das Wasser wurde gesund bis auf diesen Tag nach dem Wort, das Elisa geredet hatte.
Und er ging von dort hinauf nach Bethel. Wie er nun den Weg hinaufging, kamen kleine
Jungen aus der Stadt heraus und verspotteten ihn und sagten zu ihm: Komm herauf,
Kahlkopf! Komm herauf, Kahlkopf! Er aber wandte sich um, sah sie an und verfluchte sie im
Namen des HERRN. Da kamen zwei Bärinnen aus dem Wald und zerrissen von ihnen 42
Kinder." (2Kön 2,19-25).
Das Haupthindernis für eine gute Exegese besteht oftmals nicht darin, dass man die
Textbedeutung nicht erkennt, sondern dass man ihr nicht folgen will. Dann setzt ein
Prozess ein, der sich um die Konsequenz zu drücken versucht, die der Text nahe legt.
Deshalb gibt es die größten theologischen Streitigkeiten und Diskussionen
normalerweise bei den Themen, die die stärksten Gefühle in uns auslösen.
Daher empfiehlt es sich, sich bei konfliktträchtigen theologischen Fragestellungen zuerst die
Frage zu stellen, wie es mir mit dem jeweiligen Text oder Thema geht und welche Gefühle
mögliche Antworten in mir auslösen.
Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen:
Hinsichtlich des Betens in Sprachen würde die erste Frage nicht lauten: „Ist es biblisch?“
(rationaler Aspekt), sondern „Mag ich Gottesdienste, bei denen laut in Sprachen gebetet
wird?“ (emotionaler Aspekt). Wer sich diese Frage beantwortet hat, dem fällt eine sachliche
Untersuchung der einschlägigen Textstellen und eine ausgewogene Antwort auf die
eigentliche Frage sicher leichter.
Gleiches gilt für andere Themen, etwa den (musikalischen) Lobpreis. Wenn wir der Frage:
„Ist Lobpreis wichtig, welchen Stellenwert soll er in der Gemeinde haben?“ die Frage „Singe
ich gerne?“ vorausschicken, öffnet das eine Tür zu den eigenen Motiven und macht das
- 35 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
anschließende Gespräch konstruktiver. Viele halten Lobpreis nur deshalb für nicht wichtig,
weil sie nicht gerne singen und verwenden dann alle Energie darauf, eine biblische
Begründung für Ihre Position zu finden.11
Andere emotionsgeladene Themen lassen sich leicht finden:
Das Für und Wider von Massenevangelisation
Beichte: ja oder nein?
Sollen wir eine Haus-zu-Haus-Mission machen?
Lobpreis mit oder ohne Schlagzeug (ein wichtiges Thema vor 30 Jahren)?
Wie große darf/sollte eine Gemeinde sein?
Ist Dämonenaustreibung heute noch aktuell?
Ist die Kindertaufe eine biblische Taufe?
Muss ich von meinem Einkommen den Zehnten (d.h. 10 %) an die Gemeinde
geben?
Müssen Frauen Röcke tragen?
Dürfen Frauen predigen?
Gehören Zungenrede und Prophetie zwangsläufig in einen Gottesdienst?
Sollte ich beim (musikalischen) Lobpreis stehen?
In der Bibel findet sich eine Vielzahl prominenter Vorbilder, die rationale und theologische
Argumente vorgeschoben haben, um eine aus emotionalen Motiven heraus getroffene
Entscheidung sachlich zu rechtfertigen. Exemplarisch seien nur zwei genannt:
Mose, in dem der Gedanke, zum Pharao zu gehen und Freiheit für sein Volk zu
fordern, großes Unbehagen auslöst - er will nicht gehen. Deshalb sucht er nach
Gründen, um deutlich zu machen, dass es unvernünftig wäre, zu gehen (1Mo 3,94,17).
Jeremia möchte nicht in die Rolle des Anklägers und Bußpredigers schlüpfen (Jer
1,6). Deshalb bringt er vor, er sei zu jung und könne deshalb nicht reden.
Bei der Exegese ist es sehr hilfreich, sich in einem frühen Stadium, also nach dem ersten
Durchlesen, die Fragen zu stellen:
Welche Gefühle löst die Aussage aus? Gefällt sie mir, freue ich mich darüber,
empfinde ich Unbehagen oder regt sich sogar Widerspruch in mir?
Erst wenn diese Frage ehrlich beantwortet wurde, sollten die weiteren Fragen (im Licht der
Antwort auf die erste Frage) gestellt werden:
rational:
Halte ich die Textaussage für wahr? Fällt es mir eher leicht oder
schwer, diese Aussage zu glauben? Ist sie auch heute noch
uneingeschränkt gültig?
11
An dieser Stelle ist – gerade bei Diskussionen – eine gegenseitige Grundakzeptanz ganz besonders wichtig.
Denn anders als es bei uns häufig der Fall ist, gibt es für Gott in vielen praktischen Dingen gleich gute
Verhaltensweisen. Paulus bestätigt das in 1Kor 12,12ff: Die Unterschiedlichkeit der Menschen (Glieder am Leib
Christi) hat keine Auswirkung auf deren Wertigkeit. Vielmehr werden alle gebraucht (V. 17) und von Gott selbst
unterschiedlich gestaltet (V. 18).
- 36 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
teleologisch: Wie wichtig ist das angesprochene Thema für mich? Was hängt für
mich davon ab, wie beeinflussen die Aussagen mein (Glaubens)leben?
Sind es Aussagen von über- oder untergeordneter Bedeutung? Gehört
der Text zu meinen Lieblingstexten oder halte ich ihn für eher
überflüssig?
Damit die Frage nach dem eigenen Gefühl möglich wird, muss jedoch eine wichtige
Voraussetzung erfüllt sein: Der Ausleger muss zu seinem Gefühl stehen. Das kann er aber
nur, wenn er davon überzeugt ist, dass Gott ihn wegen dieses Gefühls nicht verurteilt, sondern
nur von ihm fordert, dass er angemessen damit umgeht. Der Grund dafür, dass wir so oft
Angst vor unseren eigenen Gefühlen haben, besteht in der Befürchtung, Gott könnte sich
aufgrund dessen, was da zum Vorschein kommt, von uns abwenden. Aber Gott kennt unsere
eigentlichen Impulse und Antriebe längst, bevor wir ihnen auf die Schliche kommen. Wir
können Gott hinsichtlich unserer Unvollkommenheit nicht überraschen. Er liebt uns, wie wir
sind – nicht wie wir sein sollen. Wer das begriffen hat, der braucht keine Angst mehr vor
seinen Gefühlen haben, sondern darf diese gelassen ins Blickfeld nehmen.
Aufgabe 6: Die Nabelschau
Welche Gefühle lösen die folgenden Bibeltexte bei Ihnen aus? Welche Auswirkung haben
diese Gefühle auf die Einschätzung der Textbedeutung (wahr/aktuell und wichtig)?
1Kor 14,33f
Wie in allen Gemeinden der Heiligen, sollen die Frauen in den Gemeinden
schweigen, denn es wird ihnen nicht erlaubt, zu reden, sondern sie sollen
sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt. Wenn sie aber etwas lernen
wollen, so sollen sie daheim ihre eigenen Männer fragen; denn es ist
schändlich für eine Frau, in der Gemeinde zu reden.
Gal 6,6
Wer im Wort unterwiesen wird, gebe aber dem Unterweisenden an allen
Gütern Anteil.
1Petr 4,10
Wie jeder eine Gnadengabe empfangen hat, so dient damit einander als gute
Verwalter der verschiedenartigen Gnade Gottes!
Off 21,8
Aber den Feigen und Ungläubigen … und allen Lügnern ist ihr Teil in dem
See, der mit Feuer und Schwefel brennt, das ist der zweite Tod.
Mt 2,16
Da ergrimmte Herodes sehr, als er sah, dass er von den Weisen
hintergangen worden war; und er sandte hin und ließ alle Jungen töten, die
in Bethlehem und in seinem ganzen Gebiet waren, von zwei Jahren und
darunter, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erforscht hatte.
Aufgabe 7: Lieblingstexte
Nenne drei Deiner Lieblingstexte aus der Bibel und prüfe, welche Gefühle diese in Dir
auslösen. Hast Du Zweifel an deren Wahrheitsgehalt oder Aktualität? Warum sind diese
Texte für Dich so wichtig? Sind es auch im Gesamtkontext der Bibel wichtige Texte?
- 37 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
Aufgabe 8: Thesen
Diskutiere in der Gruppe die nachfolgenden Aussagen:
1. " 'Nicht wichtig' ist das Argument der Ungehorsamen."
2. "Wer will, findet Wege; wer nicht will findet Gründe." (Wilhelm Karl Meurer)
3. "Traue niemandem in Angelegenheiten, die seine Leidenschaft sind."
(Philip Dormer Stanhope)
4. "Es geht nicht darum zu verstehen. Es geht darum zu empfinden." (Robert Bresson)
5. "Was man gern glaubt, glaubt man leicht."
6. "Die Unzufriedenheit mit der Textaussage führt zu ihrer Umdeutung".
7. "Die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat."
(Sigmund Freud)
8. "Durch die Leidenschaften lebt der Mensch; durch die Vernunft existiert er bloß."
(Nicolas de Chamfort)
9. "Die Vernunft formt den Menschen, das Gefühl leitet ihn." (Jean-Jacques Rousseau)
- 38 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
6
VOM NUTZEN DER VERSCHIEDENHEIT
Fassen wir diesen ersten Teil zum Thema "Herangehen" zusammen:
Die größte Gefahr für eine gute Auslegung ist der Ausleger selbst. Das hat nichts mit
Unredlichkeit zu tun, sondern viel mehr mit der Unfähigkeit, als subjektives Wesen objektiv
an einen Text heranzugehen und diese Objektivität durch alle Phasen des
Auslegungsprozesses hindurch zu bewahren.
Jeder Mensch ist von seiner eigenen Subjektivität geprägt. Als subjektiver Mensch geht er mit
individuellen Vorentscheidungen an die Auslegung des Textes heran. Nicht immer fällt es
leicht, diese Vorentscheidungen von den eigentlichen Textaussagen, die bei der Exegese
"herausgelesen" werden, zu trennen. Ein Hilfsmittel dazu kann die Vergegenwärtigung der
Kommunikationsregeln mithilfe eines Kommunikationsmodells sein. Darüber hinaus bietet
das Entscheidungsdreieck als Modell und die damit verbundenen Fragen nach den rationalen,
emotionalen und teleologischen Faktoren einer Entscheidung eine gute Möglichkeit, den
wirklichen Gründen für eine bestimmte Textauslegung auf die Spur zu kommen.
Im Hinblick auf die Subjektivität des Exegeten können wir also zusammenfassend
formulieren: Unverzichtbare Voraussetzung für eine gute Exegese ist eine
vorurteilsbewusste Hermeneutik, also ein Bewusstsein, das um die Subjektivität des
eigenen Verstehens weiß und deshalb die persönlichen Vorentscheidungen und
Wertungen bei der Erforschung der Textbedeutung so weit wie möglich (und bekannt)
berücksichtigt.
Es ist für die Exegese von außerordentlicher Wichtigkeit, dass der Exeget sich beim Hören
auf den Text zwei Fragen stellt:
Welches Vorverständnis und welche Vorentscheidungen prägen mein Verständnis?
Welche Brillen habe ich beim Lesen auf?
Welche Gefühle löst der Text in mir aus? Inwiefern beeinträchtigen diese Gefühle
meine Einschätzung über die Bedeutung des Textes im Hinblick auf seinen
Wahrheitsgehalt und seine Wichtigkeit?
Diese Fragen verhindern keine schlechte Auslegung, aber sie können dazu beitragen, eine
Vorentscheidungen und eigentlicher Textbedeutung klarer voneinander zu trennen. Das kann
der Exegese nur gut tun. Also: ein guter Exeget reflektiert seine Herangehensweise und ist
sich seiner Vorentscheidungen bewusst. Und: Vieles könnte gewonnen werden, wenn wir
unsere Gefühle bejahen und in der Folge uns unsere wahren Beweggründe eingestehen
könnten.
Die Bedeutung einer vorurteilsbewussten Exegese – vorurteilsfrei wird sie wohl nie sein –
kann deshalb gar nicht überschätzt werden. Gerade weil Exegese immer unter Vorurteilen
betrieben wird, ist die Selbstreflexion des Exegeten, aber auch die gegenseitige Ergänzung,
Unterstützung und Korrektur bei der Exegese von großer Bedeutung. Es bedarf einer großen
Selbstdisziplin, die Gegenargumente zur eigenen Meinung nicht aufgrund seiner Vorurteile
falsch zu gewichten oder zu ignorieren. Eine Hilfe kann es sein, wenn der Exeget sich
vergegenwärtigt – und das mag ihn trösten – dass es nicht nur eine einzige legitime
- 39 -
Die Bibel verstehen
Hermeneutische und exegetische Grundlagen
_______________________________________________
Möglichkeit gibt, die Bibel auszulegen. Das eröffnet ihm die Möglichkeit, auch andere
Auslegungen als die eigene stehen und sich von diesen bereichern zu lassen.
Eine vorurteilsbewusste Hermeneutik sorgt nicht automatisch für eine gute Exegese, aber
sie verringert die Gefahr einer schlechten. So wird sie zur wichtigsten Grundlage für eine
gute Textauslegung.
Nun könnte man den Eindruck bekommen, die Subjektivität des Auslegers sei etwas
ausschließlich Negatives. Doch das ist gar nicht der Fall. Was wir schon bei der Frage der
Inspiration herausgefunden hatten, gilt auch hier: anders als der Koran ist die Bibel nicht das
Ergebnis eines Diktats, sondern die von Menschen vorgenommene Niederschrift dessen, was
Gott mitteilen wollte. Wenn Gott aber schon – wie wir erkannt haben – bei der Niederschrift
die Subjektivität der Schreiber in Kauf genommen hat, so ist es bei der Auslegung seines
Wortes nicht anders. Genauso wie Gott vier verschiedene Evangelisten dazu gesetzt hat,
jeweils ein Evangelium zu formulieren, so hat er auch verschiedene Apostel, Propheten,
Hirten, Evangelisten und Lehrer eingesetzt, sein Wort auszulegen (Eph 4,10ff). Paulus selbst
betont in 1Kor 3,10 dass unterschiedliche Mitarbeiter unterschiedlich bauen. Das trifft sicher
auch auf die Bibelauslegung zu – die sich aber bei aller Unterschiedlichkeit im Rahmen des
gesamtbiblischen Zeugnisses bewegen muss.
Die Subjektivität (oder: Originalität) des Auslegers ist dort kein Hindernis, wo innerhalb der
Gemeinde Christi ein gesundes Miteinander gelebt wird – einschließlich Ergänzung und ggf.
Korrektur. Der Abschnitt aus 1Kor 12 über die Gemeinde als Leib Christi lehrt uns auch an
dieser Stelle, dass viele unterschiedliche Glieder, die zusammenwirken, besser sind als eine
Vielzahl von Klonen, die sich gleichen. Wenn also unterschiedliche Ausleger unterschiedliche
Schwerpunkte haben, so ist das dort kein Problem, wo sich diese gegenseitig ergänzen.
Wichtig ist vor allem, dass jeder Ausleger um seine Subjektivität – und damit um seine
Ergänzungsbedürftigkeit – weiß.12
12
In diesen Zusammenhang passt sehr schön die Aussage, die Horst Seehofer in einem Interview formuliert hat:
"Wo alle das Gleiche denken, denkt niemand mehr gründlich".
- 40 -